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JOH. FRIEDR. HERBART'S
SÄMTLICHE WE R|K E.
JOH. FR. HERBART'S
SÄMTLICHE WERKE.
IN CHRONOLOGISCHER REIHENFOLGE
HERAUSGEGEBEN
KARL KEHRBACH.
ACHTER BAND.
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PRESERVATION
SERVICES
NOV 2 2 1990
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LANGENSALZA,
DRUCK und VERLAG von HERMANN BEYER & SÖHNE.
1893.
300^-
1
VORREDE
des Herausgebers zum achten Bande.
Citierte Ausgaben:
HR = Herbart ische Reliquien, herausgegeben von T. Ziller.
Kl Seh = J. F. Herbart's Kleinere philosophische Schriften , herausgegeben vod
G. Hartenstein.
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke, herausgegeben von G. Hartenstein.
O = Der jemalige Originaltext.
Allgemeine Metaphysik nebst den Anhängen der philosophischen
Naturlehre. Zweiter systematischer Theil. [1829.] (S. 1—388.)
Bereits ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten historisch - kritischen
Teils der Allgemeinen Metaphysik wurde der vorliegende zweite syste-
matische Teil von Herbart veröffentlicht, der wie Brandis (vgl. S. 394)
ganz richtig vermutete, bei der Gediegenheit und dem Reichtum seines
Inhalts „nicht das Werk der kurzen Frist, die zwischen seiner und des
ersten Bandes Erscheinung in der Mitte liegt", sondern „die Frucht viel-
jähriger Forschung" sein mufste. Denn schon in den Jahren 1816 oder
181 8 (vgl. Bd. VII, Vorrede, vorl. Ausgabe) hatte Herbart dieses Werk,
mit dessen Vollendung er wohl eine der Hauptaufgaben seiner wissen-
schaftlichen Thätigkeit1 glaubte gethan zu haben, auszuarbeiten und zu
veröffentlichen.
Einige unbedeutende Veränderungen des Originaltextes der Metaphysik
ersten und zweiten Teils (vgl. Bd. VII vorl. Ausgabe, Vorrede S. VIII), die im
Texte vorliegender Ausgabe nicht angemerkt wurden, seien hier nachgetragen:
Bd. VII (erster Teil der Metaphysik) ist gesetzt worden: S. 132, Z. 2 von § 81
angekündigt worden .... statt .... angekündigt werden (O).
Bd. VIII (zweiter Teil der Metaphysik) ist gesetzt worden: S. 14, Z. 5 v. u.
.... für Eins statt .... für Eins? (O). Es ist ein Punkt gesetzt worden statt
eines Fragezeichens; SW hat Ausrufezeichen. — S. 192, Z. 14 v. o. auf allen andern
Linien .... statt .... auf alle andern Linien (O). — S. 350, Z. 3 v. u. Lehre von
der Materie .... statt .... von Materie (O).
Ferner seien auch folgende Abweichungen der Ausgabe SW von O, die
im Texte vorl. Ausgabe nicht angemerkt wurden, angeführt:
Bd. VII, S. 92, Z. 25 v. o.: ex (SW) . . . statt . . . et (O) ; S. 146, Z. 28 v. o.: Wir
hatten (SW) . . . statt . . . Wir hatten (O); S. 214, Z. 4 v. u.: materielle (SW) . . .
statt . . . materiale (O); S. 252, Z. 1 v. o. ; tlSwka (SW) . . . statt . . . ttSiuXa (O).
Bd. VIII, S. 273, Z. 4 des § 327 eine Leiter (SW) . . . statt ... ein Leiter (O);
S. 274, Z. 3 v. u. : sich im solches (SW) . . . statt . . . sich ihm solches (O); S. 341,
Z. 17 u. 16 v. u. : erst Bewegung setzen lasse (SW) ... statt . . . erst in Bewegung
setzen lasse (O).
1 Wenn Herbart an seinen Studienfreund Gries im Dezember 1829 schreibt:
,Mein Werk ist gethan und was noch darüber zu reden ist, wird mich
wenig Mühe kosten", so ist wohl dabei zunächst an die damals soeben vollständig er-
schienene Metaphysik zu denken.
VIII Vorrede des Herausgebers zum VIII. Bande.
Ebenso sind eine Anzahl von Abweichungen der Ausgabe SW von O, die ledig-
lich in Hartensteins Orthographie und Sprachgebrauche ihren Grund finden, nicht
verzeichnet worden. So druckt SW: ahnen, allmälig, andrer, derenwillen, dessenwillen,
Geschäft, Grenzen, hierdurch, hiermit, willkürlich u. s. w. (und ebenso bei den ent-
sprechenden Compositis und Derivatis), wo Ü hat: ahnden, allmählig, anderer, derent-
willen, dessentwillen, Geschafft, Gränzen, hiedurch, hiemit, willkührlich u. s. w. — Die
Eigennamen dekliniert Herbart schwach, z. B. Leibnitz, LEiBNiTzens, LElBNtTzen,
während SW Leibnitz, Leibnitz's, Leibnitz.. setzt. — SW giebt ferner zusammen-
gesetzte Substantiva in einem Worte, z. B. Naturerklärung, Gröfsenveränderung u. s. w.,
wo O druckt: Natur- Erklärung, Gröfsen -Veränderung u. s. w.
SW druckt: franklinsche, voltaische u. s. w., wo O Franklinsche, Voltaische u. s. w.
setzt. In den vorstehenden und anderen Fällen folgt der vorl. Text dem Originale.
Hie und da hat SW die Eigennamen gesperrt, wo O sie nicht sperrt und umgekehrt.
(Aus Versehen sind zwei derartige Varianten im vorl. Texte der Metaphysik stehen ge-
blieben; vgl. Bd. VII, S. 340 u. 342.) Im vorl. Texte sind alle Eigennamen gleichmäfsig
(ohne Sperrung) aus Kapitältypen gedruckt worden.
Anhänge zur Allgemeinen Metaphysik. (S. 389 — 444-)
Anhang I: Fragment eines Schlusses der Metaphysik. (S. 391— 393)
Die Handschrift zum vorliegenden Texte, der mit Hartenstein für
das Fragment eines Schlusses der Metaphysik anzusehen ist, scheint ver-
loren gegangen zu sein.
Anhang II: Die Rezension der Allgemeinen Metaphysik von Prof. Or. Brandis zu
Bonn.1 (S. 394 — 412.)
Der Abdruck dieser Rezension, die Herbart für die „unstreitig wür-
digste und durchdachteste" hält . . . „obgleich nicht frei von Misverständ-
nissen", war notwendig, um das Verständnis von Anhang III, sodann
aber auch von Anhang IV zu erleichtern.
Anhang IM: Zwei Entwürfe zu einem beabsichtigten Sendschreiben an Brandis, den
Rezensenten der Allgemeinen Metaphysik. (S. 412—437.)
A. Erster Entwurf: Drei Briefe.
B. Zweiter Entwurf: Über das Verhältnifs des Idealismus
zur Pädagogik.
Die umfangreiche und gründliche Besprechung der Allgemeinen Meta-
physik von Brandis, bei der die Beweisführung nicht nur aus dem Werke
selbst, sondern auch aus den beiden Teilen der Psychologie (Bd. V und
VI vorl. Ausgabe) und der Schrift Theoriae de attractione elementorum
principia metaphysica (Bd. III vorl. Ausgabe) entnommen worden war,
wollte der Verfasser nicht als sein endgültiges Urteil hingestellt haben,
sondern als die Einleitung zu gegenseitigen Erörterungen über die
schwierigsten Probleme der Spekulation angesehen wissen.
1 Bonn, nicht Breslau, wie irrtümlich im Texte stehen geblieben ist.
Anhänge zur Allgemeinen Metaphysik. IX
Diese Erörterungen wurden auch sofort von Herbart und Brandis
in Privatbriefen begonnen. ! Bei der Bedeutung der Rezension, ihres Ver-
fassers und des Organs, in dem sie abgedruckt war, mufste Herbart
aber auch daran liegen, in der Öffentlichkeit sich mit Brandis aus-
einanderzusetzen.
„Wie in anderen Fällen," schreibt mir Strümpell, „so war auch
hierbei Herbart äufserst bedächtig und überlegte sich lange die Sache,
wie er sie anzufangen habe, um in keiner Hinsicht zu verstofsen." Da-
her die verschiedenen Ansätze zu einem öffentlichen Sendschreiben an
Brandis.
Aber nicht nur er selbst fafste den Plan, öffentlich auf die Re-
zension zu erwidern, auch in dem Herbart sehen Schüler- und Freundes-
kreise bestand diese Absicht. Wie aus S. 412 zu entnehmen ist, hatte
zunächst Strümpell „die Rolle des Respondenten" gegen Brandis über-
nommen. Diese Strümpell sehe, durch Herbart angeregte Entgegnung
ist auch erschienen, aber freilich nur auf dem Umschlage der Halleschen
Litteraturzeitung (wahrscheinlich auf dem Umschlage des Oktoberheftes
1831) und so, da früher wohl allgemein die Umschläge nicht mit ein-
gebunden wurden, verloren gegangen. 2
Auch Griepenkerl und Roer hatten die Absicht, gegen Brandis
zu schreiben, scheinen aber diese Absicht nicht ausgeführt zu haben.3
1 Strümpell, der zur Zeit des Erscheinens der Rezension viel mit Herbart
verkehrte, erinnert sich dessen, wie er mir schrieb, noch ganz genau. Auf Herbarts
Anregung und in dessen Gegenwart hatte ei s. Z. ebenfalls sogleich einige Worte der Ent-
gegnung an Brandis aufgeschrieben. — Dafs sich aus dem brieflichen Verkehr Herbarts
mit Brandis, zu dem noch ein persönlicher getreten ist, ein freundschaftliches Verhältnis
zwischen Beiden entwickelt hat, erfährt man aus dem Briefe, den Herbart am
15. März 1830 an Dissen in Göttingen gerichtet hat: „Sie können alle Sorgen wegen
der Übereinstimmung zwischen ihm (sc. Brandis) und mir ganz fahren lassen; selbst
in meinen jüngeren Jahren habe ich nicht schneller Freundschaft geschlossen, als diesmal
mit BRAXDis; denn anders als Freundschaft kann ich dies Verhältnis nicht benennen ....
In allen Hauptsachen finde ich, dafs er mir eigentlich nichts bestimmt entgegensetzt,
sondern nur noch für jetzt in vielen Punkten seine Zustimmung zurückhält. Natürlich
war im Gespräch an kein Abschliefsen zu denken, sondern nur an Mittheilung zu künftiger
leichterer Verständigung " Vgl. auch die Anmerkung S. XI (Citat aus Brandis' Auto-
biographie).
2 Trotz aller Nachfragen auf verschiedenen Bibliotheken war ein Exemplar der
Litteraturzeitung mit Umschlag nicht erhältlich.
3 Aus Herbarts Brief vom 27. Januar 1832 an Griepenkerl: „An
Brandis habe ich geschrieben: es werde, so viel sich für jetzt absehn und beschliefsen
lasse, gegen seine Rec. weiter nichts gedruckt werden, als ein kurzer, entfernt an-
deutender Aufsatz von mir im Hallisch. Lit. Bl. unter Aufschrift: „zwey Worte
über Naturphilosophie." (= Anhang IV, S. 438 vorl. Ausgabe.) Er hatte nämlich
X Vorrede des Herausgebers zum VIII. Bande.
Und auch Herbart, auf dessen Entgegnung Brandis, wie aus dem
untenstehenden Briefe an Griepenkerl hervorgeht, gewartet hatte, hat
kein öffentliches Sendschreiben drucken lassen, sondern nur die beiden
handschriftlichen Entwürfe hinterlassen.
A. Erster Entwurf: Drei Briefe. (S. 412 — 420.)
Von diesen drei Briefen befinden sich im Herbart sehen Nachlasse
auf der Königsberger Bibliothek nur die beiden ersten. (Msc. 2072.)
In dem Manuskript (16 Seiten 4°), von Herbart geschrieben, sind mehr-
fach redaktionelle Bleistiftbemerkungen von Ziller, der die Briefe zuerst,
wenn auch unvollständig veröffentlichte, gemacht worden.
Von dem dritten Briefe, den Ziller von Drobisch erhalten hatte,
war die Urschrift leider nicht zur Verfügung, und es mufste daher der
Text nach Zillers Veröffentlichung gegeben werden.
Hartenstein, dem dieser erste Entwurf ebenfalls vorgelegen hatte, ver-
zichtete auf seine Veröffentlichung. In SW XI, Vorrede S. IX führt er nur
eine Stelle aus dem ersten Briefe an.
B. Zweiter Entwurf: Über das Verhältnifs des Idealismus
zur Pädagogik. (S. 420 — 437.)
Das Original des vorliegenden Entwurfes (Msc. 2072 der Königs-
berger Universitätsbibliothek) rührt von Herbart's Hand her; es umfafst
43 Seiten. Die hinzugefügten redaktionellen Bemerkungen (mit Bleistift
und Tinte) stammen von Hartenstein, ebenso der auf S. 29 der Hand-
schrift angeklebte, mit einem Citat aus Brandis' Rezension versehene
Zettel. Die im Texte mit Bleistift bewirkten Streichungen rühren ebenfalls
von Hartenstein her.
Der Entwurf macht den Eindruck einer sauberen, etwa für den Druck
bestimmten Reinschrift, der aber noch die Titelüberschrift fehlt. Auf-
fallend könnten dabei nur die Worte bleiben S. 422, Z. 3 u. 4 v. o. :
„Der Anfang des Briefes ist weggelassen ; er würde nur ein persönliches
Interesse haben," die in der Handschrift nicht etwa den Charakter einer
Anmerkung und am Rande oder in Klammern, sondern im fortlaufenden
Texte stehen, gerade wie sie S. 422 abgedruckt worden sind.
von Halle den Auftrag, meine Encyklop[ädie] zu recensiren angenommen, aber gesagt,
er wolle erst abwarten, was ich gegen ihn zu sagen habe. Wenn nun Sie oder
Roer jetzt etwas gegen seine Rec. der Metaph. drucken lassen, so werde ich den
Schein des Vorwissens zu fürchten haben ; wortbrüchig darf ich weder seyn noch
scheinen ; und bitte daher besonders Roer hievon in Kenntnis zu setzen. Übrigens
ist nur Aufschub nöthig. Ich habe dem Brandis ausdrücklich bemerkt; meinen nähern
Bekannten würde das Gewicht seiner Recension vor allen andern der Antrieb seyn, sich
in der Folge besonders über diese zu äufsern."
Anhänge zur Allgemeinen Metaphysik. XI
Die Sache läfst sich vielleicht auf folgende Weise erklären: Herbart
hatte beim Anfertigen der Reinschrift ein Concept des Sendschreibens
vor sich, das wahrscheinlich in seinem Anfange aufser einigen Höflichkeits-
formen die Veranlassung des Schreibens, etwa in einer dem Eingange von
Brief i (S. 412) ähnlichen Fassung, angab. Für seinen jetzigen Entwurf,
dem die „Vorrede" vorausging, war ihm diese Einleitung nicht mehr ge-
eignet und er machte nun die Bemerkung, entweder für sich oder einen
Andern, dem er das Schriftstück zur Prüfung vorlegen wollte, um sie
später, vor der Drucklegung, zu streichen.
Nach Strümpell^ Erinnerungen war es Herbart unangenehm, dafs
Brandts bei ihm „Fichte sehen Idealismus wollte gespürt" haben. In den
bereits erwähnten Privatbriefen an Brandts habe H. auch sofort dagegen
Einspruch erhoben, und das sei auch der Fall gewesen in den Entwürfen
für das öffentliche Sendschreiben. Während aber in dem ersten Ent-
würfe, in den drei Briefen, „Herbart nur in metaphysischer Sprache und
direkt in Betreff der Sache selbst, wie die Metaphysik es verlangt," ge-
sprochen habe, hätte er in dem zweiten Entwürfe, „den direkten metaphy-
sischen Verkehr," da ihm dieses Verfahren „nicht mehr gefallen habe,"
verlassen und habe nun das pädagogische Gebiet betreten. Indem er an
der Hand der „Reden an die deutsche Nation" die Lehren Fichtes dar-
gestellt und beurteilt, habe er für Jeden, der sich mit seinen (sc. Herbarts)
Schriften beschäftigt habe, den Nachweis erbringen können, dafs er unmöglich
etwas dem FiCHTEschen Idealismus Ähnliches gelehrt haben könne. Soweit
Strümpell.1 Da Herbart, wie er S. 421 ausdrücklich versichert, nicht
1 Brandis selbst übrigens bezeichnete in seiner 185 1 geschriebenen Autobiographie,
bei deren Abfassung er sich freilich nicht mehr der genauen Daten erinnerte, als den
„Hauptstein seines Anstofses" an Herbarts Metaphysik „den Übergang vom starren
Sein zum Werden".
Über sein Verhältnis zu Herbart schreibt er: „ . . . nachher ward meine Auf-
merksamkeit noch mehr wie früher auf Herbart gelenkt ; seine früheren Schriften waren
mir keineswegs fremd geblieben und mein Interesse für sie durch Dissen's Erzählungen
von dem ihm so sehr befreundeten Verfasser erhöht worden. Seine im Jahre 1823 (sie!)
erschienene Metaphysik veranlafste einen Briefwechsel unter uns und endlich im Jahre
1829 mündliche Diskussion seines Systemes, wozu er auf's freundlichste die Hand bot,
indem er eine von Königsberg unternommene Erholungsreise zu einem 8— iotägigen
Aufenthalte in Bonn benutzte. Wir waren gewöhnlich von morgens früh bis abends
spät im lebhaften Gespräch über die unter uns streitigen Punkte begriffen und er un-
ermüdlich bemüht, meine Einwendungen durch neue, stets scharfsinnige Wendungen zu
beseitigen. Obgleich er den Hauptstein des Anstofses für mich, den Übergang vom
starren Sein zum Werden, nicht zu beseitigen vermochte, die mündlichen, wie die später
noch schriftlich fortgesetzten Verhandlungen mit ihm waren mir nicht nur als Gymnastik des
Geistes förderlich, sondern veranschaulichten mir auch die Entstehungsgeschichte des Systems
XII Vorrede des Herausgebers zum VIII. Bande.
gern polemisch gegen Brandis sein wollte, — die Rezension „sollte nicht
sowol widerlegt, als vielmehr durch ein Zeichen der Aufmerksamkeit ver-
dankt werden" — so hatte er allerdings jetzt die denkbar unverletzendste
Form gewählt.
Hartenstein hat in seinem Abdrucke des zweiten Entwurfs (SW XI
und Kl Seh II) aus dem Originaltexte, wahrscheinlich, um ihm den Cha-
rakter einer Abhandlung zu geben, alles Persönliche, alles was an ein
öffentliches Sendschreiben erinnert, gestrichen und dem Ganzen den obigen
Titel gegeben. Dieser Titel ist auch in vorliegender Ausgabe, obwol er
den Inhalt des Entwurfs nicht deckt, beibehalten worden, weil er in-
zwischen auch übergegangen ist in die Ausgaben von Herbarts
pädagogischen Schriften, die von Bartholomäi - Sallwürk, Richter,
Willmann bewirkt, alle der HARTENSTEiNschen Vorlage gefolgt sind. l
Anhang IV. Zwei Worte über Naturphilosophie. (S. 438—440.)
Die Veranlassung zum Abfassen dieses kleinen Aufsatzes ist in seinen
einleitenden Worten und in dem oben in der Anmerkung 3 S. IX abge-
druckten Briefe Herbarts an Griepekkerl vom 27. Januar 1832 mit-
geteilt worden.
Anhang V. A. : Strümpells metaphysisches Bedenken.
B. Herbarts Entgegnung auf ein metaphysisches Bedenken von Strümpell
(S. 440—443.)
Das im Besitze Strümpells befindliche und für den vorliegenden
Abdruck zur Verfügung gestellte Original besteht aus einem Quartbrief-
bogen, dessen erste drei Seiten fast ganz von Strümpells Text eingenommen
werden. Unmittelbar unter dem STRÜMPELL'schen Texte beginnt Herbarts
den übrigen Raum aubfüllende Entgegnung. Der ZiLLER'sche Abdruck
in den HERBART'schen Reliquien (HR) bringt nur die HERBART'schen
Bemerkungen, aber nicht vollständig, da aufser einem den Sinn wesentlich
beeinflussenden „allein" auch die ebenfalls nicht unwesentliche Schluls-
bemerkung weggelassen worden ist. (vgl. S. 443) Zur Ergänzung und zur
in dem kräftigen, durch und durch konsequenten Geiste seines Urhebers. (Brandis,
Autobiographie im „Almanach der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien."
1869. S. 276 u. 277.) Vgl. auch Trendelenkcrg in seiner Rede „Zur Erinnerung
an Chr. Aug. Bkandis." Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften
zu Berlin. 1868. S. 16 u. 17.
1 Nachdem die vorstehenden Herausgeber, sowie Strümpell und Robert Zimmer-
mann über die Textbeschaffenheit des zweiten Entwurfes unterrichtet worden waren,
haben sie alle die Notwendigkeit einer genauen Wiedergabe des Urtextes betont.
Anhänge zur Allgemeinen Metaphysik. XIII
Erleichterung des Verständnisses der HERBART'schen Worte sind hier
Strümpells bisher noch nicht bekannte Erörterungen ebenfalls abgedruckt
worden.
Anhang VI.: Herbarts Entgegnung auf die Einwürfe des Herrn N. (S. 443—444.)
Die vorliegende Entgegnung, die auf einer Seite eines Folioblattes
(Msc. 2380,2 der Königsberger Universitätsbibliothek) niedergeschrieben
worden ist, stellt wahrscheinlich den Schlufs einer gröfseren Arbeit dar.
Aus den einleitenden Worten kann geschlossen werden , dafs Herbart
vor diesen Einwürfen gegen seine Metaphysik auf vorausgehenden Blättern
bereits anderen Bedenken begegnet ist.
Berlin, Dezember 1893.
Karl Kehrbach.
Inhalt des achten Bandes.
I -
I-
-388
-8
9
IO-
-48
IO-
-14
14-
-24
24-
43-
-43
-48
Seite
Vorrede des Herausgebers zum VIII. Bande V— XIII
Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen der philosophischen
Naturlehre. Zweiter, systematischer Teil. 1829
Vorrede
Inhalt des zweiten Teils
Erster Abschnitt. Methodologie
Erstes Kapitel Von den Forderungen, welche die Methodologie zu
erfüllen hat §. 1 6 1 — 1 64
Zweites Kapitel. Vom Gegebenen. §. 165 — 172
Drittes Kapitel. Vom Zusammenhange der Gründe und Folgen.
§• 173-188
Viertes Kapitel. Plan der bevorstehenden Untersuchung. §. 189 — 194
Zweiter Abschnitt. Ontotogie 49—109
Erstes Kapitel. Von der Auffassung des Realen durch Begriffe.
§. 195 — 200 49 — 54
Zweites Kapitel. Vom Begriffe des Sein. §. 201 — 204 54— 61
Drittes Kapitel. Vom Begriffe der Qualität. §.205 — 212 . . 61—74
Viertes Kapitel. Vom Probleme der Inhärenz. §. 213 — 223 74 — R7
Fünftes Kapitel. Von der Veränderung. §. 224—230 87 — 98
Sechstes Kapitel. Vom wirklichen Geschehen. §. 231—239 .... 98 — 109
Dritter Abschnitt. Synechologie [ IO — J97
Erste Abteilung. Von Raum, Zahl und dem Ursprünge der
Materie 1 10 — 186
Erstes Kapitel. Von den verschiedenen Anfängen der Synechologie
§.240-244 110— 119
Zweites Kapitel. Von der starren Linie und der Zahl §. 245 — 252 119— 134
Drittes Kapitel. Von der stetigen Linie und der Ebene. §.253—262 135 — 151
Viertes Kapitel. Vom körperlichen Räume. §. 263 — 266 151— 158
Fünftes Kapitel. Von dem Ursprünge der Materie. §. 267—278.. 158—168
Zweite Abteilung. Vom objecti v-scheinbaren Geschehen, oder
Von der Zeit und dem Zeitlichen 169—197
Erstes Kapitel. Von der Bewegung überhaupt. §.279 — 283 169—174
Zweites Kapitel. Von der Geschwindigkeit. §.284—286 175 — 1 79
Drittes Kapitel. Von der Zeit. §. 287 — 291 180-186
Viertes Kapitel. Vom objektiven Schein. §. 292—296 186— 191
Fünftes Kapitel. Vom Schein im Laufe der Begebenheiten. §. 297 — 301 191 — 197
XVI Inhalt des achten Bandes.
Seite
Vierter Abschnitt. Eidolologie 198 — 244
Erstes Kapitel. Idealistische Metaphysik im allgemeinen. §. 302 — 308 198 — 207
Zweites Kapitel. Vom Ich und Nicht -Ich als Thatsache. §.309 — 319 207 — 223
Drittes Kapitel. Schärfung des Begriffs vom Ich, und Widerlegung
des Idealismus. §. 320 — 325 223 — 233
Viertes Kapitel. Von der Möglichkeit des Wissens. §. 326 — 330 233 — 244
Fünfter Abschnitt. Umrisse der Naturphilosophie 245 — 388
Erste Abteilung. Synthetische Untersuchungen 245 — 286
Vorerinnerung . . 245 — 250
Erstes Kapitel. Vom Unterschiede des synthetischen und analytischen
Teils der philosophischen Naturlehre. §. 331 — 333 .. 251 — 254
Zweites Kapitel. Von der möglichen Verschiedenheit der Materie.
§•334-346 254-264
Drittes Kapitel. Von der Veränderlichkeit der Materie. §. 347 — 361 264 — 277
Viertes Kapitel. Von der Bildsamkeit der Materie. §. 362-377.. 277 — 286
Zweite Abteilung. Analytische Untersuchungen 287 — 388
Erstes Kapitel. Von der Mitteilung der Bewegung. §. 3*8 — 387 287 — 295
Zweites Kapitel. Von der Wärme, und den durch sie bestimmten
Formen der Materie. §. 388 — 399 295 — 305
Drittes Kapitel. Von der Elektricität und dem Magnetismus. §. 400
bis 412 305-333
Viertes Kapitel. Von der Schwere und dem Licht. §. 413 — 420 334 — 344
Fünftes Kapitel. Bemerkungen zur Chemie. §. 421 — 425 .. .. 344 — 355
Sechstes Kapitel. Philosophische Beleuchtung der physiologischen
Grundbegriffe. §. 426—444 356 — 388
Anhänge zur allgemeinen Metaphysik 389—444
Anhang I: Fragment eines Schlusses der Metaphysik 391 —393
Anhang II: Die Rezension der Allgemeinen Metaphysik von Professor
Dr. Brandis in Bonn 394 - 412
Anhang III : Zwei Entwürfe zu einem beabsichtigten Sendschreiben an
Brandis, den Rezensenten der Allgemeinen Metaphysik 412 — 438
A. Erster Entwurf: Drei Briefe 412 — 420
B. Zweiter Entwurf: Über das Verhältnifs des Idealismus
zur Pädagogik 420 — 437
Anhang IV: Zwei Worte über Naturphilosophie 438 - 440
Anhang V: A. Ein metaphysisches Bedenken Strümpells 440 — 442
B. Herbarts Entgegnung auf ein metaphysisches Bedenken
von Strümpell 442 — 443
Anhang VI: Herbarts Entgegnung auf die Einwürfe des Herrn N. . 443 — 444
I.
ALLGEMEINE METAPHYSIK,
NEBST DEN ANFAENGEN
DER
PHILOSOPHISCHEN NATURLEHRE.
Zweiter, systematischer Theil.
1829.
[Text der Originalausgabe, O, Königsberg, 1829.]
Bereits gedruckt in:
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. IV), herausgegeben von G. Harten-
stein.
Herbart's Werke. VIII.
Vollständiger Titel der Originalausgabe:
Allgemeine
Metaphysik,
nebst
den Anfängen der philosophischen
Naturlehre.
Von
Johann Friedrich Herbart,
Professor der Philosophie zu Königsberg.
Zweyter, systematischer Theil.
Königsberg, 1829.
Auf Kosten des Verfassers, und in Commission bei
August "Wilhelm Unzer.
[in] Vorrede.
Frühzeitiger, als noch vor kurzem zu hoffen stand, ist der mit dem
vorliegenden Werke eng verbundenen Psychologie das Glück zu Theil ge-
worden, in ihren mathematischen Grundsätzen von einem Mathematiker
geprüft und zulässig befunden zu werden. Der Dank dafür gebührt aber-
mals dem Herrn Professor Drobisch, welcher in der, für künftige Ver-
handlungen als Actenstück zu betrachtenden, Recension (Leipziger Literatur-
Zeitung vom 10. und 1 1. November 1828) sich mit einem so hohen Grade
von Leichtigkeit und Sicherheit auf dem neuen Felde bewegt, als wäre
bereits seit einem halben Jahrhundert von mathematischer Psychologie die
Rede gewesen. Nunmehr ist das Verständnis geöffnet; damals aber, als
diese Metaphysik nieder[iv]geschrieben wurde, schien durch Berichte in den.
kritischen Blättern, deren wohl keiner im Stande war irgend eines Mathe-
matikers Aufmerksamkeit zu gewinnen, dem Verfasser der gewöhnliche
literarische Zugang zu Denen, mit welchen er zu reden hatte, völlig ver-
sperrt. Eine solche Lage der Dinge hatte Einflufs auf den Ton des Buchs..
Jetzt hingegen, da sich die Lage merklich geändert, und da die Unter-
suchung ein Geleise gefunden hat, in welchem sie vielleicht durch eigne
Kraft sich fortbewegen kann, ist es Zeit, den Wunsch zu äufsern: man
möge die hart klingenden Stellen, in denen die Kritik wie Polemik lautet,,
blofs als rhetorische Figuren betrachten, deren Dienst abgethän ist, sobald
sie den Gedanken des Lesers die Richtung auf den Punct gegeben haben,,
auf den es ankommt. Wenn Andre übrigens mehr Werth legen auf die
Polemik, so ist das natürlich. Metaphysik, so lange sie noch arbeitet, um
ihre Probleme nur erst ins klare Bewufstseyn zu bringen und scharf aus-
zusprechen, befindet sich im Kriegszustande wider die Logik; ihre Art zu
reden ist davon die Folge und der Ausdruck.
Wie bald oder wie spät nun den hier vorgelegten naturphilosophischen
Untersuchungen eine unbefangene und gründliche Prüfung zu Theil [v]:
werden möge, das steht dahin. Die Ausbreitung derselben in verschiedene
Zweige der Physik wird Blöfsen genug geben. Allein es liegt in der Natur
der Metaphysik, dafs sie sich das mufs gefallen lassen. Sie soll sich, nach,
gehöriger Ausbildung ihrer allgemeinen Begriffe, durch die Anwendung
derselben, mithin an der Erfahrung, bewähren; sie kann also auch von
daher Zurückweisungen erleiden; und in diesem Falle wird es nicht sogleich
klar seyn, wie tief der Fehler liege ; ob er in den Principien, oder nur in
den Ableitungen seinen Sitz habe.
Man verlange nur nicht, dafs Metaphysik gewisser sey, und tiefer dringe,
als sie kann in Folge der Erfahrung. Sie ruhet auf dieser, als auf ihrer.
ov
Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
eigenthümlichen Hypothese. Findet man die menschliche Erfahrung zu be-
schränkt, zu unvollständig, mit Hoffnungen und Wünschen in manchen
Puncten nicht genug einstimmend, um darauf eine völlig befriedigende
Überzeugung zu gründen: so schiebe man nicht hievon ungerechter Weise
die Schuld auf die Metaphysik; welche nun einmal nicht vermag, mit
■eigenem Lichte zu leuchten, sondern nur wiederzugeben, was sie empfing.
Allgemein aber gilt die Metaphysik für weit [vi] minder zuverlässig als
die Erfahrung; und dagegen läfst sich bey dem jetzigen Streite der Systeme
nichts Gewichtiges sagen. Nur daran ist zu erinnern, dafs die Geschichte
•der Wissenschaften stets eine vortheilhafte Annäherung an gemeinsames
Arbeiten vieler Gelehrten gezeigt hat, sobald man dahin gelangte, sich an
Erfahrung und Mathematik vest und bestimmt anzuschliefsen.
Die Gefahr, welche eintrit, sobald die leeren Gedankendinge des
Möglichen und Zufälligen in Eine Reihe mit dem, was ist und geschieht,
-gestellt werden, soll aus dem ersten Theile dieses Werkes hinreichend be-
kannt seyn. Es kommt nun darauf an, die Dinge so zu fassen, wie sie
zusammengenommen wirklich sind. Und man halte diese Vorsicht auch da
noch vest, wo ein Wille sich sammt seinen Motiven zu einer Werth-
bestimmung darbietet; man hüte sich, vom Fragepuncte abzugleiten durch
Verwechselung der bewufsten Motive mit unbewufsten Ursachen, und
vollends mit leeren Möglichkeiten eines andern Willens unter andern Um-
ständen. Leere Abstractionen, sogar hinaufgetrieben bis zu unmöglichen
Begriffen, sind Werkzeuge, deren die Wissenschaft sich oftmals mit Vortheil
bedient (wie jeder Mathematiker weifs), [vn] die man aber nicht mit ihren
Gegenständen verwechseln soll.
Die lange Herrschaft der Kantischen Lehre, in so mancher Hinsicht
wohlthätig, verbreitete dennoch auch einige schädliche Einflüsse ; unter
■diesen besonders die Überspannung der Freyheitslehre, von welcher man,
seitdem die bekannten politischen Täuschungen schwinden, allmählig zurück-
kommt; und die Geringschätzung der Teleologie, welche leider noch fort-
dauert, während die zu ihr gehörigen Wahrnehmungen, die natürlich nicht
still stehen konnten, sich hinter sogenannten Ansichten von der Harmonie
des Lebens verstecken. Wird einmal die neue Naturphilosophie, welche
dies Buch vorträgt, gehörig geprüft, so mufs sich eben so ungesucht als
unvermeidlich die Teleologie in ihre alten Rechte wieder eingesetzt befinden.
Denn sie beruht auf unmittelbar gegebenen Formen der Erfahrung. Können
wir diese Formen nicht eben so bestimmt, wie die übrigen, als wissenschaft-
liche Principien bearbeiten und benutzen: so müssen wir deshalb unsre
menschliche Beschränktheit bedauern. An sich betrachtet aber stehen alle
■gegebenen Formen in dem gleichen Range als Principien des Wissens.
Für uns behält immer die Teleologie den unendlich wichtigen Vortheil,
•dafs sie gerade hinweiset auf den Grund der [vni] Religion, auf die Vorsehung ;
während sie zugleich dem Menschen die Gröfse seiner Unwissenheit vor-
hält, die er so ungern eingesteht. Müssen wir es sagen, dafs überspannte
Speculationen in diesem Begriffe etwas vermifst, nämlich die ontologische
Abstraction von Zeit-Verhältnissen? Was gewinnt sie denn mit dieser Ab-
straction? Dafs sie von der erreichten Höhe wieder in die Sphäre unseres
menschlichen Lebens herabsteigen mufs, versteht sich von selbst; allein
Vorrede. c
welches ist nun die Werth-Bestimmung, die man da anbringt, wo die Ab-
kunft der endlichen, räumlichen und zeitlichen Dinge aus dem Absoluten
soll nachgewiesen werden? Vier Fälle bieten sich dar; und jeder ist ver-
sucht worden. Entweder die Evolution des Räumlichen und Zeitlichen
ist Verschlechterung. So erscheint sie nicht blofs in alten Emanations-
lehren, sondern auch da, wo ganz neuerlich ein Plus-Absohitum behauptet
wird, das sich des Selbstbeivufstscvns wegen ein sogenanntes Minus- Absoluium
gegenüber stelle, und dessen Emporstreben niederhalte. * Oder jene Evolu-
[ixltion ist Verbesserung. Dahin gehört die bekannte Behauptung: »die dritte
Periode der Geschichte wird die seyn, wo das, was in den frühern als
Schicksal und als Natur erschien, sich als Vorsehung entwickeln, und offen-
bar werden wird, dafs selbst das, was blofses Werk des Schicksals, oder
der Natur zu seyn schien, schon der Anfang einer auf unvollkommene
Weise sich offenbarenden Vorsehung war. Wann diese Periode beginnen,
werde, wissen wir nicht zu sagen. Aber wenn diese Periode seyn wird,
dann wird auch Gott seyn«. **
Aus beyden Ansichten pflegt sich eine dritte zusammenzusetzen, die
man dramatisch nennen könnte, weil sie auf Verschlechterung Verbesserung
folgen läfst ; *** wobey aber Jedem einfallen wird, dafs ein Knoten nur braucht
gelöst zu werden, wenn er zuvor geschürzt wurde; ein Mathematiker möchte
noch bey[x] fügen, dafs ein gleiches Quantum von Minus und Plus am Ende
Null gebe; ja er möchte fragen, ob man die Gleichung für die Curve
genau untersucht habe? Ob sie nur Ein Maximum gebe, oder ob das
fortrollende Rad der Zeiten etwa eine Cykloide zeichne, deren steigende
und sinkende Bogen sich ins Unendliche wiederholen ? — Die vierte An-
sicht endlich thut auf alle Werthbestimmung Verzicht und betrachtet die
Entwickelung des Räumlichen und Zeitlichen als blofs noth wendig, übrigens-
gleichgültig: wie Spinoza es versuchte, da er Gutes und Böses, Schönes-
und Häfsliches für Vorurtheile erklärte. Dies Tetralemma, dessen sämmt-
liche Glieder historisch als thatsächlich vorhandene Meinungen vor Augeru
liegen, wollen wir hier nicht weiter entwickeln; es ist genug, daran zu er-
innern, um Behutsamkeit zu empfehlen. Überspannte Speculation des sich-
stets erneuernden unkritischen Dogmatismus, dessen natürlicher Stolz sich,
schwerlich mit religiöser Demuth vertragen möchte, mit Erfolg auf praktisch-
wichtige Gegenstände zurückzuführen, ist ohne Hülfe der praktischen Philo-
sophie nicht möglich. Aber die speculativen Lehrmeinungen werden sich
gar sehr ändern, sobald das Lieblingsthema der neuern Schulen, das Leben,
genauer wird untersucht werden. An dieser merkwürdigen [xi] Stelle, wo-
sich Fries von Schelling gewinnen liefs, laufen die Wege der Psychologie
und Naturphilosophie von selbst zusammen. Hier hatte man gleichsam
einen Altar für eine unbekannte Gottheit errichtet; die Verehrung derselben
aber wird sich mäfsigen, sobald den Untersuchungen, die man am Ende
* Anregungen für -wissenschaftliche Forschung, vom Grafen von Buquov, einem
geübten Mathematiker und sehr umsichtigen Denker, der nicht unbeachtet bleiben darf,
wenn man die heutige Zeitphilosophie vollständig kennen will.
** Schellixgs System des transscendentalen Idealismus, S. 441. Das Buch ist
vom Jahre 1800; Schellings Ansicht kann seitdem verändert seyn.
*** Man vergleiche etwa Fichte's Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters.
Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
dieses Buches finden kann, und die freylich nicht in der Begeisterung,
sondern in der Nüchternheit ihre Ehre suchen, nur soviel Aufmerksamkeit
zu Theil wird, als jetzt schon die mathematische Psychologie erlangt hat.
Mögen immerhin Ergebnisse des strengen metaphysischen Denkens vor-
läufig nur als Hypothesen Eingang finden; genug, wenn sie richtig ver-
standen, und von dem vielleicht zufällig beygemischten Irrthum gereinigt
werden. Der Verfasser verlangt für sich nur das Eine, worauf er sichern
Anspruch hat; nämlich dafs man ihn den ernsten und redlichen Forschem
beyzähle. Bald genug aber wird man gutwillig noch mehr einräumen.
Denn mit starken Schritten nähert sich die Zeit, wo man der Grund-
bedingung des Verstehens — nämlich der Anerkennung der in den Er-
fahrungsformen gegebenen Widersprüche — und hiemit auch einer ver-
änderten Auffassung des menschlichen Wissens überhaupt, sich nicht länger
•wird entziehen können. Hegel hat auf [xu] diese Widersprüche ein so helles,
ja grelles Licht geworfen, dafs, wie sehr auch seine Gegner sich sträuben,
doch endlich auch das blödeste Auge sie wird sehen müssen. Nur Eins
scheint der berühmte Mann zu vergessen: des Columbus Ey mufste ge-
knickt werden, wenn es stehen sollte. Man verlange hier darüber nicht
mehr Worte; auch im ersten Theile dieses Werks ist nur dasjenige in
Prüfung genommen, was schon eini^ermafsen als vers-antren und in histo-
rischer Ferne stehend konnte betrachtet werden.
Eher könnte man hier einiee erleichternde Winke vermissen, in An-
sehung der im Buche vorgetragenen Naturphilosophie. Um nun wenigstens
einen Hauptpunct als Beyspiel zu berühren, und zugleich für minder
Kundige den Standpunct der heutigen Physik bemerklich zu machen: wird
-es dienlich seyn, eine Stelle aus den Göttingischen gelehrten Anzeigen vom
14. August 1828 zu benutzen, worin von der Wärme die Rede ist. Hier
wird mit Recht gesagt, durch die Hypothese vom Wärmestoffe werde die
mathematische Construction der Erscheinungen weit anschaulicher, als wenn
man die Wärme blofs in Bewegungen der Körpertheile suche; wobey die
Frage unbeantwortet [xiii] bleibe, was diese Bewegungen unterhalte, warum sie
nicht gleich denen einer tönenden Glocke zur Ruhe kommen, und wie sie
sich vom Schalle, wie vom Lichte nach der Vibrations- Theorie, unter-
scheiden mögen? „Alles, <cas bisher in der dynamischen Lehre ron der
Wärme versucht worden, ist ein bloßes exercice de calcul gezvesen. Freylich
bleiben auch bey der Hypothese vom Wärmestoffe noch Fragen zurück,
die jedoch stillschweigend auch das Bevvegungssystem graviren. Zum Bey-
spiel, wodurch wird die Wärme zu einer discreten Flüssigkeit, das heifst
zu einer Flüssigkeit, deren Theile noch immer in gewissen Abständen von
einander gedacht werden müssen, selbst wenn sie in einem Körper durch
Anziehung verdichtet wird. Denn das von keinem eigentlich chemisch ge-
bundenen Wärmestoffe die Rede seyn kann, ist daraus klar, dafs durch
seine Verbindung mit andern Stoffen, diese nicht im geringsten (?) ihrer
-eigenthümlichen Eigenschaften beraubt werden. *) — Wenn wir dem Wärme-
* Man vergleiche dagegen § 391. Auch ist bekannt, dafs beym Destilliren Ver-
bundenes durch die Wärme getrennt wird, und dafs die meisten Auflösungen in der
Wärme befördert, andre aber erschwert und beschränkt werden. Das Alles zeigt Ein-
mischung in chemische Verhältnisse.
Vorrede. 7
Stoffe, in je[xiv]der Verbindung mit den verschiedenen Materien, noch immer
eine expansive Form zueignen: so nehmen wir nichts an, was nicht die
Dynamiker in der Lehre von der Wärme stillschweigend auch voraussetzen,
indem sie die discrete Form der Gasarten und Dämpfe, ja des im all-
gemeinen Welträume zerstreuten Äthers selbst, so wie auch die Bewegung
der Körpertheile, worin sie das Wesen der Wärme setzen, als einen Er-
folg des Confhcts attractiver und repulsiver Kräfte betrachten. Der Unter-
schied besteht blofs darin, dafs bei der Theorie eines Wärmestoffs nur
dieser allein, wie es die Erfahrung ausweist, als die nächste Ursache der
discreten Form aller übrigen Materien betrachtet wird. Man kann daher
auch in diesem Betrachte nicht sagen, dafs die Materialisten, in der Lehre
von der Wärme, sich mehrere Fictionen erlaubten, als die Dynamiker.
Die gewöhnlichen Einwürfe gegen die Existenz des Wärmestoffs sind
übrigens schon so oft, und wie es uns scheint, genügend beantwortet, dafs
Diejenigen, welche dieser Theorie nicht huldigen, sehr Unrecht thun, wenn
sie dergleichen Einwürfe in Lehrbüchern, oft ganz ohne alle Rücksicht auf
jene Beantwortungen, anführen, blofs um dem entgegengesetzten Systeme
das Wort zu reden, das doch [xv] weit mehrern und erheblichem Einwürfen
ausgesetzt ist, gewöhnlich aber auch so dürftig hingeivorfen wird, dafs es selbst
von den gemeinsten Phänomenen der Warme keine klare Anschauung verstaiict.li
Man wird nun fragen, welche Versuche der Verfasser gemacht habe,
um so grofsen Schwierigkeiten zu entgehen? Und die nächste Antwort ist:
keine andern Versuche als die, welche sich aus den vorangehenden meta-
physischen Untersuchungen von selbst ergaben. Dasjenige aber, was sich
ergab, war allerdings ein Wärmestoff, jedoch nicht eine W<Lrme-Äfaterie,
noch weniger ein Flüssiges, am wenigsten aber vollends eine discrete
Flüssigkeit. Discrete Quanta sind nicht fliefsende; und fliefsende Grüfsen
sind nicht discret; wenn daher ein Physiker sich durch die Erfahrung be-
rechtigt, ja gezwungen findet, einen solchen Begriff, wie den eines dis-
creten Flüssigen anzunehmen, so ist er entweder von dem ursprünglichen
Sinne des Worts Fliefsen abgewichen, oder nicht mehr weit von dem Be-
kenntnisse entfernt, er habe in den gegebenen Formen der Erfahrung
Widersprüche angetroffen. Und dies Bekenntnifs müssen wir benutzen,
wie es auch mag [xvi] herbeykommen. Aber nicht alle Widersprüche können^
und nicht alle sollen aufgelöst werden. Sie bleiben in denjenigen, mit Noth-
wendigkeit erzeugten, Begriffen, welche blofs die Art der Zusammenfassung
für den Zuschauer bestimmen. So bleibt allerdings etwas Widersprechen-
des in denjenigen Bestimmungen der Materie, welche blofs die Form der
Aggregation ausdrücken. Hingegen Attractiv- und Repulsiv-Av-ä'/fc können
wir nicht annehmen, weil dadurch das Widersprechende in die Begriffe
vom wirklichen Geschehen würde verlegt werden. Will nun der Leser sich
diesen Unterschied genau ins Gedächtnifs prägen: so wird ihm dadurch
das Ganze unseres Vortrags dergestalt durchsichtig werden, dafs er beynahe
von jedem Puncte, der ihn eben vorzugsweise interessirt, ausgehen kann,
um von da aus in das Übrige einzudringen. Überall wird sich zeigen,
dafs die Erklärung der Erscheinungswelt ähnlich ist der Auflösung einer
Gleichung durch ihre unmöglichen Wurzeln, welche, obgleich unmöglich,
dennoch genau und richtig bestimmt seyn müssen, damit die Rechnung
8 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
ihr Ziel pünctlich erreiche. Aber nicht überall mufs man von dem vor-
liegenden Versuche, der in seiner Art der erste ist, gleiche Pünctlichkeit
und Vollständigkeit verlangen. Vielmehr [xvn] würde der Verfasser sich bey
Kennern schlecht empfehlen, wenn er in allen Theilen der Naturwissen-
schaft vorgäbe gleich viel Licht gesehen zu haben. Hoffentlich ist es ge-
lungen, in demjenigen, was mehr oder minder gewagt heifsen mufs, die
verschiedenen Grade der Wahrscheinlichkeit bemerklich zu machen.
Das Klarste in der ganzen Naturphilosophie ist die Lehre von der
Elektricität. Franklin hat über sie längst das wahre, oder doch das
wahrscheinlichste Wort gesprochen; aber er hat Plus und Minus ver-
wechselt. In dieser Sache hätten die empirischen Physiker längst mehr
Licht sehen sollen; das Electricum leuchtet dazu hell genug; aber freylich
leuchten nicht diejenigen Puncte, welche es empfangen, sondern die, welche
es aussenden.
Das Dunkelste aber ist das Reich der Schwere, in welchem wir stets
befangen sind, und daher nicht frey experimentiren können. Welche Be-
griffe würden wir davon haben, wenn unsre Erfahrung nicht hinausginge
über den Horizont, in welchem wir geboren sind? Eine Kraft, welche die
Körper in parallelen Richtungen gegen die Horizont-Fläche treibe, das wäre
unser Begriff. Und wie viel kann das [xvm] Vorurtheil, alle Materie sey
schwer, denn mehr gelten? Von diesem Vorurtheil abzulassen, möchte für
manche Naturphilosophen die erste Bedingung seyn, um zu richtigem, oder
wenigstens frevern Ansichten zu gelangen.
[xix] Inhalt des zweyten Theils.1
Erster Abschnitt. Methodologie.
Erstes Capitel. Von den Forderungen, welche die Methodologie zu erfüllen
hat. § 161 — 164.
Zweytes Capitel. Vom Gegebenen. § 165 — 172.
Drittes Capitel. Vom Zusammenhange der Gründe und Folgen. § 173 — 188.
Viertes Capitel. Plan der bevorstehenden Untersuchung. § 189- 194.
Zweyter Abschnitt. Ontotogie.
Erstes Capitel. Von der Auffassung des Realen durch Begriffe. § 195 — 200.
Zweytes Capitel. Vom Begriffe des Seyn. § 201 — 204. [xx]
Drittes Capitel. Vom Begriffe der Qualität. § 205 — 212.
Viertes Capitel. Vom Probleme der Inhärenz. § 213—223.
Fünftes Capitel. Von der Veränderung. § 224—230.
Sechstes Capitel. Vom wirklichen Geschehen. § 231 — 239.
Dritter Abschnitt. Synechologie.
Erste Abtheilung. Von Raum, Zahl, und dem Ursprünge der Alaterie.
Erstes Capitel. Von den verschiedenen Anfängen der Synechologie. § 240 — 244.
Zweytes Capitel. Von der starren Linie, und der Zahl. § 245 — 252.
Drittes Capitel. Von der stetigen Linie, und der Ebene. § 253 — 262.
Viertes Capitel. Vom körperlichen Räume. § 263 — 266.
Fünftes Capitel. Vom Ursprünge der Materie. § 267 — 278.
Zweyte Abtheilung der Synechologie.2 Vom objektiv -scheinbaren Geschehen;
oder von der Zeit und dem Zeitlichen.
Erstes Capitel. Von der Bewegung überhaupt. § 279 — 283.
Zweytes Capitel. Von der Geschwindigkeit. § 284 — 286.
Drittes Capitel. Von der Zeit. § 287 — 291.
Viertes Capitel. Vom objektiven Schein. § 292 — 296.
Fünftes Capitel. Vom Schein im Laufe der Begebenheiten. § 297 — 301.
Vierter Abschnitt. Eidolologie [xxi]
Erstes Capitel. Idealistische Metaphysik im allgemeinen. § 302 — 308.
Zweytes Capitel. Vom Ich und Nicht- Ich als Thatsache. § 309 — 319.
Drittes Capitel. Schärfung des Begriffs vom Ich und Widerlegung des
Idealismus. § 320 — 325.
Viertes Capitel. Von der Möglichkeit des Wissens. § 326 — 330.
Fünfter Abschnitt. Umrisse der A'atttrphilosophie.
Erste Abtheilung. Synthetische Untersuchungen.
Vorerinnerung.
Erstes Capitel. Vom Unterschiede des synthetischen und analystischen Theils
der philosophischen Naturlehre. § 331 — 333.
Zweytes Capitel. Von der möglichen Verschiedenheit der Materie. §334 — 346.
Drittes Capitel. Von der Veränderlichkeit der Materie. § 347—361.
Viertes Capitel. Von der Bildsamkeit der Materie. § 362 — 377.
Zweyte Abtheilung. Analytische Untersuchungen.
Erstes Capitel. Von der Mittheilung der Bewegung. § 378 — 387.
Zweytes Capitel. Von der Wärme, und den durch sie bestimmten Formen
der Materie. § 388 — 399.
Drittes Capitel. Von Elektricität und Magnetismus. § 400 — 412.
Viertes Capitel. Von der Schwere und dem Lichte. § 413 — 420. [xxn]
Fünftes Capitel. Bemerkungen zur Chemie. § 421 — 425.
Sechstes Capitel. Philosophische Beleuchtung der physiologischen Grund-
begriffe. § 426 — 444.
1 In SW. lautet die Ueberschiift des Inhaltsverzeichnisses , das übrigens daselbst vor der
Vorrede steht: Inhalt: Allgemeine Metaphysik, nebst den Anfängen der philosophischen Naturlehre.
Zweiter systematischer "lheil. Vorrede trster Abschnitt u. s. w. 1. Kapitel u. s. w. (Die Zahlen-
bezeiclinung der Kapitel ist in SW nicht in Buchstaben, sondern in Ziffern ausgedrückt.)
- Zweite Abtheilung. SW. („der Synechologie" fehlt.)
[i] Erster Abschnitt.
Methodologie.
Erstes Capitel.
Von den Forderungen, welche die Methodologie zu erfüllen hat.
§ 161.
Um nicht blofs von Demjenigen auszugehn, was Jedermann einräumen
mufs, sondern auch bey einem Puncte anzuknüpfen, den jeder wirklich
einräumt, und der in der gesammten Gelehrtenwelt eine gleiche Aufmerk-
samkeit erlangt hat: lassen wir Spinoza und Kant, Schelling und Fries.
Ein französischer Naturforscher soll die Rede beginnen.
„Der Zweck einer Theorie besteht darin, mit einer allgemeinen That-
sache oder mit so wenigen solchen Thatsachen als möglich, alle diejenigen
besondern Thatsachen zu verbinden, welche davon abhängen. Die ein-
zelnen Entdeckungen standen Anfangs jede allein; ja sie erschienen zum
Theil paradox, und im Widerspruche mit andern Thatsachen der nämlichen
Gattung. Aber der Geist trat endlich heivor, welchem es war [2] vorbehalten
gewesen, aus allen zerstreuten Gliedern eine Kette zu bilden. Kennt man
das Gesetz, welchem eine Tendenz unterworfen ist: so kann man durch
Rechnung alle andern Thatsachen der ersten anreihen; und mit Hülfe der
Theorie lieset man sogar mit Gewifsheit in der Zukunft; weil, nachdem
die Verknüpfung der Thatsachen einmal bestimmt worden, das Gewesene
sich verbürgt für das Kommende; so dafs die Rechnung selbst Phänomene,
die sich erst nach einer Reihe von Jahren würden gezeigt haben, schon
im Voraus erblicken läfst. Die anfänglich zerstreuten Thatsachen gleichen
nun einer Familie; oder den verschiedenen Seiten eines einzigen Ereig-
nisses. — Man kann leicht sehn, welcher weite Abstand die Theorie vom
Systeme absondert. Das System (in der Bedeutung, worin wir hier das
Wort nehmen, um es aus der Physik zu verbannen) besteht in einer ledig-
lich willkürlichen Voraussetzung, auf welche man durch gezwungene Deutung
den Gang der Natur zurückführt. Es ist etwan ein Wirbel, oder ein Aus-
fluß feiner Materie; es ist, was man will; denn der Einbildung steht Alles
frey. Mit Hülfe einer solchen Voraussetzung, die stets das Gegebene über-
schreitet, erklärt man Alles obenhin; das System schwankt, vom Zufall ge-
trieben, in der Gegend Dessen, was ungefähr mit den Thatsachen zusammen-
trifft, aber es ist unfähig, sie genau zu bestimmen."
1 SW. haben über „Erster Abschnitt" noch die Ueberschrift „Zweyter syste-
matischer Theil."
i. Abschnitt. Methodologie, i. Capitel. Von den Forderungen, welche etc. n
So weit Haü\t, in der Einleitung zu seinem traitt eUmentaire de
phvsiqne. Und Biot versichert in den ersten Zeilen seiner Naturlehre,
die Metaphysiker geben zwar sehr verschiedene Erklärungen der Materie;
einige behaupten sogar, dafs wir keine moralische Gewifsheit ihres Da-
seyns hätten; aber der Physiker lasse sich auf diese Erörterungen nicht ein.
Man will also Thatsachen, so weit es möglich ist, [3] verknüpfen und
vorher sehn; damit sie nicht überraschen, wenn sie eintreten. Dem An-
schauen soll das Denken dergestalt vorausgehn, dafs beydes in gesicherter
Harmonie stehe.
Man will hingegen nichts wissen von beliebigen Voraussetzungen, nichts
von gezwungenen Deuteleyen.
So weit ist völliges Einverständnifs vorhanden. Aber wir erweitern die
•erste Forderung; weil mit dem, was man verschmäht, aus Unvorsichtigkeit
etwas weggeworfen ist, welches wesentlich zu jener Forderung gehört.
Das Denken soll nicht blofs mit dem Anschauen, sondern auch mit
sich selbst übereinstimmen. Wird Jemand das Gegentheil wollen?
Verschmäht hat man das, was die Erfahrung überschreitet, in der
Meinung, dies Transscendente sey nichts als beliebige Voraussetzung. Man
hemerkt also nicht, dafs die Erfahrung gewisse Voraussetzungen fordert,
-welche zu ihr als nothwendige Ergänzungen gehören, obgleich sie nicht,
wie die im Voraus berechneten Thatsachen, irgend einmal in die Sinne
fallen werden, sondern stets Gegenstände des Denkens bleiben.
§ 162.
Betrachtet man das Verfahren der Physiker mehr in der Nähe, so
findet man, dafs ihre Beschreibung desselben nicht gar zu streng zu nehmen
ist. Beliebige Voraussetzungen und erzwungene Deutungen sind ihnen nicht
ganz fremd.
Dafs sie Hypothesen versuchen, kann man ihnen nicht verdenken.
Nachdem sie voraussetzten, ein Komet laufe in einer Parabel, welches
freylich weder bewiesen, noch eine Thatsache war, sind sie bereit, fernere
Beobachtungen anzustellen, und die Hypothese diesen gemäfs zu berichtigen.
Sie analysiren also die Erfahrung, und verbessern hierdurch den Mangel,
der sich in der [4] Unsicherheit der anfänglich nur gewagten Muthmafsung
zeigt. Obgleich aber dieser Mangel hintennach ersetzt wird, so war er
doch vorhanden, und darf nicht abgeleugnet werden. Wenn Jemand eine
Gleichung durch Versuche auflöset, und aus anfänglichen nicht übergrofsen
Fehlern eine Wegweisung gewinnt, wie er sich einer Wurzel der Gleichung
annähern könne: so darf er ohne Zweifel sein Verfahren nicht einer voll-
kommenen Methode vergleichen, welche ihn mit Bestimmtheit nicht blofs
Eine, sondern alle Wurzeln würde gelehrt haben; selbst die unmöglichen,
die zur vollständigen Entwickelung des Begriffs, den die Gleichung ausdrückt,
unstreitig mit gehören. Und wenn Jemand durch glückliches Errathen ein
Gesetz, wie das der Gravitation, findet, oder auf eine Hypothese, wie die
Franklinsche oder Symmersche, die Beobachtungen, welche mehr oder weniger
wahrscheinlich in einem geschlossenen Kreise zu liegen scheinen, zurück-
führt: so soll darum Niemand glauben, hier seyen nun die äufsersten mög-
lichen Gränzen der menschlichen Erkenntnils erreicht; wohl aber ist es klar,
12 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
dafs die Sache noch tiefere Gründe haben mufs, die man nicht errieth
und nach denen die Frage stets offen bleibt.
Dafs gezwungene Deutungen zuweilen auch den Physikern begegnen,
und dafs in solchen Fällen ein unbefriedigtes metaphysisches Bedürfnifs
pflegt zum Grunde zu liegen: hievon bietet Haüy, in der angeführten
Stelle, ein Beyspiel, das kurz genug ist, um hier angeführt zu werden;
und zugleich vollkommen eingreifend in die Metaphysik. „Die Worte An-
ziehung und Abstofsung (sagt er), deren man sich bedient, um das Grund-
factum, worauf die Theorie beruht, anzugeben, bedeuten eigentlich nichts
anderes, als die Geschwindigkeiten, womit Körper sich bestreben (t enden t)r
einander sich zu nähern oder zu entfernen." [5] Jedermann sieht unmittel-
bar das Gegentheil dieser Behauptung. Die Worte Attraction und Repulsion
bedeuten in allen Sprachen eigentlich ein Thun; dieses aber, sammt der
Kraft in den Körpern, die man zu ihrer Thätigkeit hinzu zu denken pflegt,,
wollte Haüy vermeiden. Darin hatte er vielleicht noch mehr Recht, ais-
er selbst wufste; aber doch war es nicht recht, dafs er der Untersuchung,
wodurch dies Recht klar werden mufs, zu entschlüpfen suchte, indem er
den Worten statt des Thuns eine blofse Geschwindigkeit unterschob; und
noch obendrein mislang der Versuch. Denn der metaphysische Frage-
punet, den er umgehen wollte, kommt doch in der Tendenz, welche den
Körpern beygelegt wird, wieder zum Vorschein. Ungefähr so wie bey
der französischen Darstellung der Differentialrechnung das Unendlich-Kleine
umgangen wird, in der Mechanik aber dennoch einem Jeden unvermeidlich
einfällt; so dafs die Schwierigkeit eben darum stehen bleibt, weil man sich
scheute, ihr in die Nähe zu kommen.
Die Billigkeit erfordert jedoch, in solchem Verfahren der Physiker
und Mathematiker weiter nichts zu erblicken als ein Bemühen, die Arbeit
zu theilen, welche die Naturlehre verlangt. Die französischen Physiker
haben sich um Rechnung und Beobachtung so aufserordentlich verdient
gemacht, dafs es unbescheiden seyn würde, auch noch die Aufhellung
metaphysischer Begriffe von ihnen zu verlangen. Unmöglich konnten sie
sich mit bisheriger Metaphysik vertragen; sie beschränkten sich daher auf
Thatsachen, und liefsen unentschieden, ob diese unmittelbar das Reale dar-
stellten, oder ob dasselbe darunter in einer vielleicht unergründlichen Tiefe
verborgen sey.
§ 163.
Jede Speculation, sie heifse nun Theorie, System, oder wie man willT
sucht eine Construction [6] von Begriffen, welche, wenn sie vollständig wäre, das
Reale darstellen würde, 'wie es dem, ivas geschieht und erscheint , zum Grunde
liegt. Über den Grad dieser Vollständigkeit, und über das, was man ent-
behren müsse, trennen sich die Meinungen. Allein die Gründe, die jede
derselben für sich anzuführen hat. würden besser einleuchten und sicherer
geprüft werden, wenn man wenigstens vorläufig die Frage in ihrer ganzen
V« -llständigkeit liefse, und sich auf Entbehrungen erst dann gefafst machte,
wenn man dazu eezwunsren wird.
Hier entsteht ein scheinbarer Unterschied zwischen dem Lehrer und
dem Hörer.
i. Abschnitt. Methodologie, i. Capitel. Von den Forderungen, welche etc. 13
Der blofse Schüler würde zufrieden seyn, wenn man ihm die Natur
wie eine Maschine auseinander nähme, und sie dann vor seinen Augen
wieder zusammensetzte. So ungefähr geschieht es in Vorträgen der Chemie,
wenn dieselben anheben von den einfachen Stoffen, und nun erzählen, aus
Sauerstoff und Wasserstoff werde Wasser, aus Sauerstoff und Stickstoff
Salpetersäure, aus Sauerstoff und Kohlenstoff werde Kohlensäure u. s. w.
Aber wer wird so lehren wollen? Und selbst welcher klügere Schüler
wird unterlassen zu fragen: Wie erkanntet ihr den Sauerstoff? wie entdecktet
ihr den Stickstoff? Waren das blofse Hypothesen? —
Der Lehrer, oder vielmehr der selbständige Denker, der ja zuerst für
sich und dann für Andre forscht, kann nicht bey der Frage vorübergehn,
wie er es denn anfangen werde, das Reale zu finden? Freylich, bei vor-
eiliger Resignation, wenn er die obige Aufgabe gar nicht in ihrer Voll-
ständigkeit aufzufasssen wagt, überläfst er sich vielleicht dem Versuch, den
Erscheinungen nur eine dünne Folie unterzulegen, um sie zu erklären, ohne
nach der Erklärung dieser Erklärung, bis auf den realen Grund, sich um-
zusehn. [7] Und hiezu mag es genügen, sich etwa mit Franklin oder
Svmmer aufs Rathen zu legen, um eine oder ein paar Materien mit ur-
sprünglichen Repulsivkräften ihrer gleichartigen Theile den elektrischen
Erscheinungen anzupassen; ohne nach der Möglichkeit solcher Repulsiv-
kräfte, und nach ihrem Zusammenhange mit dem Realen zu fragen.
Wer aber um die Tiefe seiner Untersuchungen besorgt ist, und wer
die gröfste mögliche Tiefe zu erreichen wünscht : der bedarf einer Methode,
um die ersten Gründe aller Erklärung 'zu finden; oder wenigstens regel-
mäfsig darnach zu suchen.
Dafs solche Gründe nicht unmittelbar gegeben sind, darüber wird im
ersten Theile dieses Werks, und anderwärts, genug gesagt seyn. Dafs sie
aber aus dem Gegebenen erkannt werden müssen, leuchtet unmittelbar ein,
wenn man es nicht auf den Zufall des glücklichen Rathens, ungewarnt
von der ganzen bisherigen Geschichte des menschlichen Wissens will an-
kommen lassen.
§ 164.
Die erste Hauptforderung, welche die Methodologie zu erfüllen hat,
ist demnach die, dafs sie die Auffassung des Gegebenen gehörig bestimme.
Darunter sind zwey speciale Forderungen enthalten. Die eine, dafs
sie gegen Verfälschungen des Gegebenen warne, und dessen Sicherheit
oder Unsicherheit prüfe. Die zweyte, dafs im Gegebenen die Antriebe
des fortschreitenden Denkens nachgewiesen werden, vermöge dessen man
sich dem Realen ohne Sprung nähern könne.
Die zweyte Hauptforderung ist, die Bewegung desjenigen Denkens zu
beschreiben, was aus jenen Antrieben unmittelbar hervorgeht; und im All-
gemeinen die [8] Gränze zu bestimmen, wie weit es reicht. Diese Forderung
läfst sich allgemeiner fassen; und es ist vortheilhaft, das nicht zu ver-
säumen. Die Frage lautet so: wie können überhaupt Gründe und Folgen
im Denken zusammenhängen? Sie darf nicht verwechselt werden mit der
analogen Frage der Ontologie: wie können Ursachen und Wirkungen zu-
sammenhängen? Denn hier, in der Methodologie, kann nur vom Denken
j . Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
die Rede seyn; und die Verknüpfung der Gedanken im Schliefsen hat
eicne Schwierigkeiten, aber nicht die, welche bev den Ursachen aus der
vorausgesetzten Realität derselben hervorgehn.
Die dritte Hauptforderung ist die, im allgemeinen die Möglichkeit
begreiflich zu machen, dafs man zum Gegebenen, von dem man ausging,
zurückkehre.
Denn gesetzt, man habe sich durch die vorige Bewegung des Denkens-
dem Realen genähert, das heifst, man habe solche Begriffe gewonnen, die
mehr oder weniger für eine Erkenntnifs desselben gelten können (wobey
wir dies Mehr oder Weniger absichtlich unbestimmt lassen, um Nichts vor-
eilig vestzusetzen) : so ist offenbar, dafs man nun erst anfangen kann, aus-
den gefundenen, mehr oder weniger tief liegenden Gründen die Er-
scheinungen zu erklären.
Die ganze Metaphysik beschreibt gleichsam einen Bogen, der von
der Oberfläche des Gegebenen in die Tiefe hinabsteigend sich dem Realen
erst nähert, dann wieder aus derjenigen Tiefe, die man hatte erreichen
können, sich erhebt und beym Gegebenen mit den Erklärungen desselben,
insofern sie uns möglich sind, endigt. Diese bogenförmige Bewegung zu
leiten, ist die ganze Aufgabe der Methodologie; und darin sind jene
Forderungen enthalten.
[9] Zweytes Capitel.
Vom Gegebenen.
§ 165.
Der Anfang sollte, wie in jeder Wissenschaft, so auch in der Meta-
physik, das Leichteste seyn. Er ist es wirklich an sich; wenn man ab-
rechnet von den Vorurtheilen, den Erzeugnissen des blinden psychologischen
Mechanismus; und von dem Mangel an Aufmerksamkeit auf die wahre
Beschaffenheit des Gegebenen.
Zwar nicht mit Nymphen und Dämonen, nicht mit Kobolden und
Hexen, haben wir heutiges Tages zu kämpfen; von ihnen ist der Boden
des Gegebenen jetzt rein und frey. Auch nicht die Kugelgestalt des
Himmels, als eines blauen, vesten Gewölbes mit allerley Schmuck, steht
im Wege. Der alte xoo/uog, in diesem Sinne, ist verschwunden. Aber die
kosmologische Neigung ist geblieben. Von dem All redet man noch
heute mit der gröfsten Geläufigkeit; und über der Frage, ob es endlich
sev oder unendlich, vergifst man, dafs es als eine ganz unbestimmte, und
unzusammenhängende, unsymmetrische Menge von Körpern gegeben ist.
Diese Körper zu organisieren und zu beleben, kostet unsern heutigen
Magiern nur einen Zauberschlag; sie erklären das All für Eins. Ist ihnen
denn die Einheit gegeben?
Gewifs nicht! Aber seit Kant sind sie gewohnt, Raum und Zeit als
unendliche gegebene Gröfsen jeder Erfahrung vorauszusetzen, und dieselbe
damit zu umspannen. Seit Fichte sind sie gewohnt, diese ganze Er-
i. Abschnitt. Methodologie. 2. Capitel. Vom Gegebenen. 15
fahrung zusammengefafst im Ich zu vereinigen. Seit Spinoza und Schelling
sind sie gewohnt, das Ich aus sich hinausgetragen als die universale Sub-
stanz zu betrachten. Lassen wir diese dichtenden Philosophen! [10] Von der
Notwendigkeit, zu den Anfangspuncten zurückzukehren, und Anfangs Alles
bey Seite zu setzen, was entweder nicht Anfang, oder doch nicht Anfang
des Wissens seyn kann, haben sie zwar genug geredet; aber bei den Worten.
ist's geblieben.
Weder Alles noch Eins ist gegeben. Aber Dinge, als Complexionen
von Merkmalen, fördert der natürliche psychologische Mechanismus, ab-
gesehen von allen Verkünstelungen, wirklich zu Tage; und es begegnet
uns Allen, dafs wir diese Dinge als ausgedehnt im Räume, als veränder-
lich, thätig und leidend betrachten. Wenn hierin Irrthum, oder wenigstens
Besorgnifs des Irrthums entspringen kann, so gehört es allerdings zum An-
fange der Metaphysik, die unsichere Stelle zu untersuchen; und das ist
der Gegenstand dieses Capitels.
§ 166.
Eine logische Bemerkung mufs vorangehn. Das Gegebene, ein unbe-
stimmt- Vieles, läßt sich nicht übersehen, außer durch allgemeine Begriffe.
Nur vermittelst derselben kann es Gegenstand der Untersuchung
werden. Denn von der ganzen Masse des Gegebenen kann man weder
auf einmal Gebrauch machen, noch würde ein willkührliches Herausheben
des Einen und Weglassen des Anderen zu rechtfertigen seyn. Das sämmt-
liche Gegebene ist Gegenstand der Untersuchung; eben darum aber
mufs man es nicht blofs als bekannt, sondern auch als logisch geordnet,
voraussetzen, damit es als ein zum Gebrauche bereit liegender Vorrath
gelten könne.
Unstreitig kommen nun die höchsten Allgemeinbegriffe zuerst zur Unter-
suchung. Allein hier liegt eine Klippe, an die wir erinnern müssen, damit
nicht die Logik selbst zum Verderben der Wissenschaft gereiche.
[11] Die Metaphysik der altern Schule betrachtete das Wirkliche als
logisch untergeordnet dem Möglichen. Dies, mit seinem Gegentheile, dem Un-
möglichen, konnte keinem höhern Begriffe, der beyden gemein gewesen wäre,
untergeordnet werden. Also war der Gegensatz des Möglichen und Un-
möglichen scheinbar der oberste Anfang der Metaphysik; und nun mufste
man von hier an die logische Stufenleiter wieder hinab steigen. Das Mög-
liche stand an der Spitze. Man sollte demnach diejenige Determination
finden, wodurch man das Wirkliche als eine Art des Möglichen beschreiben
könne. Und man fand — jenes complementum possibilitatis, von dem wir
oben (§ 7) gesprochen haben.
Aber welches war nun der Sitz des Fehlers? Reflextonsphilosophie!
ruft uns die heutige Zeit schmähend entgegen. Also hätte die alte Schule
ohne Reflexion, ohne logische Allgemeinheit zu Werke gehen sollen? Frey-
lich, wenn sie dichten oder schwärmen wollte!
Der Fehler lag vielmehr darin, dafs die Abstraction über ihr Ziel
hinausging. Das Gegebene ist ein Wirkliches, und keine leere Möglichkeit.
Die Metaphysik will nicht blofs denken, sondern erkennen. Was nicht zum
Erkennen dient, das ist ihr fremd; alles in ihr miß sich auf Wirklichkeit,.
I0 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
unmittelbar oder mittelbar bezieht. Diese Voraussetzung kann sie nicht einen
Auscnblick loslassen. Sie liefs aber davon los, als sie vom blofs Möglichen
o .
redete; und dadurch verlor sie, vom ersten Augenblicke an. die Spur, in
der sie fortgehen sollte.
Hier ist ein ähnlicher Fall, wie in der Ästhetik. Oben (§ 124) wurde
bemerkt, wie sehr dieselbe Ursache hat, sich zu hüten, dafs sie nicht in
Abstractionen, wodurch die Grundverhältnisse zerrissen werden, sich ver-
liere. Leere Abstraction war der gewöhnliche Feh[i2]ler in früherer Zeit;
neuerlich hat man das gefühlt, aber nicht verbessert, sondern durch den
umgekehrten Fehler verschlimmert.
"Ö"
§ 167.
Die Warnung gegen leere Abstraction mufs noch erweitert werden.
Der Begriff des Wirklichen ist ebenso wohl ein allgemeiner Begriff, als der
des Möglichen; und in ihm liegt kein Anfangspunct des Wissens, aufser
inwiefern er das Gegebene ausdrückt. Nun trägt aber das Gegebene nicht
in dieser Allgemeinheit den Charakter der Wirklichkeit; sondern alles Wirk-
liche, das wir vorfinden, ist (entweder gewifs, oder wahrscheinlich) ein Ding
mit mehreren und veränderlichen Merkmalen. Also nur mit dieser nähern
Bestimmung hat der Begriff des Wirklichen einen eigentlichen Werth.
Wir werden zwar die Ontologie mit der allgemeinen Betrachtung über
das Seyn und das Sevende anheben. Aber das sind nur vorbereitende
Entwickelungen der Begriffe, die für sich allein noch kein Wissen begründen
würden. Der Anfang des Wissens liegt in der Lehre von der Substanz,
und der zugehörigen Inhärenz; wiederum nicht wegen dieses Begriffs, als
eines solchen, sondern weil hier erst die gegebene Anschauung, mit ihrem
Anspruch an wenigstens mittelbare Darstellung des Realen, sich mit dem
Denken unzertrennlich vereinigt; dergestalt zwar, dafs nicht der ganze Ge-
danke angeschaut wird, wohl aber von einem zusammengesetzten Gedanken
ein Theil durch die Anschauung verbürgt ist, während ein andrer Theil
dazu eine im Denken nothwendige Ergänzung bildet, die sich von dort an
noch im Nachdenken erweitert.
Gesetzt ferner, ein Gegebenes sey unsicher, wie bey schwankenden Be-
obachtungen, oder bey Zeugnissen: [13] so pafst darauf, ohne Verminderung
oder Vermehrung des Grades der Wahrscheinlichkeit, dieselbe Form der
Untersuchung, wie wenn das nämliche, als Gegebenes, völlig sicher wäre.
Diese Bemerkung kann auch auf Muthmaafsungen angewendet werden.
Z. B. die Sterne sind uns blofs durchs Licht gegeben. Jeder einzelne der-
selben ist also für sich keine Complexion von Merkmalen, sondern, was
bey andern Dingen nur ein Merkmal seyn würde, das ist hier der ganze
Gegenstand. Gleichwohl zweifelt Niemand, dafs, wenn wir in die Nähe
eines FLxsterns gelangen könnten, wir dort eine ungeheuer grofse Ver-
bindung von Merkmalen antreffen würden. Dies näher zu untersuchen,
ist nicht die Sache der allgemeinen Metaphysik; sondern der Stern fällt
für sie muthmaafslich unter die nämliche Untersuchung, die sie für die
uns näher bekannten Gegenstände allgemein anstellt.
Das Gewicht der Muthmaafsung wird in solchen Fällen durch den
Lauf der metaphysischen Untersuchung gar nicht verändert. Aber der
i. Abschnitt. Methodologie. 2. Capitel. Vom Gegebenen. \j
Werth der letztern, da sie nicht blofs für Muthmaafsungen, sondern für
das unbestreitbar Gegebene allgemein angestellt wird, verliert nichts, wenn
auch nicht Alles, worauf sie pafst, als Gegebenes, die gleiche Sicherheit
besitzt. Denn es kommt für sie nichts darauf an, in wie vielen Exemplaren
die Gegenstände ihrer Grundbegriffe gegeben sind; sondern selbst ein ein-
zelnes Exemplar könnte nöthigenfalls genügen, um die Gültigkeit der Be-
griffe zu verbürgen.
§. 168.
Wie aber, zvetw eine Unsicherheit des Gegebenen so beschaffen ist, da/s
sie alle Gegenstände zugleich, ja auf gleiche Weise trifft ? Dann wird aller-
dings das Fundament der Un-[i4]tersuchung erschüttert; und hier ist die
Gränze zwischen logischer und skeptischer Betrachtung, zu welcher letzteren
wir nunmehr übergehen müssen, um nicht den gefährlichsten Feind unbe-
wacht hinter uns zu lassen.
Aus der Einleitung in die Philosophie (§. 19 — 29.) kennt man eine
zwiefache Skepsis. Die erste Art, die Skepsis der Alten, betrifft die Frage,
ob die Dinge so gegeben werden, wie sie wirklich sind ; das aber fragt
heutiges Tages nur der Anfänger; und hieher gehört es gar nicht. Denn
inwiefern durchs Gegebene das Reale hindurchleuchte, wird die Ontologie
untersuchen. Jetzt ist nur die Rede von der factischen Sicherheit des Ge-
gebenen; nicht von dem, was, wie, und wieviel man dadurch erkenne.
Von ganz anderer Beschaffenheit, als die Skepsis der Alten, sind die
Zweifel, welche in der Einleitung unter dem Titel: höhere Skepsis, auf-
geführt wurden. Diese gehören ihrem Ursprünge nach dem Humisch-
Kantischen Gedankenkreise. Ihr historischer Anfang liegt in der Frage,
ob uns ein Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung gegeben sey?
Ob man jemals das Wirken eines Dinges, wobey es aus sich herausgeht
und in das Leidende eingreift, gesehen habe? Darauf antwortet Jedermann
mit dem Bekenntnisse, er habe es nicht gesehen; und wir fügen hinzu,
er konnte es nicht sehen; nicht etwan blofs aus Mangel an Fähigkeit des
Wahrnehmens, und wegen Beschränktheit der menschlichen Natur, sondern
weil die causa transiens in der Art, wie man sie sich dachte, und nach
ihr fragte, gar nicht existirt, auch niemals existiren kann, sondern ein
blofses Hirngespinnst ist.
Allein das Eigenthümliche dieser Frage interessirt hier auch nicht,
sondern blofs die Form des Zweifels, welcher das vermeint/ich Gegebene
als erschlichen zurückweiset.
[15] §■ 169.
Dinge, mit mehrern, und veränderlichen Merkmalen, sind gegeben.
Die Veränderung fällt in die Zeit; die Dinge selbst sind bey vollständigen
Auffassungen zugleich räumlich bestimmt.
Die philosophische Reflexion, indem sie dies Gegebene auffafst, hat
es zu allen Zeiten gespalten in Materie und Form.
Materie des Gegebenen ist die Empfindung. Diese war niemals ein
Gegenstand des Zweifels, und kann es nicht seyn.
Hf.riiart's Werke. VIII. 2
jg Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Aber eben indem wir dieses aussprechen, deuten wir schon an, dafs
die Form, oder dafs alle Formen der Erfahrung dem Zweifel anheim fallen.
Denn warum kann die Empfindung nicht bezweifelt werden? Darum
nicht, weil eben sie das unmittelbar Gegebene ist. Also die Form, die von
der Materie, das heifst hier, von der Empfindung, unterschieden werden
mufs, ist nicht das unmittelbar Gegebene'. Daher der Zweifel; und dieser
mufs vollständig überlegt, aber auch nur als Zweifel vorgetragen werden.
Denn bey gehöriger Ueberlegung verschwindet er, und eine psychologische
Frage tritt an seine Stelle.
Es ist unvermeidlich, hier an frühere Schriften des Verfassers zu er-
innern. Denn der ganze Zweifel gehört erstlich zu den Vorübungen des
Anfängers; und sie sind so nothwendig, dafs sie niemals vergessen werden
dürfen. Zweytens, die Aufklärung dieses Zweifels ist ein Hauptgegenstand
der Psychologie; welche nachweisen mufs, wie die Formen der Erfahrung
sich erzeugen, und wie es zugeht, dafs wir sie allerdings im Gegebenen
unzweydeutig finden, obgleich in der That eigentlich nur die Empfindung
das Gegebene ausmacht.
[16] Der Leser wolle nun jene Vorübungen auf einen Augenblick bey sich
erneuern, die er damals anstellte, als er, etwan auf Veranlassung der Ein-
leitung in die Philosophie, sich fragte, ob Raum, Zeit, Verknüpfung der
Merkmale Eines Dinges, Veränderung und Verbindung aller Vorstellungen
im Ich ihm wirklich gegeben seyen?*
Damals hat der Leser sich z. B. ein paar Körper vor seinen Augen
näher und ferner gerückt. Er hat sie betrachtet, und bemerkt, dafs sich
das Sichtbare an diesen Körpern nicht ändert, sie mögen nun etwas näher
oder entfernter von einander seyn, so lange nicht optische oder per-
spectivische Gründe, die nicht hieher gehören, hinzukommen. Er hat
demnach überlegt, wie es ihm möglich sey, ihre Nähe oder Entfernung zu
beobachten? Ob er den leeren Zwischenraum sehen könne? Ob etwa die
Entfernung, als eine bestimmte, erkannt werde mit Hülfe des Hinter-
grundes, vor welchem die Körper vorübergehn; der jedoch sehr mannig-
faltig sevn kann, und der Nachts zwischen ein paar Sternen eigentlich gar
nicht als eine sichtbare Fläche vorhanden ist! Ob endlich das Sichtbare
des einen oder des andern Körpers auf irgend eine Weise als Merkmal
etwas an sich trage, das auf den Gegensatz des einen Sichtbaren hier,
und des andern dort, könnte gedeutet werden ?
Um sich in diesen Fragen recht zu verstehen, und nicht vom Frage-
punete abzuirren, hat der Leser (wenn es erlaubt ist, die nämliche Form
des Vortrags noch beizubehalten, da sie hier die zweckmäfsigste scheint)
schon damals die Zeitbestimmungen verglichen ; und. nicht blofs bey dem
Auge und dem Getaste, sondern auch beym Ohr, Nachfrage gehalten.
Wie macht man [17] es, wenn zweymal mit dem Finger auf den Tisch
geklopft wird, die Zeitdistanz der Schläge zu hören? Vernimmt man die
Zwischenzeit in dem ersten Schalle? Nein; die Zwischenzeit hatte noch
nicht angefangen. Oder im letzten? Nein! sie war schon vorbey. Ver-
nimmt man denn die leere Zwischenzeit (bey der an gar keinen Hinter-
* A. a. O. § 23 u. s. w.
i. Abschnitt. Methodologie. 2. Capitel. Vom Gegebenen. 19
grund zu denken ist) für sich allein; und kann überhaupt das Leere wahr-
genommen werden ?
Ferner hat sich der Leser gefragt, ob ein Ding A, welches gegeben
wird durch die Merkmale a, b, c, in Wahrheit für gegeben gelten könne?
Seyen a, b, c, unmittelbare Empfindungen: so sind sie selbst unstreitig
gegeben; aber wo ist ihre Einheit, das Ding? Ist diese Einheit noch aufser
und neben a, b, c, gegeben? Nein! Oder ist in a das Merkmal gegeben,
dafs es Eins sey mit b und mit c; in b die Verbindung mit a und c;
in c die Verbindung mit a und mit b? Nein; jede Empfindung ist in sich
vollständig; sie enthält nichts von der andern; sie weiset nicht hin auf die
andere; sie steht allein.
Hieran knüpfte sich die Frage; ob denn die Veränderung gegeben
sey? Die Complexion a, b, c, gehe über in a, b, d; so hat sich c in d
verändert. So sagen wir gewöhnlich im gemeinen Leben. Wenn aber
die Einheit der Complexion a, b, c, und die Einheit der Complexion aT
b, d, nicht gegeben ist, so mögen zwar sowohl c als d, nicht aber ihr
Wechsel in der voreilig angenommenen Einheit gegeben seyn.
Endlich, die mehreren Vorstellungen, die Ich Mir als Meine Vor-
stellungen beylege, enthalten sie, jede einzeln genommen, das Merkmal,
eine sey bey der andern im Ich? Nein! Aber ist die Verbindung noch
neben und aufser ihnen gegeben? Ja, denn das Ich ivcifs unmittelbar von
sich, dem Vorstellenden jener Vor st el lim gen! So lautet hier aus-[i8]nahms-
weise, und verschieden von den vorigen Fällen, die natürliche Antwort.
Dafs ein unmittelbares Wissen von Sich, dafs das reine Ich ein Unding
und eine falsche Abstraction ist, lehrt erst die Psychologie, die der Leser
(welchen wir uns einbilden), als er die hier erneuerten Vorübungen an-
stellte, noch nicht kannte.
Sein Schlufs aber lautete damals so: die Formen der Erfahrung müssen
entweder für sich, oder in der Materie derselben (das heifst, in der Em-
pfindung) gegeben seyn. Keim von bey den findet statt ; also sind sie gar
nicht gegeben. Hievon ist nur das Ich, als Vereinigungspunct aller unserer
Vorstellungen, ausgenommen; denn es ist (oder scheint wenigstens) für
sich eesreben.
Der Schlufs bewirkte jedoch, bey aller anscheinenden Bündigkeit, nur
einen Zweifel. Denn es war erstlich nicht möglich, eine solche Ver-
nichtung alles Wissens, ja alles Denkens, wie dieser Schlufs nach sich
zieht, indem er alle Fugen der Natur und Geschichte auflöset, auch nur
einen Augenblick ernstlich zu ertragen. Es war zweytens glücklicherweise
eben so wenig möglich, um sich her zu schauen, ohne sogleich sich von
allen Seiten her wiederum ergriffen zu fühlen von gegebenen Gestalten, Zeit-
räumen, Dingen und Veränderungen. Wir nahmen den Faden dieser Be-
trachtung erst nach dem Vortrage der Logik wieder auf,* und erinnerten
an Folgendes: wenn die Formen nicht gegeben, sondern blofs eingebildet
seyen, so müsse man ihre Bestimmungen können willkührlich verwechseln.
Es sey dann möglich, das Runde als viereckig anzuschauen, indem ja die
Rundung könne weggenommen werden von dem Empfundenen, welches
* Einleitung in die Philosophie. [Band IV vorl. Ausgabe.] §. 96—103.
20 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
dagegen füglich die Form des Vierecks sich könne gefallen lassen. [10]
Wenn nämlich .das Sichtbare gar nichts von Raumbestimmungen enthält,
sondern vielmehr jeder einzelne sichtbare Punct nur seine Farbe zeigt;
wenn keiner dieser Puncte auf den andern hinweiset, wenn der Gegensatz
des Hier und Dort weder hier noch dort gesehen wird; — wenn gleich-
wohl solche Gegensätze in das Gegebene hineingetragen werden können:
so wird man sie beliebig, und anders bestimmt, als bisher, hineintragen
können.
Man kann es nicht! Also ist allerdings die Raumbestimmung gegeben.
So schlössen wir nun; und führten den analogen Schlufs durch die
Reihe der angegebenen Erfahrungsformen hindurch.
Es war damals zu erwarten, dafs wenn nicht andre, so doch die
Kantische Schule, hören und bemerken würde, es sey hier nicht vom
Räume, dem unendlichen, sondern von Raumbestimmungen, von Gestalten
und Entfernungen der Dinge, die Rede; und es sey ganz vergeblich, die
o-eo-ebenen Gestallen auf allgemeine Formen der Sinnlichkeit zurückzuführen,
deren Gestaltlosigkeit allein schon hinreicht, sie unbrauchbar zu machen.
Aber jene Schule beschwichtigt den Zweifel, ohne ihn zu lösen, indem sie
die Aufmerksamkeit ganz unzeitig auf eine vorgebliche Organisation des
menschlichen Erkenntnifsvermögens lenkt, wovon gar nicht die Frage war.
Hiedurch nöthigt sie uns, ausdrücklich zu sagen, dafs es ihr an den psycho-
logischen Untersuchungen fehlt, zu denen man getrieben wird, wenn man
nicht blofs wissen will, ob, sondern auch, wie die Formen der Erfahrung
gegeben seyen.
§. 170.
Die Psychologie hat zwar eigentlich gar keine Stimme in der all-
gemeinen Metaphysik. Denn sie soll in der- [20] selben ihre natürliche Vor-
gesetzte verehren. x\ber kein Zeitalter wird sie von ihren Anmaafsungen
ganz heilen können. Denn die Metaphysik erscheint wie eine Person, die
in tiefen Gedanken mit sich selbst redet, und die es nicht versteht, ihre
Umgebung so zu regieren, wie es ihr von Rechtswegen zukommt. Dies
träumende Ansehen kann und darf man ihr gar nicht nehmen. Es wäre
zwar sehr leicht, ganz dogmatisch ein längst fertiges System hinzustellen;
allein das hülfe dem Leser zu gar nichts. Ihm müssen die Puncte be-
merklich gemacht werden, wo er mit seinem Nachdenken still stehn, und
alte mit neuen Betrachtungen verbinden soll.
Während nun die Metaphysik selbst in Zweifel befangen scheint;
während sie, wie wir weiterhin sehen werden, sich mit Bruchstücken von
Begriffen beschäftigt, die so lange, bis sie die gehörige Ergänzung erlangt
haben, widersprechend erscheinen: gewinnt die Psychologie Zeit, nach ihrer
Art und gemäfs der Bildungsstufe, wo sie steht, darein zu reden. Sie
spricht etwa: Kennt Ihr Euch selbst? Wifst Ihr den Ursprung Eurer Vor-
stellungen? Wo nicht: wie wollt Ihr die Gränzen der Anwendung Eurer
Begriffe richtig bestimmen? Wie wollt Ihr vermeiden, Euer eignes Bild,
das Ihr im Spiegel seht, für einen äufsern Gegenstand zu halten. Wie
könntet Ihr die Formen Eures Auffassens, die in Euch selbst liegen, unter-
scheiden von den Formen des Gegebenen? Durch solche Reden findet sich
i. Abschnitt. Methodologie. 2. Capitel. Vom Gegebenen. 2 1
die Metaphysik zwar gestört, aber nicht belehrt. Im Namen der wahren
Psychologie ist hier eine kurze Antwort einzuschalten, in Beziehung auf
die Formen der Erfahrung.
Complexionen und Verschmelzungen, in unerschöpflicher Mannigfaltig-
keit abgestuft, verwebt und zur Wirksamkeit gereizt, geben unsem Vor-
stellungen theils erdichtete, theils erfahrungsmäfsige Formen. Die Me-[2i]
chanik des Geistes, die nicht beym Vorgestellten stehen bleibt, sondern in
die Zustände des Vorstellens selbst eindringt, zeigt die möglichen Formen
und die Wirkungsarten der Complexionen und Verschmelzungen; sie lehrt
hiemit die Bedingungen, unter welchen räumliche Gestalten, Zeitdistanzen,
Reihen von Veränderungen vorgestellt werden. Die Erfüllung dieser Be-
dingungen besorgt die Natur; darum besitzen wir eine Naturkenntnifs, die
zwar dem Zweifel und den Verbesserungen unterworfen , uns gleichwohl
nicht geraubt werden kann, vielmehr siegreich aus allen Schwierigkeiten
hervorgeht. Denn in den Verknüpfungen unserer Vorstellungen, sofern sie
durch Erfahrung gebildet werden, spiegelt sich allerdings die Verknüpfung
der Dinge unter einander und mit uns; und dieser Zusammenhang zwischen
dem, was in uns, und dem, was aufser uns ist, wird durch die Psychologie
dergestalt klar, dafs daraus für die wahre realistische Metaphysik eine nicht
unbedeutende Bestätigung entspringt.
Aber diese Bestätigung ist kein Lehrsatz der Methodologie. Wenn
der Leser noch so genau die Lehre von den Vorstellungsreihen, ihren
Reproductionsgesetzen, und den Wirkungen der Complications- und Ver-
schmelzungs-Hülfen in der Psychologie nachsehen will: er wird dadurch
nichts anderes für den jetzigen Zweck erreichen, als nur die Überzeugung,
dafs diejenigen Systeme Manches übersehen, welche, zum Idealismus sich
neigend, ihn überreden wollen, man müsse die Formen der Erfahrung aus
ursprünglichen Formen des Frkenntnifsvermögetis ableiten. Dies ist die falsche
Lehre, welcher wir durch Berufung auf die Mechanik des Geistes uns hier
entgegensetzen; weil ihre Einmischung es unmöglich machen würde, die
Formen der Erfahrung als die wahren und einzigen metaphysischen Prin-
cipien in der weitern Untersuchung zu \_22~] benutzen. Schon oben (§. 93.)
ist darüber das Nöthige gesagt worden. Wir kehren nach dieser Ab-
schweifung in unsern Zusammenhang zurück.
§• 171-
Sind die Formen der Erfahrung gegeben? Antwort: Ja; sie sind aller-
dings gegeben, obgleich nur als Bestimmungen der Art, wie die Empfin-
dungen sich verknüpfen. Wären sie nicht gegeben: so könnten wir sie
nicht blofs absondern von der Empfindung, dergestalt, dafs das Empfundene
ganz ohne Zusammenhang, ganz vereinzelt wäre; sondern wir könnten auch
andre Gestalten, andre Zeitdistanzen, beliebig hören und sehen; des-
gleichen könnten wir Dinge aus Merkmalen nach unserer Wahl zusammen-
setzen, und abändern; nicht blofs wie jetzt der Dichter thut, indem er
wissentlich phantastische Erzeugnisse schildert, sondern so, dafs die er-
sonnenen Dinge gänzlich in die Reihe der wahrgenommenen einträten,
wofern nur deren einzelne Merkmale in der Empfindung wären gegeben
worden. Der Punct, worauf es ankommt, ist immer die Gruppirung dieser
22 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Merkmale. In ihr finden wir uns gebunden, und gezwungen, sobald wir
uns herausnehmen, sie zu verändern. Durch diesen Zwang verkündigt uns
die Erfahrung, dafs sie auch der Form nach gegeben ist. Und diesen
Zwang übt sie aus, wir mögen nun wissen, wie das zugeht, oder nicht.
Darum brauchen wir die Psychologie gar nicht, so lange wir in unserer
Sphäre bleiben, und uns um fremde Systeme nicht bekümmern, die uns
vom eigentlichen Fragepuncte ablenken.
Wie viel haben wir nun bis jetzt erreicht?
Schon in der Einleitung in die Philosophie (§. 12.) wurde bemerkt:
ein Prinzip müsse zwey Eigenschaften haben; erstlich Gewifsheit an sich,
zweytens die Fähig-[23]keit, Anderes durch sich gewifs zu machen, und
gleichsam im Wissen aus sich heraus zu gehn.
Die erste von diesen Eigenschaften beschäfftigte uns bisher. Wir be-
zweifelten sie bey den Formen der Erfahrung so stark, dafs es keinen
stärkern Zweifel giebt, noch geben kann; wir rechtfertigten dieselben gegen
die Anfechtung; und zwar ganz allgemein; denn bey allen Formen der
Erfahrung kann man die Probe anbringen, ob sie vertragen, dafs man sie
willkührlich am Empfundenen wechseln lasse. Und dies vertragen sie
niemals.
Hiemit ist nun nicht eine bestimmte Zahl von Principien ange-
nommen; am wenigsten haben wir uns auf die Thorheit eingelassen,
gerade nur ein einziges Princip dulden zu wollen. Vielmehr leuchtet jetzt
ein, dafs dieses unerlaubt und lächerlich zugleich seyn würde. Unerlaubt,
weil keine Willkühr, keine Vorliebe in der Wissenschaft wirksam werden
darf. Lächerlich, weil derjenige sein Wissen verkürzen und schwächen
würde, der irgend welche Quellen desselben absichtlich verstopfte.
Wählen können wir nur insofern, als erstlich der Vortrag der Wissen-
schaft eine Zeitreihe bildet, die irgendwo anfangen mufs; weshalb denn
zweytens der Vorzug der logischen Allgemeinheit in Betracht kommt, da
das Allgemeinste für die Speculation das Leichteste ist, und hingegen das
Mehr-Bestimmte auch mehr Fragen herbeyführen kann; drittens alle Meta-
physik das Wirkliche sucht, und mit leeren Formen sich nur insofern be-
schäfftigen will, wie dieselben sich auf das Wirkliche beziehen.
Der zweyte Punct weiset unter andern die Polaritäten und das Leben
von dem Anfange der Untersuchung zurück; obgleich dies allerdings ge-
gebene Formen der Erfahrung, nur nicht allgemeine Formen sind. Denn
auf den Mifsbrauch der Worte, [24] wie wenn man die Weltkörper
lebendig nennt, oder auf eingebildete Polaritäten, dergleichen die Physio-
logen nach Belieben erkünsteln, lassen wir uns nicht ein.
Der dritte Punct weiset Raum und Zeit zurück; diese leeren Formen
gehen uns Nichts an, so lange sie nicht mit dem, was real ist oder so er-
scheint, in Verbindung stehen. Dasjenige aber, was räumlich und zeitlich
gestaltet vor unsre Augen tritt, kann nicht unsre Betrachtungen anfangen,
weil die so gestalteten Gegenstände unter den allgemeineren Begriff des
Dinges mit mehrern Merkmalen fallen, und dieser, seines logischen Vor-
zuges wegen, früher mufs untersucht werden.
i. Abschnitt. Methodologie. 2. Capitel. Vom Gegebenen.
§■ 172.
Jetzt aber kommt die grofse Frage zur Sprache: wie kann aus dem
Gegebenen etwas Weiteres folgen? Wie kann das gegebene Wissen sich
selbst vermehren oder überschreiten? Wie kann dieses im Denken ge-
schehen ?
Hier wird man sich an gewisse Lehren erinnern, nach welchen die
Speculation, wenn sie nicht mathematisch construiren soll, entweder gar
keine, oder nur phantastische Fortschritte machen würde. Im ersten Falle
wird sie hingewiesen auf Selbstbeobachtung, und wiederholendes Denken
(§. 88 — 93.), im zweyten Falle soll sie erzählen, was die intellectuale An-
schauung erblickt hat (§ 109, nebst dem Vorhergehenden und Nach-
folgenden); es werden aber die dort gefundenen Verwechselungen noch
in frischem Andenken seyn.
Wer nun Energie des eigenen Denkens besitzt, der wird vielleicht
von selbst zu sich ungefähr so sprechen:
Die speculative Aufregung der menschlichen Gedanken ist einmal
vorhanden. Woher kann sie gekommen seyn? Wenn das Gegebene sich
ohne alle Veränderung im Denken wieder beobachten, und beliebig wieder-
ho-[2 5]len läfst, was trieb denn die Menschen auch nur zu dem kleinsten Ver-
suche, darüber hinaus zu gehn? Und wenn jene phantastische Anschauung
durch gar keinen wirklichen Stachel des Denkens, keine gegebene Noth-
wendigkeit der Speculation, in Schwung gesetzt ist: wie hat denn irgend
Jemand sich durch sie täuschen können; und warum ist sie nicht sogleich,
überall, von Jedermann, als thöricht und nichtig erkannt worden? — Es
mufs doch wohl am Gegebenen liegen, dafs es bey den Wiederholungen
im Denken sich nicht gleich bleibt; sondern, sich selbst ungetreu, allerley
Metamorphosen versucht, die durch einen innern Trieb sich von allen
Spielen der Einbildungskraft unterscheiden. Hätten nun die Menschen
diesen Trieb deutlich erkannt: so würden sie in ihrem Denken ihm ge-
meinschaftlich Folge leisten; und dann käme, wo nicht eine Wissenschaft,
so doch eine notwendige und einstimmige Bewegung des Denkens, statt
der bisherigen Streitigkeiten, zu Stande.
Diese Betrachtungen sind leicht fortzusetzen. Denn schon in der
Einleitung in die Philosophie war es die allernothwendigste Vorübung des
Anfängers, die Widersprüche zu erkennen, welche beym Reflectiren auf die
Formen der Erfahrung gefunden werden. In der Psychologie mufsten wir
durch ausführliche Darlegung des Ursprungs dieser Formen jene Irr-
lehren hinwegschaffen, nach welchen Raum, Zeit, Substanz, Ursache, und
das Ich, eben so viele ursprüngliche, unveränderliche und ganz gesunde
Grundzüge des Organismus unserer Vernunft seyn sollen. Aber hier, an
diesem Orte in1 der Methodologie, können wir die Antwort auf die vor-
liegende Frage am umfassendsten dadurch geben, dafs wir uns auf das
gleich folgende Capitel beziehen, zu welchem sie den Übergang bahnt,
indem darin die Frage, wie vielfach Gründe und Folgen zusammenhängen
können, allgemein zur Untersu-[>6]ehung kommt. Alsdann versteht sich
1 an diesem Orte der Methodologie S\V. (»in« fehlt).
ii Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
von selbst, dafs, ucm/ die Formen der Erfahrung auf mehr als eine Weise
den Bedingungen eines solchen Zusammenhangs entsprechen., sie auch eben so
vielfach Gründe abgeben können, aus denen sich cm weiteres Wissen ableiten läfst.
Drittes Capitel.
Vom Zusammenhange der Gründe und Folgen.
§• iJo-
Metaphysik, hört man oft sagen, ist nach der langen Erfahrung von
Jahrtausenden ein vergebliches Bemühen.
Wer auf diese Betrachtung irgend ein Gewicht legt, der komme und
sehe, auf welche Weise das vergebliche Bemühen bisher ist angestellt worden.
Die erste aller Fragen für den, welcher durch Speculation sein Wissen
erweitern wollte, war unstreitig die: wie folgt Eins aus dem Andern? Was
ist ein Grund? Was heifst eine Folge?
Das meinte man aus der Logik zu wissen. Aber man bemerkte nicht,
dafs der Begriff eines Zusammenhangs zwischen Grund und Folge, wenn
er nicht einer sorgfältigen Läuterung unterworfen wird, ein logisches Un-
geheuer ist, ein Widerspruch.
Die Folge soll liegen in dem Grunde. Aber sie soll auch aus ihm
folgen, das heifst, sie soll sich von ihm absondern. Liegt sie nun wirk-
lich in ihm, so gehört sie zu ihm; und wer sie willkührlich von ihm trennt,
der hat nicht sein Wissen erweitert, vielmehr hat er blofs wiederholt, was
er schon wufste, da er den Grund wufste. Lehrt aber die Folge etwas
Neues: so ist dies [27] Neue nicht das Alte, und lag nicht in dem
Grunde; es heifst dann mit Unrecht eine Folge aus demselben.
Will man nun die Folge in dem Grunde lassen? Dann ist nicht
Zweyerley, nämlich Grund und Folge, vorhanden, sondern nur Einerley;
und das ist keins von beyden.
Will man die Folsre sondern vom Grunde? So mufs sie etwas Neues
enthalten; das aber ist ihm fremd, es folgt nicht aus ihm. Nun ist
Zweyerley vorhanden, allein es hängt nicht zusammen, es ist weder Grund
noch Folge.
Wie hat man es angefangen, sich diese einfache Bemerkung zu ver-
hüllen? — Natürlich hat man der Strenge der Begriffe etwas vergeben.
Und das würden wir auch thun, wenn es nöthig wäre; denn wozu sollten
wir ein logisches Ungeheuer in Schutz nehmen? Nur mufs es mit Be-
sonnenheit geschehen; wir müssen wissen, was wir thun. Und vor allem:
die Erkenntnis mufs sich erweitern; das ist der Zweck, den wir im Auge
behalten sollen.
§• 174-
Man konnte sehr leicht die Strenge der Begriffe vermindern, wenn
man entweder zugab, der Grund möge sich ganz oder theilweise in der
i. Abschnitt. Methodologie. 3. Capitel. Vom Zusammenhange der Gründe etc. 25.
Folge wiederholen; oder die Folge möge etwas Neues, das nicht in dein
Grunde enthalten sey, mitbringen, oder beydes möge zugleich statt finden.
In der Logik liegt das Verhältnis des allgemeinen Begriffs zu seinen
untergeordneten, den übrigen Lehren zum Grunde. Nennen wir nun
jenen a, diese a und ß, so mag wohl a der Grund heifsen von « und ß>
dann sind die Folgen aus ihm, insofern sie ihn als Merkmal enthalten,
während sie gesondert von ihm dadurch sind, dafs sie noch eigne specifische
Differenzen [28] in sich tragen. Wollen wir denn sagen, der Begriff Men seh
sey der Grund der Begriffe Mann und Weib? Und der Begriff Iflanze sey
der Grund der Begriffe Rose und Eiche? Schwerlich! Eher kehrt man es
um, und spricht: hier ist ein Mann, also hier ist ein Mensch. Hier eine
Rose, also hier ist eine Pflanze. Man erträgt es alsdann, dafs die Folge
nur Wiederholung eines Theils vom Grunde sey. Aber dadurch entfernen
wir uns gerade vom Ziele. Unser Zweck war Erweiterung des Wissens;
die subalternirende Fortschreitung aber, an die wir so eben erinnerten,,
verkleinert das Quantum des Vorgestellten, den Inhalt des Begriffs.
Der Deutlichkeit wegen dürfen wir nicht rasch fortschreiten. Wir
wollen also Beyspiele suchen, und dabey verweilen; um fürs erste den
Sprachgebrauch zu beobachten.
Wenn man im rechtwinklichten Dreyecke ein Perpendikel auf die
Hypotenuse aus dem gegenüberliegenden rechten Winkel fallen läfst: so
erzeugen sich zwey Dreyecke, beyde ähnlich dem Ganzen. Jede Kathete
des ursprünglichen ist nun die mittlere Proportionale zwischen der Hypo-
tenuse und einem Abschnitte derselben; und indem man die Quadrate der
Katheten addirt, findet sich der pythagoräische Lehrsatz. In diesem Bey-
spiele mufs das Verhältnifs zwischen Grund und Folge unverwerfiich zu
erkennen seyn. Auch liegt die Folge offenbar am Tage; aber was ist
hier der Grund? Ist es das rechtwinklichte Dreyeck? Aus diesem allein
folgt der Satz nicht. Ist es das Perpendikel? Vielleicht! Denn nach-
dem dieses gefället war, lagen die Proportionen, die Quadrate der
Katheten, und deren Summe vor Augen. Aber doch sieht der Knabe,
der zuerst Geometrie lernt, in dem schon gezogenen Perpendikel noch
nicht den Lehrsatz; man mufs ihm den Beweis erst Punct für Punct
zeigen; man erinnert ihn [29] dabey an mehrere frühere Sätze, welchen
das Vorliegende successiv untergeordnet wird.
Wir unterscheiden nun fürs Erste die logischen Schlüsse in dieser
Unterordnung von dem Eingriff in das gegebene Dreyeck, welchen wir
thaten, als wir die Figur durch das hineingezeichnete Perpendikel ver-
mehrten. Dieser Eingriff war einer von den Kunstgriffen, die uns in der
Mathematik so oft begegnen, und deren Wirkung darin besteht, dafs sie
den vorliegenden Gegenstand in eine bekannte und fertige Vorstellungsreihe
hineinführen, die alsdann von selbst abläuft. Man könnte sagen: diese
Kunstgriffe erweitern den Grund, aus welchem die Folge hervorgehen soll.
So wird die Gleichung x2 -j- ax -}- b = o auflösbar, indem man das Qua-
drat ergänzt, oder eigentlich, indem man x2 -\- ax als eine Differenz betrachtet,
nämlich als = (x -| — — a) 2 — a2. Man fafst hier eine zufällige An-
sicht (ein Ausdruck, dessen wir uns in der Folge oft bedienen werden)
von der Gröfse x2 -f- ax. Deutlicher vielleicht sieht man dieses in ein
2.t> Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1819.
paar andern Beyspielen. Die eubische Gleichung x3 -\- bx — c = o wird
aufgelöset, indem man x = y — z setzt; oder es als Differenz zweyer
andern unbekannten Gröfsen betrachtet. Welche unbekannten Gröfsen ?
Das ergiebt sich nunmehr von selbst. Denn da x3 = y3 — 3y2z -|- 3yz2
— zj seyn mufs; dieses nämliche aber vermöge der gegebenen Gleichung
auch = c — bx seyn soll: so zerfällt es in zwey Theile, deren einer den
Factor x enthält, und zugleich negativ ist; der andre nicht. Der letztere
ist y3 — zj; als den erstem erkennt man sehr leicht 3yz (z — y), also
bx = 3yzx; und c = y3 — z3; da nun x aus der erstem dieser Gleichungen
herausfällt, so kann man aus ihnen sowohl y als x, mithin z selbst1 finden.
Nicht ganz so von selbst ergiebt sich die nähere Be- [30] Stimmung der
zufälligen Ansicht, die man braucht, bey der sinnreichen Integration von
dy -{- Pydx = Qdx. Man setzt hier zwar y = Xu, behält sich aber
eine zweckmässige Bestimmung dieser beyden willkührlichen Factoren
noch vor. Erst nach der Differentiation wird Xdu -\- udX -\- PXudx
= Qdx ; nun erhält die zufällige Ansicht ihre nöthige Bestimmung durch
einen glücklichen Versuch, indem man annimmt: udX -}- PXudx = o.
Dieses nämlich giebt — - = — Pdx, und X = e ' woraus alsdann
du = e . Qdx und alles übrige von selbst folgt.
Hat nun die Schwierigkeit der Frage, wie Gründe und ihre Folgen
zusammenhängen können, sich durch Vergleichung dieser Beyspiele, in
thncn offenbar die Kennt?iis fortschreitet, um Etwas vermindert? Es scheint
so. Man sieht wenigstens den anfänglichen Gedanken sich erst erweitern,
dann wieder zusammenziehn; und es ist kein Wunder, dafs die Folge
etwas Neues enthält, was man in dem Grunde Anfangs nicht erblickte;
denn der Grund hat etwas Neues angenommen. Nur scheint es bis jetzt
ganz dem glücklichen Zufall überlassen, ob Jemand das errathen werde,
was der Grund annehmen kann, ohne verdorben, und was er annehmen
mufs, um fruchtbar zu werden. Millionen von Menschen könnten ihr ganzes
Leben lang über der Integration von dy -\- Pydx = Qdx brüten, selbst
nachdem man ihnen den Sinn der Aufgabe erklärt hätte; sie würden doch
ohne lange mathematische Übung auf die beyden Schlüssel des Räthsels,
y = Xu und dX -|- PXdx = o, nicht leicht kommen. Ihre Gedanken
würden entweder still stehn, oder sie würden, wie die bisherigen Meta-
physiker, alles in der [31] Welt eher vermuthen, als dafs ihnen der
Schlüssel so nahe vor den Füfsen liege.
§• 175-
Um nicht dem Glücke zu viel Glauben zu schenken, und dem ab-
sichtlich fortschreitenden Denken nicht Unrecht zu thun, wollen wir das
erste Beyspiel wenigstens noch anders behandeln. Der glückliche Zufall,
dafs sich aus dem rechten Winkel des Dreyecks auf die Hypotenuse ein
Perpendikel herabsenke, lälst sich entbehren, wenn man, um einen Antrieb
zum fortschreitenden Denken zu haben, das rechtwinklichte Dreyeck als
1 mithin sz elbst S\V. (Druckfehler).
i. Abschnitt. Methodologie. 3. Capitel. Vom Zusammenhange der Gründe etc. 27
Gegenstand einer Aufgabe betrachtet; nämlich die Abhängigkeit der Hypo-
tenuse von den Katheten zu finden.
Man wird diese Aufgabe vereinfachen, indem man eine Kathete, als
Maafsstab der übrigen Gröfsen, zur Einheit nimmt. Dann ist nur die
andre veränderlich, und nach ihr richtet sich die Hypotenuse. Der Lehr-
satz, 1 -{- x2 = y2, soll nun ohne alle Hülfslinien, oder andre glückliche
Einfälle, blofs dadurch gefunden werden, da/s man den in der Aufgabe schon
liegenden Begriffen als Wegweisern folgt.
Da die Hypotenuse abhängt vom Verändern der Kathete: so ver-
ändere man wirklich; denn ohne dieses zu thun, kann man sich den Be-
griff der Abhängigkeit nicht entwickeln. Wenn nun eine Kathete wächst,
so wird der auf ihr befindliche Endpunct der Hypotenuse fortgeschoben,
und die Hypotenuse dreht sich um den andern Endpunct. Die Drehung
beschreibt einen unendlich kleinen Kreisbogen, der mit den Differentialen
(nicht etwa Differenzen, denn das Wachsen soll nur die Abhängigkeit der
Function ausdrücken, aber keine neue Gröfse erzeugen) ein rechtwinklichtes
Dreyeck einschliefst. Da die Gröfsen nur im -Begriff [32] sind, sich zu
verändern: so ist der Winkel zwischen dx und dy noch derselbe, wie
zwischen x und y; das Differential - Dreyeck ist ähnlich dem gegebenen.
Also dx: dy = y : x, oder ydy = xdx; und y2 = x2 -|- C; wo die Con-
stante für x = o offenbar gleich der Einheit, dem Quadrate der unver-
änderten Kathete ist; mithin y2 = x2 -\- 1.
Dieser Beweis des pythagoräischen Satzes soll hier blofs dazu dienen,
der übereilten Voraussetzung, als ob glückliche Einfälle allein das Denken
wahrhaft fördern hönnten, vorzubeugen. Nicht alle Auflösungen müssen
nothwendig neue Hülfsgröfsen unerwartet einführen, sondern es giebt auch
deren, welche blofs verlangen, dafs man die schon in der Aufgabe liegen-
den Begriffe so, wie es ihnen angemessen ist, entwickele.
§. 176.
Den zufälligen Ansichten, von denen wir vorhin sprachen, würde man
nun keinen Vorwurf machen können, wenn sie die Beschaffenheit blofser
Einfälle ablegten, und dagegen von den Aufgaben selbst mit Nothwendig-
keit herbeygeführt und hinlänglich bestimmt würden.
Geschieht dies nicht, üherläfst man sich vielmehr dem glücklichen Treffen,
so sind die Gründe, von denen man ausgeht, offenbar unzureichend, um die
Folgen zu erkennen. So ist, nach dem zuerst angeführten Beweise, nicht
das rechtwinklichte Dreyeck für sich, sondern das schon durchs Perpendikel
getheilte, schon als ähnlich seinen beyden Theilen betrachtete Dreyeck der
Grund. In dieser Betrachtung liegt, als ein Theil derselben, die Vor-
stellung der Katheten als mittlerer Proportionalen, deren Quadrate zweyen
Rechtecken gleich sind; zwischen welchen nun noch in dem Quadrate
der Hypotenuse eine Scheidewand läuft, die in [33] dem Lehrsatze un-
erwähnt bleibt. Zu der unmittelbaren Folge aus dem Grunde gehört aber
allerdings diese Scheidewand; die eine nähere Bestimmung der Art und
Weise abgiebt, wie das Quadrat der Hypotenuse gleich sey den Katheten.
Der Lehrsatz, wie er gewöhnlich ausgesprochen wird, ist selbst nur ein
Theil des ganzen Gedankens, den der Grund darbietet.
28 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Also achte man auf den ganzen Grund, und auf die ganze Folge.
Was auf den ersten Blick als Grund und Folge erscheint, das kann leicht
blofs ein Theil von dieser und von jenem seyn.
Die ganze Folge aber ist in dem vorliegenden Beyspiele wirklich ein
Theil des ganzen Grundes; denn die Ähnlichkeit des Dreyecks mit seinen
Theilen enthielt aufser der Proportionalität derjenigen bestimmten Seiten,
die man gerade in Betracht zog, noch andre Proportionen, welche gleich-
sam unbemerkt liegen blieben.
Es ist also nicht unpassend oben (§. 173.) bemerkt worden, dafs die
Folge nur einen Theil des Grundes wiederholen könne; nämlich des ganzen
Grundes! Die Totalität des Grundes wird dasjenige seyn, was unsre Auf-
merksamkeit bey einer schärferen Untersuchung vorzugsweise in Anspruch
nimmt.
Bey unserem Beweise durch Differentialrechnung erscheint die Sache
etwas anders. Aber sie scheint nur so. Der ganze Grund ist dort die
Beziehung zwischen dem Differential und seinem Integral; von welchen
bevden jenes früher vor Augen lag, und dieses daraus geschlossen wurde.
Der Act des Folgerns selbst war nur das Herausheben des Integrals aus
dem Systeme von Begriffen, worin dasselbe mit dem Differential zusammen-
hängt. So gerade war oben die Ähnlichkeit der Dreyecke ein System von
Beziehungen, woraus die Katheten als mittlere Proportionalen hervortraten.
[34] §• 177-
Wir wollen die Beyspiele nicht sparen; und uns damit nicht auf
Mathematik beschränken. Freylich können wir nur zuverlässige und genau
bestimmte Beyspiele gebrauchen.
Jedermann kennt das Gesetz der elektrischen Vertheilung. Nach der
Symmerschen, jetzt beliebten Meinung ausgesprochen, heifst es so: Ein
elektrisirter Körper zieht die ungleichartige Elektricität des ihm angenäherten
herbey, und stöfst die gleichartige zurück; indem die ungleichartigen Elek-
tricitäten sich gegenseitig in einen Zustand geringerer Wirksamkeit gegen
jede dritte Kraft versetzen. Von diesem Gesetze, als dem Grunde, sind
zwey bekannte elektrische Werkzeuge abhängig; nämlich der Condensator
und der Multiplicator.
Der Condensator beruht darauf, dafs ein elektrischer Körper desto
mehr neue Elektricität annimmt, je mehr die, welche er schon besitzt,
durch den gegenüberstehenden Körper, und die darin vorgegangene Ver-
theilung, gebunden, also am Zurückstofsen der noch aufzunehmenden
Elektricität gehindert wird.
Der Multiplicator beruht darauf, dafs man, statt Eines vestzusammen-
hängenden Körpers, deren zwey, die sich berühren, in gerader Linie dem
elektrisirten gegenüberstellt. Beyde erleiden die Vertheilung, als ob sie
nur ein einziger Körper wären; nun nimmt man denjenigen, in welchem
die entgegengesetzte Elektricität angehäuft war, hinweg; und überträgt die-
selbe auf einen Condensator, welches vermöge der Umdrehung einer Axe
sich nach Belieben wiederholen läfst.
Wir haben hier zwey Folgen aus Einem Grunde, worin sich ver-
schiedene Theile desselben wiederholen. Bey der Erfindung des Conden-
i. Abschnitt. Methodologie. 3. Capitel. Vom Zusammenhange der Gründe etc. 20
sators war die Aufmerksamkeit gerichtet auf den elektrisirten Körper, der
sich noch stärker werde elektrisiren lassen; bey der Erfin-[35]dung des
Multiplicators wurde reflectirt auf denjenigen Theil des gegenüberstehenden
Körpers, welcher, durch die Vertheilung zunächst afflcirt, wenn er beweg-
lich war, die entgegengesetzte Elektricität mit sich tragen konnte.
Die erste dieser Erfindungen ist sehr einfach. Eine gebundene Kraft
leistet weniger Widerstand gegen eine hinzukommende. Das ist der ganze
Gedanke. Man brauchte nur den Begriff der gebundenen Kraft zu ent-
wickeln, so ergab sich, dafs sie jetzt nicht thun könne, was sie sonst thun
würde. Und dieses, zvas sie sonsf thun ivürde, mufste nun versucht werden;
nämlich ob sie wohl ihre gewohnte Repulsion gegen neue Elektricität aus-
üben werde? Das Gegentheil davon war die verlangte Condensation.
Die zweyte Erfindung zeigt deutlicher, dafs etwas hinzukommen mufste,
um aus dem Grunde die Folge zu ziehen; und zwar, wie in den obigen
Beyspielen, eine zufällige Ansicht. Nämlich der gegenüberstehende Körper
liefs sich betrachten als bestehend aus zwey Theilen. Diese Ansicht mufste
ausgeführt, und der vordere Theil beweglich gemacht werden.
Keine von beyden Erfindungen erfordert * ein weitläufiges Nachdenken.
Dennoch sind sie äufserst sinnreich; das heifst, es zeigen sich in ihnen zwey
glückliche Einfälle. Unzählige Menschen würden weder den einen noch
den andern gehabt haben, wenn sie auch das Gesetz der elektrischen
Vertheilung noch so gut gekannt hätten. Also war dieses Gesetz wieder-
um nicht der ganze Grund; und nicht aus ihm allein flofs die Folge; wir
sehn also auch hier, wie leicht man dasjenige Grund nennt, was doch nur
ein Theil des Grundes ist.
[36] §■ 178.
Wie nützlich es auch dem Leser seyn mag, sich zu der wichtigen
und schweren Frage, bey der wir stehen, noch neue Beyspiele zu suchen
und zu analysiren: so müssen wir ihm doch dieses jetzt überlassen.
Was aber vermögen denn überhaupt die Beyspiele in diesem Falle?
Etwa eine vollständige Theorie der Gründe und Folgen aus ihnen her-
zuleiten? In Beyspielen ist niemals Vollständigkeit; und wenn der Meta-
physik so leicht geholfen werden könnte, so möchte dies wohl längst ge-
schehen seyn. Gerade im Gegentheil ist zu vermuthen, dafs zum meta-
physischen Nachdenken noch gewisse Brücken für die Gedanken nöthig
seyn werden, die bisher weder Mathematikern noch Physikern in den Sinn
gekommen sind. Warum hätte man sonst unterlassen, ihrem Vorgange
zu folgen?
Etwas jedoch können wir von den Beyspielen fordern. Sie beweisen
die Möglichkeit der Sache. Sie müssen also Aufklärung geben über den
Widerspruch, den wir im Begriffe des Zusammenhangs zwischen Grund
und Folge gefunden haben. Die Folge, meinten wir, müsse identisch und
auch nicht identisch seyn mit dem Grunde, oder einem Theile desselben.
Wäre sie nicht identisch, so läge sie nicht im Grunde, und wäre keine
Folge, sondern etwas Fremdartiges. Wäre sie identisch, so unterschiede
1 fordert SW.
•3Q Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
sie sich nicht vom Grunde, sondern fiele mit ihm zusammen, oder viel-
mehr, sie käme gar nicht heraus, sondern bliebe liegen in dem Grunde.
Die Beyspiele warnen uns nun, dafs wir nicht einen Theil des Grundes
für den ganzen Grund halten sollen. Also mufs wohl der ganze Grund
ein gröfseres System von Begriffen seyn, in welches man durch ein ge-
wisses Thor, das für den Grund gehal-\_$~~]ten wird, hineingeht, und zu
einem andern Thore, das man die Folge nennt, wieder herauskommt.
Eine kubische Gleichung zum Beyspiel ist ein System von Begriffen,
das man vollständig so bezeichnet:
x3 -j- ax2 -j- bx -f- c = y.
Nun gehören dazu drev Wurzeln, zwey (mögliche oder unmögliche)
Maxima, und ein Wendungspunct. Aber jene Auflösung nach der Car-
danischen Regel, deren wir oben erwähnten, geht durch dies System von
Begriffen auf eine Weise hindurch, wobey der gröfste Theil desselben gar
nicht berührt wird; man findet nämlich nur Eine Wurzel der Gleichung.
Wenn nun aus einem Grunde die Folge soll gefunden werden, so
wird dasjenige, was man den Grund nennt, nur ein Theil eines gröfseren
Ganzen seyn; es wird in einigen Fällen zureichen, um dies Ganze vor
Augen zu stellen, manchmal aber auch unzulänglich hiezu seyn, daher
denn noch glückliche Einfälle hinzukommen müssen. Die Folge aber wird
von demselben Ganzen ein andrer Theil seyn.
Hieher gehört nun auch die Bemerkung, dafs aus einem Grunde eine
Menge von Folgen hervorgehn kann, je nach der Beschaffenheit des Systems
von Begriffen, wozu sowohl Grund als Folge zu rechnen sind. Die höhern
Gleichungen, mit der Menge von Wurzeln, die ihnen selbst, und ihren
Differentialgleichungen angehören, sind offenbar gröfsere und reichere
Systeme, als die niedrigem Gleichungen.
So läge denn der obige Widerspruch darin, dafs man Grund nennt,
was seiner Unzulänglichkeit wegen diesen Namen nicht verdient. Dem
sogenannten Grunde ist die Folge nicht identisch, aber sie fliefst auch nicht
aus ihm. Von dem wahren und ganzen Grunde ist die Folge ein Theil,
oder mit einem Theile desselben iden-[38]tisch; daher auch nur eine
Wiederholung in einem abgesonderten Gedanken.
Es könnte nun wohl scheinen, als hätten wir die Schwierigkeit nur
verschoben. Dem sogenannten Grunde wollen wir die Kraft, die Folge
zu erzeugen, nicht beylegen. Wo bleibt denn eben diese Kraft? Ver-
steckt sie sich unter den übrigen Theilen des ganzen Grundes? Warum,
wenn diese mehr vermögen, wendeten wir uns nicht gleich an sie? —
Bey einiger Überlegung wird man es ganz aufgeben, irgendwo eine be-
sondere Kraft zu suchen, woraus die Folge hervorgehn könnte. Kein Theil
des Grundes hat im Allgemeinen einen Unterschied, einen Vorzug vor
den übrigen Theilen; sondern der Sinn unsrer ganzen Betrachtung ist
dieser: der Grund mufs zusammengesetzt seyn; und die Zusammensetzung
mufs die Folge hervorbringe?!.
Dasselbe gilt aber auch von der Folge. l Wäre sie ein Begriff ohne
innere Mannigfaltigkeit, oder sollte auf das Mannigfaltige darin nicht Rück-
1 Dasselbe gilt aber von der Folge. SAV. (»auch« fehlt).
I. Abschnitt. Methodologie. 3. Capitel. Vom Zusammenhange der Gründe etc. 31
sieht genommen werden, so läge die Folge schon ganz fertig in dem Grunde ;.
sie wäre ein Theil desselben, den man nur so einfach, wie er sich darin
befände, heraushöbe, ohne dadurch irgend eine neue Einsicht zu gewinnen.
Es ist das Wenigste, was wir verlangen können, dafs uns die Folge
eine neue Verbindung solcher Begriffe darstellen solle, die einzeln ge-
nommen schon in dem Grunde lagen.
§• 179-
Wir sind zwar noch lange nicht am Ziele; aber einen Ruhepunct
kann unsere Überlegung sehr bald erreichen, wenn wir uns die so eben
gemachte Bemerkung vorläufig gefallen lassen. Nur mufs hier ein genauer
Unterschied gemacht werden.
[39] Soll die Folge lediglich eine neue Verbindung seyn: so nehmen
die Materialien, welche der Grund darbietet, in ihr eine neue Form an.
Alsdann aber unterscheidet sich die Folge der Materie nach nicht von dem
Grunde. Hiedurch beschiänkt sich die Sphäre miserer Untersuchung auf
etwas Bekanntes, das wir sogleich werden mit seinem gewohnten Namen
bezeichnen können.
In der Folge sind wenigstens zwey Theile zu unterscheiden, die in
ihr eine Verbindung eingehn. In dem Grunde, der etwas mehr enthalten
soll (da in ihm die Folge liegt, aber in der Regel nicht umgekehrt), giebt
es demnach wenigstens drey Theile zu unterscheiden. Nämlich aufser den
beyden Bestandtheilen der Folge mufs noch ein Drittes da seyn, welches mit
ihnen in Verbindung steht, und sie eben dadurch unter einander verbindet.
Unter der angenommenen Beschränkung unseres Problems ist daher
der logische Syllogismus die einfachste (und freylich auch die dürftigste)
Form, welche der Grund an sich tragen kann.
Das Dritte ist der Mittelbegriff; seine beyden Verbindungen mit den
Theilen der Folge sind die beyden Prämissen. Jede Prämisse kann als der
Grund angesehen werden; aber der ganze Grund liegt nur in beyden zu-
sammengenommen. Die Folge ist ein Theil dieser ganzen Zusammen-
fassung; sie liegt, in der That, in dem ganzen Grunde, aber sie bleibt
verhüllt, so lange ein Halt, ein Absatz im Denken bey dem Mittelbegriffe
gemacht wird, als ob derselbe für die beyden Vordersätze zweymal müfste
gedacht werden. Dies Hindernifs verschwindet, indem der Mittelbegriff
we^elassen, und hiemit die Folge aus dem Grunde hervorgehoben wird.
Co 7 (J _ —
Wir können diese eng beschränkte Vorstellungsart [40J nun zwar
dadurch etwas erweitern, wenn wir einräumen, man möge sich jenes Dritte
des Grundes nicht blofs als einen einzigen Mittelbegriff, sondern, wie bey
Kettenschlüssen, als Vermittelung der Folge durch eine beliebig lange
Reihe von Zwischensätzen denken. Allein das reicht noch nicht weit;
und die erste beste mathematische Substitution ist schon zu reichhaltig, um
in dem dürftigen Svllogismus einen passenden Ausdruck zu finden. Z. B.
(a + b)»
7 ' a2 -j- xab + b2
y = 1
->2 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Wie wollen wir diesen Schlufs in logischer Form ausdrücken?
v ist eine gewisse Function von x,
Nun setze man x gleich 2,
So ist y die nämliche Function von 2.
Dieser Ausdruck ist höchst ungenügend. Aber woran liegt das? Im
Prädicate des zuerst hingeschriebenen Satzes mufste x, als Mittelbegriff,
hervortreten. Nun ist aber diese Gröfse dergestalt eingewickelt in dem
Werthe von y, dafs man den Ort, wo sich der Mittelbegriff befindet, nicht
ohne Umschweife würde angeben, seine Verbindung mit y nur mit Mühe
würde in Worten beschreiben können. Gleichwohl hängt von dieser Ver-
bindung die Wirkung der Substitution ab; und die Wahl derselben, um
einen einfachen Werth von y zu erhalten, würde sich ohne die mathe-
matische Bezeichnung nur schwer begreifen lassen.
Man weifs daher gewifs sehr wenig vom Zusammenhange der Gründe
und Folgen, wenn man nichts kennt als die logischen Formen desselben
in Urtheilen. und Schlüssen ; und man darf sich gar nicht wundern, wenn
[41] sich diese im Gebrauch bey wichtigen Untersuchungen wenig hülf-
reich zeigen.
§. 180.
Eine Bemerkung über die logische Form der Urtheile läfst sich sehr
bequem an das eben gegebene Beyspiel anknüpfen.
Es ist offenbar, dafs Syllogismen nicht mehr leisten können, als Ur-
theile aus Urtheilen bilden. Nun klebt den logisch geformten Urtheilen
immer der Begriff der lnhärenz an; als ob das Prädicat ein Merkmal wäre,
<ias sich in dem Inhalte des Subject-Begriffes entweder befände, oder nicht.
Allein in dem obigen Beyspiele, wo y der t er minus minor, x der ter-
minus med ins seyn mufs, ist der Untersatz (den wir zuerst hinschrieben)
gar nicht dieser Vorstellung gemäfs. Keinesweges inhärirt x dem y;
sondern v ist eine Function von x. Es bezieht sich auf x; das heifst, es
ist mit ihm in nothwendigem Zusammenhange; es empfängt von ihm die
Bestimmung, dafs, und wie es solle gedacht werden. Dieses Verhältnifs
der Beziehung ist in dem Ausdrucke Function nur durch den Begriff der
Gröfsen-Veränderung näher bestimmt; den man weglassen mufs, um das
Eigenthümliche mathematischer Beyspiele bey Seite zu setzen. Aber die
Mathematik ist hier bey weitem weniger einseitig, als die Logik, wenn wir^
nicht ihren gangbaren Ausdrücken eine erweiterte Bedeutung geben.
In gröfseren Systemen von Begriffen, durch welche hindurch das
Folgern seinen Gang zu nehmen pflegt (§. 178.), giebt es ohne Zweifel eine
Menge von Beziehungen, die man durch den Begriff der lnhärenz ganz
falsch auffassen würde. Jede Differentialgleichung bezieht sich auf ihre
Hauptgleichung; wer aber wird sagen, sie inhärire derselben, wie nach
gewohnter An-[42]sicht das Prädicat dem Subjecte? Die kubische Gleichung
z. B. hat gewifs eine mögliche Wurzel; dies Prädicat wohnt in ihr, und
gehört zum Inhalte ihres Begriffs. Aber ihre Differentialgleichung hat ent-
weder zwey, oder keine mögliche Wurzel. Dieses Haben oder Nichthaben.
was der quadratischen Differentialgleichung zukommt, ist kein inhärirendes
Prädicat für die kubische Gleichung als Subject; dennoch gehört beydes zu
I. Abschnitt. Methodologie. 3. Capitel. Vom Zusammenhange der Gründe etc. 33
Einem System von Begriffen; jedes bezieht sich auf das andre. Und der-
gleichen Beziehungen können eben sowohl Prämissen des logischen Schlusses
abgeben, als die Urtheile, welche eine Inhärenz ausdrücken.
Man kann nun allerdings die Beziehung selbst zum Prädicate machen;
und die Logik ist hier nicht eigentlich eines Fehlers überwiesen; sondern
es wird nur Behutsamkeit gefordert, damit man sich dem beschränkten
Begriffe der Inhärenz nicht voreilig hingebe, und darüber den unentbehr-
lichen Begriff der Beziehung nicht verfehle.
§. 181.
Durch alle diese Vorbereitungen wird es nun endlich vielleicht ge-
lungen sevn, wenigstens für wahrhaft denkende Leser den Gegenstand
unserer Betrachtung in hinreichendes Licht zu setzen; nachdem eine frühere,
präcise Darstellung (im Anfange der Hauptpuncte der Metaphysik) ver-
geblich scheint gewesen zu seyn. Alles kommt ohne Zweifel darauf an,
dafs der Leser nur erst auf das Gebiet der Frage hin versetzt werde;
haben wir dies erreicht, so wird seyn eignes Nachdenken unsrer Dar-
stellung zu Hülfe kommen.
Man vergegenwärtige sich den bisherigen Zusammenhang. Den Wider-
spruch, dafs die Folge dem Grunde nicht Iremd, und doch nicht gleich
seyn darf, dafs sie Nichts Neues, und doch Etwas Neues bringen soll,
ha-[43]ben wir durch eine Auflösung beseitigt, die nur partial, nicht er-
schöpfend ist; und es kommt nun darauf an, einzusehen, dafs noch eine
andre Auflösung zu suchen übrig bleibt.
Allgemein ist zwar so viel wahr, dafs man den ganzen Grund in
zweyen Zuständen betrachten mufs; einen, welcher vorhergeht vor dem Ent-
stehen der Folge; — in diesem Zustande ist der ganze Grund als Vor-
rath schon da, aber er ist noch nicht beysammen, oder nicht gehörig be-
arbeitet; — - den zweyten, worin die Folge hervorbricht; in diesem Zustande
ist der Grund zum Begründen gerade fertig, und die Folge, die jetzt in
ihm liegt, ist nun in der That ein Theil des Grundes, welcher nur noch
darf abgesondert werden.
Wenn man aber dieses auf den logischen Syllogismus deutet, so be-
schränkt man es auf Bedingungen, die nicht darin liegen. Dies läfst sich
sogleich in der Frage erkennen, die sich hier von selbst aufdringt: Wie
kommt denn der Grund aus dem einen Zustande in den andern ? Ist der
Gedankenvorrath, den wir Grund nennen, allemal so passiv, dals er warten
mufs, wie die Prämissen des Syllogismus warten, bis ein ungefähres Denken
sie zusammen führt? Liegt denn in dem Grunde gar kein Trieb zum Be-
gründen? Ist nicht zum mindesten eine Wegweisung in ihm zu finden,
wodurch man in den Stand gesetzt werde, sich des blofsen Rathens zu
überheben? Ist der Grund eine träge Masse, ohne eigne Bewegung,
selbst ohne Richtung zum Fortschreiten?
Ja freylich! antworten hier die Verehrer der Seelenvermögen. ,,Kein
Gedanke folgert, sondern die Vernunft!" Mit diesen Worten hat man wirk-
lich vor Jahren die Lehre, die wir hier ausführlich vorzutragen im Begriffe
sind, zurückweisen wollen. Man dachte sich also ganz offenbar die Ver-
nunft gleich einer [44] Göttin, die aus dem Gedankenstofte etwas bilde;
Herbart's Werke. VIII. 3
,4 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
nach Belieben vermuthlich! Denn sonst hätte man selbst bey dieser
falschen Psychologie noch fragen müssen, welche Nothwendigkeit denn in
dem Grunde liege, auf deren Geheifs die Vernunft nicht willkührlich,
sondern gehorsam ihrer Pflicht, das Geschäft des Folgeins ausübe und
vollziehe.
Wir wollen hier eben so wenig von den höhern Vorstellungsmassen
reden, unter deren Einflufs stehend sich die untergeordneten verbinden
(bei absichtlichem und regelmäfsigem Nachdenken), als von der neuen
Gesammtkraft, die bey jeder Folgerung entsteht, und eine psychologische
Gewalt gegen die übrigen im Bewufstseyn vorhandenen Vorstellungen aus-
übt. Das Alles gehört nicht hieher; es mufs nur Denen entgegengestellt
werden, deren unbeugsame Vorurtheile sich überall einmischen, wo neue
Untersuchungen mit Unbefangenheit wollen aufgenommen seyn.
Aber oft genug haben wir von den Antrieben des Denkens gesprochen,
aus denen von jeher alles metaphysische Forschen wirklich, nur ohne
seinen eigenen Ursprung zu begreifen, hervorgegangen ist.
Nicht blofs da, wo ein paar Prämissen mit gleichem Mittelbegriff
einander glücklich begegnen, sondern auch da, wo ein Gegebenes fordert,
richtiger gedacht zu werden, als es ursprünglich hatte aufgenommen werden
können, ist ein Grund vorhanden, dessen Folge in ihm liegen wird, sobald
er mit seinem Übergange aus seinem ersten Zustande in seinen letzten
fertio- seyn wird; dessen Folge jedoch so lange noch nicht in ihm liegt, wie
lange von dem Übergange entweder die blofse Möglichkeit oder die blolse
Forderung vorhanden ist.
Giebt es nun Gründe der zweyten Art, welche fordern, überzugehen
in die Folge, so kann man diese [45] Folge als ein Unbekanntes vor-
läufig mit X bezeichnen; und alsdann sagen: der Grund stehe in Beziehung
zu diesem X. Dabey geschieht nichts Anderes, als dafs wir nach mathe-
matischer Gewohnheit uns das Unbekannte wie ein Abwesendes denken,
welches man sich schon jetzt vergegenwärtigen müsse, um seinen Zu-
sammenhang mit dem Bekannten und Gegenwärtigen dadurch im Voraus
vestzustellen. Die Beziehung liegt in diesem Falle nicht vor Augen,
sondern sie soll gesucht werden. Wird sie gefunden, so ist die Folgerung
vollzogen. Giebt es ferner eine allgemeine Regel, um sie zu suchen, so
nennen wir diese Regel die Methode der Beziehungen.
In wissenschaftlicher Strenge ist diese Methode längst aufgestellt worden.
Sie bedarf jetzt einer mehr erläuternden und populären Darstellung. Man
hat bald den Anfang, bald das Ende misverstanden. Um den Misver-
ständnissen aus dem Wege zu gehn (denn scharfsinnige Einwürfe, die man
beantworten könnte, fehlen leider), wollen wir diesmal die Darstellung in
der Mitte anfangen, und an etwas Bekanntes anknüpfen.
§. 182.
Jedermann weife, dafs oftmals scheinbare Widersprüche vorkommen;
und dafs dieselben aufgelöset werden durch eine Distinction. Wir nun
wollen auch von Widersprüchen reden; noch mehr: wir wollen sie auch
auflösen durch Distinction.
Aber dabey wird ein besonderer Umstand vorkommen. Eine Distinction
i. Abschnitt. Methodologie. 3. Capitel. Vom Zusammenhange der Gründe etc. 35
ist leicht gemacht, wenn die beyden Gedanken, die man scheiden soll,
schon da sind. Schwerer ohne Zweifel sind solche Fälle, in welchen der ge-
dachte Gegenstand dergestalt unvollständig vorliegt, dafs man dasjenige erst
herbey schaffen mufs, was unterschieden werden soll. Von scheinbaren Wider-
[4 6] Sprüchen kann in solchen Fällen nicht die Rede seyn; denn der Schein
liegt in einer Verwechselung; was aber verwechselt werden soll, das mufs
schon vorräthig seyn.
Z. B. Im Begriffe der Pflicht wird der verpflichtete Wille zugleich
gedacht als frey und als gebunden. Dieser scheinbare Widerspruch löset
sich durch Unterscheidung zwischen Sollen und Müssen. Die Pflicht weifs
nichts vom Müssen; insofern ist der Wille frey, oder wird hier als solcher
vorgestellt. Aber die Pflicht verkündigt das Sollen; keine Gegenkraft wider
den wirklichen Willen, sondern ein unvermeidliches Urtheil über das Bild
des Willens. So lange dies verwechselt wird, hat man das Müssen vom
Sollen nicht unterschieden, und der Widerspruch ist scheinbar vorhanden.
Aber nur scheinbar! Denn man braucht Nichts Neues zu lehren, keine
Ergänzungen an die vorliegenden Gedanken anzufügen. Man braucht nur
eine Linie zu ziehen zwischen dem schon Bekannten; man hat nur nöthig,
die dunkel gedachten Begriffe von Müssen und Sollen zur Klarheit und
Deutlichkeit zu erheben.
Von derjenigen Classe von Widersprüchen, wozu dies Beyspiel gehört,
wollen wir jetzt nicht reden. Sondern uns beschäfftigt eine andre, die wir
wahre Widersprüche nennen; nicht als ob wir die Widersprüche für Wahr-
heiten hielten, sondern weil sie in der Beschaffenheit, wie man sie vor-
findet, noch gar keinen Punct darbieten, wo die Distinction angebracht
werden könnte. Wenn Eins sich als Entgegengesetztes darstellt, dann ist
ein wahrer Widerspruch vorhanden ; sobald aber dies Eine schon eine
Fuge erblicken läfst, worin die Entgegengesetzten der nöthigen Sonderung
Raum geben, dann kann man das gewöhnliche logische Messer gebrauchen;
und bedarf dazu keiner besonderen Methode.
Von derjenigen Methode aber, die wir hier lehren, [47] oder viel-
mehr erläutern wollen, ist das die Mute, dafs sie den vorliegenden Begriff
ergänzt, damit ein Punct der möglichen Unterscheidung in ihm entstehe.
Die Unterscheidung selbst ist das Ende; und der Widerspruch ist der
Anfang.
Von dem Anfange wollen wir nun weiter reden. Dabev kommen wir
zurück zu dem Begriffe des Grundes. Denn im gegenwärtigen Falle ist
der Grund ein Widerspruch.
§• 183-
Der Grund ein Widerspruch ? Das war es vorzüglich, worein man sich
gar nicht finden konnte.
Ein Grund mufs doch wohl eine Wahrheit seyn; aus einem Wider-
spruche aber können nur Unwahrheiten folgen. So lautet die gewöhnliche
Meinung, die für logische Schlulsformeln gilt.
Allein wenn man mit der Wahrheit anfängt, so braucht man nicht von
der Stelle zu gehn. Nur in dem Irrthum, den man als solchen erkennt,
liegt die treibende Kraft, weiter zu gehn; nämlich heraus aus dem Irrthum.
3*
Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Es versteht sich von selbst, dafs niemals die Absicht war noch seyn
wird, Widersprüche als logische Prämissen zu gebrauchen, in welchem
Falle sie nicht blofs neue Widersprüche ohne Zahl erzeugen könnten,
sondern es auch bey denselben sein Bewenden haben würde. Wir reden
vielmehr von einer neuen Art des Zusammenhangs zwischen Gründen und
Folgen, worin die Widersprüche sich zwar auch Anfangs vermehren, aber
nur, um das Nachdenken in eine andre Richtung zu drängen, die ihm offen
steht, und die ihm allein übrig bleibt, um aus den Widersprüchen heraus
zu kommen.
Die Folge soll in den Fällen, von denen wir jetzt [48] reden, auch der
Materie nach vom Grunde verschieden seyn. Das heifst, sie soll Begriffe
enthalten oder dahin führen, die in dem Grunde noch nicht lagen.
Jetzt rufe man die Betrachtung zurück, von der wir ausgingen. Die
Folge darf von dem Grunde nicht abspringen, sie soll in ihm liegen. Aber
sie soll etwas Neues lehren; und hier fordern wir sogar, dafs nicht blofs
neue Verbindung alter Begriffe, sondern neue Begriffe durch sie geliefert
werden sollen. Die Schwierigkeit, sich den Zusammenhang zwischen Grund
und Folge zu denken, scheint also noch gesteigert!
Offenbar fordern wir jetzt von dem Grunde, dafs, indem er die Folge
erzeugt, er selbst sich ändert. Seine Materie soll sich verwandeln in die
neue Materie der Folge. Hier kann nicht Wahrheit an Wahrheit geknüpft
werden, sondern, damit die Folge Wahrheit enthalte, mufs der Grund das
Gegentheil davon seyn. Seine Verwandlung darf nicht ein Verlust an
Wahrheit seyn ; nur ein Irrthum, der sich in * nothwendiger Besserung be-
findet, kann hier den Grund abgeben. Dafs wir keinen ruhenden, und
gleichsam lügenden Irrthum gebrauchen können, versteht sich von selbst;
er muls sich verrathen, sich laut anklagen, sich selbst aufheben.
Darum sagen wir: der Grund ist ein Widerspruch. Die Schärfe dieser
Behauptung abstumpfen, heifst, dem Grunde seine Kraft benehmen. Denn
die vollkommene Nothwendigkeit, im Denken vorwärts zu gehen, findet
sich nur da, wo das, was man schon denkt, sich selbst aufhebt.
§. 184.
Gerade umgekehrt, wird man uns zurufen, wenn das Denken sich selbst
aufhebt, so steht es still.
[49] Dergleichen sehr populäre Weisheit ist uns oft genug entgegengesetzt
worden, obgleich wir sie im Voraus dadurch abgewehrt hatten, dafs von
gegebenen Widersprüchen die Rede war.
Nun können wir gar nicht läugnen, dafs es Menschen genug giebt,
deren Nachdenken wirklich auch sogar bey gegebenen Widersprüchen still
steht. „Ihr werdet (sprechen sie) die Natur doch niemals ergründen; und
den Streit der Systeme niemals schlichten." Wenn die Trägheit sich so
ausspricht, so zvill sie nicht von der Stelle; und dann ehren wir die Rechte
dieses Willens. Niemand darf von dem Andern gezwungen werden, zu
denken.
In der Metaphysik setzt man aber den Willen, zu denken, voraus.
1 der sich nicht in SW.
Abschnitt. Methodologie. 3. Capitel. Vom Zusammenhange der Gründe etc. 37
Wenn demnach ein Denken aufhören mufs, so tritt ein anderes an seine
Stelle. Wenn ein Gegebenes nicht kann gedacht werden, so ist es deshalb
nicht verurt heilt, weggeworfen zu werden: sondern es mufs im Denken anders
gefafst werden.
Das Denken der gegebenen Widersprüche steht also nicht still, sondern
es rückt fort. Wir lassen uns absichtlich von dem Widerspruche treiben,
weil man das Gegebene nicht wegwerfen kann.
Wohin denn? fragt man, in der Meinung, ein Widerspruch treibe zu
Nichts, weil er selbst Nichts sey. Nan hat nämlich die Erinnerung, dafs
vom Gegebenen die Rede ist, noch immer nicht gefafst; man verweilt viel-
mehr noch immer unter solchen Widersprüchen, die gleich dem viereckigen
Cirkel und dem kalten Feuer willkührlich ersonnen sind.
Und wie, wenn es gar nicht einmal nüthig wäre, dafs ein Widerspruch
gegeben sey, um ihn vor dem Wegwerfen zu sichern? Die Quadratwurzeln
aus negativen Gröfsen, sind sie etwan aus der Mathematik [50] darum
verschwunden, weil der Begriff derselben widersprechend ist? Nichts
weniger; sie behaupten ihren Platz, denn sie gehören wesentlich ins System
der Gröfsenbegriffe.
Aber die Frage, wohin uns ein Widerspruch treibe? wenn sie nicht
ironisch — in der Meinung, alle Widersprüche seyen bedeutungslos und
kraftlos, — sondern ernstlich gethan wird, um die Richtung zu erfahren,
die man in dieser Art des Folgerns zu nehmen habe, kann uns veranlassen,
an dem eben erwähnten Beyspiele einen wichtigen Unterschied zu zeigen,
auf den wir in der Folge noch oft zurückkommen müssen.
Die Quadratwurzel aus einer negativen Gröfse treibt das Nachdenken
gar nicht vorwärts, denn sie ist da, wo sie vorkommt, vollkommen an
ihrer rechten Stelle. Wer sie ändern wollte, der würde die Rechnung
verderben.
Aber diese unmögliche Gröfse ist kein wirkliches Ding, und gilt nicht
dafür. In den gegebenen Widersprüchen liegt jedoch allerdings eine solche
Geltung. Sie stellen uns Objecte der Erkenntnifs dar, deren Realität die
allergröfste Zahl der Menschen nie bezweifelt; während ein dunkles Gefühl
der Undenkbarkeit die Philosophen aller Zeiten stets mehr oder weniger
warnte, dem Scheine zu trauen.
Und jetzt noch einmal die Frage: wohin treiben uns gegebene Wider-
sprüche in den Begriffen ivirklicher Dinge?
Die nächste, und so oft als Veranlassung da ist, tviederkehrende Antwort
lautet so: zur Trennung der Einheit, die das Entgegengesetzte verknüpfen soll und
nicht kann. An dieser Einheit liegt die Schuld des Widerspruchs. Nimmt
man sie weg: so bleiben die gegebenen Entgegengesetzten, wie sie sollen;
und der Widerspruch ist gehoben.
[51] Wäre nun diese Antwort genügend, so bedürften wir keiner weitem
Methode. Das contradictorische Gegentheil der Einheit ist Nicht- Einheit;
und dafs man diese, nämlich die Nicht -Einheit, den Entgegengesetzten
zuschreiben müsse, sagt uns die gemeinste Logik.
In den vorausgesetzten Fällen ist jedoch hiemit das Gegebene nicht
einverstanden. Gegeben war Entgegengesetztes als Eins; und Trennung
läuft hier wider die Erfahrung.
og Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1826.
Was z. B. ist Magnetismus? Einheit entgegengesetzter Polaritäten.
Denken könnten wir wohl einen blofsen Südpol, welcher andre Südpole
abstiefse, andre Nordpole anzöge; versucht hat man oft genug, Magneten
zu zerbrechen, um blolse Nordpole und blofse Südpole zu haben. Das
Entgegengesetzte liegt hier ja deutlich getrennt an den äufsersten Enden
einer Linie, die fast so lang ist, wie der ganze Magnet. Wer sollte glauben,
diese Entgegengesetzten seyen Eins? Wer möchte nicht den Magnetismus
lieber in zwey Arten eintheilen, südlichen und nördlichen? Aber die Er-
fahrung ist eigensinnig. Nicht zwey entgegengesetzte Arten, sagt sie, sollt
ihr unterscheiden, sondern wo ihr eine davon erblickt, da soll sie Euch
ein Zeichen seyn, dafs die andre in der Nähe ist; keine ist etwas für
sich; der Magnetismus ist der eine Gegensatz beyder.
So macht es die Erfahrung noch in manchen andern Fällen. Der
Kurzsichtige tröstet sich nun damit, das Entgegengesetzte sey doch
nicht an demselben Orte vereinigt. Wir wollen ihn nicht bis zu den
Schliefsungsdrähten der Voltaischen Säule verfolgen, an welchen jeder Punct
des Umkreises beyderley Polarität zu besitzen scheint; es ist genug zu
sagen, dafs der Begriff der Ort ist, wo das Entgegengesetzte sich vereinigt,
trotz dem, dafs wir es eben hier trennen wollten.
[52] Und nun wenigstens steht das Denken still! Denn haben wir
nicht einen unnützen Versuch gemacht? Und hat ihn die Erfahrung nicht
zurückgewiesen.
So spricht die Trägheit. Aber der Fleifs fängt hier erst an.
§■ 185.
Fast bey jedem Schritte erblicken wir neue Gegner. Hier, wo die
Trägheit umkehrt, stellt sich die Schwärmerey uns in den Weg; oder viel-
mehr, sie setzt sich. Denn eben hier, wo die Erfahrung diejenigen Begriffe
als gültig vesthält, welche die Logik als undenkbar zurückweisen möchte,
hier ist der Lieblingssitz der Schwärmerey. Das obige Beyspiel des Magne-
tismus ist deshalb so Vielen höchst willkommen. Nicht etwan, als ob sie
die wahre Natur des Magneten besser kennten, als wir: aber er ist ihnen
der Maafsstab des wahren Wissens. Alles Andre, sprechen sie, ist entweder
denkbar auf gemeine Weise, und dann ist es selbst gemein; oder es ist
denkbar wie der Magnet, also bewährt und vertheidigt gegen jede An-
fechtung, und zwar durch den Magneten, der ja vor Augen liegt, indem
er der Logik zu spotten scheint.
Wir machen uns los von den Schwärmern ; aber wir merken uns den
Standpunct, welcher durch sie bezeichnet ist. Die Erfahrung, oder das
Gegebene, vertheidigt , was die Logik 7'crtvcrfen mochte. Ein leerer, blo/s
denkbarer Begriff wäre der Logik recht, aber ihn würden wir ungültig
nennen; weil im Gebiete der Erkenntnis das blofs Ersonnene nichts gilt.
Nun betrachten wir die jetzige Lage des Problems. Ein Widerspruch
wurde als gegeben angenommen; seine Glieder, die beyden Entgegengesetzten,
gelten für Eins; diese Einheit ist kein Urtheil, sondern ein Begriff; auch
wenn der Wider-[53]spruch in der Form eines Urtheils gegeben wäre. Zum
Beyspiel A ist B, und dasselbe A ist non B. Hier sind zwey Urtheile,
deren keins allein einen Widerspruch enthält; sondern die Einerleyheit des
I. Abschnitt. Methodologie. 3. Capitel. Vom Zusammenhange der Gründe etc. 30,
A trotz der entgegengesetzten Merkmale macht den Widerspruch, und auf
den Begiiff derselben kommt es allein an.
Welches Glied dieses Widerspruchs wir nun auch betrachten mögen :
in ihm zeigt sich die Vergeblichkeit unseres eben zuvor angestellten Ver-
suchs. Wir wollten es abtrennen von der Einheit; die Erfahrung rief es
zurück. So ist es, um denkbar und gültig zugleich, das heifst, der Logik
und dem Gegebenen zugleich angemessen zu seyn, in einen neuen Wider-
spruch versetzt worden ; es ist Eins, und auch nicht Eins, mit dem andern
Gliede. Jetzt dringen wir abermals in den Sitz dieses netten Widerspruchs;
■wir läugnen die Einheit dessen, was hier entgegengesetzt ist.
Wir erklären, nicht Ein und dasselbe Glied könne jene entgegengesetzten
Prädicate an sich tragen, also: statt des Einen müsse man mehrere
setzen.
An diesem Puncte sind uns, so fern die Erinnerung nicht untreu
geworden, keine Gegner aufgestofsen. Warum nicht? Vielleicht hat ge-
rade auf die Hauptsache Niemand geachtet.
Die Hauptsache ist. ohne Zweifel die Veränderung, welche der ge-
gebene Begriff im Denken erleidet. Aber vielleicht hat man geglaubt,
die Veränderung werde sogleich allen Schwierigkeiten ein Ende machen.
Das thut sie nun freylich nicht. Im Cegentheil, es liegt unmittelbar vor
Augen, dafs die Meinung, in welcher wir den letzten Schritt thaten, einer
Berichtigung bedarf; oder wenigstens einer nähern Bestimmung.
Sind die Glieder des Widerspruchs M und N ; und haben wir meh-
rere M statt des einen gesetzt: so [54] kann man nicht sagen, eins von
diesen M sey Eins mit N, das andre nicht. Denn jedes M mufs denk-
bar und gültig zugleich seyn; aber als denkbar ist es gesondert von N;
als gültig (vermöge des Gegebenen) ist es Eins mit ihm. Also enthält
nothwendig jedes M den Widerspruch ganz, den wir heben wollten, als wir
das einfach gegebene für ein Mehrfaches erklärten.
Haben wir nun nicht unsern Zweck verfehlt? Müssen wir nicht wieder
umkehren und das Gewebe auflösen?
Denn wenn wir, nach voriger Art abermals vordringend, jedes ein-
zelne M wiederum für ein Mehrfaches erklärten, so ginge der Widerspruch
in jedem, zugleich gültigen und denkbaren M von neuem hervor; und
neue Spaltung, neue Vermehrung des Widerspruchs, ginge ins Unend-
liche!
Hier nun erinnern wir uns, erst kürzlich feindliche Stimmen ver-
nommen zu haben. „Wozu kann es doch dienen, Widersprüche ins Un-
endliche anzuhäufen? Was denn für ein stärkeres Bekenntnifs vergeblicher
Speculation kann es geben?"
§. 186.
Wir sind noch nicht am Ende; aber wir nähern uns demselben mit
starken Schritten.
Die Frage ist zunächst, was von dem Vorigen wir zurücknehmen
müssen? Gewifs die Meinung, wenn wir sie jemals hatten, dafs durch
bloße Verneinung der Einheit, die den Sitz des Widerspruchs ausmacht,
derselbe genügend werde gehoben seyn. Aber ohne darüber entscheiden
aq Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
zu wollen, fanden wir nöthig, das Nät liste zu thun, zcas vor uns lag, wenn
auch ungewifs, wie weit es führen werde. Uniäugbar nun ist da, wo man
einen Widerspruch erblickt, der nicht [55] bleiben darf, allemal das Nächste,
die Einheit seiner Glieder zu verneinen. Wenn jedoch dies geschehen
ist, so steht es frey, nöthigenfalls noch mehr zu thun.
Wir sehn jetzt deutlich, dals wir die Alt des Angriffs verändern
müssen; aber wir finden auch die Gelegenheit verändert.1 Wenn mehrere
M statt eines einzigen gesetzt sind, so mag immerhin jedes einzeln ge-
nommen mit N einen Widerspruch bilden; wir werden uns nicht bemühen,
jedes insbesondere, wie wir uns zuvor dachten, zu verfolgen und zu zer-
schlagen. Wir können jetzt die M anders fassen, als einzeln, das heifst,
sie zitsammenfassen. Da wir es können, und überdies uns nichts anders
übrig bleibt, wenn wir sie nicht wegwerfen, und das Gegebene damit eben-
falls wegwerfen wollen (welches schon verboten worden), so müssen wir
das thun, was wir können. Wir müssen annehmen, in der Verbindung
der M entspringe N ; oder was dasselbe sagt, jedes M, nicht einzeln, son-
dern als zusammen mit den andern M, sey gleich N.
Und hier, bey dieser Distinction, sind wir am Ende. Nicht mit der
Auflösung irgend eines Problems, sondern mit der allgemeinen Bezeichnung
der Methode, wie man nach der Auflösung suchen müsse, in so fern dieses
blofs daraus, dafs in dem Gegebenen überhaupt ein Widerspruch liegt, kann
geschlossen werden.
Unbestimmt bleibt hier sogar, welches Glied des Widerspruchs in
jedem besondern Falle dasjenige sey, welches man als M betrachten, das
heifst, vervielfältigen müsse. Um so mehr also bleibt unbestimmt, was denn
das Zusammen der mehrern M bedeute ? Dies mufs nach der Natur der
einzelnen Probleme weiter untersucht werden. Jedoch werden wir über
diesen wichtigen Punct tiefer unten noch eine Bemerkung machen.
[56] §• 187.
Als nächstes und zweckmäfsigstes Beyspiel für die Methode der Be-
ziehungen wird gerade dieselbe Untersuchung gebraucht werden können,
die uns in dem ganzen gegenwärtigen Capitel beschäfftigt.
Der gegebene Widerspruch ist hier die Einheit des Grundes und der
Folge. Gegeben ist ohne Zweifel das Folgern, als eine häufige Thalsache
des Denkens. Man betrachte nun den Grund als das obige M. Er soll
der Folge vorausgehn, und ist daher weder ganz noch theilweise ihr. der
noch nicht vorhandenen, gleich. So wäre das, was wir Grund nannten, an
sich etwas denkbares ; aber es verdient diesen Namen nicht, denn es be-
gründet erst dann, wann die Folge hervortritt, und sie soll nur und ganz
durch ihn entstehen. Also mufs er selbst die Folge enthalten, das heifst,
er mufs ganz oder theilweise ihr gleich seyn. Er ist also Eins und auch
nicht Eins mit der Folge.
Jetzt kommen wir an den Punct, den wir im §. 185. für die Haupt-
sache erklärten. Der Grund ist ein Glied des Widerspruchs; statt dieses
einen Gliedes sollen wir mehrere setzen.
1 die Worte „aber wir finden auch die Gelegenheit verändert" fehlen in SW.
I
i. Abschnitt. Methodologie. 3. Capitel. Vom Zusammenhange der Gründe etc. 41
Was heifst das hier? Wir dachten uns den Grund bis dahin als
Einen Gedanken; es fiel uns nicht ein, nach einer Mannigfaltigkeit in ihm
zu fragen. Jetzt sollen wir Gründe statt des Grundes setzen, oder besser,
wir sollen mehrere zusammengehörige Gedanken als den ganzen Grund
betrachten.
Warum das? Weil, so lange der Grund als ein ungetheiltes Eins
betrachtet wird, es gar nicht möglich ist, in ihm den Widerspruch zu heben.
Ist es denn jetzt möglich? Frevlich nicht so, dafs, wenn wir Gründe
statt des Grundes setzten, jetzt von diesen Gründen Einer ganz verschieden
von der Folge, [57] ein andrer ihr gleich wäre. Wohl aber so, dafs keiner
vi m den Gründen für sieh allein gleich der Folge sey, hingegen jeder in-
sofern, als er durch den andern ist umgeändert worden.
Diese Auflösung ist noch ganz allgemein. Nennt man die logischen
Prämissen nunmehr Gründe, so wird jede derselben gleich der Folge, indem
sie sich mit der andern verbindet. Aber die Verbindung beyder durch
den Mittelbegriff, und dessen Weglassung am Ende, ist etwas dem logischen
Syllogismus Ei<renthümliches.
Nennt man hingegen die Glieder eines Widerspruchs nunmehr Gründe,
so ist es wiederum richtig, dafs nur beyde, durch gegenseitiges Wider-
streben, einander den Zwang anthun, vermöge dessen der ganze Grund
sich so verwandelt, wie wir gezeigt haben.
Flätten wir gleich im Anfange dieses Capitels die Methode der Be-
ziehungen als bekannt vorausgesetzt, so würde sie uns die Wegweisung ge-
geben haben: denket Euch den Grund als ein Mehrfaches, das sich
gegenseitig bestimmt. Jedes von diesem Mehrfachen werdet ihr in so fern,
als es die Bestimmung durch das Andre erlitten hat, der Folge gleich
achten können. Diese Anweisung wäre nicht hinreichend, aber auch nicht
unnütz gewesen. Wir hätten manche andre Betrachtungen damit verbinden
müssen; aber es wäre leichter gewesen, sie zu finden, und weniger bedenk-
lich, sie zu benutzen.
§. 188.
Gewarnt durch häufige Misverständnisse, haben wir verhüten wollen,
durch Abweichung von dem schon früher bekannt gemachten Gange der
Betrachtung* den [58] Leser irre zu machen. Jetzt aber können wir
leicht das Gesagte allgemeiner darstellen, obgleich schwerlich mit mehr
Gewinn für den Gebrauch.
Soll ein Widerspruch = A, dessen Glieder M und N heifsen, nicht
verworfen, sondern durch Veränderung dieser Glieder denkbar gemacht
werden: so geschehe die nöthige Veränderung des M durch X, und die
des N durch Y. Alsdann mufs das Resultat seyn, dafs M, als verändert
durch X, gleich N (oder verbunden mit N, wie der Begriff' A es erfordert
und mit sich bringt), als verändcit durch Y, sey. Soll aber der gegebene
Grundbegriff" zugleich ein Princip des Wissens seyn, so müssen X und Y
durch ihn bekannt seyn. Der einfachste Fall ist X = M und Y = N.
(Man darf nicht annehmen X = N, oder Y = M; denn erst aus der
* Hauptpuncte der Metaphysik, erste Vorfrage [Bd. II vorl. Ausg.]; und Psycho-
logie [Bd. V vorl. Ausg.] §. 34.
12 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Verbindung des X mit einem gegebenen Gliede soll N, und eben so des
Y soll M resultiren, daher X und Y gegen N und M in dem Verhältnisse
der Gründe zu den Folgen stehn, und nicht an sich selbst vorausgesetzt
werden können.)
Der Fall X = M und Y = N mufs aber tinter der Voraussetzung
angenommen werden, da/s die Auffassung des Begriffs A nicht ursprünglich
mit einem grofscn Fehler behaftet sey. Denn eigentlich hätte nicht A =
M -j- N, sondern A -= M' -\- N' sollen gegeben sevn, wo wir durch
M' und N' die durch X und Y veränderten Begriffe, und durch das Plus-
zeichen nicht eine Summe, sondern die Verbindung der Glieder M und N
zur Einheit A andeuten. Ist nun X = M und Y = N : so reducirt
sich der ganze Fehler der Auffassung darauf, dafs nur überhaupt, und im
Allgemeinen, M und N als Glieder des Begriffs A angegeben wurden, statt
von mehrern, durch einander bestimmten M, und eben so von mehrern N, Er-
wähnung zu thun. In je-[5Q|dem andern Falle wäre zu fragen, wie es
denn möglich sev, dafs X und Y weder ihre Gegenwart, noch ihre eigenthüm-
lichen Merkmale, noch ihren Einrlufs verrathen haben ?
In jenem, von uns angenommenen, Falle ist nicht sowohl ein Fehler,
als eine Lücke, ein Mangel, in der Auffassung. Ein Beyspiel wird dies
klärer machen. Durch Fernröhre erkennt mm viele Sterne für Doppe!-
sterne, die das blofse Auge für einfach hielt. Hat nun das Auge fals h
gesehen? Etivcis falsches gevvifs nicht; vielmehr hat es wirklich beyde Sterne
mit vereintem Lichte leuchtend gesehen; es konnte sie nur nicht unter-
scheiden.
Ein anderes Beyspiel! Manche Differentialgleichungen scheinen un-
fähig zur Integration, bis sie mit einem gewissen Factor maltiplicirt werden.
Der Factor ist herausgefallen; die Gleichung blieb richtig, sie konnte ihn
entbehren, so lange man nicht ihr Integral verlangte.
Eben so mangelt in unserm Falle die Bestimmung, dafs M und N
nur allgemeine Begriffe seyen, wodurch eine Mehrheit des Untergeordneten
solle angedeutet werden. Man mufs diese Mehrheit, und was aus ihr ent-
steht, erst wieder hineindenken, um den gegebenen Begriff der Wahrheit
dergestalt gemäfs zu denken, dafs man sicher sey, sie nicht unvermerkt in
eine Ungereimtheit zu verwandeln. Aber rückwärts, durch das Ungereimte,
in welches man durch eine natürliche Unbcliutsamkeit verfiel, ivird man erst
dahin gebracht, die Notwendigkeit der richtigen Auffassung einzusehen.
Wie grofs nun der Fehler der Auffassung sey, durch welche der Be-
griff A gegeben wurde : das läfst sich zwar im Allgemeinen nicht sagen und
nicht einmal vermuthen. Aber sehr gewifs mufs man im Anfange der
Untersuchung ihn lieber für einen blofsen [60] Mangel, als für eine Täu-
schung ansehen; um nicht unnütze Schwierigkeiten da zu häufen, wo viel-
leicht die Wahrheit ganz nahe liegt.
Also zeigen uns diese Betrachtungen immer den Weg, den wir zuerst
■ ersuchen sollen, und auf welchem allein wir hoffen können fortzukommen.
Denn was sollten wir anfangen, wenn wirklich der gegebene Begriff durch
solche X und Y müfste verbessert werden, die nicht durch ihn angezeigt
werden? Wir müfsten dann wieder auf das gute Glück warten; wie im
logischen Schliefsen eine Prämisse auf die andre wartet.
I. Abschnitt. Methodologie. 4. Capitel. Plan der bevorstehenden Untersuchung. 43
Übrigens ist unsre Voraussetzung X = M und Y = N immer noch
allgemeiner als die frühere Betrachtung, worin Y = o war; das heifst,
worin N selbst als resultirend aus mehreren M x angesehen wurde.
Aber diese Allgemeinheit der Darstellung brauchen wir gar nicht zur
Anwendung. Man könnte vielmehr die Methode der Beziehungen ganz ent-
behren, wenn man nur in den einzelnen (sehr wenigen) Fällen, auf welche
sie pafst, genau genug dem Antriebe folgt, der in den Problemen selbst
enthalten ist. Doch diene das Vorstehende dem Leser zur Übung, und
dem Verfasser zur Rechtfertigung.
Zum Schlüsse noch eine Bemerkung! Die mehrern M, aus deren gegen-
seitiger Modifikation N erfolgen soll, stehen zu demselben offenbar im Ver-
hältnisse des Grundes zur Folge. Läfst sich also in vorkommenden Fällen
erkennen, welches Glied eines gegebenen Widerspruchs müsse als Grund,
oder welches allein könne als Folge betrachtet werden: so ist die Frage
entschieden, welches man — M setzen, das heifst, vervielfältigen müsse.
[61] Viertes Capitel.
Plan der bevorstehenden Untersuchung.
§• 189.
Der Plan unterscheidet sich von den Methoden ungefähr so, wie von
dem Gehen, Reiten, Fahren sich der Grundrifs der Gegend unterscheidet,
in der man reisen will. Nachdem jene Arten des Fortkommens einzeln
beschrieben worden, entsteht noch die Frage, an welchen Orten der
Gesend die eine oder die andre nöthig? wo besser zu gehn, wo zu reiten,
-c
wo zu fahren sev? In einer Gebirgsgegend wird man schon auf Abwech-
selungen hierin gefafst seyn müssen.
Nur auf Begriffe, die unzweydeutig aus dem Gegebenen stammen,
und die überdies Anspruch machen, wirkliche Gegenstände darzustellen,
soll die Methode der Beziehungen angewendet werden. Wir haben sie zwar
oben beyspielsweise auf den Zusammenhang zwischen Grund und Folge
übertragen; und man mag sich in ähnlichen Fällen versuchen: aber das
geschieht auf die Gefahr, der Begriff, dessen Beziehungen man sucht, sey
vielleicht von der Beschaffenheit jener Quadratwurzeln aus negativen Gröfsen
(§. 184.), die mit ihren Widersprüchen behaftet bleiben müssen, weil sie nur
solchergestalt die Stelle behaupten können, wohin sie gehören. Hiegegen
mufs anderweitige Bürgschaft vorhanden seyn. Die sicherste Bürgschaft aber
gegen diesen Verdacht leistet die Realität des Gegenstandes, welche in
keinem Widerspruche verwickelt bleiben darf, und nicht darin verwickelt
seyn kann.
Wir erinnern uns nun zwar, dafs die Ontologie, indem sie die ge-
gebenen sinnlichen Dinge für real, oder doch für Erscheinungen eines
mannigfaltigen, von uns unabhängigen Realen nimmt, auch hier noch an
1 aus den andern M. SW.
41 Allgemeine Metaphysik nebst deD Anfängen etc. 182g.
der [62] Eidolologie eine gefahrdrohende Nachbarin hat, die gern Alles
ins Ich, und das Ich wiederum in ein reines oder absolutes Ich versetzen
möchte. Allein wir kennen einigermaafsen diese Eidolologie (§. 143, 147.);
wenn wir uns auch hier nicht auf die schon in der Psychologie geführte
Untersuchung über das Ich berufen wollen. Also können wir, ohne uns
sonderlich zu fürchten, immerhin solche Bürgschaft annehmen, welche auf
der Realität der gemeinen Erfahrungsgegenstände beruhet; mit dem Vor-
behalte zwar, in der Eidolologie selbst nöthigenfalls uns Berichtigungen
gefallen zu lassen; aber voraus sehend, dafs dieser Vorbehalt nur der
Form wegen da steht, um gegen unnütze Einwürfe Wache zu halten.
Dies alles vorausgesetzt, so wird die Methode der Beziehungen in
der Ontologie zuerst, und zwar an dem Puncte zur Anwendung kommen,
wo das erste eigentliche Princip der Metaphysik, der Begriff des Dinges
mit mehrern Merkmalen, oder kurz, der Inhärcnz, seinen Platz einnimmt.
Obgleich nun das Princip die erste Stütze des Wissens ausmacht: so kann
es doch, eben weil auf seine Realität gerechnet wird, nicht den Anfangs-
punet des Vortrags einnehmen. Ehe man Etwas als ein Reales bezeichnet,
mufs der Begriff der Realität entwickelt sevn. Dieses ist das Geschafft einer
logischen Analyse, wodurch kein Gedanke verändert, sondern nur so wie
er vorhanden ist, zur vollen Deutlichkeit erhoben, und vor allen Ver-
wechselungen gesichert wird. Und damit also werden wir anfangen.
§. 190.
Diese logische Analyse sey geschehen; alsdann sey die Methode der
Beziehungen zur Anwendung gekommen : womit endigt sie ? W7ir wissen
im Allgemeinen, dafs sie nur bis an einen Punct führt, wo ein [63] Zu-
sammen mehrerer M zu untersuchen ist, und wo nun Distinction eintrit,
nicht dem einzelnen M, sondern dem Resultat aus mehrern, komme es zu,
Eins zu seyn mit N. So wenig wir nun hier schon voraus wissen können,
was diese dunkele Formel in jedem einzelnen Falle bedeuten möge: so
läfst sich doch eine Vermuthung desjenigen, was zunächst "weiter zu thiui
sej'n werde, daraus ableiten.
Es ist nämlich klar, dafs jenes Zusammen der mehrern M, was
sie auch seyn mögen, nicht in einer blofsen Summe zu suchen sey, die
durch Addition eines und noch eines M entstehn könnte. Denn der Begriff
N, von welchem vorausgesetzt worden, er sey unverträglich mit dem einzelnen
M, soll sich nun mit dem Resultat der mehrern vertragen; es mufs also
eine bedeutende Veränderung daraus hervorgehn, dafs die mehrern M in
Verbindung gesetzt werden. Hierüber schweigt die Methode; und über-
läfst es der weitern Untersuchung jedes einzelnen Problems.
Gewifs mufs jedes der M, indem es mit den andern in Gemeinschaft
trit, so gefafst werden, dafs in dem Begriffe von ihm etwas sich ändern
möge durch die Begriffe der andern. Wir wollen nun zwar nicht ent-
scheiden, ob dieses gleich von selbst erfolgen werde aus derjenigen Vor-
stellung der M, die man zu diesem Theile der Untersuchung schon mit-
bringt. Allein wenn es nicht von selbst erfolgt (und davon sieht man im
Allgemeinen wohl kaum die Möglichkeit, indem ja die mehrern M als
mehrere gleichartige Exemplare Eines allgemeinen Begriffs gedacht werden!),
t. Abschnitt. Methodologie. 4. Capitel. Plan der bevorstehenden Untersuchung. 45
so müssen wir es nothwendig veranstalten. Es mufs dahin kommen, dafs
die blofse Summe der M sich vor unsern Augen in etwas verwandle, was
dem N angemessen sey.
Also die M müssen vermuthlich anders, als durch ihren ursprünglichen
allgemeinen Begriff, — dennoch [64J aber der Wahrheit gemäfs, mithin
auf eine Weise, die jenem gleich gelte, — in treuer Übersetzung, aber
in einem andern Ausdrucke, vorgestellt werden.
Wie die Mathematiker ihre Gröfsen nach dem Bedürfnisse transformiren,
ja fast jeden Augenblick mit den Ausdrücken wechseln, — und wie sie
ohne solchen Wechsel nicht rechnen können: so werden wir eine ähnliche
Kunst nöthig haben. Eine Kunst der zufälligen Ansichten! Ohne diese
möchte mit der Methode der Beziehungen schwerlich etwas anzufangen
seyn.
Auf die zufälligen Ansichten haben wir den Leser absichtlich schon
oben1 (§. 174, 176.) aufmerksam gemacht. Zufällig sind sie nur dem
Begriffe, von welchem sie genommen werden; wie wenn x = y — z,
oder y = Xu gesetzt wird, während man tausend andre Ausdrücke eben
so gut hätte wählen können. Aber nothwendig sind sie an dem Orte, wo
sie vorkommen; und sie müssen so gewählt werden, dafs durch ihre Ver-
mittelung dasjenige in Verbindung komme, wovon Eins durch Andre eine
neue Bestimmung erlangen soll.
Wenn bey den Mathematikern die zufälligen Ansichten als blofse
Kunstgriffe auftreten: so liegt es daran, dafs keine bestimmte Weisung
vorhanden war, weder dafs, noch wie man sie wählen solle. Uns aber
debt die Methode der Beziehungen den Befehl, dafs wir uns ihrer, wo
nöthig, bedienen sollen; bey der Wahl derselben mufs der vorkommende
Fall uns leiten.
§. 191.
Logische Analyse, Anwendung der Methode der Beziehungen, und
der zufälligen Ansichten, — dies Alles sey geschehen: was wird weiter zu
thun seyn?
Die Frucht der Untersuchung mufs sich nunmehr der Reife so weit
nähern, dafs man wirklich in ein neues [65] Gebiet der Begriffe eintreten
könne. Denn die gesuchte Ergänzung des anfänglich widersprechenden
Begriffs mufs nach Anwendung der zufälligen Ansichten sich wenigstens in
irgend einem Puncte ergreifen lassen. Ist aber erst irgend ein wahrhaft
neuer Begriff in der Untersuchung: so kann man erwarten, dafs es nun
gehen werde wie in Rechnungen nach den nöthigen Substitutionen. Es
läuft nämlich alsdann gleichsam von selbst eine Reihe bekannter logischer
Wendungen ab, wodurch der neue Gedanke mit demjenigen in Gemein-
schaft trit, was er vorfindet.
Also an dem bezeichneten Puncte ist eine Reihe von Entwickelungen
zu erwarten, denen wir im Ganzen uns mehr überlassen müssen, als wir
sie leiten. Im Einzelnen kann dennoch Kunst genug nöthig seyn, um
vorkommenden Schwierigkeiten zu begegnen.
Von welcher Art diese Kunst seyn werde, das läfst sich hier nur
1 absichtlich schon (§. 174, 176.). SW. („oben" fehlt).
a() Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
einigermaafsen, wie aus weiter Ferne, erblicken. Es mufs eine Kunst der
Constructionen seyn. Darauf deutet das Obige im §. 163 und 1Ö4. Die
sesrebenen Erscheinungen sollen erklärt werden; man mufs also von dem
Puncte aus, wo man dem Realen am nächsten gekommen war, ein Bild
entwerfen, welches die Umrisse der Erscheinungswelt allmählig ähnlicher
und bestimmter zeigen könne.
Hier, wie am entsprechenden Orte der Psychologie, ist es nöthigr
dafs wir die Mathematik berühren; uns aber nicht ganz auf sie verlassen,
denn nach §. 141. und so weiter, hat sie gewisse Auslegungen erlitten,
denen wir vorbeugen müssen, damit sie nicht in unsre Sphäre kommen.
Wir werden uns also zwar nicht einfallen lassen, die Mathematik zu ver-
bessern, wohl aber die wahre Bedeutung ihrer Lehren sorgfältig bestimmen
müssen, bevor wir uns dieselben aneignen. Dies kann nicht anders ge-
schehen, als indem wir die Grundleh-[66]ren der Mathematik gleichsam
vor unsern Augen entstehen lassen.
Das Alles liegt jetzt noch weit aufser unserm Gesichtskreise; allein
schon jetzt sind einige allgemeine Betrachtungen nöthig, damit späterhin
der Leser sich nicht überrascht finde.
§. 192.
Zuerst müssen wir auf gewisse Personen Rücksicht nehmen, die mit
wichtiger, ja mit strenger Miene vermuthlich schon lange fragen: ob wir
denn wirklich glauben, durch unsre methodischen Künste das Reale er-
haschen zu können? Ob denn das Künsteln an Begriffen jemals etwas
Höheres zu Tage fördern werde, als — Begriffe?
Für solche Frager wird nun freylich keine Metaphysik geschrieben.
Das Reale soll ihnen in die Seele, — ihnen in ihre Erkenntnifs-
treten. Noch mehr: dabey soll ihnen zu Muthe seyn, als ob sie hörten
und sähen. Anschauung wollen sie, — und niemals begreifen sie, dafs,
wenn sie Anschauung bekämen, sie dann gerade so diese, wie alle andern,
längst bekannten Anschauungen, ergriffen von der Reflexion, Preis gegeben
dem Zweifel, behaftet mit Widersprüchen, wenigstens mit dem Widerspruche,
dafs sie, jeder in seinem Ich, die Anschauenden dieser Anschauung wären,
— hingeben müfsten dem prüfenden Denken, und anheim stellen müfsten
seiner Entscheidung.
Jedoch läfst sich antworten auf ihre Frage.
Es ist ein Irrthum, dafs wir das Reale erhaschen wollen; das ist nicht
nöthig; denn wir haben die1 Realität niemals und nirgends von uns ge-
lassen, niemals aus den Augen verloren. Alles Gegebene gilt ursprünglich
für real. Suspendirt, aber nicht aufgehoben, wird [67] der Anspruch des
Gegebenen auf Realität alsdann, wann sich findet, es könne so, wie es
gegeben war, nicht gedacht werden. Darum sondert sich der Begriff der
Realität ab von der Qualität, die ihm zuerst im Anschauen war beygelegt
worden. Und nun mufs, stets mit Vesthaltung der Überzeugung, dafs ein
Reales gegeben war, die Frage, was /in ein Reales? dergestalt beantwortet
werden, dafs immer noch die Antwort vom Gegebenen abhänge, und durch
1 Denn wir haben Realität . . . SW. („die" fehlt).
i. Abschnitt. Methodologie. 4. Capitel. Plan der bevorstehenden Untersuchung. 47
dasselbe bestimmt, obgleich nicht mit ihm unmittelbar identisch sey. Davon
wird die Ontologie weiter reden; und zwar gleich zu Anfange.
§, 193.
Ferner müssen wir des Causalbegriffs erwähnen; nicht um ihn hier,
in der Methodologie, zu erklären, sondern um zu sagen, dafs der Weg
der Untersuchung, den wir hier vorgezeichnet haben, in der Ontologie zu
ihm führen wird. Aus dem gegebenen Erfahrungskreise stammt zwar die
Notwendigkeit, ihn zu erzeugen; nämlich den Widerspruch in der Ver-
ändcrung durch Hülfe der Causalität zu heben; aber der gemeine falsche
Begriff der Ursache, die in ein andres Leidendes wirkt, darf auf unserm
Wege gar nicht vorkommen.
Der Grund, weshalb hier dieses Begriffs erwähnt wird, liegt in der
dritten Hauptforderung, welche die Methodologie erfüllen soll (§ 164).
Auf dieselbe bezog sich zwar schon das, was vorhin (§ 191.) von einer
Kunst der Constructionen bemerkt wurde; welche andre Constructionen
aber dürften wir, in der Richtung vom Realen zur Erscheinung fortgehend,
machen, als solche, die von dem wahren Wirken der Dinge anheben,
und deren Anfangspunct eben deshalb der Causalbegriff seyn mufs?
[08] Und hier ist es nöthig, auf die Länge des zu durchlaufenden
Weges aufmerksam zu machen.
Die Metaphysik hat zwey Pole; sie spricht vom Seyn und vom Schein.
Wäre das, was erscheint, unmittelbar das Reale, so gäbe es keine solche
Wissenschaft. Aber was liegt denn zwischen den Polen? Gewifs irgendwo-
der Causalbegriff; denn wenn das Reale nichts wirkte, woher käme denn die
Erscheinung ? — Diese sehr natürliche Frage verleitet aber gar leicht zu
einer ganz irrigen Meinung über Seyn, Wirken und Scheinen; nämlich als
ob das Wirken des Seyenden eben darin bestände, unmittelbar den Schein
hervorzubringen. Das gäbe einen sehr kurzen Weg; und man brauchte
dann eben nicht viel von einer Kunst der Constructionen zu reden.
Aber das Seyende, was und wie es auch wirken möge, kann nicht
ein solches seyn, dafs es ohne Weiteres ein Blendwerk von sich ausgehn
liefse. Sehn wir schon ein, dafs die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen:
so wissen wir hiemit, dafs wir die Unwahrheit des Scheins fem halten
müssen von der Wahrheit des Sevenden, die nicht von sich selbst ab-
weichen kann. Es läge ja sonst im Seyenden der Keim seines Gegen-
theils; wer nun eine Spur von metaphysischer Besonnenheit besitzt, dem
ist hierüber genug gesagt.
Also sind Mittelglieder nöthig; und die Metaphysik mufs sie zeigen,
wenn es ihr gelingen soll, den Schein aus dem Seyenden zu erklären.
Diese Mittelglieder kann sie nicht auf gut Glück aussinnen und einschalten.
Sie mufs sie finden in dem, was denselben zunächst vorhergeht.
Nun versetze man sich auf den Punct, wo das Reale entweder er-
kannt wird, oder wo man doch dieser Kenntnifs am nächsten kommt.
Dieser Punct sey uns jetzt der erste; und der zweyte sey das wahre
Wirken des [69] Realen, die ächte Causalität. oder das wirkliche Geschehen.
So mufs alsdann auf diesen zweyten Punet ein dritter folgen; dieser aber
darf nicht von selbst, durch ein willkürliches Denken, eintreten; er darf
,g Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
auch nicht zusammenfallen mit der Erscheinung, als ob sie eine Wirhing
des Wirkens des Realen wäre, denn da wäre der obige Fehler zwar um
eine Stelle weiter geschoben, aber nicht wahrhaft vermieden. Sondern so-
bald wir das eigentliche Wirken erkannt haben, muß sich irgend eine Art
von Bestimmungen dieser Kenntnt/s darbieten, die kein Prädicat des Realen
ist, und es nicht verunreinigt, dennoch aber wesentlich dazu gehört, um ein-
zusehen, dafs, und wie der Schein entstehe.
Die Bestimmungen dieser Art sind die mathematischen, deren eben
deshalb die Metaphysik gar nicht entbehren kann; so dafs es schon aus
diesem Grunde auf immer ein vergebliches Bemühen seyn wird, Meta-
physik und Mathematik von einander streng absondern zu wollen.
§• 194-
Die mathematischen Constructionen, so weit sie dienen, den Schein
im Allgemeinen herzuleiten aus dem Wirken des Realen, rechnen wir nach
der schon oben (§. 126.) angegebenen Benennung zur Synechologie ; und
eben dahin gehört das Meiste von dem, was an die Stelle der alten Kosmo-
logie treten mufs.
Allein indem die Synechologie nur das Reale, und was von ihm aus-
geht, unter mathematischen Formen betrachtet: wird es dem Leser anfangs
vorkommen, als verfehlte sie dabey den Umstand, dafs der Schein nicht
blofs hergeleitet werden mufs aus seinem Ursprung, sondern auch hinein-
geleitet werden mufs in Uns! [70] Denn gewifs sind Wir Diejenigen, denen
sich der Schein darstellt.
Diese Lücke deckt erst die Eidolologie, die zugleich den Idealismus
prüft und beseitigt. Nunmehr schliefst sich das Ganze, welches Ontologie,1
Synechologie und Eidolologie mit einander bilden. Keiner von diesen
f heilen der allgemeinen Metaphysik ist eine selbstständige Wissenschaft;
eben deswegen darf auch nicht Synechologie mit Naturphilosophie, nicht
Eidolologie mit Psychologie verwechselt werden; obgleich es sich deutlich
genug zeigen wird, dafs allerdings die Naturphilosophie und die Psychologie,
insofern sie Wissenschaften a priori sind, oder in Hinsicht ihres synthetischen
Theils, aus der Synechologie und der Eidolologie entspringen, und ihnen
logisch untergeordnet sind.
So haben wir nun jenen bogenförmigen Gang der Metaphysik (§. 164.)
so viel möglich im Voraus verzeichnet; wie es von der Methodologie ge-
fordert wurde. Niemand wird jetzt noch die Frage aufwerfen, ob man
nicht den Bogen vermeiden, und dagegen vom Gegebenen zum Realen,
und rückwärts, auf Einem und demselben Wege gehen könne? Die Me-
thoden für den in die Tiefe hinabsteigenden Bogen sind ganz verschieden
von denen des Aufsteigens, weil das noch unerklärte Gegebene, wovon
man ausgeht, zwar das Nämliche ist mit demjenigen, dessen Erklärung
man aus der Tiefe heraufholt, aber das Unerklärte gewifs nicht einerley
ist mit der Erklärung, deren es bedarf; und eben so wenig das Suchen
nach den Gründen, woraus man erklären könne, einerley ist mit den, aus
diesen Gründen allmählig sich entwickelnden Folgen.
1 welches die Ontologie. SW.
[;i] Zweyter Abschnitt.
Ontotogie.
Erstes Capitel.
Von der Auffassung des Realen durch Begriffe.
§■ 195-
Die logische Analyse, mit welcher wir beginnen sollen (§ 189), findet
zwar hier nicht insofern ein schweres Geschafft, als welches ihr Begriffe
darbieten können, die eine Verwickelung vieler Merkmale enthalten. Denn
was kann einfacher seyn, als der Gedanke, dafs irgend Etwas ist ? Allein
die Schwierigkeiten des Unendlich -Kleinen gelten bekanntlich für nicht
geringer als die des Unendlich- Grofsen; und den Begriff des Seyenden,
ohne irgend eine nähere Bestimmung in völliger Abstraction gedacht,
möchte man fast unendlich klein zu nennen sich versucht fühlen ; so wenig
giebt er zu denken. Wie soll man ihn fassen? Und was soll man mit
ihm anfangen.
Fassen soll man ihn so, wie er sich im gemeinen Gedankenkreise
findet. Denn die Metaphysik mufs ge-[72]sichert werden gegen den Ver-
dacht, sich eine Welt nach ihrer Phantasie zu ersinnen und zu beschreiben.
Anfangen soll man mit ihm das, was das Amt der logischen Analyse
mit sich bringt. Dieses aber ist bekanntlich ein zwiefaches. Erstlich,
verwandte Begriffe, die leicht verwechselt werden können, zu unterscheiden ;
zweytens, in demjenigen Begriffe, der zur Betrachtung vorliegt, die Merkmale
zu sondern.
Überdies wissen wir aus der Geschichte der Metaphysik, wie wenig wir
hier sicher sind vor solchen Irrthümern, die aus dem Sevn eine blofse
Mittelstufe machen zwischen Möglichkeit und Nothwendigkeit. Es könnte
sich demnach ereignen, dafs die nothwendigen Vorkehrungen gegen den
Irrthum unser Geschafft weitläuftiger machten, als es eigentlich seyn sollte.
S.
5
196.
Ontotogie ist für viele Menschen ein Schreckwort, das mit aller ge-
bührenden Scheu vor wahrem und falschem Tiefsinn pflegt ausgesprochen
zu werden. Der Leser, der bis hieher kam, wird sich nun freylich nicht
davor fürchten; aber die Frage bleibt merkwürdig, wie ein wissenschaftlicher
Name, der nichts weiter ankündigt als die Lehre vom Seyn, in Übeln Ruf
habe kommen können.
Herbart's Werke VIII. 4
;q Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Zwar nicht mit Unrecht beschuldigt man die Schulen, dafs sie das
Einfachste auf eine Weise verworren haben, die dem gesunden Verstände
widersteht. Aber die Schulen würden das nicht gethan haben, wenn nicht
in der Natur des Gegenstandes Gründe lägen, die es schwer machen, den
sehr abstracten Begriff vor Verwechselungen zu hüten.
Man versetze sich auf ein Schiff, welches schnell am Ufer vorbey fährt.
Die Bäume scheinen uns entgegen zu kommen ; aber sie bewegen sich
nicht wirklich. Hingegen das Schiff bewegt sich wirklich.
[73] Papier ist sehr verschieden von Flachs; diese wirkliche Ver-
schiedenheit läfst sich an vielen Merkmalen nachweisen. Aber Papier ist
gleichwohl wirklich dasselbe mit dem Flachs und der Leinwand, woraus es
gemacht wurde.
Hier sind schon drev verschiedene Wirklichkeiten ; die einer Bewegung,
einer Beschaffenheit, und eines Stoffes; und doch sind wir noch gänzlich
im Kreise der gemeinsten Dinge geblieben.
Die Worte Seyn, Daseyn und Wirklichkeit werden oftmals als gleich-
bedeutend gebraucht. Ohne Zweifel müssen sie etwas Gemeinsames in
den Gedanken haben, die sie ausdrücken; und eben das gilt von jenen
drey, freylich sehr verschiedenen Wirklichkeiten. Auch versteht es sich
von selbst, dafs in dem Vollständig- Wirklichen, sobald wir es ganz so, wie
es ist, erkennen wollen, alle jene Wirklichkeiten in Verbindung müssen
erwartet werden. Dennoch dürfen wir die Begriffe nicht vermengen.
Wir wollen deshalb zuerst auf die Verschiedenheiten achten. Gesetzt,
man entdecke an bekannten Dingen, z. B. an den Metallen, neue Eigen-
schaften: so sagt Niemand, man habe mehr Wirkliches, sondern man habe
das Wirkliche auf eine neue Weise kennen gelernt. Hier ist der Sprach-
gebrauch strenger als sonst; das Wirkliche sollen nur die Dinge selbst,
nicht deren Eigenschaften seyn. Dennoch nennt man die Eigenschaften
wirklich; nur nicht das Wirkliche.
Gerade nun wie die Menge der wirklichen Dinge, die wir kennen,
nicht wächst, wenn auch die der Eigenschaften wächst; und wie selbst
ohne alle Rücksicht auf unsre Kenntnifs, wenn in der That die Dinge
neue Eigenschaften erhielten, doch ihre Zahl nicht wachsen würde : eben
so wächst hinwiederum keinesweges die Summe der Eigenschaften, ob nun
ein Ding sich be-[j4]wege, oder nicht. Die blofse Veränderung des Orts
ist keine Veränderung dessen, was das Ding wirklich ist; es nimmt seine
ganze Beschaffenheit mit sich, indem es den Platz wechselt.
( »boleich nun diese Arten der Wirklichkeit sich unter einander ent-
^effengesetzt sind: so stehn sie doch wiederum in einem gemeinschaftlichen
Gegensatze gegen das Nicht- Wirkliche.
Jene Bäume am Ufer bewegten sich nicht wirklich; es schien nur so!
Die bunte Taube, deren Hals in der Sonne schimmert und mit Farben
spielt (ein Beyspiel der alten Schulen), wechselt nicht wirklich die Be-
schaffenheit, während wir bald diese bald jene Farbe zu sehen glauben;
das scheint nur so! Papier ist nicht wirklich verschieden vom Flachs;
Eis eben so wenig vom Wasser; sondern die nämlichen Substanzen haben
nur ein anderes Ansehen bekommen.
In allen diesen Fällen wird das, was Anfangs ohne Rückblick auf uns,
2. Abschnitt. Ontologie. i. Capitel. Von der Auffassung des Realen etc. cj
und auf unsre Auffassung angenommen war, redueirt auf ein blofses Vor-
stellen. Es sieht nur so ans! Es ist nichts an sich! In diesen Ausdrücken
erkennt man den Gegensatz, von dem wir eben jetzt redeten.
§• 197-
So leicht nun das Vorstehende ist: so sei man doch vest überzeugt,
dafs schon hier die Verwirrung in der alten Metaphysik begonnen hat.
Man verwechselte die verschiedenen Wirklichkeiten unter einander, wegen
ihres gemeinsamen Gegensatzes gegen das Nicht- Wirkliche.
Der Satz des Spinoza : quo plns realitatis, aut esse, unaquaeque res habet,
eo plura attributa ipsi competunt (ethica P. I. prop. IX.), verräth offenbar,
dafs er die Wirklichkeit des Dinges nach der Wirklich- [7 5]keit der Eigen-
schaften abmafs. Ein Fehler, gegen den Kant seine ganze Energie aufbot.
Wir gehen hier noch nicht ein auf die Sache; es kommt uns nur
darauf an, die Wichtigkeit der logischen Analyse bey diesem Gegenstande
zu zeigen. Dazu veranlafst der schon bemerklich gemachte Fragepunct:
ob denn wohl der gemeinen Wirklichkeit auch die Ausdrücke Daseyn und
Seyn zukommen?
Wer noch nichts von Metaphysik wüfste, der würde diese Frage
kaum begreifen, und sich desto weniger bedenken, sie zu bejahen. Aber
die skeptischen Argumente, welche wir in der Methodologie (§ 169) auf-
stellten , und die man jetzt aufs genaueste ins Gedächtnifs zurückrufen
mufs, beruheten auf der Scheidung zwischen Materie und Form der Er-
fahrung. Der Zweifel, der uns die Formen rauben wollte, drang nun zwar
nicht durch; allein der Kinderglaube, womit im gemeinen Leben das,,
was mit Augen gesehen und mit den Händen betastet ist, für real gehalten
wird, war denn doch ein für allemal verloren! Die gegebenen Gegen-
stände waren, und blieben, aufgelöset in Materie uud Form; das heifst, in
Empfindung und in gewisse Arten und Weisen des Zusammenhangs der ver-
schiedenen Empfindungen. Das einzige Reale, was vorläufig übrig blieb, war
das Ich. Denn die Empfindungen sind im Ich; und die Formen sind nur
nähere Bestimmungen dessen, wie die Empfindungen im Ich seyen. Damit
ist nun zwar gar nicht definitiv behauptet, dafs das Ich das einzige wahre
Reale sey: aber es wird doch darnach gefragt; und es schwebt Ungewifsheit
über der Realität des Gegebenen.
Diese Ungewifsheit trifft keine von allen jenen Wirklichkeiten der Be-
wegung, der Beschaffenheit, des Stoffs. Das Gegebene ist wirklich gegeben ;
es fällt auf keinen Fall in die Classe der optischen [76] Täuschung, des
Traums, der Dichtung, des leeren willkührlichen Denkens. Die Wirklichkeit,
gemein wie sie ist, entreifst uns den Täuschungen, weckt uns aus Träumen,
Dichtungen, Gedanken. Dennoch fragen wir, ob Körper, ob Seelen, ob
Geister ein wahres Daseyn haben, oder nicht? Wirkliches Gegebenseyn,
gleichviel ob eines Stoffes oder einer Beschaffenheit, gilt noch nicht für einen
Beweis des Daseyns.
Und hier kündigt sich dem Geübteren noch ein Unterschied an, den
wir bald genauer entwickeln, hier nur anzeigen. Es ist der zwischen Seyn
und Daseyn. Wenn etwas da oder dort ist, so liegt es in Einer Reihe
mit manchem Anderen, was auch da ist. Gesetzt, diese Reihe sey gänz-
4*
5 2 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
lieh aufgehoben: so verschwindet das Daseyn; der Begriff des reinen Seyn
aber enthält nichts von einer Reihe, und kann durch dieselbe weder ge-
setzt noch hinweggenommen werden.
§• 198.
Hier kommt nun ein Verhältnifs zum Vorschein, das Viele seltsam
finden, und dem sie gern durch einen Sprung entkommen möchten, selbst
wenn der Sprung noch seltsamer, ja geradezu unmöglich wäre.
Die Realität des Gegebenen bezweifeln wir; das Seyende suchen wir;
und unsre ganze Hoffnung, es zu finden, hängt dennoch am Ge-
gebenen! Warum? weil uns eben nichts anderes gegeben ist; und würde
etwas Neues gegeben, es blofs die Menge der fraglichen Gegenstände ver-
mehren würde.
Unsre ganze Hoffnung, uns dem Seyenden zu nähern, hängt auch dann
noch am Gegebenen, wann die Einsicht hinzukommt, dafs die Formen des-
selben an innern Widersprüchen leiden. Ja die Hoffnung nimmt dadurch
nicht ab (wie es den Meisten bedünkt), sondern sie wächst. Denn eben
in den Widersprüchen lie-[77]gen die Antriebe des fortschreitenden Denkens;
und die Berechtigungen, das Gegebene zu ?^^rschreiten. Die Auctorität
des Gegebenen, welche scheint durch die vorhandenen Widersprüche zu
verlieren, war ohnehin schon blofs eingebildet. Jene skeptischen Argumente,
die in einer idealistischen Ungewifsheit endigen (wie nur eben zuvor er-
innert worden), sind für sich hinreichend, die Einbildung zu zerstören.
Oben (§. 169, 171.) fanden wir sie ganz unabhängig von der Nachweisung
■der Widersprüche. Gesetzt, das Gegebene sey vollkommen denkbar ; und die
Möglichkeit sey gar nicht zu bezweifeln, dafs die Dinge so seyn können,
wie uns die Erfahrung dieselben zeigt: glaubt man denn, das Gegebene
habe und behalte jetzt eine solche Auctorität, wie man von der Grundlage
alles unseres Wissens zu fordern pflegt, weil man meint, diese Grundlage
müsse still liegen, wie ein träger Boden, und weil man über den Syllogismus
hinaus keinen Zusammenhang von Gründen und Folgen kannte? —
Es steht nicht in unserer Macht, die Auctorität des Gegebenen zu
verstärken. Die Wissenschaft würde sich nur lächerlich machen, wenn sie
versuchte, der Erfahrung Gewifsheit zu ertheilen; das wäre noch etwas
thörichter, als Eulen nach Athen zu tragen. Der Wissenschaft ziemt Kritik;
sie soll dem Gegebenen nicht mehr Auctorität beylegen, als es behaupten kann.
§• 199-
Ist denn die Auctorität, welche dem Gegebenen, als dem Träger alles
Wissens, wahrhaft zukommt, und bleibt, so gar schwer zu finden und zu
beschützen? Nichts weniger als das. In der ganzen Metaphysik ist dies
das allerleichteste. Man wage es nur, aufrichtig gegen sich selbst zu seyn;
man gehe dem Zweifel nach, [78] so weit er reicht, er wird schon irgendwo
von selbst ein Ende finden.
Die Formen der Erfahrung (seyen sie nun widersprechend oder nicht)
haften an der Empfindung. Aber die Empfindungen sind nicht Dinge,
sondern Zustände. Die Materie des Gegebenen besteht aus Empfindungen;
gegeben sind also keine Dinge; nichts Reales. Was wissen wir denn vom
2. Abschnitt. Ontologie. i. Capitel. Von der Auffassung des Realen etc. e^,
Realen? Nichts! Also wollen wir den Satz aussprechen: Nichts ist! Es
giebt kein Sern.
Aussprechen läfst dieser Satz sich leicht; aber nicht vesthalten. Man-
versenke sich in das Nichts, wie man will; der Lauf der Welt geht den-
noch fort. Nun kann man zwar recht gut von der Welt den Weg finden
zum Nichts; aber alsdann findet man den Rückweg verschlossen. Man
gelangt nicht wieder vom Nichts zu der Welt! Man kann zu jeder Sache,
zu jedem Ereignifs sprechen: du bist Nichts und du schaffst Nichts! Aber
die Sachen fahren fort zu erscheinen; und verwickeln uns in die Frage,
woher denn wohl der Schein kommen möge?
Es ist nämlich klar, dafs, wenn Nichts ist, auch Nichts scheinen muls.
Wer ein Vergnügen darin fände, sich mit Vernichtungs - Gedanken
zu tragen, der würde stofsen an den Schein; und der Widerstand würde
wachsen mit der Stärke des Angriffs. Der Schein läfst sich nicht ableugnen,
nicht einmal vermindern ; man mufs ihn setzen, als ein recht eigentliches
Nicht - Nichts. Damit erklärt man nun freylich nicht dasjenige, was da
scheint, als ein Solches, Wie es scheint, für real. Aber man setzt Etwas;
und zwar dieses Etwas wegen dieses Scheins; ein andres Etwas wegen eines.
andern Scheins.
Diese Notwendigkeit wiederholt sich durch das [79] ganze Gegebene
hindurch bey jedem Schritte. Damit wird über die Menge des Realen
noch nichts entschieden; aber die Menge der Antriebe, Etwas, unbekannt
wie es ist, zu setzen, vergröfsert sich ins Unermefsliche. Wieviel Schein,
soviel Hindeutung aufs Seyn.
Das nun ist die völlig genügende Auctorität, welche dem Gegebenen,.
— und zwar ganz aligemein, das Gegebene sey, was es wolle, — ver-
bleibt; denn nun mufs gesorgt werden, dafs man das Reale, was dem
Schein zum Grunde liegt, auf eine Weise bestimme und verknüpfe, wie
es den Verknüpfungen angemessen ist, in welchen die Hindeutungen aufs
Seyn unter einander stehen. Man kann diese Sorge nicht ablehnen; die
Formen der Erfahrring verwandeln sich in Formen der Setzung des Realen ;
dabey verwickeln sie das Seyende i?i ihre Widersprüche, wenn wir es nicht
hindern ; so zwingen sie utis, das Reale zu setzen und zu hüten.
§. 200.
Wir haben nun das Gegebene, als den wirklichen Schein (sey es ein
Schein von Sachen, oder Beschaffenheiten, oder Bewegungen), entgegen-
gesetzt dem Seyenden, das dem Schein zum Grunde liege. Dieses nennen
wir unbekannt; denn wir sagen zwar, dafs es ist, aber wir bekennen, nicht
zu wissen, was es ist. Das Unbekannte ist die Qualität; unser Begriff
aber vom Seyenden besteht aus Bekanntem und Unbekanntem, dem Seyn
und der Qualität.
Darum nun, weil gerade so und nicht anders der Begriff des Seyen-
den hervorgeht aus der nothwendigen Fundamental-Betrachtung des vorigen §r
zerfällt von hier an die weitere Analyse in zwei Capitel, das eine vom Seyn,
das andre von der Qualität. Diese Sonderung der Begriffe, und hin-
wiederum diese Zusain?nen-\cio]sc/zung des Begriffs vom Seyenden aus den
beyden Begriffen des Seyn und der Qualität, ist nicht beliebig, auch nicht
za Allgemeine Metaphysik nebst den Anfangen etc. 1829.
zur Bequemlichkeit ersonnen; vielmehr mufs es genau bemerkt werden,
dafs eben an der Stelle, wo wir den Begriff des Seyn zuerst gewinnen,
er in dem Gegensatz gegen das Wirkliche, dessen Qualität für bekannt
und gegeben gilt, schon angetroffen wird, indem von dem Seyenden ge-
sagt wird, man ivisse nicht, was es scv.
Wie wenn man diesen Gegensatz wegnehmen wollte: würde dann
das Wirkliche und das Seyende noch unterschieden werden? Ohne Zweifel
würde beydes zusammenfallen. Die Position , in der wir Etwas setzen,
während wir den Schein zwar nur für Schein, aber doch für Nicht - Nichts
anerkennen, — diese Position ist nur Wiederholung und Bekräftigung der
früheren, durch welche wir das Wirkliche für wirklich hielten. Nämlich
vor allem Beginn des Zweifels nahmen wir die Dinge um uns her, und
uns selbst, ganz unbedenklich für wirklich vorhanden an. Später, als wir
alles Gegebene für Empfindung, und dessen Formen für widersprechend
erklärten, konnten wir uns doch der Setzung nicht enthalten; irgend Etwas
mufste bleiben! Es blieb also dabey, dafs man die alte, längst vollzogene
Position beybehalten, nur den Gegenstand derselben, seiner Qualität nach,
in Zweifel stellen solle. Dieses Bleiben und Beybehalten mufs schon des-
wegen bemerkt werden, damit Niemand glaube, man springe ab vom Ge-
gebenen, wenn man anfängt vom Seyenden zu reden. Überdies ist der
nämliche Umstand wichtig für die logische Exposition des Begriffs vom Seyn.
[81] Zweytes Capitel.
Vom Begriffe des Seyn.
§. 201.
Es ist eine alte Bemerkung der Logik, dafs man einfache Begriffe
nicht deutlich, sondern nur klar machen kann. Das heifst, in ihnen giebt
es nichts zu unterscheiden, aber sie selbst müssen von andern unterschieden
werden. Wir fügen hinzu: man mufs auch die Beziehungen nachweisen,
in denen sie zu andern Begriffen stehn. Ja man kann solche Beziehungen,
wo sie vorhanden sind, benutzen, um den Weg zu zeigen, auf welchem
Jedermann zu den Begriffen, von denen die Rede ist, gelangen kann.
Ein Beyspiel hievon wird nicht überflüssig sevn. Was ist Eins?
Diese Frage pflegt wohl beym Anfange der Arithmetik autgeworfen zu
werden, in der Meinung, man müsse die Zahlen erklären als zusammen-
gesetzt aus Einheiten, und folglich müfsten diese vorher definirt werden.
Aber das blofse Eins ist einfach; und vergebens bemüht man sich hier
um eine Definition in gewöhnlicher Form.
Dagegen mag man so anfangen: Alle Gröfse ist ein Zusammen-
gefafstes. Läfst sich nun die Zusammenfassung ganz auflösen: so sind
die Elemente Einheiten. Will man die Zusammenfassung nur bis auf gewisse
Theile auflösen, so nimmt man diese für Einheiten. — Weiter und genauer
wollen wir diesen Gegenstand, der anderwärts * schon berührt worden,
hier nicht verfolgen.
* Psychologie §. 116. [Bd. VI vorl. Ausg.]
2. Abschnitt. Ontologie. 2. Capitel. Vom Begriffe des Seyn. 55
Zu dem einfachen Begriffe des Seyn führt ein Weg, den wir im
vorigen Capitel, am Ende desselben, be-[82]zeichnet haben. Gegenstände
sind gesetzt worden; diese Gegenstände werden dergestalt bezweifelt, dafs
sie ganz verschwinden sollten. Sie verschwinden aber nicht; die Setzung
dauert also fort; aber sie ist darin verändert, dafs ihr Gesetztes nicht mehr
für einerley gilt mit demjenigen, worauf sie ursprünglich gerichtet war (§. igt).).
Die Qualität wird dem Zweifel Preis gegeben; das Gesetzte soll etwas
Anderes, Unbekanntes seyn. Hier bleibt blofs der Begriff Dessen übrig,
dessen Setzung nicht aufgehoben wird. Die blofse Anerkennung des Nicht-
Aufzuhebenden nun ist der Begriff" des Seyn.
Als ursprünglich Etwas gesetzt wurde, — in der unmittelbaren Em-
pfindung, — da war die Frage, ob die Setzung auch wieder aufzuheben
sey ? noch gar nicht vorhanden. Es blieb also bey der Setzung, bis der
Zweifel hervortrat. Das heifst, das Empfundene wurde bis dahin gerade
so gesetzt, wie wenn ihm der Begriff des Seyn wäre zugetheilt worden.
Denn dieser Begriff bringt nichts anderes, als ein Nicht- Aufheben, ein
Bleiben bevm Setzen.
Rückwärts also: wenn man uns fragte, wie sollen wir es machen, etwas
als seyend zu setzen? so wäre die Antwort: setzet es so, wie ihr ursprünglich
das Empfundene gesetzt habt. Und mischt nichts ein, was diese Art der
Setzung stören konnte.
Sie wird aber gar leicht gestört. So eben sagten wir (um kurz zu
sprechen), sie bleibe bis zum Zweifel; das ist aber nicht genau richtig.
Lange vorher, und weit allgemeiner, stört die Erfahrung selbst die ur-
sprüngliche Setzung des Empfundenen. Die Materie der Erfahrung, das
heifst, wie man schon weifs, das Empfundene, — wird nicht gegeben aufser
der Form; sondern in derselben. Die Empfindungen sind gleich, vom Augen-
blicke des Entstehens an, den psychologi-[83]schen Gesetzen der Ver-
schmelzung und der Complication unterworfen. Wie diese Verbindungen
in jedem Falle näher bestimmt seyen, das hängt von der Art und Weise
ab, wie die Empfindungen zusammentreffend oder gesondert, — und ent-
weder auf stets gleichförmige Weise, oder bald so bald anders zusammen-
treffend und gesondert erzeugt werden. Indem nun Gruppen von Em-
pfindungen gegeben sind, und Reihen von Vorstellungen daraus entstehen,
bleibt keine psychologische Möglichkeit übrig, die Empfindungen zu ver-
einzeln; sondern es ist nur eine wissenschaftliche Abstraction, wenn wir
sie als einzeln stehend betrachten; ja sogar, es ist nur Einbildung, wenn
wir meinen, diese Abstraction wäre wirklich eine Vereinzelung; sie gilt
nur im Gebrauche dafür. Dies Alles ist in der Psychologie weitläuftig
entwickelt worden ; und wir erinnern hier nur daran, um dem Leser die
Vergleichung dessen zu erleichtem, was über die Wanderung des Begriffs
des Sem dort* ist gesagt worden.
Hier, in diesen ersten Anfängen der Ontologie, reden wir noch nicht
vom Begriffe der Substanz. Wir machen nur im Voraus aufmerksam darauf,
dafs, wenn einmal — gleichviel wie und warum, — die Vorstellungen
in unauflösliche Verbindungen gerathen sind (wie bey den mehrern Attri-
* Psychologie II. §. 141. [Band VI vorl. Ausgabe.]
c6 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 182g.
buten oder Accidenzen, die als inhärirende Merkmale der Substanzen an-
gesehen werden), dann die ursprüngliche, unumwundene Setzung, welche
Anfangs im Empfinden selbst lag, aufhören mufs. Denn aus der Ver-
bindung wird eine Bedingimg. Kann A nicht ohne B gesetzt werden,
und rückwärts B nicht ohne A : so ist keins von beyden schlechthin ge-
setzt, sondern jedes wird zur Bedingung des anderen. Was wird nun
geschehen, wenn dennoch, nachdem [84] diese Verbindung schon ein-
getreten war, A wiederum in der Empfindung gegeben, also schlechthin
gesetzt, ■ — zugleich aber die früher erworbene gleichartige Vorstellung A
(nach den psychologischen Reproductionsgesetzen), mit der neu gegebenen
unmittelbar verschmelzend, ohne Unterscheidung als Eins vorgestellt wird?
Natürlich trit alsdann B mit hervor; und beydes, A und B, ist als ein
Einziges schlechthin gesetzt. Oder mit andern Worten, es wird so ge-
setzt, wie es dem Begriffe des Seyn angemessen ist.
Auf diesem Buncte steht der gemeine Verstand, welcher der Meta-
physik ihren Stoff unmittelbar darbietet. Der gemeine Verstand setzt Ein-
heiten, die ihm auflösbar erscheinen; die Einheiten sind, die Dinge, und
die Auflösung ergiebt deren Merkmale. Hier ist nun schon eine sehr be-
deutende Veränderung geschehen. Die Dinge gelten für das Reale. Auf
Einheiten, welche sich aus den ursprünglichen Empfindungen zusammen-
setzten, ist jene Art des Setzens übertragen, die an sich den einzelnen
Empfindungen zukam.
Fragt man uns jetzt, wie sollen wir es machen, etwas als seyend zu
setzen? so antworten wir: setzt es so, wie ihr gewohnt sevd, die Dinge in
der Sinnenwelt dann zu setzen, wann ihr sie sehet, oder betastet, oder deren
Ton, Geruch, 1 Geschmack sinnlich wahrnehmt. Die Empfindung ist noch
immer nöthig, um dasjenige, was für real gehalten wird, vom blofs Ge-
dachten, dem Gedankendinge, zu unterscheiden. Aber die unmittelbare
Setzung trifft dennoch nicht insbesondere die Farbe, oder den Ton; nicht
den Geruch, oder Geschmack; welches alles, sobald man es vereinzeln
will, sich als blofses Merkmal des Dinges darstellt. Was ist denn nun das
unmittelbar Gesetzte? Wir können leicht antworten: es ist die Einheit,
es ist die Complexion der Merk-[85]male. Allein der denkende Leser mufs
sogleich fühlen, dafs diese Antwort nicht befriedigt; und das ist ein richtiges
Vorgefühl vom Probleme der Inhärenz ; womit wir uns jetzt noch nicht
beschäfftigen können.
§. 202.
War es denn in der unmittelbaren Empfindung ein Merkmal des
Empfundenen, dafs es sey ? Empfunden wurde nicht das Seyn, sondern
der Ton, die Farbe u. s. w.
Ist es auf dem Standpuncte des gemeinen Verstandes ein Merkmal
der Dinge, dafs sie sind? Was die Dinge sind, das lehrt die Erfahrung;
aber der Begriff des Seyn, der zu Ton und Farbe keinen empfindbaren
Zusatz liefert, kann auch nicht ein Ingrediens der Einheiten abgeben, die
sich aus Ton, Farbe u. s. w. zusammensetzen.
1 oder deren Ton, Geschmack, sinnlich wahrnehmt. SW. („Genich" fehlt.)
2. Abschnitt. Ontologie. 2. Capitel. Vom Begriffe des Seyn. c —
Gleichwohl findet man in den Vorstellungen der sinnlichen Dinge
das Merkmal, da/s sie sind. Wie geht das zu? Woher nehmen diese,
aus sinnlichem Stoße bestehenden Einheiten das Merkmal des Seyn? —
Das Seyn der Dinge kommt erst zum Vorschein in ihrem Gegensatze
gegen das, was nicht ist, sondern blofs gedacht wird. Die Frage mufs-
erst erhoben seyn, ob es bey dem Schlechthin -Setzen sein Bewenden haben
solle, oder nicht? Schatten, Träume, Täuschungen aller Art enthalten die
Zurücknahme eines Setzens, das schon geschehen war; hier beginnt die
Frage, ob denn die Dinge auch Träume seyen ? Wird die Frage verneint :
so entsteht nun aus doppelter Verneinung eine Bejahung; und diese erst
giebt den Begriff des Seyn, obgleich dadurch nichts Neues soll gesagt
werden, mithin vorausgesetzt wird, die Bejahung habe sich von jeher von
selbst verstanden; und es liege in der Natur des Dinges, da/s sie ihm zu-
komme.
[86] Man sieht nun, dafs hieraus leicht eine Täuschung entspringen
kann. Der Begriff' des Seyn bezeichnet eigentlich nichts als das Bekenntnifs,.
dafs wir eine, in Ansehung des Gegenstandes unnöthige Frage aufgeworfen
haben; nämlich die, ob es bey dem Setzen des Gegenstandes sein Be-
wenden haben solle? Statt nun zu begreifen, dafs wir hier im Grunde
mit uns selbst beschäfftigt sind, geräth man leicht auf die Meinung, man
habe von dem Gegenstande etwas gesagt. Der Gedanke des realen Gegen-
standes war vergleichbar mit den Gedanken andrer Art; jener soll un-
beschränkt bleiben, diese sollen im Zaume gehalten werden, damit sie, die
leeren Gedanken, nicht mehr gelten, als sie werth sind. Nimmt man nun
die erste dieser beyden entgegengesetzten Bestimmungen für eine solche,
die nicht blofs dem Gedanken des Gegenstandes, sondern dem Gegenstande
selbst beygelegt sey: so verwandelt sich durch blofse Verwechselung das
Seyn in eine Qualität; und der Irrthum de* alten Schule kommt in vollen
Gang.
Dieser Irrthum bestand bekanntlich darin, das Sevn der Dinge so
anzusehen, als ob es ihnen inwohne, inhärire. Aus blofser Unbehutsamkeit
und speculativer Arglosigkeit hatte man sich das Reale nach dem Muster
der sinnlichen Dinge gedacht, nämlich dergestalt, dafs die essentia jedes-
Realen eine Complexion von Essentialien, wesentlichen Merkmalen sey,
aus denen sogar noch Attribute folgen, und die für allerley Modificationen
empfänglich seyn sollten. In die Mitte dieses inneren und erworbenen
Reichthums warf man nun auch die Existenz; und es blieb nur noch die
Frage zu beantworten, ob denn wohl die Existenz zu Modificationen, oder
zu den Essentialien zu rechnen sey? Jenes wurde behauptet von den zu-
fälligen Dingen, dieses von dem nothwendigen Wesen, dem ens realissimum.
Hie- [8 7] mit hing der sogenannte ontologische Beweis vom Daseyn Gottes zu-
sammen, von welchem Kant Gelegenheit nahm, das wahre Verhältnifs des
Begriffs, der uns hier beschäfftigt, aufzudecken.
§• -?03-
An die Empfindung haben wir uns gewendet; in ihr suchten wir eine
solche ursprüngliche Setzung, wie sie, dem Begriffe des Sevn zufolge, seyn
sollte. Aber ein so abstracter Begriff' wird doch nicht an der Empfindung
;8 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
kleben! Wir sollen ja hier ausdrücklich noch nicht vom Seyenden etwas
erkennen, sondern nur das Sevn denken, um den Begriff zu berichtigen und
sicher zu stellen. Wozu denn das ängstliche Halten an der Empfindung,
oder dem unmittelbar Gegebenen?
Wohlan! da blofs vom Begriffe die Rede seyn soll, so wollen wir
uns einmal durch eine Fiction ganz ins Gebiet der Begriffe versetzen.
Gesetzt, wir kennten nur Begriffe, keine Dinge; wir dächten nur, und em-
pfänden gar nichts; wir könnten jeden Gedanken nach Belieben vornehmen
und wegwerfen, ohne uns an irgend ein Beharren unserer Vorstellungen
wider unsern Willen gebunden zu finden: was würden wir alsdann für
seyend halten? — Gewifs Nichts! Denn unsre Voraussetzung ist nicht
■etwa die des Traums, worin die vorschwebenden Bilder für wirkliche Dinge
gehalten werden, weil sie sich eben so wenig zum Weichen bringen lassen,
als das, was man wachend sieht und hört. Wir versetzen uns vielmehr
ins willkührliche Denken, worin jeder Begriff wie ein blofser Diener auf-
trit, der wohl weifs, dafs er sogleich wieder fortgeschickt werden kann.
Mitten im Gedankenspiel möchte uns dann wohl eine Sehnsucht nach
dem Sevenden anwandeln; nach einem ruhenden Setzen, anstatt des
schwebenden und [88] schwindenden. Es könnten Fragen entstehn, ob
denn von allen den blofsen Gedanken keiner ein Bild abgebe von einem
Gegenstande, welcher bestehe, wenn gleich der Gedanke, sein Ebenbild,
komme und gehe?
In solcher Lage nun sind wir in der That in Ansehung einiger, uns
sehr wichtiger Gegenstände. Der Zweifler an Unsterblichkeit z. B. fragt
sich, ob der Geist seines verstorbenen Freundes noch sey oder nicht sey?
Und hier bietet sich eine neue Gelegenheit dar, zu beobachten, was eigent-
lich der Begriff des Seyn bedeute?
Oder, um allgemeiner zu reden: man lasse in Gedanken irgendeinen Gegen-
stand zwischen Sevn und Nichtsevn schiveben: so wird das Sevn, als der Punct
der Frage, seinem Begriffe nach in der Frage zu erkennen seyn. Dies Ver-
fahren wird dem vorigen zur Probe und Bestätigung dienen, indem es von
neuem dahin führt, das Sevn bedeute nichts anderes, als die absolute Position.
Das eben gegebene Beyspiel enthält nicht die Frage, -was, wo, wie,
die Seele des Abgeschiedenen seyn möge? Sondern blofs darnach wurde
gefragt, ob sie sev? Wenn sie nicht ist, so fallen jene Fragen von selbst
weg; ivenn sie ist, dann erst treten jene hervor, und wollen in ihrer
Reihe auch beantwortet seyn.
Also, wenn sie nicht ist, dann verschwindet der Gegenstand aller
weitern Fragen. Aber wie ist dies zu verstehen? Die Erinnerung an den
verstorbenen Freund, das Bild von ihm, wird ja doch bleiben! Je wahrer,
treuer, lebendiger die Erinnerung, desto vollkommener ist ohne Zweifel
das Bild. Könnte man nun nicht die Erinnerung irgend einmal so hoch
steigern, dafs die Wahrheit des Bildes sich verwandelte in die Wahrheit
des Gegenstandes? Dafs der Freund wieder einträte ins Daseyn, durch
die Kraft unseres Denkens? — Nein! [89] hier ist eine unübersteigliche
Scheidewand. Alle Vollkommenheit des Bildes ist fremdartig dem Seyn
des Gegenstandes: jene mag wachsen, wie sehr man will: dadurch nähert
man sich dem Seyn nicht im geringsten.
2. Abschnitt. Outologie. 2. Capitcl. Vom Begriffe des Seyn. 50,
Das nun soll die Lehre von der Unsterblichkeit leisten, dafs die
Last des Gedankens: es ist nur ein Bild! Er selbst ist nicht mehr! —
abgewälzt werde. Er ist! dies soll gewifs werden; man soll und man will
daran glauben.
Worin liegt nun die Veränderung? Keinesweges in der Kenntnifs,
wer der Freund, von welcher Natur und Bildung er gewesen sey. Der
ganze Gegenstand dieser Kenntnifs wird in der Frage vom Seyn und
Nichtseyn als unwandelbar der Nämliche betrachtet, ob er nun sey oder
nicht sey. Blofs die Art der Setzung soll sich verändern. Das Bild ist
nur in mir, es ist nichts an sich. Er selbst aber ist an sich!
Man kann nun leicht andere Beyspiele finden. Die Frage, ob die
Materie real sey oder nicht? führt auf gleiche Weise den Sinn mit sich,
dafs, wenn nicht, die Materie unsre Vorstellung, oder für uns eine Er-
scheinung sey. Im Falle des Gegentheils ist sie an sich.
Durch den Ausdruck: An sich, wird gleichsam der Gegenstand, als
ob er einen Punct aufser sich gesucht hätte, um sich anzulehnen, auf sich
selbst zurückgewiesen. Wollte man dieses ernstlich nehmen: so würde es
ähnlich seyn dem alten Gedanken der causa sui. Diese ist nicht eher,
als bis sie sich schafft; oder sie ist, weil sie sich schafft; wobey ihr Seyn
zur Voraussetzung seiner selbst gemacht, folglich für abhängig und selbst-
ständig zugleich ausgegeben wird. Hat Jemand die causa sui lieb gewonnen,
und den Widerspruch nicht sogleich selbst erkannt: so mag er sich hüten,
in jenem An -Sich- Sern ein Geheimnifs zu suchen. Der Gegenstand war
nicht wirklich sich [90] selbst entlaufen; er mufste nicht im Ernste an
sich zurück geliefert werden. Aber das Denken des Gegenstandes hatte
b
wirklich einen solchen Weg hin und her beschrieben. Man hatte sich gefragt,
■ob etwa die Position des Gegenstandes eine solche sey, die zurückgenommen
werden müfste, wenn sie nicht irgendwo abgelehnt werden könnte? Und
darauf war geantwortet: setzet ihn nicht aufser sich, nicht ande/zvärls,
o
•sondern an sich.
&■ 204.
In der Empfindung ist die absolute Position vorhanden, ohne dafs
man es merkt. Im Denken mufs sie erst erzeugt werden, aus der Auf-
hebung ihres Gegentheils. Denn das Denken selbst, losgerissen von der
Empfindung, setzt nur versuchsweise und mit Vorbehalt der Zurücknahme.
Auf diesen Vorbehalt Verzicht leisten, heifst, Etwas für seyend erklären.
Das ist der kurze Inhalt des bisher Vorgetragenen.
Nachdem nun sowohl die ursprünglich absolute Position in der Em-
pfindung, als die künstliche, mit Bewufstseyn und Absicht zu Stande gebrachte
im Begriffe, beschrieben ist: müssen wir noch daran erinnern, dafs auch
in der Urtheilsform eine ganz bestimmte Art und Weise, etwas als seyend
zu setzen, begründet ist. Nur erinnern; denn die Sache ist schon in der
Logik* gelehrt worden.
Die gewöhnlich sogenannten kategorischen Urtheile zuvörderst, welche
unter der Form: A ist B, die Inhärenz des Merkmals B im Begriffe A
* Einleitung in die Philosophie §. 63. [Band IV vorliegender Ausgabe.]
(>0 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfangen etc. 1829.
aussagen, sind ganz unfähig, das Seyn auszudrücken. Durch eine gemeine
Erschleichung wird in ihnen das Subject als seyend angesehen; und das
ist natürlich genug, weil die Frage, [91] ob A sey? im Urtheile gar nicht
berührt wird. Allein eben darum wird sie auch nicht entschieden; es ist
in dem Urtheile gar keine Versicherung enthalten, wie viel das Subject
für sich allein gelte; als Subject steht es nur da, um ein Prädicat an-
zunehmen. Und dieses Prädicat seinerseits lehnt sich an das Subject;
es steht und fällt mit ihm; nämlich in bejahenden Urtheilen (denn von
verneinenden kann hier, wo wir von absoluter Position sprechen wollen,,
gar nicht die Rede seyn). In dem Urtheile, A ist B, wird A versuchs-
weise gesetzt; dann, insofern dies geschehen, soll es gewifs seyn {dies be-
hauptet das Urtheil kategorisch), dafs ihm das Merkmal B beyzulegen sey.
Hebt man den Versuch, A zu setzen, geradezu, und ohne irgend welche
Übergänge zu durchlaufen, wieder auf: so mag zwar das Merkmal B noch
andere Stützen genug haben, auf die es sich lehnen kann; — es finden
sich vielleicht unzählige andere Gegenstände, denen es angehört; — allein
davon weifs das Urtheil nichts; fällt sein Subject, so fällt auch diese be-
stimmte Gelegenheit, das Prädicat zu setzen, und dasselbe trit zurück in
die Reihe der blofsen Begriffe; das Urtheil läfst keine Spur seines Daseyns
übrig.
Hingegen, wenn die Setzung des Subjects als eine logische Quantität
betrachtet wird, so erfolgt aus ihrem aUmähligen Verschwinden ein ganz
anderes Resultat. Die Setzung trifft zwar zunächst den Inhalt des Begriffs;
allein nach bekannten logischen Verhältnissen ist hiemit dessen Umfang
im Zusammenhange des umgekehrten Wachsens oder Abnehmens. Sey der
1 1
Inhalt = x; so ist der Umfang = — . Wird nun x = o, so ist — un-
endlich. Hier bemerke man gelegentlich, dafs der übliche und richtige
mathematische Ausdruck — voraus- [9 2] setzt, die Null sey enstanden aus
einer verschwindenden Gröfse. An sich kann unmöglich Null ein Factor von
Eins, oder von irgend einer Einheit seyn; also hat auch die Forderung,
diesen Factor daraus wegnehmen, oder damit dividiren zu sollen, gar keine
mögliche Bedeutung; und am allerwenigsten läge darin irgend eine Ver-
anlassung, dabey an das Unendlich -Grofse auch nur zu denken.
Gerade eben so wenig nun würde das Prädicat eines Urtheils dabey
gewinnen, wenn sein Subject schlechthin wegfiele. Allein indem das Sub-
ject verschwindet, als logische Gröfse, wird sein Umfang unendlich ; und
da das Prädicat in dem Urtheile A ist B stets für das Subject, also in
gleichem Umfange mit ihm, gesetzt werden mufs, so wächst die Setzung
des Prädicats dergestalt, dafs diejenige Beschränkung wegfällt, um derent-
willen wir vorhin das kategorische Urtheil für unfähig erklärten, den Be-
griff des Seyn auszudrücken. Das Prädicat war beschränkt auf den Umfang
seines Subjects; dieser Umfang ist jetzt keine Schranke mehr; also wird
das Prädicat zu einem Begriffe, dessen Schranken weggenommen si?td, das
heifst, die Position wird für unbedingt erklärt, und der Gegenstand des
Begriffs für real.
Unsere deutsche Sprache, in solchen Sätzen, wie: Gott ist! verleitet-
2. Abschnitt. Ontologie. 3. Capitel. Vom Begriffe der Qualität. 6l
uns, zu glauben, der reale Gegenstand sey Subject des Urtheils. Das ist
er aber nicht ; sondern die Sprache selbst verbessert sich in den gewöhn-
lichem Ausdrücken, wie: es ist ein Gott. Hier steht die Stelle des Sub-
jects deutlich leer. Der reale Gegenstand zeigt sich als Prädicat; dadurch
ist angedeutet, dafs er in die gewohnte Beschränkung jedes Prädicats auf
sein Subject allerdings fallen würde, wenn ein Subject da wäre. Man soll
also voraussetzen, es sey da gewesen, aber verschwunden; und zwar nicht
[93] schlechthin aufgehoben (wodurch das ganze Urtheil weggefallen wäre),
sondern so, dafs die Form des Urtheils unversehrt bleibe. Also der Form
nach ist selbst das Subject noch da, aber als eine leere Stelle; leer an
Inhalt, mithin unendlich an Umfang; blofs fähig, zu erklären, das Prädicat
sey der gewohnten logischen Hineinsetzung in ein Anderes enthoben; es
sey an sich zu setzen.
Das Prädicat steht demnach an seiner Stelle, als Prädicat, nur des-
wegen, weil gesagt werden soll, es sey Prädicat für kein Subject, oder, es
sey nicht wirkliches Prädicat. Hiemit vergleiche man die alte, richtige
Erklärung der Substanz; sie sey dasjenige, was nur Subject, und nicht
Prädicat seyn könne. Offenbar drückt diese Definition den Versuch aus,
einen gewissen Begriff als Prädicat zu gebrauchen; welches jedoch unzu-
lässig sey erfunden worden. Genau dasselbe sagen jene Urtheile, die den
Begriff dem Scheine nach zum Prädicat machen, aber ihm kein Subject
geben; also die beschränkte Setzung blofs zeigen, um sie aufzuheben, und
für unstatthaft zu erklären. So verwandelt sich die logische Copula, ist,
in das Zeichen des Seyn. Und je mehr Jemand geneigt ist, in der Logik
Stützen für die Metaphysik zu suchen: desto weniger darf ihm diese Be-
merkung entgehen, deren übrigens die Metaphysik an sich wohl entbehren
kann, da ohne alle Rücksicht auf logische Verhältnisse der Begriff des
Seyn schon vorhin (§.201 — 203.) als der Begriff des Absolut -Gesetzten
war erkannt worden.
[94] Drittes Capitel.
Vom Begriffe der Qualität.
§■ 205.
Sehr leicht verletzbar ist die absolute Position. Wüfste das der ge-
meine Verstand, so hätte er nicht so viele Dinge für real gehalten, von
denen sich hintennach, findet, dafs sie nur Erscheinungen seyn können. Ob
die Schulen es wissen, dies zu überlegen kann die nun folgende Unter-
suchung Anlafs genug darbieten.
Zwar auf den ersten Blick führt der Begriff des Seyn leicht zu der
Meinung, als ob er gar nichts über die Qualität bestimme. Denn was man
auch immer setze, — sey es ein ganz unbekanntes x, y, z, — man braucht
es ja nur an sich zu setzen, so ist ihm der Begriff des Seyn zugeschrieben !
Anders möchte es sich verhalten, wenn, nach der Meinung der altern
Schule, das Seyn den Dingen inwohnte! Dann könnte man noch fragen,
52 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
ob denn diese Eigenschaft der Dinge, dafs sie seyen, auch mit allen anderen
Eigenschaften derselben sich gut vertrage? Wenn aber, wie wir gesehen
haben, das Seyn gar keine Bestimmung Dessen abgiebt, ivas die Dinge
sind, so wird ja wohl jedes beliebige Was dazu dienen können, dafs-
man etwas habe, ivovon sich aussagen lasse, es sey ! —
Diese Meinung bleibt so lange ganz richtig, wie lange man die Qualität
des Seyenden wirklich ganz unbekannt läfst, und gar nicht unternimmt,
sie irgend ähnlich denjenigen scheinbaren Qualitäten zu bestimmen, an
welche wir bei den Sinnengegenständen gewohnt sind.
Unmittelbar klar ist zuvörderst, dafs, wenn wir die absolute Position
vesthalten wollen, wir uns vor ihren [95] Gegentheilen, den Negationen und
Relationen, hüten müssen.
Dafs nun diese auf dem Boden der Erfahrung überall, gleich Fufsangeln,
versteckt liegen, weifs Jeder, dem die Analyse der gemeinen Erfahrungs-
begriffe einigermafsen geläufig ist. Auffallend ist eben deshalb die Un-
behutsamkeit, womit dennoch so mancher Denker auf die gefährlichen Stel-
len trit. Sollen wir etwan hier schon an die Gränze, — oder vielmehr
an die Kluft zwischen Metaphysik und Ästhetik (§. 124.) erinnern? Vielleicht
findet sich dazu eine noch besser passende Gelegenheit.
§. 206.
Eine Negation setzen, heifst soviel, als ein Gesetztes aufheben. Dies
begriff' die alte Schule wenigstens insofern, dafs sie einsah, ein ganz nega-
tives Ding könne nicht seyn.
Eine Negation setzen, heifst ferner, das Gesetzte relativ bestimmen.
Denn non A läfst sich nicht denken, ohne A vorauszusetzen. Mit andern
Worten : A ist der Beziehungspunct für non A ; und es ist nicht möglich,
diese Relation des non A aus ihm wegzuschaffen; non A leidet keine
absolute Position.
Hätte nun die alte Schule den Begriff des Seyn, als der absoluten Position
deutlich erkannt: so hätte sie auch an die Dinge eine höhere Forderung
ergehen lassen, als diese: omni cnti ouaedam1 inest realitas (§. 10.).
Offenbar konnte sie, nachdem schon das ganz negative Ding zurück-
gewiesen war, sich in Ansehung einiger Negationen nur der Hoffnung über-
lassen, diese würden wohl mit durchschlüpfen; oder sie würden von den
mit ihnen verbundenen Realitäten, wie von einem Korke, schwimmend er-
halten werden. Denn an dem [90] aus beydem, Negativem und Realem,
gemischten Dinge war doch nichts anderes setzbar, als nur das Reale;
und nur vermittelst desselben mochten dann auch die Negationen wieder
gesetzt werden.
Dem Sprachgebrauche der alten Schule gemäfs sind Realitäten die-
jenigen Bestimmungen in der Qualität eines Dinges, welche durch eine
Bejahung gedacht werden. Der Sprachgebrauch aber ist falsch ; denn es
giebt in dieser Hinsicht keinen pluralis, und keinen Gegensatz gegen die
Negationen.
Wenn gefragt wird: Was ist dies Ding? so kann nicht geantwortet
1 „quaedam" nicht gesperrt. SW.
2. Abschnitt. Ontologie. 3. Capitel. Vom Begriffe der Qualität. 6^
werden: die Qualität desselben ist theils positiv, theils negativ. Denn
wenn es ist: so mufs es, gemäfs dem Begriffe des Seyn, absolut gesetzt
werden. Aber der negative Theil der Qualität würde an sich nicht gesetzt,
sondern aufgehoben. Er würde also nur gesetzt, erstlich, mit Relation auf
sein eignes Gegentheil; zweytens, wegen seiner angenommenen Verbindung
mit dem positiven Theile der nämlichen Qualität. Keins von beyden ist
erlaubt. Non A ist kein Gegenstand absoluter Position, wegen seiner Be-
ziehung auf A; und eine mittelbare Setzung des Negativen wegen dessen
Verbindung mit dem Positiven, das mit ihm in der nämlichen Quelle liegen
soll, ist das verbotene Gegentheil der unmittelbaren Setzung, die allein dem
Begriffe des Seyn entspricht.
Nun wohl, möchte Jemand sagen, wir wollen bey der Angabe der
Qualität eine kleine Veränderung anbringen. Wir wollen zuerst blofs ihren
positiven Theil setzen, gegen welchen nichts eingewendet wird; alsdann
wird der negative Theil schon hintennach von selbst daraus folgen.
Die Antwort ist: Das wäre keine geringe, sondern eine sehr grofse
Veränderung. Denn alsdann genügt der positive Theil, um die Qualität
anzugeben; er allein [97] wird nun der Gegenstand der absoluten Setzung;
der Theil wird erhoben zum Ganzen. Übrigens aber ist noch nicht zu-
gestanden, dafs aus dem Positiven, als dem Grunde, etwas Negatives folgen
könne; auch würde ein Positives, worin sich eine Negation versteckt hielte,
eine Täuschung seyn. Ob nun das Folgen des Negativen aus dem Posi-
tiven einen bessern Sinn haben könne, dies zu untersuchen gehört noch
nicht hieher, da wir noch nicht mit realen Folgen aus realen Gründen,
sondern blofs mit dem Gegenstande der unmittelbaren, absoluten Position
uns beschäfftio;en.
Unser Satz ist also : die Qualität des Sev enden ist gänzlieh positiv oder
affirmativ ; ohne Einmischung vo?i Negationen.
§. 207.
An diesen ersten Satz knüpft sich nun sogleich ein zweyter, dessen
Wichtigkeit vielfältig anderwärts, besonders in der Psychologie, bemerklich
wurde, und dessen Beweis schon in der Einleitung vorläufig zur Überlegung
dargeboten ist.* Vollständig und im rechten Zusammenhange mufs der
Satz nun hier erwogen werden. Er heifst:
Die Qualität des Serenden ist schlechthin einfach.
Denn gesetzt, sie sey mehrfach: so enthält sie zum wenigsten zwey
Bestimmungen, A und B; und es liegt in der Voraussetzung, gegen die
wir streiten, dafs diese zwey sich schlechterdings nicht auf Eine (welche
sonst die wahre Qualität seyn würde) zurückführen lassen. So ist demnach
A ungenügend ohne B; und B ungenügend ohne A. Hier liegt der dop-
pelte Fehler der Negation und der Relation am Tage. Die Ne-[q8]gati<>n
zeigt sich darin, dafs, indem man A in die Qualität setzt, es mit dem
V orbehalte geschieht, es sey nicht die wahre Qualität, wenn es nicht mit B
verbunden sey; und müsse für den Fall, dafs man A ohne diese Verbindung
würde denken wollen, zurückgenommen werden. Von solchem Vorbehalte
' Einleitung in die Philosophie, §. 113. [Band IV vorl. Ausgabe.]
£>a Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
■des Zurücknehmens haben wir oben (§. 204.) als von demjenigen ge-
sprochen, worauf Verzicht geleistet wird durch den Begriff des Seyn.
Dasselbe, was von A, gilt auch von B. Beyde würden daher sich
in einem Kreise gegenseitiger Abhängigkeit drehen, wenn Eins nicht ohne
das Andre die gesuchte Qualität bestimmen dürfte. Hier haben wir nicht
blofs eine Relation in der Setzung, sondern es ist sogar die ganze Setzung
lediglich relativ; und es fehlt gänzlich an einem Puncte, den die absolute Posi-
tion treffen könnte. Denn man versuche A zu setzen; aber A ist ungültig,
wenn nicht B vorausgesetzt wird, als das mit jenem Verbundene. Man
setze also immerhin B voraus; aber selbst diese Voraussetzung taugt Nichts,
wenn ihr nicht schon die Setzung des A voran ging. Man setze demnach,
als Voraussetzung der Voratissetzung., A voraus: und so fahre man fort, bis
man hinreichend inne wird, dafs man gar Nichts gesetzt hat, weil alle
diese Setzungen ungültig, und im Voraus zurückgenommen sind, da sie nicht
gelten sollen, ohne eine Bedingung schon erfüllt zu finden, an der es stets
fehlt und fehlen wird.
Nun wohl, möchte Jemand sagen, so setzet weder A noch B, aber die
Einheit beyder. Worauf zu antworten: erstlich, dafs die verlangte Einheit,
welche nicht irgend eine beliebige, sondern gerade nur die Einheit von A
und B seyn soll, ein Begriff ist, der sich bezieht sowohl auf A als auf B.
Diese Relation ist das Widerspiel der absoluten Position. Zweytens, [99]
dafs nicht einmal an diese Relation eher zu denken erlaubt ist, als bis das
Verbot aufhört, A und B zu setzen, und zwar der Einheit voraus, mithin, nach
dem obigen, auch jedes dem andern voraus zu setzen. Also weit entfernt,
dafs diese Einheit einen Punct für die absolute Setzung darbieten sollte,
entführt sie uns vollends von dem gesuchten Puncte.
So verbindet denn, fährt man fort, die Einheit und den Zwiespalt
eures A und B durch eine höhere Einheit, in der es keine Gegensätze
mehr giebt.
Ja freylich (antworten wir), lafst uns einen Thurm von Einheiten über
einander bauen; bis Jedermann deutlich sieht, dafs die hohem Einheiten '
sich allemal beziehen auf die niederen, und folglich, dafs je höher das
Kunstwerk in die Lüfte steigt, wir desto weiter von der Sache abkommen;
und endlich wohl dahin gelangen könnten, unsre ganze Untersuchung zu
vergessen. *
Aber schon Spinoza, wendet man ein, hat gelehrt,** dafs zwey Attri-
bute Einer Substanz, die wirklich gesondert (realiter distinclaj, das heifst, eins
ohne Hülfe des andern, gedacht werden, noch immer nicht zu dem Schlüsse
berechtigen, sie seyen zwey verschiedene Substanzen. Denn so liege es
nun einmal in der Natur der Substanz, dafs jedes ihrer Attribute die Re-
alität, oder das Seyn der Substanz ausdrücke. Weit gefehlt also, dafs es
absurd seyn sollte, Einer Substanz mehrere Attribute beyzulegen, sey es
vielmehr ganz klar, dafs jedes Ding unter irgend einem Attribute gedacht
werden müsse, und dafs, je mehr Realität oder Seyn es habe, ihm desto
mehr Attribute zukommen.
* Man vergleiche hier den §. 149. der Psychologie. [Bd. VI vorl. Ausgabe.]
** Spinozae cth. P. I. prop. 10. in Schot,
2. Abschnitt. Ontologie. 3. Capitel. Vom Begriffe der Qualität. 6,S
Wir müssen dem Spinoza fast Dank sagen für [100] diese Stelle.
Denn es wäre uns ohne seine Hülfe schwerlich eingefallen, dafs Jemand
in jedem einzelnen, gesonderten Attribute das Seyn der Substanz könnte er-
blicken wollen. Gleich als wäre sie von Spiegeln umgeben, und als wäre
die Qualität, die aus den Attributen bestehen soll, eine Summe von Bildern
für irgend einen Zuschauer, oder von Ausdrücken für irgend einen Zu-
schauer, oder von Ausdrücken für irgend einen Zuhörer! Ist es wohl
schicklich, noch heute in dieser antiken Rüstung zu streiten ? Meint man
wirklich, die Attribute seyen Ausdrücke, Darstellungen, Übersetzungen, Offen-
barungen, mit einem Worte, sie seyen Folgen des Seyn? Wir fordern nicht
die Folge, sondern den Grund; und nicht das Bild, sondern die Sache.
Von der Qualität ist die Rede; und diese mufs als das Allererste bereit
liegen, um die Erklärung zu empfangen, es solle bey dem schon geschehenen
Setzen derselben sein Bewenden haben. Nicht anders als so kann sie als seyend
gesetzt werden. Der Ernst der Untersuchung ist nirgends strenger als hier,
bey der Frage, was ist das Seyende? wo er allen Schein zurückweiset; alle
Bilder verwirft; alle Vervielfältigung in Bildern, deren jedes das Ganze zeigt,
untersagt; und von gar keiner Spiegeley, weder eines Attributs, im andern,
noch des Ganzen in beyden, etwas wissen will.
Vergleicht man jetzt den oben geführten Beweis der Einfachheit, welche
der Qualität des Sey enden zukommt: so sieht man leicht den Punct, wo
Spinoza abweicht. Wir fanden A ungenügend ohne B, und dies ohne jenes.
Denn es liegt in der Voraussetzung, dafs man das, 'was absolut soll gesetzt
werden, nicht mit Einem Worte aussagen könne, also wenigstens zwey,
deren jedes das andre ergänze, dazu nöthig habe, Nöthig! indem keins
ohne das andre zu brauchen sey. Spinoza hingegen würde eins ohne Hülfe
des andern [10 1] (unum sine ope allerius) gebrauchen. Er hätte allenfalls
genug an der Ausdehnung, oder auch allenfalls genug an dem Denken, um
zu sagen, was die Substanz sey. Lieber freylich ist ihm der Reichthum an
Attributen, denn dadurch vergröfsert sich das Seyn! Je mehr Realität, desto
mehr Attribute, und umgekehrt. Da er nicht gewohnt ist, die Realität von
allen Attributen ohne Ausnahme zu unterscheiden, nicht bemerkt, dafs die
Realität blofs eine Art des Setzens ist, worin von dem Realen noch gar
Nichts bestimmtes liegt, so lange nicht gesagt worden, ivas denn solle gesetzt
werden? so hat er das Gewicht der Frage nach diesem Was? oder nach
der Qualität, auch niemals empfinden können. Ihm hat stets irgend etwas
dunkel vorgeschwebt, das er Substanz nannte; und er hat darin einen
reichen Schatz geahnet, aus welchem die menschliche Erkenntnifs sehr ge-
nügsam nur blofs zwey unendliche Attribute herausnehme, während ja doch
Niemand zweifeln werde, dafs eigentlich unendlich viele darin liegen. Diese
dunkle Fülle, verborgen unserm Verstände, schiebt sich ihm zwischen das
Setzen und das zu Setzende; so dafs es ihm gar nicht in den Sinn kommt,
zu untersuchen, ob denn auch sein Gesetztes mit den Bedingungen des Setzens
zusammenpasse? Er hat niemals diese mit jenem genau verglichen, genau
zusammengehalten, um beydes an einander zu messen. Doch fällt ihm
einmal gelegentlich ein, es könnte wohl Jemand einwenden, der absoluten
Position seyen bey ihm zivey Gegenstände dargeboten, und das gebe um
desto sicherer zwey Reale oder zwey Substanzen, je deutlicher er eingestehe,
Hkrbart's Werke. VIII. 5
66 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
die beydefi Attribute seyen eigentlich gar nicht verbunden, sondern jedes müsse
für sich gesetzt werden. Denn freylich ist es gerade einer von seinen
Haupt- [102] Sätzen: u?iumquodque unius substantiae attributum per se conapi
debet. Auf deutsch: wenn ihr auch wirklich versprochen habt, nur von Einer
Substanz zu reden, so sollt ihr doch euer Versprechen dadurch vereiteln, da/s
ihr den Actus der absoluten Position, auf dessen Einheit die der Substanz
allein beruhen könnte, in so viele Acte zersplittert, wie viele Attribute vor-
handen sind. Da ihm nun einfällt, das hieran wohl Jemand Anstofs nehmen
könnte, so wirft er eine Anmerkung hin, worin der Machtspruch ertheilt wird,
jedes Attribut sey ein Ausdruck des Sern der Substanz. Und er findet Gläubige,
die ihm erlauben, den eigentlichen Kern des Wesens in einen, oder be-
liebig in mehrere Ausdrücke zu verwandeln.
Wir werden tiefer unten noch genug von Ausdrücken zu reden haben,
die wir schon oben zufällige Ansichten nannten; eben deswegen, weil sie
dem Kern des Wesens, der Qualität des Seyenden, engegenstehen wie Zu-
fälliges dem Wesentlichen. Diese zufälligen Ansichten sind nicht zu ver-
wechseln mit spinozistischen Ausdrücken, die zugleich für Attribute, — mit
Puppen, die selbst für Personen gelten wollen.
§. 208.
Mit dem Satze des vorhergehenden Paragraphen hängen unmittelbar
noch zwey Folgerungen zusammen, die wir zugleich aufstellen, damit sie
einander durch den Gegensatz erläutern.
Dritter Satz: Die Qualität des Seyenden ist allen Begriffen der Quantität
schlechthin unzugänglich.
Vierter Satz: Wie Vieles sey, bleibt durch den Begriff des Seyn ganz
unbestimmt.
Ein Ungeübter würde vielleicht meinen, diese bey-[i03]den Sätze wider-
sprächen einander. Der erste verbiete die Vielheit, welche der zweyte gestatte.
Aber Vielheit im Seyenden ist nicht Vielheit des Seyenden. Jene ist
verboten, diese erlaubt.
Die Beweise für beydes fallen beynahe in einen zusammen. Gesetzt,
die Qualität sey ein Quantum : so lassen sich darin Theile unterscheiden.
Diese Theile können entweder getrennt, und als unabhängig von einander
betrachtet werden, oder sie stehen in unauflöslicher Verbindung. Nun
übertrage man darauf die absolute Position. Dies gelingt im ersten Falle;
aber auf die Frage: was das absolut Gesetzte sey? erfolgen soviel un-
abhängige Antworten, als Theile in der Qualität waren; das heifst, es giebt
eben so viel Reale; nicht aber Eins, welches doch die Voraussetzung war.
Im zweyten Falle hingegen mislingt die absolute Position; denn die Qualität
würde vielfach seyn; gegen den zweyten Satz, in dessen Beweise es frey
steht, A und B als gleichartige Theile einer Gröfse zu betrachten. (§. 207.)
Der dritte Satz ist demnach enthalten unter dem zweyten. Der
vierte folgt schon darans, dafs der Begriff des Seyn ein allgemeiner Begriff,
und in der Forderung der absoluten Setzung gar keine positive Hinweisung
auf die Natur des Gegenstandes, der gesetzt werden solle, enthalten ist.
— Ein sehr schlechter Einwurf würde folgender seyn: Wenn A, B, C
u. s. w. jedes für sich real ist, so ist jedes alles übrige nicht; folglich wäre
2. Abschnitt. Ontologie. 3. Capitel. Vom Begriffe der Qualität. 67
jedes mit Negationen behaftet, wider den rein affirmativen Begriff des Seyn.
Die Antwort ist: man verwechsele nicht das Seyende mit der Zusammen-
fassung desselben im Denken. Wer Häuser, Briefe und Lehrsätze im
Denken zusammenfafst, der spricht freylich, ein Haus ist kein Brief und
kein Lehrsatz, und umgekehrt; aber er sucht darum weder wirkliche [104]
Lehrsätze in wirklichen Häusern, oder rückwärts, noch behauptet er das
Gegentheil, die Unverträglichkeit dieser Dinge, deren keins mit dem an-
dern in irgend welcher positiven oder negativen Gemeinschaft steht. Es
gehört zu den ersten * Übungen, worin sich der Anfänger bevestigen mufs,
Prädicate der Gegenstände zu unterscheiden von solchen Bestimmungen,
welche nur aus zufälliger Zusammenstellung derselben im Denken und
Vergleichen entspringen. Jene Negationen, A sey nicht B und nicht C,
u. dergl. sagen gar nichts von den Gegenständen; sie tiennen blofs die Be-
griffe als solche.
§. 209.
Den dritten Satz müssen wir der Vorsicht wegen noch genauer be-
leuchten. Dafs die Qualität eines Realen für eine discrete Gröfse gehalten
werde, ist nicht leicht zu besorgen; das Ungereimte springt gar zu deutlich
ins Auge, sobald die Theile sichtbar auseinander fallen, und sich einzeln
angeben lassen. Noch nie hat Jemand einen Sandhaufen, oder eine Bücher-
sammlung, für Ein Ding gehalten; kaum ein Schiff oder ein Haus, denn
auch hier liegt die Zusammensetzung gar zu offen für einen leidlich acht-
samen Beobachter.
Weit mehr Schwierigkeiten macht das Continuum. Sehr Wenige sehen
den Widerstreit zwischen Continuität und Realität.
Entschuldigung für den Irrthum liegt hier in der Natur des Gegen-
standes. Das Continuum kann nicht aus seinen Theilen zusammengesetzt
werden, denn diese Theile sind nicht zu finden, lassen sich nicht verein-
zeln, und ergeben, wenn man sie auch als gefunden voraussetzt, keinen
Flufs der Gröfse. Nimmt man willkührliche Theile im Continuum: so sind
es nicht Bestandtheile, sondern Abschnitte, die man eben so gut gröfser
oder kleiner nehmen konnte; weil sie in gar [105] keinen natürlichen Gränzen
eingeschlossen sind. Daher scheint die wahre und ursprüngliche Auffassung
des Continuum nur die des ungctheilten Ganzen zu seyn; wenn auch dieses
Ganze unendlich ist, und sich nicht zusammenfassen läfst. Hier liegen
dem Scheine nach gröfse Geheimnisse verborgen. Ursprünglich soll das
Continuum ein Ganzes seyn; da müsste man es zusammenfassen, ohne
dafs etwas übrig bliebe, was der Auffassung entschlüpfte. Aber es ist un-
endlich, das heifst, es bleibt immer davon etwas übrig, wie viel man auch
zusammenfasse; man mufs stets noch etwas nachholen, denn keine Vor-
stellung kann das Unendliche erschöpfen. Je aufrichtiger nun Jemand ist,
desto leichter bekennt er, sich hier zu verwirren; und als natürliche Folge
davon schreibt er nun dem Continuum solche inwohnende Kräfte zu,
welche von dieser Verwirrung die zureichende Ursache enthalten. Darum
hat der Anfänger Mühe, sich den unendlichen Raum und die unendliche
Zeit als ein leeres Nichts vorzustellen. Aber die Dreisteren benehmen sich
1 gehört zu den Übungen. SW. („ersten" fehlt).
5*
68 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
anders. Je weniger sie gelernt haben, mit Widersprüchen umzugehen, um
desto sicherer trauen sie sich die Kräfte zu, leisten zu können, was ge-
fordert wird. Das Continuum soll als Ganzes gefafst, — nichts soll davon
weggelassen werden. So mufs es denn ja wohl möglich seyn, das Un-
endliche zusammenzuschnüren, ohne etwas übrig zu lassen! Dies sey nun
geschehen : so kommt es noch darauf an, das Ganze vor aller Theilung zu
fassen. Dann enthält es kein Mannigfaltiges; es ist nun schlechthin Eins!
Und jetzt steht der absoluten Position nichts mehr im Wege; die Qualität
des schlechthin Einen ist einfach, wie wir gefordert haben. Also sind wir
nun damit fertig, das Continuum, ja das Unendliche, als ein Reales zu setzen.
Wie wurden wir denn fertig? Durch ein Verfall- [1 06] ren, was un-
gefähr so beschaffen war, als wenn Jemand auf die Quadratwurzel von
Minus -Eins die Methode der Beziehungen anwenden wollte. Wir haben
an einem Widerspruche gekünstelt, den wir blofs anerkennen, seinem ge-
setzmäfsigen Ursprünge nach erklären, vom Realen aber aufs sorgsamste
fern halten sollten. Das Künsteln war freylich diesmal ziemlich kunstlos;
es bestand blofs darin, die Augen zu schliefsen, um ein paar Sprünge zu
wagen. Das Unendliche wurde zusammengefafst; aber es darf nicht zu-
sammengefafst werden ; sein Begriff beruhet auf einer wandelbaren Gränze,
jenseits deren man künftig noch immer etwas finden werde, was man jetzt
noch nicht erreichte. Die Mannigfaltigkeit innerhalb des Continuums wurde
ausgelöscht: aber sie soll und mufs bleiben, denn das Continuum ist eine
Gröfse, und diese beruhet auf dem Mannigfaltigen, das in ihr unterschieden wird.
Der Synechologie, welche dem Continuum sein Recht widerfahren läfsf,
aber dies Recht auch gehörig begränzt, können wir hier noch nicht vor-
greifen. Unser Verfahren ist für jetzt blofs negativ. Die Gröfsenbegriffe,
gleichviel ob stetig oder nicht, müssen vom Realen zurückgewiesen werden;
weil sonst die Qualität zerfällt oder zerfliefst; wovon eins so schlimm ist
wie das andre. Das Zerfliefsen ist nur verführerischer, weil man es sich
leichter verhehlt, oder doch, wenn das Denken aufrichtig ist, der Begriff
schwerer vestgehalten wird. Im genauen Vorstellen werden die Theile des
Fliefsendeti zwar iinterschieden, aber wieder verschmolzen, und folglich nicht
gesondert. Dann bedingen sie einander; man kann keinen derselben einzeln
gebrauchen; denn man setzt jeden nur wegen des Übergehens zum andern.
Seyen zwey nächste Theile A und B, so ist weder A für sich, noch B
für sich etwas; der Flufs allein, worin die [107] Sonderung beyder ver-
schwindet, soll gesetzt werden. Er kann aber schon nicht mehr gesetzt zverden,
nachdem die Sonderung als völlig verschwunden betrachtet zvird. Also bleibt
es dabey, das Zusammenschwinden des A und B nur als bevorstehend zu
denken; es bleibt dabey, dafs man A und B unterscheidet, und der Gegen-
stand des Setzens wird niemals einfach; er besteht aus Theilen, die sich auf
einander beziehen. Vergleicht man nun das Obige (§. 207.): so ist offenbar,
dafs dies kein Gegenstand einer absoluten Position seyn kann; und dafs
jedes Continuum von der Realität ausgeschlossen ist.
§. 210.
Schaut man nun rückwärts, auf das Fundament des bisherigen onto-
logischen Vortrags: so findet sich kein anderes als der Begriff des Seyn.
2. Abschnitt. Ontologie. 3. Capitel. Vom Begriffe der Qualität. 60,
Und dieser wurde gewonnen durch blofse logische Analyse derjenigen Be-
griffe, die wir beym Anfange des Philosophirens schon vorfinden. Hier
also sind wir noch gar nicht aus dem gemeinen Gedankenkreise der Menschen
herausgetreten; aber es ist nur zu gewifs, dafs die gemeinen Gedanken aus
sich selbst heraustreten, sich untreu werden, und darum mit den von uns
aufgestellten Sätzen nicht im Einklänge stehen. Wir haben blofs vest-
gehalten, was die gemeinen Vorstellungsarten zwar enthalten und mit sich
bringen, aber wieder fahren lassen, und nicht geltend machen. Die Ne-
gationen und Relationen, welche die absolute Position verderben, finden
sich überall, von selbst in den Gegenständen der Sinne, und durch Sorg-
losigkeit in den Systemen.
Die alte Schule liefs in den Dingen ein malum metaphysicum zu, was aus
den ihnen bey wohnenden Negationen bestehen sollte; jedoch ist auch die Spur
eines bessern Geistes zu bemerken, die sich in den paradoxen [108] Sätzen
findet: omne ens est unum, verum, bonnm. Darin liegt ein zwar mislungenes,
und gar nicht vestgehaltenes, aber dennoch beachtenswerthes Bestreben, der
absoluten Position, und der Einfachheit der Qualität, nahe zu bleiben.
Der Fehler, die essentia aus vielen Essentialien zusammenzusetzen, war
einmal gemacht. Man wufste mit wahrhaft einfachen Qualitäten in der
Natur -Erklärung nichts anzufangen; man dachte gar nicht daran, dafs eben
hierin, das Bunte aus dem Einfachen zu erklären, die Aufgabe der Meta-
physik liege. Allein man verkleinerte den Fehler, indem man wenigstens
die Forderung aufstellte: alle Essentialien müfsten unzertrennlich seyn ; keines
dürfte aus der essentia verschwinden. Das hiefs: omne ens est unum. Ferner
sollten die Essentialien gehörig zusammenpassen; oder: omne ens est verum.
Endlich soll es sogar einen Punct geben, in welchem sie zusammen stimmen;
dieser Punct heifst focus perfectionis, und da alle Essentialien zur essentia
zusammenstimmen, so ist deshalb jedes Ding gut; omne ens est perfectum
et bonum transscendentaliter.
Diese Erklärungen, wie man sie antrifft, sind dürftig; und Kant schwächte
sie noch mehr, da er sie auf seine Kategorien der Quantität deutete.*
Allein die Ausdrücke selbst sind kräftig; und zeugen von dem Bestreben, die
Affirmation zu verstärken, wodurch jedes Ding soll gesetzt werden. Einheit,
Wahrheit, Vollkommenheit, sind Betheuerungen, dafs das Seyende ist, ohne
zu zerfliefsen, von sich abzuweichen, und zu verderben. Schade, dafs diese,
wie so manche Betheue-[ioq]rungsformeln, leere Worte blieben, weil nichts
geschah, um das durchzusetzen, was in ihnen verheifsen war.
Aber jetzt wird man uns fragen, ob wir es durchsetzen können? Man
wird uns nachweisen, dafs die Strenge der absoluten Position, indem sie
alle Relationen von sich ausschliefst, auch jedes Seyende als isolirt, und
als entzogen der allgemeinen Verkettung der Dinge darstellt. Und sehr
willig werden wir einräumen, dafs eben deshalb die absolute Position durchaus
keinen hohem Werth, als den eines abstracten Begriffs hat, der erst durch
nähere Bestimmungen brauchbar wird. Ferner wird man uns erinnern,
dafs wir nur darum vom Seyenden zu reden ein Recht haben, weil wir
das Gegebene begreiflich machen sollen. Und abermals werden wir sehr
* Kritik der reinen Vernunft, am Ende des ersten Hauptstücks der Analytik.
yo Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
gern einräumen, dafs wir zur absoluten Position gar nicht einmal berechtigt
seyn würden, wenn wir nicht schon im Begriff ständen, sie durch die re-
lative zu ergänzen. Eben dies nun fordert man von uns. Man will von keiner
Theorie, nach welcher Methode sie auch gefunden sey, etwas hören, die
sich nicht brauchbar zeigt im Gebiete der Erfahrung. Kurz, man wird
uns erinnern an das, was wir schon längst (§. 129.) als die Verlegenheit
bezeichneten, in die wir gerathen würden.
Nun sind zwar vorbeugende Maafsregeln ergriffen, indem wir den
Widersprüchen, welche das Gegebene wider sich selbst und wider unsre
Sätze von der Qualität erhebt, durch die Methode der Beziehungen zu
begegnen, und deren Wirksamkeit die zufälligen Ansichten (§. 190.) zu ver-
längern beabsichtigen. Allein damit Alles, was wir brauchen, im rechten
Augenblicke völlig zur Anwendung fertig liege, müssen wir schon hier, ehe
wir die Qualität des Realen verlassen, uns auf zufällige Ansichten eben
dieser Qualität einrichten und gefafst machen; indem nichts gewisser [110]
ist, als dafs ein steifes und starres Vesthalten an einerley Vorstellungsart
in Fällen, wo mehrere neben einander möglich und nöthig sind, der Meta-
physik von jeher eben so schlecht bekommen ist, als dagegen die Mathe-
matik sich bey ihrer Geschmeidigkeit und Gewandtheit wohl befunden hat.
§.211.
Es sey A = « -\- ß, wo das Pluszeichen nicht bestimmt Addition,
sondern allgemein irgend welche Verknüpfung der Begriffe a und ß be-
zeichnet. War nun A denkbar, ohne in ihm « und ß als Merkmale vor-
zustellen, und ergiebt sich dennoch aus ihnen, wenn sie znsammengefafst
werden, der, dieser Zusammenfassung genau gleichgeltende, Begriff A: so
ist « -f- ß die zufällige Ansicht von A.
Auf die Menge der Merkmale kommt es nicht an; blofs der Kürze
wegen haben wir nur zwey angenommen. In der Binomial - Formel :
(a -f b)ra = am + mam - » b -f- m ' Vm~~Ü am~2b2 -f. . .
können unendlich viele Glieder vorkommen; dennoch bilden sie nur eine
zufällige Ansicht der Gröfse, die man auch ohne Sonderung derselben auf
einem ganz andern Wege erhält; nämlich indem man die Wurzel a -f- b
als eine einzige, ungetheilte Zahl zur vorgeschriebenen Potenz erhebt.
Vier Fälle kann man fürs erste annehmen, in welchen zufällige An-
sichten vorkommen möchten; sie unterscheiden sich nach ihrem Verhalten
zu unserm Wissen. Entweder wir kennen beydes, sowohl den Begriff A,
als auch die zufällige Ansicht « -f- ß- So kennen wir im Parallelogramm
der Kräfte sowohl die Diagonale, als die Seiten; wir kennen also die beyden
Seitenkräfte, welche im Zusammenwirken vollkommen [1 1 1 j gleich gelten
einer einzigen ungetheilten, deren Begriff für sich klar ist, und keinesweges
bedarf, aus jenen beyden zusammengesetzt zu werden, sondern recht füg-
lich auch ursprünglich durch eine einzige Kraft dargestellt werden kann.
Die Seitenkräfte sind eine lediglich zufällige Ansicht, welche jedoch unter
gewissen vorkommenden Umständen • nothwendig mufs angewendet werden.
Oder zweyiens, wir kennen zwar den Hauptbegriff A, wir wissen auch,
dafs es von ihm eine zufällige Ansicht geben mufs, aber wir können deren
2. Abschnitt. Ontologie. 3. Capitel. Vom Begriffe der Qualität. 71
Merkmale nicht gesondert aufzeigen. In diesem Falle befindet sich vor-
läufig der Anfänger, der die Zerlegung der Kräfte noch nicht gelernt hat,
so oft er eine Erscheinung beobachtet, die sich nur dadurch erklären
läfst. Sieht er einen Körper längs einer schiefen Ebene gleiten: so soll
ihm die Frage einfallen, wie doch das möglich sey? Die Schwere treibt
den Körper nicht schief, sondern senkrecht. Aber den senkrechten Fall
verhindert die Ebene bey der mindesten Abweichung vom Lothe. Folg-
lich sollte der Körper sich gar nicht bewegen, sondern oben an der Ebene
gleichsam hängen oder kleben bleiben. Das widerlegt nun freylich die
gemeinste Erfahrung, und zwang dadurch von jeher die Menschen, hier
wenigstens sich einer zufälligen Ansicht zu bedienen. Dieser nämliche
zweyte Fall begegnete uns in der Psychologie, als wir an die Ver-
schmelzung vor der Hemmung kamen.* Jeder einzelne Ton, jede einzelne
Farbe, abgesehen von Zeit und Raum, gewährt eine völlige einfache Vor-
stellung. Aber das Zusammenklingen zweyer Töne, das Beysammenstehn
zweyer Farben, giebt keinesweges eine blofse Summe der beyden ; sondern
zugleich ein ästhetisches Verhältnifs. Hier ist [112] etwas in der Folge,
das auf den ersten Blick in dem Grunde nicht kann gefunden werden.
Man mufs also den Grund anders fassen. Man mufs Töne und Farben
zerlegen in Gleichartiges und Entgegengesetztes. Alsdann kann man vom
Ursprünge der musikalischen Verhältnisse eine psychologische Rechenschaft
geben. Aber die Zerlegung ist und bleibt nur eine Forderung. Wenn
wir die reine oder falsche Quinte hören: so können wir nimmermehr das-
jenige sondern, was in ihr dem Grundtone gleich, und was ihm völlig ent-
gegengesetzt ist; obgleich soviel offenbar ist, dafs die falsche Quinte, welche
dem Grundtone näher liegt, als die reine, mehr Gleiches, oder besser, eine
gröfsere Gleichheit mit ihm haben mufs, als die reine Quinte, die um
einen halben Ton höher liegt. Dieser Umstand macht den einzigen Unter-
schied der beyden Quinten aus; aus ihm ganz allein mufs die ganze Er-
klärung folgen; wie geheimnifsvoll auch dies erscheint, so lange man die
wirkliche Berechnung nicht kennt, welche den notwendigen Erfolg deutlich
macht.
Oder drittens: wir kennen weder den Hauptbegriff A, noch die Theile
« und ß der zufälligen Ansicht, sammt der Form ihrer Verknüpfung; wir
wissen blofs soviel: es giebt einen oder mehrere dergleichen Hauptbegriffe;
und es mufs von jedem derselben eine zufällige Ansicht möglich seyn,
wiewohl sie uns unbekannt bleibt. Dieser Fall tritt allemal dann hervor, wenn
wir sehen, dafs aus der Zusammenfassung zweyer Begriffe eine Folge ent-
springen soll, die aus der einfachen, ursprünglichen Vorstellung der Gegen-
stände nicht entspringen kann. Die Forderung der zufälligeu Ansicht
ist alsdann gerade so, wie im zweyten Falle, vorhanden; obgleich wir uns
ihrer wirklichen Darstellung nicht einmal soweit annähern können, wie bey
der eben erwähnten Zerlegung der Töne und Farben in Gleiches [113]
und Entgegengesetztes. Kaum bedarf es noch der ausdrücklichen Be-
merkung, dafs wir in diesem dritten Falle uns hier, in der Metaphysik be-
finden werden.
Psychologie I. §. 71, 72, 98, 99. [Band V vorl. Ausgabe.]
72 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Oder endlich viertens : wir kennen zwar nicht den Hauptbegriff, wohl
aber die Merkmale in der zufälligen Ansicht. Aber ist dieser vierte Fall
auch möglich? Keinesweges. Denn aus den Merkmalen der zufälligen
Ansicht würde, wenn sie bekannt wären, sich sogleich der Hauptbegriff
zusammensetzen, der ihnen völlig gleichgeltend seyn mufs. Die unmög-
liche Ausnahme dieses Falles dient also blofs dazu, nochmals auf das
Eigenthümliche der zufälligen Ansichten aufmerksam zu machen. Es ist
sehr wohl möglich, dafs man die einfachen Vorstellungen (wie Töne und
Farben) besitze, ohne sie zerlegen zu können gemäfs dem Verhältnisse,
worin sie gegenseitig stehn; aber es ist nicht möglich, eine Zerlegung zu
besitzen, nebst der dazu gehörigen Form der Verknüpfung, ohne dadurch
sogleich, wie im ersten Falle, auf den Hauptbegriff geleitet zu werden,
der stets die Theile der zufälligen Ansicht so in sich verschlingen, und
so unsichtbar machen mufs, wie die Seitenkräfte von der Resultante ver-
schlungen werden, in welcher man ihren Unterschied auf keine Weise
mehr wahrnimmt.
§. 212.
Aus der Mechanik nehme man die Zerleguno- der Kräfte hinweg;
was bleibt von der ganzen Wissenschaft übrig? So viel wie nichts. Aus
der Metaphysik lasse man die Forderung der zufälligen Ansichten hinweg :
was wird herauskommen? Solche Metaphysik, wie man sie wohl kennt,
und wie sie bisher gewesen ist.
Keine Logik — doch das ist kein Vorwurf, denn die allgemeine Logik
hat keine Veranlassung, hievon zu reden, — aber auch keine Methodenlehre
hat bisher [114] von zufälligen Ansichten gesprochen. Bey dieser Neuheit
der Sache müssen wir denn wohl noch einen Augenblick an jene vorgeb-
liche Verlegenheit wenden, deren Schein wir oben (§. 129.) angenommen
haben, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf den entscheidenden Punct
zu richten.
Dort war von einer qualitativen Atomistik die Rede, in die wir ge-
rathen würden. Um den Sinn des Ausdrucks mehr geläufig zu machen,
wollen wir einmal die Verlegenheit, die er bezeichnet, in Gedanken auf
den Mechaniker übertragen. Ein Körper liegt auf einer schiefen Ebene;
noch hält ihn irgend eine Stütze; man will aber die Stütze wegnehmen,
und man fragt den Mechaniker, was alsdann geschehen werde? Dies soll
er voraussagen und erklären. Was für Momente hat er nun zu erwägen?
Hier die schiefe Ebene, die nur senkrecht auf sie selbst, also schief gegen
das Loth, Widerstand leisten kann. Dort den Körper, der nur lothrecht
zu fallen durch die Schwere getrieben wird. Da sind zwey Kräfte und
zwev Richtungen. Wären nun die Richtungen gerade entgegengesetzt, so
könnte man leicht sagen : sie müssen sich aufheben, und der Körper bleibt
in Ruhe, da der Widerstand dem Drucke gleich seyn wird. Aber zum Un-
glück sind die Richtungen nicht gerade entgegengesetzt! Und zum gröfseren
Unglück ist jede von diesen Richtungen, worin die Kräfte wirken sollen,
einfach! Wie soll man sie nun in Verbindung setzen? Wie fängt man es an,
herauszukommen aus der geraden Linie, in welcher der Körper fallen will,
und hineinzukommen in die andere gerade Linie, nach welcher die Ebene
i
2. Abschnitt. Ontologie. 3. Capitel. Vom Begriffe der Qualität. 73
widersteht? „Diese geraden Linien (möchte wohl Jemand sagen) gleichen
zweyen Atomen, die nimmermehr in einander eindringen können. Ihre
Qualitäten sind ihre Richtungen. Keine dieser Qualitäten [115] enthält die
andre, keine kümmert sich um die andre. Oder hat etwa der, welcher
die eine dieser Richtungen beschreiben will, nöthig, an die andre zu denken,
und derselben zu erwähnen? Keineswegs 1 Man kann die Richtung der
Schwere zeichnen, ohne die mindeste Rücksicht auf irgend eine schiefe
Ebene in der Welt zu nehmen ; man kann auch den Widerstand der letztern
seiner Richtung nach genau bestimmen, ohne irgend Etwas von Schwere,
und vom Fallen dabey einzumischen. So stehen denn die beyden Kräfte
und deren Richtungen einander starr und steif gegenüber; keine bietet der
andern einen Punct des Angriffs; der Korper fällt nicht und ruhet auch
nicht ; jenes nicht, weil sein Weg nach dem Lothe nicht frey ist; dieses
nicht, weil er, um getragen zu werden, einen lothrechten Widerstand finden
müfste, den die schiefe Ebene nicht leisten kann."
Das ist qualitative Atomistik! Aber derjenige ist sicher kein Kenner
der Mechanik, der in dieser lächerlichen Verlegenheit sich nicht zu helfen
weifs. Freylich ist es wahr, dafs keine von den geraden Linien, nach
welchen die Kräfte gerichtet sind, auf die andre hinweiset. Dennoch sind
sie einander vollkommen wohl zugänglich; und es ist ganz falsch, dafs sie,
gleich Atomen, sich irgend etwas von Undurchdringlichkeit entgegensetzen
sollten. Jede ist willig und bereit, den Begriff der andern in sich auf-
zunehmen, sobald man nur die dazu nöthige zufällige Ansicht richtig con-
struirt. Alsdann ergiebt sich sogleich, in wiefern sie einander entgegen-
gesetzt sind; und hier, in den zufälligen Ansichten, ist der rechtmäfsige
Sitz jenes quatenus, von welchem Spinoza, wie oben bemeikt (§. 49.) Mis-
brauch gemacht hat.
Wir haben nun zwar gefordert, dafs die Qualität des Seyenden
schlechthin einfach seyn müsse. Aber [116] die zufälligen Ansichten
solcher Qualität sind nicht ausgeschlossen. Sie müssen nur in Wahrheit
zufällig seyn, und vollkommen fähig, wiederum in Eins zusammenzufallen.
Wenn eine gerade Linie auf dem Papier gezeichnet ist: so sieht man es
ihr nicht an, ob sie die Seite eines Dreyecks, oder die Ordinate einer
Curve seyn soll. Wenn sich ein reiner, einzelner Ton hören läfst, so hört
man nicht, ob er eine Octave oder eine Septime seyn soll. Die Linie,
der Ton, können dies, und noch manches andre, vorstellen; sie können
nach dieser oder jener Formel oder Regel gewählt worden seyn; aber
von der ganzen Zusammensetzung der Begriffe in solchen Formeln und
Regeln ist nichts mehr zu spüren, sobald man blofs- die Linie, blofs den
Ton betrachtet. Einfach, wie ein einfacher Ton, soll nun jede Qualität
jedes Realen seyn; aber zugleich fähig, gleich dem Ton und der Linie, an-
gesehen zu werden als entsprechend dieser oder jener Construction, die eine
wie immer grofse Mannigfaltigkeit von Bestimmungen in sich schliefsen mag.
Und dies nun ist der Punct, wo die Metaphysik aus dem Kreise der
bekannten logischen Vorstellungsarten heraustritt. Hier ist ein Verhältnils
unter Begriffen, das man in den kategorischen, hypnothetischen und dis-
junetiven Formen nicht darstellen kann. Dieses Verhältnis ist kein Ge-
gebenes der Anschauung, kein Product der Schwärmerey, kein Stoff für
74 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Prunkreden, keine Zuflucht des Empirismus. Sondern es ist ein wissen-
schaftlich klarer, und durch hinreichende Proben belegter Gedanke, dessen
die Speculation nicht entbehren kann, obgleich sie weit entfernt ist, auf
ihm allein zu beruhen.
[117] Viertes Capitel.
Vom Probleme der Inhärenz.
§• 213.
Alles bisher Vorgetragene enthielt noch keinen Anfang eigentlicher
Erkenntnifs. Es war nichts als Analyse von Begriffen, ohne vestes An-
knüpfen am Gegebenen, von dem es eben deshalb auch noch nicht ge-
tragen wird; aufser insofern man weifs, dafs überhaupt irgend etwas Reales
mufs gesetzt werden (§. 199).
Unser Weg ist nun zwar längst (§. 167.) vorgezeichnet. Aus den
Formen der Erfahrung soll die Inhärenz zuerst hervortreten, um zum
Gegenstande der Untersuchung zu dienen. Allein dies gegebene Problem
enthält eine kleine Verwickelung, die immer schon zureicht, um dem An-
fänger die Untersuchung bedeutend zu erschweren. Dem Dinge mit mehrern
Merkmalen, wie es überall in der gemeinen Erfahrung vorliegt, und in den
Systemen sich aus Achtlosigkeit wiederholt (wie in Spinozas ausgedehnter
und denkender Substanz), diesem Dinge inhärirt nicht blofs ein einziges,
sondern jedes einzelne seiner Merkmale. So findet sich die Inhärenz, welche
den Punct der Frage ausmacht, nicht einzeln, sondern gehäuft; und die
vollständige Auflösung bekommt dadurch eine besondre Bestimmung, welche
nach der Methode der Beziehungen sich nicht vorhersehen liefs.
Darum wollen wir zuerst zu einem willkührlichen , blofs logischen
Denken zurückkehren; und in demselben uns das Problem in einer so
einfachen Gestalt vorlegen, wie es zwar nicht gegeben wird, aber gegeben
werden müfste, um ganz leicht der schon bekannten Lehre angepafst zu
werden. Wer mit angewandter Mathematik bekannt ist, der hat sich längst
gewöhnt, [118] dafs dort die Aufgaben absichtlich vereinfacht, und von
erschwerenden Nebenumständen befreyet werden, damit nur erst der Haupt-
gedanke ins Licht trete, bevor man alle vorkommenden Bestimmungen mit
in Rechnung nimmt. So handelt man dort erst vom Fall der schweren
Körper im luftleeren Räume; und vergleicht hiemit späterhin die Wirkung
des Widerstandes der Luft.
Die Aufgabe sey: einen Begriff- a, oder b, nicht durch absolute Position,
welche dem Esse, sondern durch eine solche, welche dem In esse entspricht,
zu denken. Dasjenige, dem das a oder b inwohnt, heifse A. Nun soll
man zwar a, oder b, setzen; aber nicht neben und aulser A, sondern
darin ! Also die Setzung des A soll nicht wachsen, sich nicht vermehren,
durch jene des a. Sondern die letzte soll in der ersten schon liegen.
Kann denn auch eine Setzung enthalten seyn in einer andern? — Die
andre, wenn sie nicht etwan wiederum liegen soll in einer dritten u. s. w.
2. Abschnitt. Ontologie. 4. Capitel. Vom Probleme der Inhärenz. 75
(wodurch die Frage nur verschoben würde), mufs eine absolute Position
seyn. Dann ist ihr Gesetztes schlechthin einfach (§. 207.); und das absolut
gesetzte A enthält kein von ihm irgend unterscheidbares a oder b, anfser
in den ihm g/cichgellenden zufälligen Ansichten (§ 212). Unsre Aufgabe
führt also nicht, wie man vermuthlich erwartete, zu dem Begriffe der Eigen-
schaft, oder des Attributs; diese Vorstellungsarten des täglichen Lebens
sind durch das bisher Vorgetragene schon ausgeschlossen; dergestalt, dafs
der Weg unserer Betrachtung gar nicht zu ihnen gelangen kann, sondern
sie zur Seite liegen läfst. Die zufälligen Ansichten geben die einzige mög-
liche Auflösung der Aufgabe.
§. 214.
Der Leser hat ohne Zweifel schon bemerkt, dafs das Vorstehende
nur eine entfernte Vorbereitung seyn [119] könne. Mit einer möglichen
Auflösung der Aufgabe, wie sie vorliegt, ist bey den vorhandenen meta-
physischen Problemen nichts gedient; Widersprüche sind vorhanden und
angekündigt; dazu passen nur Aufgaben, die man so, wie sie vorliegen, nicht
lösen kann, und die man eben deshalb einer nothwendigen Abänderung
unterwerfen mufs. Wir suchen jetzt eine nähere Vorbereitung.
Aus der vorigen Aufgabe wird sogleich eine unmögliche, wenn wir
den einzigen Ausweg der Lösung versperren. Wir wollen also annehmen,
aus irgend einem Grunde sey es verböte?!, a oder b zu betrachten als Theil
einer zufälligen Ansicht von A. Dann können wir es gar nicht in A hinein-
bringen; denn die Qualität A aus allerley a, b, c u. s. w. zusammenzusetzen,
ist vollends durch den Begriff der absoluten Position untersagt. Wir suchen
also die Aufgabe abzulehnen, da sie unmöglich ist.
Hiemit wären wir im willkührlichen Denken wirklich am Ende. Allein
da alles dies zur Vorbereitung auf gegebene Probleme dienen soll : so ge-
hört es zu unserer Voraussetzung, die Aufgabe lasse sich gerade eben so
wenig ablehnen, als auflösen. So mufs sie verändert werden, in dem Sitze
des Widerspruchs; und nun kommt uns die Methode der Beziehungen
zu Hülfe.
Geleitet durch die Schlufsbemerkung des §. 188. überlegen wir vor-
läufig: ob wohl eins der Glieder des Widerspruchs so beschaffen sey, dals
es gegen das andre in die Stellung des Grundes zur Folge treten könne?
Und es bietet sich sogleich dar, dafs A, der Gegenstand der absoluten
Position, sich zu dem inhärirenden a oder b, nur als Grund zur Folge
verhalte; und keineswegs umgekehrt, da sich das Inhärirende unmöglich
dem absolut Gesetzten zum Grunde legen läfst. Hie-[i2o]mit für sich
allein ist jedoch noch nicht das Mindeste erklärt; wir gewinnen nur eine
Wegweisung, wie wir die Methode der Beziehungen anbringen, das heilst,
welches Glied des Widerspruchs wir M oder N nennen, und dem gemäfs
in die bekannten Formeln einführen sollen. Die Methode sagt voraus:
M werde sich vervielfältigen; die mehreren M werden durch gegenseitiges
In -einander -Greifen N zur Folge haben; demnach müssen wir A = M
setzen, damit das, was in unsrer Aufgabe die Stelle des Grundes ein-
nehmen kann, sie auch in der allgemeinen Formel wiederfinde.
Jetzt werde das Einzelne durchlaufen. Die Setzung des A soll a
jfo Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
enthalten; nun liegt in A kein Mannigfaltiges; also müfste A = a seyn;
allein das soll nicht gelten, denn beydes soll sich unterscheiden wie Ab-
solutes und Inhärirendes. Die unmögliche, und dennoch prätendirte Einheit
des A und a (oder b) ist demnach der gegebene widersprechende Hauptbegriff.
Seine beyden Glieder sind A und a. Wir sondern sie, damit sie denkbar,
— wir verknüpfen sie, damit sie güliig seyen. Diese Betrachtung über-
trägt sich, in Folge der Methode, und gemäfs der Vorerinnerung, insbesondre
auf A. Es ist mit sich selbst im Widerspruche, da es mit a identisch und
auch nicht identisch seyn soll. Nun kommt es darauf an, den Sitz des
Widerspruchs zu zerstören. Es kann also nicht einerley, nicht ein und das-
selbe A seyn, welches mit a identisch und auch nicht identisch seyn soll.
Nehmt mehrere AI Dais aber hiemit allein der Widerspruch nicht aufhören
würde, wissen wir aus der allgemeinen Darstellung der Methode (§. 186.).
Die letzte Forderung nun, da in den einzeln A sich der Widerspruch nur
wiederholen würde, lautet so: fafst die mehrern A zusammen ! Sucht das andre
Glied, a, oder b, in keinem einzelnen A, [121] sondern nur im Zusammen
der mehrern! Soweit reicht das von der Methode vorgeschriebene Verfahren;
es kommt nun darauf an, über die Bedeutung des Resultats nachzudenken.
Wenn nicht von denjenigen Merkmalen eines Gegenstandes, die in
seiner zufälligen Ansicht unterschieden werden könnten, die Rede seyn
soll; und doch irgend welche Bestimmungen angegeben sind, die ihm ver-
meintlich inhäriren: so ist dieses insofern ein Irrthum, als man glauben
würde, sie wohnten in ihm allein. Das kann gar nicht seyn; vielmehr
deutet das anscheinend inhärirend allemal auf eine Verbindung von
wenigstens zzvey, oder auch von noch mehr er n, Realen; wobey die Be-
schaffenheit der Verbindung fürs erste unbestimmt bleibt. Man kann dies
Resultat so aussprechen: der Schein der Inhärenz ist allemal die Anzeige
eines mehrfachen Realen.
Wünscht der Leser hier einen Ruhepunct, wie ihn die Erfahrung
darbieten kann: so taugt dazu gar wohl die bekannte Bemerkung, dafs die
Eigenschaften der Dinge unter äufsern Bedingungen stehn. Die Körper
sind gefärbt; aber Farbe ist nichts ohne Licht, und nichts ohne Augen.
Sie tönen; aber nur im schwingenden Medium, und für gesunde Ohren,
u. dergl. m. Farbe und Ton bieten den Schein der Inhärenz dar; sieht
man näher zu, so findet sich, dafs sie den Dingen nicht wahrhaft in-
wohnen, vielmehr eine Gemeinschaft unter mehrern Dingen voraussetzen.
Genug zur vorläufigen Erläuterung.
§• 215.
Jetzt ist es Zeit, dafs wir ganz bestimmt das Gegebene hervortreten
lassen, damit das bisherige will-[i2 2]kührliche Denken seine gesicherte
Bedeutung und Geltung erhalte.
Den Faden der jetzigen Betrachtung hatten wir in der Hand schon
am Ende des §. 201. „Die Empfindung (sagten wir dort) ist nöthig, um
dasjenige, was für real gehalten wird, vom blofs Gedachten, dem Ge-
dankendinge zu unterscheiden. Aber die unmittelbare Setzung trifft dennoch
nicht insbesondere die Farbe, oder den Ton: nicht den Geruch, oder Ge-
schmack; welches alles, sobald man es vereinzeln will, sich als blofses
2. Abschnitt. Ontologie. 4. Capitel. Vom Probleme der Inhärenz. 77
Merkmal des Dinges darstellt. Was ist denn nun das unmittelbar Gesetzte ?
Wir können leicht antworten; es ist die Einheit, die Complexion der Merkmale."
Nichts weniger, hören wir einwenden; das Ding ist keine Summe von
Merkmalen, sondern es hat diese Merkmale.
Also, fragen wir hinwiederum, ist das Ding doch wohl ein Gedanken-
ding? Denn das Ding ohne Merkmale, welches hier vorausgesetzt wird,
damit es erst hinterher die Merkmale annehmen, sich gleichsam damit be-
kleiden, sie nunmehr haben und besitzen könne, — ist offenbar kein ge-
gebenes Ding. Das Gegebene ist das Empfundene, und dessen Form;
sonst durchaus gar nichts.
Aber darin bestand gerade die Betrachtung, womit der angeführte
Paragraph schlofs, dafs schon der gemeine Verstand die absolute Position
nicht da lasse, wohin sie ursprünglich fällt, nämlich in der Empfindung.
Er kann das auch gar nicht. Denn das Empfundene ist beysammen in
gewissen Formen. Es bildet Gruppen, die wir Dinge nennen. Diese
Gruppen bestehen theils aus ei?ifachen Empfindungen, wie Ton, Farbe,
Geruch; theils aber aus Reihen von Empfindungen, und von schon ge-
bildeten Verknüpfungen derselben; da-[i23]hin gehört z. B. die Schwere.
Man sieht einen Körper fallen; das heifst, man bildet eine Reihe von
stets abgeänderten Raumbestimmungen, so dafs er immer näher dem Boden
gesetzt werde. Über diese Reihenbildung kann, wenn man will, die Psy-
chologie nachgesehen werden; hier hat die nähere Bestimmung, ivas für
Merkmale das seyen, welche zum Begriffe des Dinges zusammentreten,
gar keinen Einflufs. Blofs ihre Vielheit kommt in Betracht, sofern sie der
Einheit des Dinges entgegensteht.
Sollte die absolute Position in der unmittelbaren Empfindung bleiben,
oder auch derselben jetzt noch wieder zurückgegeben werden; so müfste
es möglich seyn, die einzelnen Empfindungen aus ihren Gruppen heraus-
zureifsen. Denn so lange sie darin bleiben, ist keine für sich; und keine
stellt dar, was an sich ist. Jede wird unter der Bedingung gesetzt, dafs
auch die andern, mit ihr verbundenen, gesetzt seyen. Das Gesetzte ist
nur Eins für die ganze Gruppe. Dieses Eine macht den Gegenstand der
Untersuchung aus. Was ist es? Ein Ding, das Merkmale hat? Nein!
Denn ohne diese Merkmale, und voraus vor denselben, als deren von
ihnen verschiedener Besitzer, ist es gar nicht gegeben. Ein Ding, das
aus Merkmalen besteht? Auch nicht. Denn keins dieser Merkmale existirt
für sich; und die Summe derselben ist eine Summe des Nichtigen, mithin
selbst Nichts. Also wollen wir vorläufig so sprechen: das Ding ist das-
jenige Unbekannte, und näher zu untersuchende, welches dergestalt gesetzt
wird, dafs seine Setzung die Stelle aller der absoluten Positionen vertrete,
die ursprünglich in den einzeln empfundenen Merkmalen lagen.
Mit Einem Worte: Das Ding ist die Substanz, welcher die Merkmale
inhäriren. Denn hiemit ist das eben gebrauchte Kunstwort erklärt; Substanz
ist [124] gerade nichts anderes, als das unbekannte Eine, dessen Setzung
alle diejenigen Setzungen repräsentirt, die ursprünglich den Merkmalen zu-
kamen.* Es versteht sich dabei von selbst, dafs der Repräsentant nichts
* Psychologie II, §. 139 — 141. [Band VI vorl. Ausgabe.] Nicht des Beweises,
sondern der Erläuterung wegen, wird diese Stelle angeführt.
_g Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
gilt ohne seine Committenten ; aber die Committenten sind hier von der
Art, dafs sie schlechterdings repräsentirt werden müssen.
§. 216.
Lassen wir jetzt für eine kleine Weile das Gegebene aus den Augen,
und überdenken blofs den Begriff, auf den wir kamen : so werden sich uns
die zufälligen Ansichten darbieten. Soll eine Setzung viele in sich fassen:
so mufs das Gesetzte der einen, gleichgeltend seyn dem Gesetzten der
vielen. Aber jenes ist unter Voraussetzung absoluter Position, wie sie der
Substanz zukommt, schlechthin einfach. Das Gleichgeltende dieses Ein-
fachen, welches selbst ein Mannigfaltiges enthält, bildet eine zufällige Ansicht.
So wären wir denn gar leicht allen Schwierigkeiten entronnen, und
die Untersuchung wäre zu Ende, noch ehe sie anfing. Die Merkmale
des Dinges wären zusammengenommen nur eine zufällige Ansicht desselben;
woraus denn sogleich die angenehme Hoffnung hervorgehn würde, dafs
wir ganz nahe dabev wären, zu erfahren, was das Ding an sich sey. Denn
so liegt es in der Natur der zufälligen Ansichten: kennt man sie, so ver-
schmilzt ihr Mannigfaltiges von selbst zur ungeteilten Einheit, in welcher
gar keine Vielheit jenes Mannigfaltigen mehr sichtbar bleibt (§. 2 II.).
Aber diese Betrachtung dient uns blofs, um die Aufmerksamkeit auf die
Hauptsache zu lenken. Wären [125] die Merkmale der uns bekannten Gegen-
stände der äußern und der inncrn Erfahrung so beschaffen, tvie die Theile
ei?ier zufälligen Ansicht es seyn müssen: dann hätten sie nicht auf uns ge-
wartet, dafs wir sie vereinigen, und aus ihnen eine Kenntnifs der Dinge
an sich machen sollten. Sondern sie wären längst, ja von jeher, in allen
Köpfen der Menschen zusammengeflossen; und Jedermann kennte die Dinge
an sich, ohne Möglichkeit irgend eines metaphysischen Zweifels.
Nun aber betrachte man das Gegebene schärfer! Erstlich ist es in
keinem Puncte vollständig beysammen. Jedes Ding kann neue Merkmale
bekommen durch neue Erfahrung und neue Versuche. Zweytens, die schon
vorhandenen Merkmale sind dergestalt disparat, dafs sie gar nicht zusammen-
fliefsen können. Die unmittelbare Empfindung lehrt jeden, dafs aus Ton,
Earbe, Geruch, schlechterdings nicht ein solches Eins entsteht, welches
ihnen gleich gelten d , und worin sie nicht mehr zu unterscheiden wären.
Nicht einmal die Empfindungen von einerley Classe gehen in eine mittlere
leicht zusammen. Man kann wohl auf einen Kreisel alle sieben Farben
des Prisma auftragen; aber wenn man ihn nicht sehr schnell dreht, so
sieht das Auge die Farben alle gesondert; und es darf Niemandem ein-
fallen, dafs etwa die prismatischen Farben für eine zufällige Ansicht des
Weifsen gelten könnten. Weder die Begriffe, noch die Empfindungen fliefsen
hier so zusammen, wie es geschehen müfste; und das Erstaunen dessen,
der zum erstenmale aus dem weifsen Sonnenlichte das bunte Spectrum ent-
stehen sieht, widerlegt jeden Versuch, den man machen könnte, die Spal-
tung des Lichts auf eine zufällige Ansicht zurückzuführen.
Desgleichen: hätten die innern Erfahrungen zusammenfliefsen wollen
zur Einheit: so wäre aus Seelenver-[i2 6]mögen längst eine Seele geworden.
Aber Verstand und Wille sträuben sich wie Ton und Farbe; sie wollen
nicht Eins werden, sondern Vieles bleiben. Darum findet man das Reale
2. Abschnitt. Ontologie. 4. Capitel. Vom Probleme der Inhärenz. jq
nicht, so lange man aus Verstand und Wille, sammt ihrer ganzen Sipp-
schaft, den Geist zusammensetzt.
Diese Spaltung nun, und der Widerstand, welcher sich sogleich ent-
gegenstellt, wo Jemand ohne Kunst, durch blofsen Befehl, Einheiten her-
vorzaubern will, in denen das Mannigfaltige verschwinden soll: diese starre
Sonderung des gegebenen Vielen ist der eigentliche Grund der Unter-
suchung. Die Natur im Grofsen wie im Kleinen und Einzelnen will zwar
nicht zersplittert, aber auch eben so wenig in Eins zusammengeprefst seyn;
sie führt zwar auf Einheit; wenn wir aber fragen: was für -Ems? so bleibt
der Gedanke leer.
Die Wissenschaft vermag nun allerdings Etwas, um diese Leerheit
leidlich auszufüllen. Aber nur langsam; durch schrittweise fortgehendes Den-
ken; und nach Verzichtleistung auf spinozistische Einheit, die vor meta-
physischer Prüfung nicht besser besteht, als das gemeinste sinnliche Ding.
Ausdehnung und Denken sind und bleiben zweyerley, wie Verstand und
Wille, Ton und Farbe; die Einheit beyder ist ein leeres Wort. Wäre die
spinozistische Substanz nicht ersonnen, sondern gegeben: dann würde sie
zwar mehr gelten wie jetzt; aber sie wäre nun Eins von den gegebenen
Problemen, und man müfste sie eben so behandeln, um aus ihr eine Er-
kenntnifs erst zu machen, dergleichen sie von selbst nicht darbieten könnte.
Freylich aber ist hier ein Punct, wo wir den Leser nicht überreden
wollen, sondern wo er selbst sich überzeugen mufs. Glaubt er, Ton und
Farbe, Verstand und Wille, Ausdehnung und Denken, so zusammensetzen
zu können, wie man aus zwey Seitenkräften eine [127] mittlere gleichgeltende
nach der Diagonale zusammensetzt; meint er wirklich, in jenen Fällen,
so wie in diesen, die Resultante angeben zu können; — welches unseres
Wissens noch niemals Einer versucht hat, weil noch niemals die Frage
aufgeworfen war; dann sind wir fertig mit unserm Vortrage, und haben
weiter nichts zu sagen.
Wer aber die Frage versteht, und aufrichtig gegen sich selbst ist, dem
liegt jetzt schon das Problem sammt der Auflösung vor Augen, bis auf
einen leichten Zusatz, den wir beyfügen werden. Um indessen auch den
geringsten Verdacht eines Sprunges zu vermeiden, wollen wir selbst jetzt
noch langsam gehn, und unsre Schritte zählen.
§.217.
Ein Gegenstand A sey gegeben durch disparate Merkmale (wie Ton,
Farbe, Geschmack), die sich recht wohl mit einander vertragen, und keines-
weges entgegengesetzt sind. Aber sie bilden eine Gruppe; sie können
einzeln nicht gesetzt werden, aufser so, dafs aus ihrer Verbindung die
Bedingung ihrer Setzung entstehe; die absolute Position derselben kann
nur Eine für Alle seyn (§. 215.). Hiedurch gerathen sie in Streit. Denn
die stellvertretende absolute Position soll einen jeden von ihnen genügen.
Aber sie lassen sich nicht zusammenfassen gleich den Theilen einer zu-
fälligen Ansicht. Und doch müfste dies geschehen, wenn das eine Gesetzte
der absoluten Position gleichgeltend ausfallen sollte mit dem Vielen, welches
wegen der streng und starr gesonderten Vielheit der Merkmale mufs ge-
setzt werden.
80 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Die gewöhnliche Schwachheit oder Sorglosigkeit der Menschen lälst
hier die eine Hälfte des Gedankens fahren über der andern. Die Acci-
denzen öder Attribute, [128] sagt man, wohnen in der Substanz. Wie
soll das zugehn? Das wissen wir nicht; verlangen es auch nicht zu wissen.
Was ist denn die Substanz? Das wissen wir nicht; wollen es auch nicht
wissen.
Aber ihr wifst sehr gut, dafs ihr Vieles vor Augen habt, welches
nicht Eins ist! Dieses Viele der Merkmale sollt ihr als Eins setzen, in
allen den Fällen, worin die Merkmale gegeben sind als Ein Ding. Hier
ist kein willkührliches Loslassen von der Aufgabe erlaubt. Kein System,
kein Mensch stellt ench die Aufgabe, sondern die Natur. Sie stellt sie euch,
wohin ihr nur blicken möget, in hunderten von Dingen vor Augen; und
ihr könnt derselben nicht entrinnen.
Es ist nun nicht genug, zu sagen, substantia prior est natura suis affectio-
nibus. Die Substanz mag früher seyn, aber wir wissen früher nichts von ihr.
Unser Recht und unsre Pflicht, sie zu setzen, ist nur durch die Merkmale
gegeben; und unsre Setzung derselben sollte deshalb zusammenfallen, Eins
seyn und Eins bleiben mit den Setzungen der Merkmale. Es seyen n Merk-
male gegeben; nach gewöhnlicher Weise setzen wir die Substanz dazu,
oder voraus; das giebt zusammen n -\- 1 Positionen. Aber das ist falsch.
Die Anzahl der Positionen soll sich, wie die Aufgabe vorliegt, nicht um
eine vermehren, sondern um gar keine. Die n Positionen sollen selbst Eine
werden.
Dies, was geschehen soll, kann aber nicht geschehen. Es ist wider-
sprechend. Und zwar ist hier nicht Ein Widerspruch, wohl aber einerley
Art ton Widersprüchen, — und von dieser Art sind so viele Exemplare vor-
handen, als wie viele Merkmale Eines Dinges gegeben vorliegen.
Jeder von diesen Widersprüchen besteht darin, dafs [129] die Hin-
deutung aufs Seyn, welche in jedem einzelnen Merkmale liegt, gleich seyn
soll mit der einen Hindeutung aufs Seyn, die insofern vorhanden ist, als
die sämmtlichen Merkmale sich wie Ein Ding darstellen. Die geforderte
Gleichheit ist unmöglich, weil dann jede Position zusammenfiele mit allen
übrigen, welches die disparaten, zu keiner zufälligen Ansicht tauglichen Merk-
male nicht gestatten.
Wenn diese Widersprüche anerkannt worden: dann ist unser erster
Schritt geschehen.
Der zweyte liegt im §. 214. Was dort einmal geschah, das mufs hier
so vielemal geschehn, als -wie viele inhärente Merkmale gegeben wurden.
Damit der dritte Schritt, den das Problem der Inhärenz erfordert, dem
Leser recht auffallend werde, wollen wir uns auf einen Augenblick einer
kleinen Achtlosigkeit hingeben.
Am angeführten Orte fanden wir den Satz: Der Schein der Inhärenz
ist allemal die Anzeige eines mehrfachen Realen. Also, fahren wir fort, wie
vielemal die Inhärenz erscheint, so vielemal setzen wir statt Eines realen
Wesens deren mehrere. Das Ding heifse A; dessen Merkmale a, b, c, . . .
Nun setzen wir mehrere A statt des einen A; jedoch nicht einmal, son-
dern vielemal. Wegen des ersten Merkmals a setzen wir A' -J- A' -\- A' -{-... ;
wegen des zweyten, b, setzen wir A" -\- A" -\- A" -\-...; wegen des dritten
2. Abschnitt, üntologie. 4. Capitel. Vom Probleme der Inhärenz. 8 1
Merkmals, c, setzen wir A'" -f- A'" -|- A'" -{-...; und so fort, bis allen den
gegebenen a, b, c, d, e u. s. w. Genüge geleistet worden.
So weit ist noch alles richtig. Wenn aber dies so verstanden wird,
als sollten die sämmtlichen A' A" A'" u. s. w. unter einander verschieden
seyn: so kann zwar die Methode der Beziehung nichts dagegen einwen-[i3o]
den; man hüte sich jedoch, sie deshalb eines Fehleis anzuklagen; denn
sie sagt nicht, ob diese A verschieden, und ob ihrer gerade so viele seyen,
als wie viele Buchstaben wir hingeschrieben haben.
o
§. 218.
Der Sinn der Auflösung ist zwar allerdings dieser:
Die Substanz ist kein Ding mit vielen Merkmalen; sie liegt auch diesen
Merkmalen nicht allein zum Grunde; sondern jedem derselben mufs
eine Vielheit des Realen vorausgesetzt werden.
Aber hier scheint die gegebene Einheit des Dinges ganz zersplittert
zu seyn. Warum? Weil noch eine nähere Bestimmung fehlt; und wir
haben schon im voraus (§. 213.) angekündigt, dafs sie anfangs fehlen würde.
Die Achtlosigkeit, der wir uns hingaben, bestand blofs darin, dafs
wir so verfuhren, als wäre die Methode der Beziehungen eine Rechnungs-
formel, in die man nur gegebene Gröfsen substituiren dürfte, um sogleich
ein völlig bestimmtes Resultat zu erhalten. Darüber schien die Einheit
des Dinges , die selbst eine Grundbestimmung des Problems ausmacht,
verloren zu gehn.
Man halte sie nun vest, während man zugleich die Methode anwendet.
So wird zwar A vervielfältigt; aber der Punct, von wo die Vervielfältigung
jedesmal ausgeht, bleibt immer der nämliche. Man setzt zwar die Reihen
A' -f- A' -f A' + . . .
A" -j- Ä" -j- A" -j- . . .
A"'-j- A"'-j- A'"-f- • • •
u. s. w.
Aber es versteht sich von selbst, dafs das erste Glied in allen diesen
Reihen dasselbe sev; und dafs die Reihen eigentlich* wie Radien von einem
Mittelpuncte [131] auslaufen. Denn allen diesen Reihen liegt das nämliche A
zum Grunde; es mufs nur so vielemal mit andern und wieder andern
zusammentreten, als nöthig ist, damit kein einziges gegebenes Merkmal
blofs und allein auf die Substanz, sondern jedes auf ein Zusammen von
mehrern realen Wesen bezogen werde. Dies ists, was die Methode der Be-
ziehungen fordert; und dann ist es noch nöthig, die Veränderung der Be-
griffe, die sie hervorgebracht hat, mit dem, was unverändert bleibt, ge-
hörig zu verbinden.
Hier können wir die Erinnerung an das Verfahren der Integral-
rechnung benutzen, um bemerklich zu machen, dafs es kein Fehler der
Methode ist, wenn sie Zusätze nach den Umständen gestattet. Jedem
Integral mufs die Frage nach einer Constante beygefügt werden, welche sich
aus dem Differential nicht finden läfst, sondern nur aus den Umständen,
unter denen die Integration geschieht. Will man gestatten, dafs wir in
der Vergleichung fortfahren, so werden wir sagen: Der Widerspruch ist das
Differential, die Vervielfältigung eines Gliedes ist die Integration; aber die
Herbart's Werke. VIII. 6
32 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Gleichsetzung aller ersten Glieder unserer Reihen war die Hinzufügung
der Constante.
§• 219.
Die Veränderung, welche in den Begriffen geschehen ist, wird viel-
leicht sehr unbedeutend scheinen, obgleich es die gröfste und für alle
Speculation die durchgreifendste ist, die sich irgend denken läfst. Wir
wollen es gar nicht scheuen, sie vorläufig den Bemerkungen derer Preis
zu geben, die eine blofse Begriffskünsteley darin erblicken werden.
„Was vorhin für falsch erklärt, und zurückgewiesen war" (wird man
sagen), „das kommt nun doch unverändert wieder zum Vorschein. Ver-
boten war, [132] „n -J- 1 Position zu machen, für n Merkmale. Nun setze
man die verschiedenen Exemplare des vervielfältigten A symbolisch auf
die Peripherie eines Kreises, und Eins derselben, das in allen jenen Rei-
hen das Gleiche seyn sollte, in den Mittelpunct. Offenbar ist es Cber-
flufs, wenn jede Reihe mehr als zwey Glieder hat; sie soll ja nur ein
Zusammen der mehrern A andeuten, und dazu ists an zweyen genug.
Folglich brauchen wir auf die Peripherie des Kreises nur so viele A zu
setzen, als Merkmale des Dinges gegeben sind; dazu nehme man die
Substanz im Centrum, so finden sich n ~\- 1 Positionen, und Alles ist beym
Alten geblieben."
An Einwürfe von solchem Gehalte ist der Verfasser gewöhnt; sie sind
nur nicht alle so brauchbar, um die Sache ins Licht zu setzen, wie dieser
hier seyn würde.
Wenn eine Substanz mit n Merkmalen dergestalt gesetzt wird, als
ob sie ihr gleich Attributen oder Accidenzen inwohnten, so kommen nach
gemeiner Ansicht n -J- 1 Positionen heraus, in bestimmter und geschlossener
Anzahl, so lange nicht etwa eine gröfsere Menge von Merkmalen gegeben
wird. Und darin liegt der Fehler. Jene Behauptung aber, als ob unsere
Reihen des vervielfältigten A gerade nur zwey Glieder nöthig hätten, ist
falsch. Blofs das ist wahr, dafs wir bisher noch keine Gründe gefunden
haben, um derentwillen sie mehr Glieder haben müfsten. Allein hier ist
eine offene Stelle für künftige Untersuchung in besondern Fällen; und
unsre Zahl ist nicht geschlossen.
Ferner, wenn wir uns auch der Kürze wegen begnügen, zvenigslcns
n -f- 1 Positionen anzunehmen, so ist doch der Sinn, worin wir sie jetzt
zulassen, völlig verändert. Oben redeten wir von dem gewöhnlichen Ver-
fahren, erst die Substanz, und alsdann gerade [133] in sie hinein ihre
n Merkmale zu setzen; mit der Einbildung, dieses scy der richtige und zu-
gleich der genügende Ausdruck des Gegebenen. Er ist aber nicht richtig, son-
dern das Voraussetzen der Substanz gleicht einer Erschleichung. Gegeben
sind die Merkmale; mit ihnen mufs man sich begnügen, so lange man vest-
hält am Gegebenen, ohne sich auf dessen notwendige Veränderung im Denken
eingelassen zu haben. Dann giebt es nur n Positionen; und diese fallen
nicht in eine vorausgesetzte, sondern sie müssen unter sich zusammenfallen,
und indem dies geschieht, die Position der Substanz bilden; welches nicht
möglich ist, und die Anerkennung des Widerspruchs erzwingt. Ganz an-
ders verhält es sich, nachdem diese Anerkennung geleistet worden. Nun
2. Abschnitt. Ontologie. 4. Capitel. Vom Probleme der Inhärenz. 83
verändert man die Zahl und den Werth der Positionen. Statt einer jeden
von den vorigen n Setzungen geschehen mehrere; aber verbundene. Keine
von allen fällt in die Substanz, wie in ein Gefäfs, hinein; sondern einige
dieser Positionen sind identisch, und ihr Gegenstand ist nicht mehr noch
weniger als die Substanz selbst; andre sind davon völlig verschieden, und
ihr Zusammenhang mit jenen ist für jetzt lediglich angedeutet durch den
dunkeln Ausdruck Zusammen; der aber, was er auch bedeuten möge, ge-
wifs auf Inhärenz führen kann, indem alle diese Positionen Vervielfältigungen
sind von A, welches von Anfang an als ein Reales gedacht wurde, daher
in allen den Vervielfältigungen überall reale Wesen gesetzt werden, und keines-
weges Attribute, oder Accidenzen, oder was sonst als inhärirend mag an-
gesehen werden.
§. 220.
Wenn das Vorige verstanden worden, so können [134] wir nunmehr
hoffen, den Hauptsatz deutlich zu machen, der aus der Untersuchung her-
vorgeht. Er lautet kurz so:
Keine Substantialität ohne Causalitäl !
Die Substantialität, oder der Grund, weshalb wir ein in Folge unserer
Erfahrung angenommenes, reales Wesen mit dem Namen Substanz belegen,
liegt ohne Zweifel darin, dafs sich dieses Wesen verräth, darstellt, zu er-
kennen giebt, durch eine Menge von gegebenen Merkmalen. Diese Merk-
male werden nach alter Weise eingetheilt in Attribute und modi ; in der
Meinung, jene lägen in demjenigen, Was die Substanz an sich und ur-
sprünglich ist, mit einem Worte, in ihrer Qualität. Alsdann bleiben die
modi als dasjenige übrig, was Ursachen haben mufs; dergestalt, dafs nach
der gemeinen Meinung, die man in den alten Compendien ganz schulgerecht
durch Definitionen und Divisionen bestimmt und bevestigt findet, unser
obiger Satz so verändert würde: Die Attribute haben keine Ursache, wohl
aber die modi.
Wenn nun irgend ein Ding an sich Substanz wäre, so müfste es bey
dieser Behauptung, dafs die Attribute keine Ursache hätten, sein Bewenden
haben. Wir aber sagen :
Es giebt gar keine Attribute, als Correlaie der Substanz.
Diese nähmlich wären ein Vieles in der ursprünglichen i Qualität, wel-
ches wir oben (§. 207.) verworfen haben. Und hiemit hing erstlich unmittel-
bar unsre Behauptung, dafs das in unserer Erfahrung Gegebene sich in dem
Puncte der Inhärenz selbst widerspricht, genau zusammen; zweytens folgt
daraus sogleich, dafs nunmehr die Schuld der Inhärenz (gerade wie die
der Veränderung) geschoben werden mufs auf hinzutretende Ursachen.
Wenn wir wegen des Accidens a die erste Verviel-[i35]fältigung des
A vornehmen, und statt seiner setzen : A' -j- A' -f- A' -\-..., so ist von diesen
A' das erste, wie schon gesagt, die Substanz, aber das zweyte und die fol-
genden sind zusammengenommen die Ursache von a. Desgleichen, wenn
wir wegen des Accidens b die zweyte Vervielfältigung des A vornehmen :
so ist zwar das erste der deshalb gesetzten A" -J- A" -j- A" -{-... wiederum
1 „ursprünglichen" nicht doppelt gesperrt. SW.
gl Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
einerley mit dem ersten A'; ohne irgend einen Unterschied, denn wir sind
blofs zum zweytenmale veranlafst worden, das Nämliche, die Substanz, zu
setzen. Aber das zweyte und die folgenden A" sind zusammengenommen
die Ursache von b. Eben so, wenn wir wegen des dritten Accidens c zum
drittenmale A vielfach setzen: so wird nochmals auf neuen Anlafs dieselbe
Substanz gesetzt, und sie erscheint jetzt als der erste der A'" -f- A'" -f-
A'" -{-... Hingegen das zweyte A'", und die folgenden zusammengenommen
die Ursache von c. Und so geht es fort, wie viele Merkmale auch dem
Dinge zukommen mögen.
Denn wie viele siimliche Merkmale, so viele Ursachen!
Ob diese Ursachen jede einfach oder vielfach seyen, das wissen wir
jetzt noch nicht; darum setzen wir solche Reihen für dieselben, die sich un-
bestimmt verlängern lassen; es ist aber möglich, dafs in allen diesen Reihen
das zweyte Glied genüge; dann ist jede Ursach * einfach. Nur das erste Glied
genügt niemals; weil das reale Wesen, das wir Substanz nennen, nicht
von selbst Substanz seyn kann; oder mit andern Worten, weil es nicht selbst
die Schuld tragen kann, dafs in dem Begriffe, welchen wir von ihm bekomme?i
haben, sich Vielheit und Einheit -widersprechen.
[136] §. 221.
Ist nun unser Hauptsatz, nach Kants Bezeichnung, analytisch oder
synthetisch? Niemand wird ihn für analytisch halten; und gerade deshalb,
■weil er nicht analytisch ist, wird Jeder, wenn er ihn zum erstenmale hört,
versuchen, ihn für falsch zu erklären.
„Warum sollte es keine Substantialität geben ohne Causalität? Zer-
gliedern wir den Begriff, so finden wir ja nur die Vielheit des Inwohnens
von allerley Bestimmungen, Accidenzen und Attributen; was aber der
Substanz nicht inwohnt, das gehört nicht zu ihr, und geht sie nichts an."
So ungefähr lauten die analytischen Betrachtungen, in denen mit der
alten Metaphysik der gemeine Verstand einstimmt. Darin findet sich aller-
dings nichts von Causalität. Der höchste Punct, welchen die Analyse er-
reichen könnte und sollte, wäre der Widerspruch, den die alte Schule in
dem substantiale wirklich gefunden hatte, obgleich es ihr nicht einfiel, ein
so hartes Wort auszusprechen. Dasjenige in der Substanz, dem die Acci-
denzcn inwohnen können, soll das substantiale seyn. Was ist denn das?
Ohne Zweifel nicht das Eine reale Wesen selbst, sondern dasjenige in dem
Einen, was sich darbietet, Vielem gleich zu werden. Was bietet sich denn
dazu dar? Was in dem realen Wesen hat Lust, sich zu spalten, und von
sich selbst abzuweichen?
Hätte man sich so gefragt (und Platon sammt den Eleaten kannten
diese Frage sehr gut!): so hätte man bald eingesehen, dafs die Analyse
blofs dazu dient, den innern Fehler des Begriffs aufzudecken. Dann wäre
die Synthesis nothwendig geworden, welche zeigt, dafs die Inhärenz, und
die Veränderung (von der wir im nächsten Capitel sprechen werden) gleich
nothwendig den Begriff der Ursache herbeyführen.
[137] Unser Satz ist demnach unstreitig synthetisch; das heifst, er kommt
1 Ursache. SW.
2. Abschnitt. Ontologie. 4. Capitel. Vom Probleme der Inhärenz. $e
zu Stande, indem wir dem Subjecte, das ein gewisses Prädicat nicht ent-
hält, und gerade deshalb sich innerlich widerspricht, die Beziehung auf
dieses Prädicat nachweisen.
§. 222.
Was thut denn nun die Ursache? Und was leidet die Substanz?
Und wie hängt mit ihr das Accidens zusammen, das sie vermöge der Ur-
sache soll bekommen haben? — Wenn wir das Alles noch nicht wissen (und
freylich ist bisher noch nichts davon vorgekommen), welche Aussicht haben
wir denn, etwas davon zu erfahren? Oder sind hier die unübersteiglichen
Schranken des menschlichen Wissens?
Wir wollen für einen Augenblick annehmen, die Untersuchung ginge nicht
weiter; so würden wir gleichwohl schon einige Berichtigungen der gewöhn-
liehen Meinung, wie sie sich in jenen Fragen ausspricht, anzumerken haben.
Die Ursache soll etwas thun, und die Substanz soll leiden? Die Unter-
suchung sagt davon Nichts. Wenn man A' -\- A' -|- A' setzt: so sind die
drey Zeichen gleich; weil sie gleichen Begriffen angehören. Das erste von
diesen Zeichen bedeutet freylich die Substanz, das zweyte sammt den fol-
genden die Ursache; weil das erste als dasjenige angesehen wird, welches
vervielfältigt wurde, indem der Irrthum, es sey an der Substanz genug,
verschwand. Nämlich es fand sich, dafs zwar wohl dasjenige reale Wesen,,
welches wir Substanz nennen, an sich selbstständig seyn möchte; dafs es
aber keinen selbstständigen Grund seines Accidens a enthalten könne. Darum
nahm man statt des einen mehrere. Und so nahm man, um zu dem Acci-
dens b hinreichend Grund zu finden, wiederum statt [138] des einen
mehrere; aber von den mehrern mufste nun eins zusammenfallen mit einem
von jenen mehrern, die man wegen des ersten Accidens a gesetzt hatte.
Sonst wäre die Einheit des Dinges verloren gewesen. Welches war nun
die Substanz und was litt sie? Welches waren die Ursachen, und was
thaten sie? — Man sieht, dafs die Begriffe vom Thun und Leiden hier
schlechterdings nicht passen. Wenn man das erste der A' und das erste
der A" gleich setzt, weil dieses Zeichen blofs auf verschiedenen Anlafs
durch verschiedene Accidenzen, zum Vorschein kamen: so ist die durch beyde
bezeichnete Substanz nur eine und dieselbe. Hingegen das zweyte der
A' und das zweyte der A" können nicht eins und dasselbe bedeuten:
denn jenes bezeichnet die Ursache des Accidens a, und dieses die
Ursache des Accidens b. Aber a und b sind verschieden, vermöge
der Voraussetzung; folglich müssen auch die Ursachen verschieden
seyn, die zu der Substanz hinzukommend jene Accidenzen begründen.
Welches ist nun der Unterschied zwischen Substanz und Ursache? Dieser,,
dafs wir von der Substanz ausgingen, die Ursachen als mehrere und
verschiedene aber hinzunahmen. Sonst ist kein Unterschied da! Gerade
im Gegentheil: wir haben den Begriff A vervielfältigt, und dadurch
beydes, sowohl Substanz als Ursache erhalten. Jene war nur das
erste Glied in jeder Reihe, und alle ersten Glieder fielen zusammen in
Eins (§. 218.); aber nimmermehr konnte uns die blofse Vervielfältigung
eines und desselben Begriffs > A, eine solche Bestimmung der Glieder in
1 eines und desselben A. SW. („Begriffs" fehlt).
86 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 182g.
unsern Reihen hergeben, als ob eine specifische Verschiedenheit unter
ihnen dergestalt bestünde, dafs eins derselben gerade seiner Natur nach
Substanz, und nur diese, das andre Ursache, und nur diese, seyn müfste!
Sondern die Ausdrücke bezeichnen nur verschiedene Rücksich-[i3Q]ten,
in welchen wir im Laufe unseres Denkens die einzelnen realen Wesen
unterscheiden. Übrigens mögen wirklich die Wesen verschieden seyn; ja
sogar im allerhöchsten Grade verschieden/ Es ist schon hier klar, dafs die-
jenigen, welche zur nämlichen Substanz als Ursachen verschiedener Acci-
denzen hinzukommen, auf irgend eine Weise verschieden seyn müssen;
sonst wäre der Grund gleich, also auch die Folge gleich. Aber das sind
verschiedene Ursachen; kein Unterschied zwischen Substanz und Ursache;
dem Leidenden und dem Thätigen. Vor Sprüngen müssen wir uns hüten,
denn wer weifs, was die fernere Untersuchung noch lehren mag? aber
wir wollen uns doch merken:
dafs bisher noch kein Unterschied zwischen Thun und Leiden gefunden,
sondern die Ausdrücke Substanz und Ursache, blofs um verschiedener
Rücksichten auf den Lauf des Denkens willen, sind gebraucht worden.
Wenn nun der Leser klagt, auf die erste Frage nur eine ausweichende
Antwort bekommen zu haben, so wird doch diese Klage im sechsten Ca-
pitel der Ontologie schon erledigt werden. x\ber schlimmer steht es um jeue
zweyte Frage nach dem Zusammenhange des Accidens mit der Substanz.
Davon kann nicht die Ontologie, nicht einmal die Synechologie, sondern
erst die Eidolologie, hinlängliche Auskunft geben. Warum? Das Accidens,
welches wir in dem gegebenen Dinge finden, liegt gar nicht in der Sub-
stanz, der wir es zuschreiben; es liegt in uns; es ist unsre Vorstellung.
Wir gingen vom Gegebenen aus; und dachten zu den Merkmalen, die
wir empfanden, oder die zu den Formen gehörten, unter welchen das
Empfundene gegeben wird, — die Substanz hinzu. Ist denn nicht auch
die Substanz in uns? Vielleicht; aber nicht gewils; [140] denn um dies zu
entscheiden, mufs zuvor der Idealismus erwogen werden. Hingegen, was
wir empfinden, und unter welcher Form wir es empfinden, das ist geivifs
in uns; und sein Verhältnifs zu den hinzugedachten Substanzen hat die
Eidolologie zu untersuchen.
§• 223.
Der Causalbegriff, so wie ihn das Problem der Inhärenz herbeyführt,
enthält keine Zeitbestimmung. Die Ursache ist weder früher noch später
als die Wirkung. Sondern eben jetzt, indem wir die Inhärenz wider-
sprechend finden, erklären wir die Substanz für unzureichend, ihre Acci-
denzen zu begründen; eben jetzt sagen wir, dafs so viel Ursachen vor-
handen seyn müssen als Accidenzen.
Hiebey setzen wir allerdings die Ursachen voraus; aber wem voraus?
Unserm Denken und Finden derselben. Unsre Gedanken brauchten Zeit;
sie gingen aus von der Substanz, und waren mit derselben früher be-
schäfftigt; sie langten an bey den Ursachen, und das geschah später.
Diese Succession soll nun in der Sache nicht liegen. Noch ehe und be-
vor wir an Ursachen dachten, müssen sie da gewesen seyn. Denn wenn
wir im Denken einen Widerspruch auflösen, so ist doch der reale Gegen-
2. Abschnitt. Ontologie. 5. Capitel. Von der Veränderung. 37
stand des Denkens nicht erst unmöglich und dann möglich; sondern er war
und ist und bleibt immer möglich. Darum setzen wir die Ursachen vor-
aus, in Rücksicht auf uns: jedoch nicht in Rücksicht auf das Accidens,
was sie bewirken.
Es verhält sich mit dieser Zeitbestimmung eben so wie mit dem Thun.
Wir rechnen die Accidenzen zur Substanz; aber wir rechnen sie auch den
Ursachen zu; eine doppelte Zurechnung, die sich dadurch unterscheidet,
dafs wir früher wegen der Gruppe von Merkmalen, die wir ein Ding
nennen, die Substanz setzten; [141] und später erst entdeckten, man müsse
zu ihr, der Einen, noch Vieles, die Ursachen hinzufügen, um den Ge-
danken vesthalten zu können. In der zweyten Zurechnung heifsen die
Accidenzen nun Wirkungen ; und es ist sehr klar, dafs hier ein neuer
Name nothwendig war. Denn wie, wenn Jemand sagte: „ihr rechnet das
Accidens auf gleiche Weise zu der Substanz und zu der Ursache, also
könnt ihr eben so gut die Ursache für die Substanz nehmen; alsdann wer-
den die Worte Wirkung und Accidens gleichbedeutend" — ? Darauf wür-
den wir ihn fragen, ob denn die Ursache des Accidens a auch in Ver-
bindung stehe mit dem Accidens b? Und er würde einsehn, dafs die
Ursachen, als fremd und zufällig, herbevkommen, um Accidenzen zu be-
gründen, die zwar, ihrer Beschaffenheit nach, einander gegenseitig fremd,
aber in der Form einer Gruppe verbunden, auf Eine Substanz hinweisen,
ohne welche die Hindeutung aufs Seyn, die in dem Ganzen des gegebenen
Dinges liegt, aus einander fallen würde. Die Substanz repräsentirt die
Einheit der Gruppe von Merkmalen, die Ursachen übernehmen die Schuld
des Vielen und Fremdartigen in der nämlichen Gruppe.
Aber diese ganze Unterscheidung leistet, wie wir im vorigen $. schon
sahen, nichts, um einen realen Unterschied des Leidens und Thuns zwischen
Substanz und Ursache zu finden. Eben so leistet das Voraussetzen de?
Ursache, dergestalt, dafs sie schon dagewesen seyn müsse, ehe wir sie be-
merkten, auch nichts, um ein Vorher und Nachher in Ansehung der Lage
der realen Wesen vestzustellen. Sondern hier sind Fälle, in welchen gegen
die Verwechselung des Denkens und Erkennens mufs gewarnt werden.
Mit dieser Zeitbestimmung wird es sich nun ganz anders verhalten
im nächsten Capitel. Auch dort wer-[l42]den wir auf Ursachen kommen.
Das reale Verhältnifs der Wesen, die sich wie Substanz und Ursache ver-
bunden finden, wird dort das nämliche bleiben wie hier. Allein es wird
eine Nebenbestimmung daran haften, die kein Prädicat eines Realen, und
dennoch für künftige Untersuchungen wichtig ist.
Fünftes Capitel.
Von der Veränderung.
§. 224.
Nicht eben die kleinste Schwierigkeit des bisher Vorgetragenen liegt
in der geforderten logischen Höhe der Abstraction. Gewifs kostet es Mühe,
38 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfangen etc. 1829.
sich im Denken auf einem Standpuncte vestzuhalten, von welchem alle
Gegenstände der gemeinen, und die meisten selbst der wissenschaftlichen
Kenntnifs uns herabzuziehen streben. Die Abstraction besteht hier nicht
blofs darin, von Vielen das Ungleiche abzustreifen und das Gleichartige
vestzuhalten: sondern sich eines natürlichen Laufes der Vorstellungen zu
erwehren, zu welchem doch alle Beyspiele, deren man gedenken möchte,
einladen. Denn welche Dinge sich uns als Substanzen darstellen, dieselben
zeigen sich auch veränderlich. Daher ist die Neigung, die Substanz nicht
blofs als zeitloses Subject einer Gruppe von Merkmalen, sondern sogleich
auch, mit Rücksicht auf die Zeit, als das Beharrliche im Wechsel zu defi-
niren, so grofs, dafs Kant so wenig als Wolff sich dessen enthalten hat.
Und in einer eigentlichen Ontologie wenigstens, ist dieser Fehler keines
Ersatzes fähig. Man mag immerhin den Abstractionen wenig Werth bey-
legen; aber wenn man [143] sich auf sie einläfst, so mufs man sie richtig
ausarbeiten.
jetzt aber, nachdem wir das Problem der Inhärenz, ohne an irgend
einen Wechsel zu denken, hoffentlich deutlich genug abgehandelt haben,
soll es uns willkommen sevn, dafs wir dem Drange nachgeben dürfen,
welchen alle unsre natürlichen Auffassungen uns empfinden lassen. Das
Dauernde, was der Mensch mitten in den Strömungen der Zeit so ängst-
lich sucht, soll nun auch der folgenden Untersuchung zum Gegenstande
dienen.
Wir könnten zwar sogleich die vorigen Betrachtungen nach der Vor-
schrift des §. 190. fortsetzen. Was heifst, was bedeutet das Zusammen der
Substanz und der Ursache? Was geschieht da, wo zwey reale Wesen in
Verbindung treten? Das ist die Frage, zu der wir übergehn sollen. Denn
in dem Zusammen soll, laut der Methode der Beziehungen, das Geheimnifs
verborgen liegen, was uns zu errathen aufgegeben ist. In dem Zusammen
der realen Wesen mufs etwas geschehn, wodurch, wenn nicht unmittelbar,
so doch mittelbar, diejenige Mannigfaltigkeit entsteht, welche sich unsern
Augen als ein Vieles der Eigenschaften eines Dinges darstellt. Welches
Gegentheil der mehrmals erwähnten qualitativen Atomistik ($. 212.) sollen
uns denn jene zufälligen Ansichten gewähren, von denen wir schon vor-
aussehn, dafs sie auf das Reale müssen übertragen werden, um die Ge-
meinschaft der Wesen richtig zu denken?
So dringend auch diese Frage scheinen mag, so setzen wir sie den-
noch jetzt bey Seite, und verschieben sie aufs nächste Capitel. Die Ver-
änderung wird uns nicht zerstreuen, sondern selbst wieder dorthin lenken.
Denn sie ist gleichsam gepfropft auf die Inhärenz, zu der sie nur die
neuen Gegensätze hinzubringt, welche in der Succession liegen. Der Wider-
spruch, den schon [144] die Vielheit simultaner Merkmale Eines Dinges
erzeugt, springt noch klärer hervor, wenn das Ding in den Spaltungen der
Einheit sich nicht einmal gleich bleibt. Man möchte die Inhärenz mit
der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, die Veränderung mit der be-
schleunigten in gekrümmten Bahnen vergleichen. Wer ganz arglos die gerade
fortrückende Bewegung als einfache Erscheinuno; eines Naturgesetzes betrach-
tet, weil sie ja doch in ihrer Unbeständigkeit beständig ist: der nimmt wenig-
stens so viel wahr, dafs Geschwindigkeit und Richtung bleiben sollten, wie
2. Abschnitt. Ontologie. 5. Capitel. Von der Veränderung. 8q
sie einmal sind, und dafs man fragen müsse nach der Kraft, wodurch Be-
schleunigung und Krümmung des Weges hervorgebracht seyen? So nun
auch hat die Veränderung eher als die Inhärenz ein lebhaftes metaphysisches
Nachdenken geweckt, das nur zu frühzeitig ermattete, und späterhin lieber
gemieden als erneuert wurde.
§• 225.
Wir verweilen einen Augenblick bey diesem merkwürdigen Unter-
schiede in der Philosophie der Alten und der Neuern. Bey jenen trieb
Heraklit die Sache auf die Spitze, als er vom allgemeinen Flusse der
Dinge, und vom Seyn. und Nichtseyn redete (§. 131, 132.). Der Stein
des Anstofses war hiemit recht eigentlich auf die Strafse gewälzt; und
man mufste Gewalt versuchen, um ihn wegzuschaffen. Wer wird hier nicht
an Parmenides, Zeno, Plato, denken? — Die Alten hielten ihren Blick
gerichtet aufs Gegebene; ihre Sorge war, wie dieses sich möge fassen und
halten lassen.
Im sonderbaren Contraste dagegen meinte die neuere Metaphysik
ihre Schuld durch logische Bestimmungen abzutragen. Sie unterschied die
Essenz und die Existenz. In jene, — das heifst, in ein blofses Gedanken-
ding, verlegte sie das Unwandelbare, durch den Satz: [145] cssential, essentialia
et attributa sunt absolute et interne immutabiles. Nun, meinte sie, könne die
Veränderung den Dingen doch nicht ins Herz dringen ! Die Existenz im
Gegentheil war nur ein modus; diesen konnte man geben und nehmen
(§. 9.); das Ding selbst blieb unbeschädigt; es behielt ja die Bestimmung
dessen, Was es sey; wenn auch der geringfügige Umstand des Seyn ins
Nichtseyn überging.
Das ist das Philosophiren in hohlen Begriffen, welches ursprünglich
die Protestationen veranlafste, die ganz neuerlich in die lächerlichen De-
clamationen gegen „Reflexionsphilosophie" ausgeartet sind.
Unstreitig wird alles Philosophiren unnütz, sobald es den Zusammen-
hang mit dem Gegebenen verliert. In derjenigen Untersuchung, welche
uns im vorigen Capitel beschäfftigte, war unsere Sorge vorzüglich darauf
gerichtet, dafs man sich nicht erlauben solle, die Substanz als ein Ge-
dankending außer und neben den Accidenzen zu setzen, als ob der Ver-
stand etwan aus eignen Mitteln sie hinzufügen dürfte zur Erscheinung
(die bekannte Weise der Kantianer), während die Setzung der Substanz
ursprünglich nur insofern gerechtfertigt ist, als sie die Setzungen der erfahrungs-
mäfsig gegebenen Accidenzen repräsentiren, und aus ihnen zusammenfliefsen
soll. Könnte sie, was sie soll, so wäre an kein Hinzufügen zu denken.
Mufs aber einmal hinzugefügt werden: so mufs man es recht machen, das
heifst so, dafs der im Problem liegenden Forderung Genüge geschehe.
In demselben Geiste nun soll auch das Problem, was in der Ver-
änderung liegt, behandelt werden. Die Ursache soll nicht aus einem Vor-
rathe schon fertig liegender Begriffe, wie aus einer Apotheke als Heilmittel
geholt, und nach Verordnung gebraucht werden, um die Veränderung
unsern einmal vorhandenen Vorstellungsarten anzupassen. Wenn sich die
Veränderungen so [14Ö] denken lassen, wie sie gegeben sind, so soll nichts
hinzugefügt werden. Wenn aber im Denken des Gegebenen die Noth-
OO Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
wendigkeit einer Umbildung des Begriffs zu Tage kommt, so soll dieser
gegebene Begriff der Veränderung überall, wo er vorkommt, sich die Um-
bildung gefallen lassen.
S. 226.
s
Indem wir uns nun anschicken, in dem Geiste der vorigen Unter-
suchung fortzufahren: finden wir die Scene bedeutend verändert. Wir
wissen schon voraus, welches Resultat wir erhalten werden. Der obige
Satz: keine Substantialität ohne Causalität, konnte befremden. Der Satz:
keine Vaändernng ohne Ursache, befremdet Niemanden. Wer hat uns denn
hier vorgearbeitet? Die Philosophen haben sich nur gewundert über den
Causalbegriff, an ihm gezweifelt, ihn umgangen, beschränkt und verdorben.
Der gemeine Verstand war es, der uns vorarbeitete; er fügt die Ursache
als nothwendige Voraussetzung zur Veränderung. Warum thut er das? so
fragen die Philosophen, und konnten sich in den natürlichen und noth-
wendigen Gang der menschlichen Gedanken nicht finden.
Je gewisser nun hier unsre Untersuchung in das Gleis der gemeinen
Vorstellungsarten hinein geräth: desto mehr mufs sie sich hüten, nicht
unwillkührlich von diesem Gleise forts;ezo2;en zu werden. Es könnte doch
leicht begegnen, dafs im gemeinen Denken etwas Voreiliges läge, welches
den Philosophen, die sich demselben nicht fügen wollten, zur Ent-
schuldigung gereichte.
Schon im vorigen Capitel haben wir die Meinung, dafs die Ursachen
etwas thun, und die Substanzen etwas leiden, verdächtig gefunden. Zwar
den Ausdruck Ursache hatten wir nöthig, weil zu einem realen We-[i47]sen,
das wir Substanz nannten, ein anderes, oder mehrere andere reale
Wesen hinzukommen müssen, wenn die Substanz nicht offenbar unfähig
seyn soll, Accidenzen zu tragen, wie es ihr Name mit sich bringt. Aber
man könnte es uns verdenken, dafs wir ein bekanntes Wort, wie das Wort
Ursache, nicht ganz im bekannten Sinne gebrauchten. Ursachen, könnte
man sagen, thun etwas; aber es ist überall noch nicht gezeigt, wie denn
die Ursachen es machen sollen, den Substanzen zu ihren Accidenzen zu
verhelfen. Bis dahin hätte der Gebrauch des Worts Ursache vermieden
werden sollen, denn Ursachen, die nichts thun, sind keine Ursachen.
Bequem wäre es, darauf blofs mit einer Gegenfrage zu antworten.
Wifst ihr denn, was die Ursachen dann eigentlich thun, wann sie Ver-
änderungen bewirken? Wollt ihr nicht dem Gebrauche des Worts Ursache
so lange entsagen, bis ihr das Wirken der Ursachen mit eignen Augen
gesehen, und uns von dem, was ihr erblicktet, benachrichtigt habt?
Anstatt aber auf diese Weise den Ball blofs hin und her zu werfen,
erinnern wir lieber den Leser, dafs Leibnitz, um die causa transiens zu
vermeiden, sich die Schwierigkeiten der prästabilirten Harmonie, Spinoza
aus gleichem Grunde die der causa immanens gefallen liefs; dafs Kant sich
sogar mit einer blofsen Regel der Zeitfolge für Erscheinungen begnügte,
und dafs ein Heer von Nachfolgern diesen Gedanken als einen Triumph
der Willcnsfreyheit pries und feyerte. So leicht nun der Begriff der Ur-
sache gewonnen wird, so schwer ist es doch nach diesen speculativen Er-
fahrungen, ihn vestzuhalten, und zu vertheidigen. Darum ersuchen wir
2. Abschnitt. Ontologie. 5. Capitel. Von der Veränderung. qi
den Leser im Voraus, genau beachten zu wollen, ob denn in unserer Unter-
suchung sich die Ursache auch behaftet zeigen wird mit der Eigenschaft,
[148] dafs sie aus sich heraus, in ein Leidendes hineingehe, um darin
etwas, demselben Fremdartiges, zu schaffen; wodurch sie Widersprüche
sowohl im Thun als im Leidenden hervorbringen würde, die Niemand als
gegeben nachweisen, Niemand vernünftigerweise einer speculativen Methode
unterwerfen könnte.
Die wahre Metaphysik mufs einen solchen Gang nehmen, dafs sie
den Schwierigkeiten, die nicht gegeben, sondern aus Fehlgriffen entstanden
sind, vorbey geht, sie zur Seite liegen läfst, als etwas, das für sie eigentlich
gar nicht vorhanden ist, und dessen sie nur gelegentlich erwähnt, um vor
den Verirrungen zu warnen, die aus Unbehutsamkeit leicht begangen werden.
§• 22J.
Es ist unmöglich, dafs ein Ding zugleich sey und nicht sey. Diesen
Satz räumt Jedermann willig ein. Wir werden hier einen bequemen An-
knüpfungspunet der Untersuchung finden; indem wir es in Frage stellen,
ob das Zugleich etzvan die Bedingung und die Gränze der Unmöglichkeit an-
gebe? Man versuche also, das Zugleich hinwegzunehmen, und überlege, was
daraus folge ?
1) Sollte ein Ding abwechselnd sevn und nicht seyn: so würden die
Zwischenzeiten, in denen es nicht wäre, sein Daseyn dergestalt zerbrechen,
dafs es jeden Zusammenhang mit sich selbst verlöre. Die zweyte Periode
seiner Existenz wäre der erstem fremd; und man würde es nicht unter-
scheiden können von einem ganz neuen, dem vorigen nur ähnlichen, nicht
identischen Gegenstande. Wollte aber Jemand, um das Äufserste zu thun,
es dennoch für alle Zeiten als dasselbe vesthalten: so müfste er, abstra-
hlend von der Zeit, den Unterschied des Vorher und Nachher, durch
welchen die Perioden des verlornen und wiedergewonnenen Daseyns ge-
trennt waren, ganz weglas-[i49]sen. Wird nun die Zeitbestimmung auf-
gehoben, so dafs die Zeitpuncte zusammenfallen: so fällt auch das Seyn
und Nichtseyn, was jetzt nicht mehr durch die Verschiedenheit der Zeiten
gesondert ist, in Einen Begriff zusammen. In jedem Augenblick, worin man
diese Vorstellung des Dinges vesthält, setzt man es zugleich, und ohne
Unterschied, als seyend und nicht seyend, welches der offenbare Wider-
spruch selbst ist. Also die vorher gemachte Zeitbestimmung, das Ding
könne nicht zugleich seyn und nicht seyn, war ganz fruchtlos ; sie fällt aus
dem Begriffe von selbst wieder heraus, sobald man den Gegenstand selbst
als einerley Subject für die auf verschiedene Zeitpuncte vertheilten Be-
stimmungen auffafst.
2) Jetzt setze man statt eines Wechsels im Dasevn den Wechsel der
Qualität, das heifst, die Veränderung. Das Ding soll beharren im Seyn,
aber es soll bald ein solches, bald ein anderes seyn. Dem Scheine nach
hält nun wiederum die Zeitbestimmung das Entgegengesetzte der Quali-
täten auseinander; und wenn das Ding blofs am Seyn genug hätte, ohne
irgend Efzuas zu seyn, so wäre hiemit der Widerspruch vermieden. Die
Identität würde sich halten an dem blofscn beharrlichen Seyn ; ohne Rück-
sicht auf die Qualität. Aber das Seyn ist gar keine Bestimmung des Dinges,
Q2 Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 1829.
sondern blofs der Art, wie wir es setzen (§. 202.). Hat es also eine ge-
wisse Qualität nur zuweilen, mit Unterbrechungen, und in den Zwischenzeiten
eine andere: so ist ein und dasselbe Ding höchstens in den Perioden vor-
handen, worin es sich selbst gleich ist. Die Zwischenzeiten füllt ein anderes
Ding aus, das an seine Stelle trit. Aber damit fallen wir dennoch, und
sogar zwiefach, in den vorigen Fehler zurück; nämlich in den Begriff eines
unterbrochenen Daseyns (worin, wie schon gezeigt worden, die Zeitbe-[i5o]
Stimmung ganz unnütz ist, um den Widerspruch abzuwehren). Denn sowohl
das eine als das andre Ding unterbricht sich im Daseyn.
3. Der bekannte Satz: /';/ allem Wechsel beharre die Substanz, giebt
eine ganz leere Vorstellung von der Substanz; als ob das blofse Seyn, ohne
Qualität, einen haltbaren Begriff darböte. Eine bestimmte Substanz kann
nur gegeben und von der andern unterschieden werden durch die Gruppe
von Merkmalen, um derentwillen sie gesetzt wird ; und eine Position der-
selben, die nicht hievon ausginge, wäre gar keine; wie oben (§. 217. u. s. f.)
ausführlich ist gezeigt worden. Wechseln die Merkmale, so wechselt die
Substanz, die um ihrentwillen gesetzt wird.
Wenn also ein Gegenstand dergestalt gegeben wird, dafs wir dessen
Qualität als veränderlich betrachten müssen, so ist ein Widerspruch ge-
geben.
Ob aber Gegenstände mit veränderlicher Qualität gegeben werden, das
wollen wir nun weiter untersuchen.
§. 228.
Niemand zweifelt, dafs Veränderungen in der Erfahrung gegeben
werden. Dennoch ist Einiges hiebey zu bemerken.
Man unterscheidet gemeinhin wesentliche und zufällige Eigenschaften
der Dinge, weil in der Erscheinung einige Merkmale beständiger sind als
andre. Wenn nun das Gegebene so angesehen wird, als gäbe es uns
die Qualität der Dinge zu erkennen, so liegt es am Tage, dafs die Sub-
stanz als beharrlich im Wechsel deshalb sehr leicht betrachtet werden konnte,
weil man meinte, sie lasse sich an ihren wesentlichen Eigenschaften fest-
halten, mochten auch die zufälligen wechseln wie sie wollten. Wie das
zugchen [151] solle, dafs sich zum Wesentliche?/ das Zufällige, zum Einheimischen
das Fremde geselle? darüber dachte man so genau nicht nach. Wenn
einmal ein Fremder im Wirthshaus der Substanz einkehrte, so war es ja kein
Wunder, dafs er auch wieder Abschied nahm ! Das Haus blieb stehen ;
unbekümmert um die, welche aus und eingingen ; es gehörte fortdauernd
seinen bleibenden Einwohnern.
Nun ist aber die Wirthschaft schon geschlossen, wenn die Qualität
des Seyenden für absolut einfach erkannt wird. Ja noch mehr! Wir haben
darauf Verzicht gethan, die wahre, einfache Qualität jemals im Gegebenen
zu erkennen. Gegeben sind Complexionen von Merkmalen; diese nennt
man Dinge. Eine solche Complexion sey a, b, c, so setzen wir ihrent-
wegen die Substanz A; allein dieses A, in Hinsicht seiner Qualität, ist un-
bekannt. Wenn nun im Gegebenen sich die Veränderung ereignet, dafs
aus a, b, c, jetzo die Complexion a, b, d wird : wollen wir dann sagen,,
es sey in der Qualität eine Veränderung vorgefallen? Wir können diese
2. Abschnitt. Ontologie. 5. Capitel. Von der Veränderung. 0,3
Veränderung wenigstens nicht angeben ; die Substanz, welche dieselbe soll
erlitten haben, ist uns jetzt eben so unbekannt als vormals; und wir sind
zunächst auf einem blofsen Wechsel in der Erscheinung beschränkt.
Nichtsdestoweniger liegt es am Tage, dafs sich die ganze Position,
worin a, b, c vereinigt seyn sollen, sich ändert, wenn statt ihrer a, b, d
eintritt.
Also 1. Das Gesetzte in der Complexion a, b, c und der folgenden
a, b, d, ist zweyerley, wiewohl beydes unbekannt.
2. Das erste geht über ins zweyte, und dieses wird aus jenem.
Das Werden des Folgenden aus dem ersten würde wegfallen, wenn die
beyden Complexionen hiefsen: a, [152] b, c; und m,p,q. Dann hingen
sie nicht zusammen. Der Faden des Zusammenhangs liegt in dem oder
den Merkmalen, die unverändert bleiben. Er fordert überdies, dafs wir
nicht etwan veranlafst werden, das Unveränderte zweymal zu setzen. Wohl
könnten sonst auch, wie es oft genug geschieht, abc und abd zwey Dinge
seyn, die wir nur neben einander, oder tiach einander wahrnehmen. Aber
hier liegt eine Frage, mit der wir die Metaphysik nicht belästigen dürfen;
es ist nicht ihre Sache, die Kunst der Beobachtung zu lehren. Taschen-
spieler vermögen uns dahin zu bringen, dafs uns Dinge als verwandelt er-
scheinen, die man bey genauem Besehen als zwey verschiedene erkennt.
Wer nun glauben möchte, die Natur sey eine Taschenspielerin im Grofsen;
sie schiebe unsern Augen unvermerkt eins fürs andre unter, und es gebe
keinen Übergang von der Knospe zur Blume, von der Blume zur Frucht,
sondern unendlich vielemal verschwinde der Gegenstand, den augenblicklich
ein ganz neuer, beynahe gleicher, wiederum ersetze: — was sollten wir
dem Ungläubigen sagen? Wir würden ihm seinen Glauben so lange lassen
müssen, bis er bekennete, scharf und anhaltend genug schauend, aber nicht
denkend, sich endlich überzeugt zu haben, dafs ungeachtet der allmähligen
Veränderungen ihm dennoch ein identischer Gegenstand gegeben sey, den
er, in Hinsicht auf die gleichbleibenden Merkmale, eben so nothwendig
als stets denselben setzen müsse, wie die schwindenden und kommenden
ihn nöthigen, die Antwort auf die Frage, was und welcher Art ist der
Gegenstand? fortwährend abzuändern.
Man wird sich erinnern, dafs schon oben (§. 171 .), die Frage, wie
wir dazu kommen, gegebene Formen der Erfahrung anzuerkennen1, von der
Metaphysik ist hinweggewiesen worden. Der Zwang, den uns die Er-[i53]
fahrung anthut, ist vorhanden; dieses sichere Grund -Factum ist die Basis
der Metaphysik.
Hier nun zwingt uns nicht blofs die Complexion abc, als ein ungetheiltes
Ganzes, und als eine bestimmte Hindeutung aufs Seyn, irgend ein Reales
zu setzen: sondern derselbe Zwang beharrt und ändert sich zugleich durch
den Übergang des abc in abd. Das Gesetzte des abd, als zweytes,
angeknüpft an das erste, ist kein absolutes, wie jenes ursprünglich war.
Wer zuerst Wasser gekannt hat, und dann einmal das Eis erblickt, der be-
trachtet Eis als gefrornes Wasser. Hätte er zuerst Eis gekannt, und es
dann aufthauen gesehen, so würde er sich Wasser vorstellen als geschmol-
1 gegebene Erfahrung anzuerkennen. S\V. („Formen der" fehlt.)
Q4 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
zenes Eis. Dieser Unterschied ist aber nicht von Bedeutung; indem die
Erfahrung selbst in solchen Fällen die Reihen häufig umkehrt, uns Eis und
Wasser abwechselnd zeigt, und nicht blofs den Saamen aus der Blume,
sondern auch die Blume wieder aus jenem hervorgehen läfst.
Will man indessen die Sache so einfach als möglich fassen, so kann
man sich damit begnügen, abc als die erste Complexion, abd als die
zweyte anzusehen. Alsdann stellt jene ein Ding als seyend, die zweyte
dasselbe Ding als verändert dar. Insofern wird jenes betrachtet als der
Stoff, aus dem etwas werden konnte, dieses als der nämliche Stoff mit
veränderter Form. Hat sich nun die Reihe in der Erfahrung noch nicht
umgekehrt : so meint Jeder den Stoff recht gut zu kennen. Z. B. Woraus
wird Porzellan gemacht? Antwort: aus Tkon. Nicht eben so geläufig ist
die Antwort in den vorigen Beyspielen. Woraus wird Wasser ? Man zwingt
sich wohl zu sagen, ans Eis ; aber lieber hätte sich der Gefragte angeschickt, zu
antworten: aus Wasser wird Eis, weil diese Reihenfolge gewöhnlicher ist.
Bey einiger Überlegung kommt in Fäl-[i54]len dieser Art das Bekenntnifs
zum Vorschein: den Stoff kennen wir nicht. Die Veränderung der That-
sache wird jedoch nicht bezweifelt ; und auch wir müssen die Identität des
Veränderten als eine im Gegebenen hinreichend bevestigte Grundlage der
Untersuchung ansehen.
§. 229.
Wir haben im §. 227. die Veränderung als einen widersprechenden
Begriff; alsdann im §. 228. diesen Begriff als gegeben betrachtet. Nun
vergleiche man noch den §. 214, und versetze sich dann auf den Stand-
punct der dortigen Untersuchung.
Dort sollte blofs die Inhärenz des a oder b in A gesetzt werden.
Daraus wäre geworden A = a, oder A = b, wenn nicht der Unterschied,
dafs a oder b blofs als inwohnend, A als die Wohnung für jene gelten
soll, die Gleichsetzung verboten hätte.
Diesmal findet sich dieselbe Schwierigkeit; nur geschärft. Die Com-
plexion abd ist gleich und auch nicht gleich der frühern abc. Man möchte
den Widerspruch gern vermeiden durch die Distinction: die Gleichheit
liege in ab, die Ungleichheit in1 c und d. Aber der Ausweg ist gesperrt,
denn man soll nicht theilen; abc ist Ein Ding, und abd ist dasselbe Ding.
Hier mufs die Setzung des veränderten Dinges hineinfallen in die des alten ;
gerade wie bey der Inhärenz; es kommt nur noch der Umstand hinzu,
dafs beym Hineinfallen das Gefäfs nicht still hält. Denn indem das Merk-
mal d hinzukommt, weicht das entgegengesetzte c. Um desto weniger ge-
lingt die Gleichsetzung; um desto offenbarer ist der Widerspruch; um desto
notwendiger wird es, ihn in der Wurzel zu zerstören.
Schon vorher, ehe die Veränderung eintrat, war wegen der Complexion
abc, die wir als ungetheilt betrach-[i55]ten, irgend ein Reales = X ge-
setzt worden. Dieses kann auf keinen Fall den Platz einer Folge einnehmen,
sondern, wenn eins von beyden seyn mufs, so gebührt ihm, als dem
schlechthin gesetzten, der Rang des Grundes. Jetzt sollte wegen der zweyten
1 „in" gesp erit. SW.
2. Abschnitt. Ontologie. 5. Capitel. Von der Veränderung. gc
Complexion, abd, irgend ein anderes Reales = Y gesetzt werden; aber
diese Setzung ist nicht schlechthin zu vollziehen, sie soll sich vielmehr an-
lehnen an die erste, weil das Ding noch als dasselbe gegeben ist. Zu-
sammenfallen sollte sie mit der ersten, es sollte seyn Y = X, aber die
Position ist eine andere, ihr Gesetztes also auch; so gewifs c nicht = d,
und folglich abc nicht = abd ist. Hiemit ist nun die Entscheidung ge-
hörig vorbereitet.
Was weiter zu thun ist, wissen wir vermöge der Methode. X wider-
spricht sich selbst, indem es dem Y gleich und auch nicht gleich seyn soll.
Es ist also nicht identisch, sondern es ist ein Vielfaches. Und nur, indem
mehrere X zusammengefafst werden, kann Y, welches in keinem Fall ein
Reales, wohl aber die Zusammenfassung von mehrern Realen seyn konnte,
daraus hervorgehn.
Hier folgt nun noch ein ähnlicher Zusatz, wie im §. 218. Denn die
Veränderung thut nicht blofs einen Schritt; sondern das Veränderliche
durchläuft viele Stufen, die man genau genommen nicht zählen kann. Es
mufs also X nicht blofs einmal, und auf einer ley Weise, sondern entweder
vielemal, oder unter vielen näheren Bestimmungen vervielfältigt werden. Da-
bey darf dann nicht eine Zersplitterung vorgeht, ivobey die Einheit des ge-
gebenen Dinges sich zerstreute, sondern der Anfangspunct aller Vervielfältigungen
bleibt nur Eitler ; und ein X ist dasselbe in allen Gruppen, welche anstatt
seiner sind angenommen worden. Dieses eine [156] ist wiederum Substanz,
die andern sind Ursachen; wie wir diese Be°;riffe aus dem vorisren
Capitel schon kennen. Der Unterschied ist nur, dafs hier die Ursachen
successiv kommen und gehen ; denn ihr Zusammen mit der Substanz mufs
sich so vielemal ändern, wie oft die Erscheinung sich anders und wieder
anders darstellt. So weit reicht für jetzt die Untersuchung.
Und jetzt trit jener Satz : bey allem Wechsel der Erscheinung beharre
die Substanz, in sein wahres Recht. Denn jetzt ist die Substanz nicht mehr,
wie vorhin, ein Wirthshaus für Fremde, welche aus und eingehn; die ganze
Erscheinung gehört der Substanz, so lange sie allein steht, gar nicht an;
oder mit andern Worten: kein Reales ist an sich Substanz; sondern wenn
es Erscheinungen tragen soll, so mufs es in Gemeinschaft mit andern
realen Wesen stehn; und wenn die Erscheinung wechselt, so wechselt
diese Geineinschaft.
Aber worin besteht die Gemeinschaft? Das ist die nämliche Frage,
auf welche das Problem der Inhärenz schon geführt hat. An ihr wird
nichts verändert, die Gemeinschaft beharre nun, oder sie wechsele. Wir
kommen darauf im folgenden Capitel.
Eben dahin gehört die Frage, ob denn der Unterschied des Thuns
und Leidens den Ursachen und den Substanzen wirklich zukomme? Bis
jetzt war von einem solchen Unterschiede noch immer nichts zu sehn;
und man darf nichts übereilen. Nur die Frage mufs vestgehalten werden,,
bis sie sich löset.
§• 230.
Wenn nun der Leser dieses Capitel einer unnützen Weitläufigkeit be-
schuldigt : so ist der Vorwurf insofern fast erwünscht, als er Hoffnung giebt,
q6 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1828.
dafs auch das [157] Nachfolgende werde verstanden, und nicht mit fremd-
artiger Meinung vermengt werden.
Käme es blofs auf Resultate an: so hätten wir allerdings die schon
geschehene Verbesserung des Begriffs der Substanz hier als bekannt voraus-
setzen, und alsdann ganz kurz so fortfahren sollen; man erweitere die Unter-
suchung über inhärirende simultane Merkmale auf successive, welche offenbar
eben so wohl Ursachen nöthig haben als jene. Fällt in der Complexion abc
das Merkmal c weg, so fallen auch die deshalb angenommenen Ursachen weg;
trit ein neues Merkmal d ein: so setze man dafür neue Ursachen. Dabev
würde sich ein Satz von selbst verstanden haben, den wir der Sicherheit
wegen dennoch aussprechen:
Im Causa Ibegriffe liegt gar keine Zeitbestimmung.
Dieses ist eben so wahr, wenn wir von der Veränderung ausgehn, als
oben, wo wir die Inhärenz zum Grunde der Untersuchung machten. Die
Zeitbestimmung, dafs vor und nach der Veränderung ein Ding sich selbst
nicht gleich sey, gehört dem Gegebenen; aber sie ist kein Merkmal des
Verhältnisses zwischen Substanz und Ursache. Auch kann sie dem
Widerspruche nicht abhelfen; sie fällt heraus als unnütz, sobald ge-
fragt wird nach dem Begriffe, den man sich von dem Dinge machen
solle, indem die Beobachtungen, durch die es gegeben ist, zusammen-
gefafst werden. Die frühem und die spätem Beobachtungen haben
gleich viel Anspruch darauf, zu bestimmen, zcas für ein Ding man wahr-
genommen habe.
Sie vertragen sich nicht mit einander; und dadurch wird unser Denken
über das Gegebene hinaus getrieben. Wie weit sind wir denn wohl in
diesem [158] Denken vom Gegebenen abgewichen? — Wir wollen zurück-
blicken! Zuvörderst, wenn man ein Gedankending, die Substanz, welche
im Wechsel beharrt, in das Gegebene einschiebt, so mufs dies Einschieben
nicht wie ein willkührliches Denken, auch nicht wie ein angeborner Me-
chanismus, dem Gegebenen Gewalt anthun, sondern die Gewalt mufs in
der Erfahrung, die Nachgiebigkeit gegen sie aber im Denken liegen, wel-
ches vollständig, und nicht mit halber Besonnenheit, den nothwendigen
Schritt vollziehen soll. So nun ist es geschehen. Den Schritt, das Reale
als Substanz, die Substanz aber als verbunden mit den Ursachen ihrer
Accidenzen, und die Verbindung selbst als wechselnd gemäfs dem Wechsel
der Erscheinung zu setzen, diesen Schritt erzwingt die Verletzung der
Identität, die sich im Gegebenen zeigt. Darum mufs eingeräumt werden,
es sey von Anfang an zuviel scheinbare Identität in der Auffassung gewesen.
Das Ding mit vielen Merkmalen schien Ein Ding zu seyn; man sah nicht
mehrere; darum setzte man nicht mehrere. Auch das veränderte Ding
schien ungeachtet der Veränderung, die nur einige Merkmale traf, doch
nur Ein Ding zu seyn; man sah nicht mehrere Dinge, sondern nur eine1
Abweichung in den Bestimmungen dessen, was es sey, und -woran man
es erkennen solle.
Man sah nicht mehrere, darum setzte man nicht mehrere. War das
1 sondern nur Abweichung. SW. („eine" fehlt).
2. Abschnitt. Ontologie. 5. Capitel. Von der Veränderung. 07
ein Fehler? Hat die Erfahrung getäuscht? Mufs man sie einer Lüge
beschuldigen? Weit entfernt, uns zu täuschen, macht sie uns in man-
chen Fällen, sofern dies im Gebiet der Erscheinungen geschehen kann,
sogar mit bestimmten Ursachen der Veränderungen bekannt. Aber auch
in den andern Fällen, wo wir lediglich die Veränderung beobachten, kann
man doch nichts weiteres ihr zur Last legen, als nur dies: sie unterlässt,
uns vollständig zu un-\l^\terrichten. Das oben Angeführte (§. 188.), als
wir erinnerten an die Doppelsterne, die das blofse Auge für einfach hält,
nicht als ob es versicherte, sie seyen einfach; nicht als ob es leugnete, es
seyen Doppelsteme; sondern dergestalt, dafs es nicht mehr sagt, als es
weifs: Dies Beyspiel kann hier zurückgerufen werden. Wir ergänzen nur
die Lücken der Erfahrung, sobald wir dahin gelangen, die Lücken zu sehen,
die freylich das gemeine Auge nicht wahrnimmt. Und mit künstlichen
Hülfsmitteln ausgerüstet im Beobachten oder im Denken, kommt man aller-
dings weiter als die Empiristen; die selbst den dringendsten Aufforderungen,
welche ihre Göttin, die Erfahrung, an sie ergehen läfst, nicht Folge leisten.
Unsere ganze Abweichung vom Gegebenen war ein nöthiger Zusatz; indem
wir Ursachen in Gedanken hinzuthun, auch wo die Erfahrung uns hiezu
keinen besondern Wink giebt. Dabey berichtigen wir unsre Vorstellung von
der Einheit des Dinges mit mehrern simultanen und successiven Merkmalen
auf eine Weise, wobey von der gegebenen Verbindung dieser Merkmale nichts
verloren geht. Unser früherer Streit wider die Erfahrung nimmt also ein
ganz friedliches Ende; und was von diesem Streite anfangs in starken Aus-
drücken gesagt war, das galt nur dem Anfänger, dessen Nachdenken zu
wecken nöthig war.
Wiewohl aber jene Zeitbestimmung, dafs vor und nach der Veränderung
das Ding sich selbst nicht gleich sey, auf dem Causalbegriff, der lediglich
vom Xicht- gleich -Sern abhängt, keinen Einfiufs hat, so ist doch damit
nicht gesagt, sie sey überhaupt gleichgültig. Vielmehr beruht auf dieser
Zeitbestimmung die ganze Synechologie; wie sich weiterhin zeigen wird.
Es wird nämlich die Gemeinschaft der realen Wesen, die wir Sub-
stanz und Ursache nannten, jetzt von [160] zwey sehr verschiedenen Seiten
Gegenstand der weiteren Untersuchung. Erstlich: was bedeutet diese Ge-
meinschaft, dieses Zusammen? Was geschieht in ihm? Ändert sich
wirklich die Qualität der Substanz durch die Ursache? Oder worin liegt
der Grund, dafs wenigstens für uns die Erscheinung sich ändert? Und
was ist diese Erscheinung? Was keifst Ei Schemen? Welche Bestimmungen
des Realen liegen da verborgen, wo wir meinen, veränderliche Dinge zu
erblicken ?
Diese Fragen enthalten eine Mischung aus Ontologie und Eidolologie;
die wir absichtlich hier uns erlauben, damit man deren Sonderung, aber
auch deren Zusammenhang, als nothwendig vorempfinden möge.
Zweytens, was auch die Gemeinschaft der realen Wesen seyn oder
bedeuten, oder für uns zum Schauspiel darbieten möge, — welches ist die
Form der Zusammenfassung im Denken, deren wir bedürfen, um die Vor-
stellung auszubilden: dafs Substanzen und Ursachen bald zusammen, bald
wieder nicht zusammen seyen? Diesen Wechsel des Zusammen und Nicht-
Zusammen sollen wir ja annehmen, da wir aus dem Kommen und Gehen
Herbart's Werke VIII. 7
q8 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
der Ursachen den Wechsel der Erscheinung zu erklären haben. Offenbar
giebt es hier ein Früher und Später, zwar nicht als Prädicat der realen
Wesen, aber ihrer Gemeinschaft, die bald vorhanden, bald getrennt seyn
soll. Die Zeitbestimmung trifft zwar nicht das, was Ist, auch nicht das,
was in Wahrheit geschieht ; aber sie beschränkt sich auch nicht auf die blofse
Erscheinung, sondern sie dringt ein bis zu dem formalen, an sich leeren,
und gleichwohl unentbehrlichen Begriffe des Kommens und Gehens, und
gleichsam des Verkehrs zwischen den realen Wesen, die sich zu einander
wie Ursache und Substanz verhalten. Dieser formale Gedanke ist der [161]
Stoff der Synechologie; hier aber genügt es, seine Verbindung mit der
Ontologie bemerklich gemacht zu haben.
Sechstes Capitel.
Vom wirklichen Geschehen.
§• 231.
Wer zu der Pforte dieses Capitels eingeht: der lasse die Hoffnung
fahren, dafs er sich unter Beybehaltung seiner angewohnten Vorstellungs-
arten die Frage vorlegen dürfte: was thun die Ursachen? um darauf zu
antworten: sie bewirken Veränderungen.
Stehen wir vor einer Maschine, derer kunstreichster Theil verborgen
ist: so suchen wir das Geheimnifs ihrer Bewegungen in dem unzugänglichen
Innern. Wird nun die Hülle weggenommen: so erblicken wir einen
Mechanismus, der nach bekannten Bewegungsgesetzen begreiflich ist, und
unsre Neugierde findet sich befriedigt. Denn die Ursachen sind nun ent-
deckt; ein TJieil der Sinnenwelt enthielt den Schlüssel zu den Räthseln,
die in einem andern Theile der nämlichen Sinnenwelt lagen. Nach diesem
Gleichnisse denken sich Manche auch das Verhältniss der Metaphysik zur
sichtbaren Natur. Sie meinen, man könne mit denselben Begriffen das
wirkliche Geschehen erreichen, welche passen auf das scheinbare Wirken
der sinnlichen Dinge. Sie vergessen, dafs sie alsdann gar keine Metaphysik,
oder noch eine zweyte Metaphysik nöthig hätten. Gar keine, wenn die Be-
griffe gesund, aber eine zweyte, wenn die Begriffe noch mit den alten
Krankheiten behaftet wären, und eben so wie zuvor, der Verbesserung
bedürften.
[162] Die sinnlichen Dinge haben ihre inwohnenden, veränderlichen
Merkmale; darum sind die Begriffe derselben fehlerhaft. Trägt nun Jemand
diese Fehler in die wahren Qualitäten der realen Wesen hinein, so ist
nichts verbessert, sondern die alten Schwierigkeiten keimen wieder hervor.
Das ist das Schicksal der falschen Systeme ; und darauf gründen sich die Mis-
verständnisse des wahren, von dem man fordert, es solle noch die alten
bekannten Meinungen beherbergen. Hilft es denn etwas, wenn man die
gegebene Sinnen weit durch eine andre erdichtete Sinnenweit vermehrt?
Wir sollen das Zusammen der mehrern M bestimmen; mit diesem
Geheifs entliefs uns die Methode der Beziehungen. Wir sollen sagen, was
2. Abschnitt. Ontologie. 6. Capitel. Vom wirklichen Geschehen.
das Zusammen der realen Wesen bedeute? Denn darauf war sowohl die
Inhärenz, als die Veränderung zurückgeführt (§. 214, 218, 229).
So viel ist nun gewifs: irgend Etwas mufs geschehen, was weder in
Einem realen Wesen, noch in der blofsen Vielheit derselben, so lange sie
vereinzelt ist, seinen Grund hat. Irgend etwas mufs geschehen, denn gar
Vieles erscheint; und das Erscheinen liegt nicht im Sey enden, insofern
wir es nach seiner einfachen Qualität betrachten. Wenn nichts erschiene,
so würden wir in der Wissenschaft nicht einmal bis zum Seyn gelangen,
vielmehr gäbe es dann gar keine Wissenschaft; gesetzt aber, ein Wunder
hätte uns gerade auf den Punct gestellt, wo wir eben jetzt stehen, so
würden wir von hier aus auch nicht einen einzigen Schritt weiter vor-
wärts gehen, sondern es dabey lassen, dafs die realen Wesen, jedes für
sich, und Alle insgesammt, seyen, was sie sind; ohne das Mindeste daran
zu rühren und zu rücken. Aber derselbe Schein, welcher uns zwingt, an-
zunehmen, dafs Etwas ist (§. 199.), eben [163] dieser treibt uns noch
weiter; er treibt vom Seyn zum Geschehen.
§• 252.
Was kann denn geschehen? Die Qualitäten der einfachen Wesen sind
da; was kann ihnen nun begegnen? Oder was kann außer ihnen begegnen?
Gesetzt, diese beyden Fragen liefsen sich beantworten, so käme nun die
dritte an die Reihe, nämlich, wie hängt das, was begegnet, zusammen
mit der Erscheinung, welche zu erklären aufgegeben war. Diese drey Fra-
gen liegen in Gedanken weit auseinander, und so wesentlich sie auch zu-
sammengehören, so sind es doch drey verschiedene Arbeiten, sie zu
beantworten.
Wäre es recht, wenn man das Reale so darstellte, als ob es, so ge-
wifs es ist, sich von selbst anfmachte, um das vom Seyn verschiedene Ge-
schehen hervorzubringen, wodurch es von sich abweichen würde; sich zu
äußern, wodurch es aufser sich gesetzt wäre; sich in der Erscheinung zu
offejibaren, wodurch es vielmehr eine fremde Gestalt annehmen würde?*)
Im wirklichen Geschehen kann das Seyende weder von sich abweichen,
noch sich äufsern, noch erscheinen. Das Alles wäre nichts als Entfremdung
semer selbst von innen heraus; also der Ursprung dieser Entfremdung
wäre innerer Widerspruch; und dessen sollen wir es nicht beschuldigen,
sondern es dagegen vertheidigen.
Hinweg also von den einfachen Qualitäten! Wir dürfen sie gar nicht
antasten. Sie können mit dem, was geschieht, nur mittelbar zusammen-
hängen. Sie können, indem Etwas geschieht, weder wachsen noch [164]
abnehmen. Von jenem Satze: bey allem Wechsel der Erscheinung bcharrt
die Subslanz, sollte die Fortsetzung so lauten: und weder ihre Qualität
noch ihre Quantität wird von dem Wechsel ergriffen.
Lange schon liegt dasjenige bereit, wohin wir anstatt der währen und
eigentlichen Qualitäten uns zu wenden haben. Es sind die zufälligen An-
sichten (§. 211, 212).
*) Mau blicke zurück auf §. 71. im ersten Theile.
joo Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Fassen wir zwey Wesen, A und B zusammen: so ergeben ihre ein-
fachen Qualitäten eine blofse Summe, aus der eben so wenig etwas Weiteres
wird, als aus jenen einfachen Richtungen der Schwere und des Gegen-
drucks einer schiefen Fläche. Aber ihre zufälligen Ansichten lassen sich
betrachten als solche, die in einander greifen.
Es sey A = a -\- fi -f- y, und B = m -\- n — 7. Diese Zer-
legung ist so gewählt, dafs sie andeutet, es verhalte sich irgend etwas in
den Qualitäten, wie Ja und Nein. Ein solches Verhältnifs der Begriffe
hann hier eben so gut angenommen werden, als es factisch statt findet
in den einfachen Empfindungen Roth und Blau, oder eis und gis. Diese
Farben und diese Töne, blofs als Empfindungen, oder noch besser, blofs
als Empfundenes betrachtet, sind vollkommen eben so einfach, wie man
sich die Qualitäten denken mufs. Keins besteht aus Theilen; aber jedes,
verglichen mit dem andern, erlaubt die Unterscheidung — nur nicht die
Trennung, — dessen, was dem andern gleich und entgegen sey. Zu-
verlässig ist Blau dem Rothen mehr entgegen als Violett. Eben so gewifs
ist gis dem eis weniger entgegen als a, und mehr als g. So nun sollen
die Qualitäten A und B gedacht werden, dafs dem A irgend ein drittes C
mehr oder weniger entgegen seyn könnte als B; und dafs zwischen A
und M oder N eine [165] ganz andre Art des Gegensatzes statt finden
könne, als zwischen A und B. Wasserstoff ist dem Sauerstoff, aber auch
dem Chlor und dem Stickstoff entgegen; diese Gegensätze können sowohl
nach Beschaffenheit als Gröfse verschieden seyn.
Was geschieht denn nun? — Diese Frage kommt noch immer zu
früh. Denn bis jetzt haben wir nur Begriffe zusammengefafst. Wir müssen
hier, in der Wissenschaft einen Procefs des Denkens durchführen. Aber
wir halten nicht alle unsre Gedanken, deren wir dazu bedürfen, für un-
mittelbare Ausdrücke des Realen. Wir müssen ja sogar das Reale jedesmal
durch zwey Begriffe denken; durch den der Qualität und den des Seyn;
dennoch fällt es uns nicht ein, dies für eine wirkliche Zweyheit in dem
Realen zu halten. Wir wissen vielmehr sehr gut, dafs unser Begriff des
Seyn blofs unsre Art des Setzens bezeichnet (§. 204); und dafs dieser
Begriff nur dazu dient, um das Setzen der Qualität gegen den Vorbehalt
des Zurücknehmens zu schützen.
Was nun die Begriffe « + ß -f- y und m + n — y zusammen-
genommen ergeben: das liegt vor Augen. Das Entgegengesetzte hebt sich
auf und verschwindet; es bleibt « -f- ß -\- m -f- n. Diese Zeichen besagen,
dafs, wenn die zusammengefafsten, zum Theil entgegengesetzten, zufälligen
Ansichten als blofse Begriffe betrachtet werden, nur diejenigen Theile
übrig bleiben, welche vom Gegensatze nicht getroffen werden. Dafs wir
aber hiemit noch nicht am Ende sind, sieht der aufmerksame Leser ohne
Zweifel von selbst.
§• 233.
Weit entfernt, zu eilen, wollen wir uns hier durch einen möglichen
Einwurf aufhalten, der zwar nicht durchaus nothwendig berücksichtigt
werden mufs, aber dien-[i66]lich seyn kann, um dem Puncte, bey dem
wir stehen, mehr Nachdenken zuzuwenden.
2. Abschnitt. Ontotogie. 6. Capitel. Vom wirklichen Geschehen. iqi
Es kann Bedenken erregen, dafs wir B = m -|- n — y gesetzt,
also in die zufällige Ansicht eines realen Wesens eine Negation aufgenommen
haben. Die Ansicht sey zufällig, aber sie mufs doch wahr seyn; sie soll
einem durchaus positiven Begriffe gleich gelten (§. 211 ). Beym Zusammen-
fassen des m -f- n mit dem — y mufs also dieses Negative verschwinden.
Folglich wird schon in m -j- n ein -|- y versteckt liegen. Aber dann
ist die zufällige Ansicht illusorisch. Man könnte aus ihr beydes, sowohl
-f- y als — y wegstreichen; was übrig bliebe, das würde für sich allein
die wahre Qualität von B ergeben. Dann wäre aber die Zusammenfassung
mit A = u -\- ß -\~ y ganz unnütz. In A würde nichts aufgehoben,
weil — y schon ohnehin verschwunden wäre.
Die Antwort könnte ganz einfach darin bestehn, dafs die zufälligen
Ansichten auf der Vergleichung zwischen A und B beruhen, und nur relativ
gültig seyn sollen. Demnach bedeuten hier die Zeichen -|- y und — y
nicht nothwendig zwey solche Begriffe, von denen der eine nur positiv,
der andre nur negativ zu fassen wäre. Sondern es reicht zu, wenn man
sich vorstellt, hier sey dasselbe Verhältnifs, wie bey entgegengesetzten
Richtungen. Wenn positive und negative Abscissen und Ordinaten unter-
schieden werden sollen, so pflegt man die Abscissen rechtshin als positiv
zu betrachten, und eben so die Ordinaten, welche sich nach oben kehren;
dann gehn die negativen Abscissen links hin, und die verneinten Ordinaten
senken sich von der Abscissenlinie herunter. Aber Jedermann weifs, dafs
diese Betrachtungsart rein willkührlich ist. Vollkommen eben so gut
können die sinkenden Ordinaten und die links laufenden Abscissen als
die positiven betrachtet werden; der Ge-[i67]gensatz ist lediglich relativ.
Wenn nun dies auch bey -f- y und — y Stattfindet: so ist nicht daran
zu denken, dafs in m -j- n etwas liegen müfste, wodurch — y aufgehoben
würde; und der ganze Einwurf verschwindet von selbst.
Man vergleiche dies mit den Beyspielen. Auf die Zerlegung der
Kräfte in der Mechanik pafst unmittelbar das Gesagte; denn sie ist eigent-
lich eine Zerlegung von Richtungen. Aber nicht minder Anwendung fin-
det es auf den Gegensatz einfacher Töne oder Farben. Meint man, in
dem Tone eis, oder in dem Tone gis, stecke etwas an sich Negatives?'*
In welchem von beyden sollte es doch stecken? Man hat die Wahl; je-
der von beyden kann mit gleicher Leichtigkeit angesehen werden als der-
jenige, der von dem andern in gewissem Grade abweicht. Geht man von
eis zu gis durch alle Mitteltöne: so wächst der Gegensatz gegen eis. Aber
geht man von gis nach eis, wiederum durch die Mitteltöne: so wächst
der Gegensatz auch; nämlich der gegen gis. Wir haben nun schon gesagt,
dafs man dies Verhältnifs zweyer Töne als das allernächste Gleichnifs für
das Verhalten zweyer realen Wesen, in Hinsicht des Gegensatzes ihrer
Qualitäten, nehmen soll; daher soll man auch jeden Einwurf, der sich
darbieten könnte, zuerst an diesem Beyspiele versuchen; verschwindet er
hier, so ist er überhaupt nichtig und widerlegt.
Aber es ist nicht einmal nöthig, dafs wir auf solchem Wege dem zuvor
aufgestellten Einwurfe zu entgehen suchen. Dem Mathematiker werden
sogleich zufällige Ansichten einfallen, in welchen ganz ausdrücklich zwey
Theile sich aufheben, und die dennoch brauchbar sind. Wenn statt x in
102 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
der Rechnung 1 -J- x — 1 gesetzt wird, *) so kommt es nur darauf an,
dafs man [168] die Gröfse 1 -|- x, oder auch die Gröfse x — 1 zusammen-
fasse; und man wird sogleich ein Binomium haben, dessen Potenzen nach
dem binomischen Satze entwickelt eine nach den Umständen anwendbare
Form darbieten. Freylich mufs man nicht eine zufällige Ansicht so bilden,
wie: ein Thaler, plus dem Tone eis, minus einem Thaler. Und warum
nicht? Weil hier der Ton mit der Münze nicht kann zusammengefafst
werden, sondern das Ent^eeeno-esetzte sich nur eins Q:e2:en das andre
kehren kann, um zu verschwinden.
Wollte man sagen, Zahlenbeyspiele seyen dem wirklichen Geschehen
zu fremd: so erinnern wir wiederum an die Mechanik. Auch in ihr giebt
es zufällige Ansichten, die nicht blofs brauchbar, sondern am rechten
Orte nothwendig sind, obgleich sie sich zum Theil selbst zerstören. Das
geschieht bey allen Zerlegungen der Kräfte unter stumpfen Winkeln.
Denn so wie unter spitzen Winkeln jedesmal eine Zusammenwirkung, so
ergiebt sich unter jenen die Möglichkeit, durch neue Zerlegung solche
Theile abzusondern, die einander völlig entgegenstehn und sich aufheben.
Und dennoch wird oft genug Eine Kraft in zwey solche zerfället, die
einen stumpfen Winkel einschliefsen. Z. B. ein Balken stehe angelehnt
an einer senkrechten Wand; man will seinen Druck gegen den Boden
und gegen die Mauer wissen. Hier sind zwey Ruhepuncte; jeder sollte
die Hälfte des Gewichts tragen; aber in dem Ruhepuncte an der Mauer
widersteht nur der horizontale Gegendruck der senkrechten Wand, in
Verbindung mit dem schräg längs dem Balken aufwärts wirkenden Boden.
Nach bevden Richtungen hin mufs das halbe Gewicht zerlest werden.
Hier scheint es sich in zwey Kräfte zu verwandeln, die [169] zusammen
gröfser sind als das Ganze: und doch ist die Rechnung ganz richtig,
denn der Balken wirkt zwiefach; sein ganzes Gewicht trägt der Boden,
und seiner Umdrehung widersteht noch überdies die Mauer, nebst der
Widerlage am Boden.
Solche Beyspiele können Jeden warnen, der es etwa versuchen möchte,
den zufälligen Ansichten zu enge Gränzen vorzuschreiben.
§• 234-
In Begriffen, sagten wir, bleibe, von den zufälligen Ansichten a -f- ß
-j- y und m -)- n — y nur übrig « -\- ß -\- m -|- n. War es denn
wohl unsre Meinung, dafs diese Begriffe, in dieser Gestalt, das wirkliche
Geschehen ausdrücken sollten?
Die Theile, oder besser die Glieder der zufälligen Ansichten wären
dann wirkliche Theile der Wesen. Man könnte einige Theile davon
wegnehmen; die andern würden zurückbleiben.
Nun hat aber die wahre Qualität der Wesen gar keine Theile. Man
kann also nur das Ganze wegnehmen, oder gar Nichts.
Sollten denn wohl ein paar Wesen sich so verhalten können, dafs
sie sich gegenseitig ganz aufhöben?
*) Man sehe z. B. Klügeis mathematisches Wörterbuch, Theil 3, S. 561; wo so-
gar der Ausdruck [(1 -j- a — i)n]j^, als gebraucht von La Grange, angeführt wird.
2. Abschnitt. Ontologie. 6. Capitel. Vom wirklichen Geschehen. 1 03
Da wäre entweder eins positiv, und das andre das Negative dieser
Position, folglich das letztere kein Wesen (§. 206). Oder beyde wären
sogar nur gegenseitige Verneinungen, also keins ursprünglich positiv, was
von realen Wesen zu behaupten noch ungereimter seyn würde.
Es ist also gewifs, dafs sich die Wesen A und B weder ganz noch
zum Theil aufheben.
Demnach wird man wohl sich hüten müssen, ihre Begriffe einander
zu nahe zu rücken? Jenes zusammenfassende Denken war vielleicht ein
falsches Den-[i 7o]ken; da es uns die Wesen so darstellte, als ob sich
in ihnen etwas gegenseitig aufhöbe?
Wohlan denn! wir wollen ihre Begriffe wiederum trennen! Um so
mehr, da nichts gewisser und klärer seyn kann, als dies, dafs zwey Wesen,
jedes real, jedes absolut gesetzt, an keine gegenseitige Beziehung irgendwie
gebunden sind. Sie können ohne allen Zweifel dergestalt selbstständig und
gesondert verharren, dafs unsre ganze Entgegensetzung ihrer zufälligen
Ansichten ein leerer Gedanke wird, der in Ansehung ihrer selbst nicht
das Geringste bedeutet.
So wahr nun dieses ist: eben so wahr ist es auf der andern Seite,
dafs wir vorhin, da wir sie zusammenfafsten, keinesweges in einem will-
kührlichen und leeren Denken beschäftigt waren. Wir sollten und mufsten
sie zusammenfassen ; auf das Gebot der Erscheinung! In der Erscheinung
finden sich Inhärenz und Veränderung; wir wissen, was daraus folgt.
Wir fassen sie also wiederum zusammen, obgleich wir dies als etwas
den Wesen ganz zufälliges betrachten, dafs sie zusammen sind. Nun
sollte sich ihr Entgegengesetztes aufheben. Aber es hebt sich nicht auf,
denn es ist auf keine Weise für sich; nur in unauflöslicher Verbindung
mit dem, was nicht im Gegensatze befangen ist, gehört es zu einem
wahren Ausdrucke der Qualität dieser Wesen. Sie bestehen in der Lage,
worin sie sich befinden, wider einander; ihr Zustand ist Widerstand.
Wir könnten mit einem sinnlichen Gleichnisse nun auch sagen, was sie
thun. Nämlich sie drücken einander. Denn in der Sinnenwelt finden wir den
Widerstand im Drucke, wo keins nachgiebt, obgleich jedes sich bewegen sollte.
Druck ist Ruhe, durch gegenseitiges Bestehen vor einander.
[171] Allein jedes sinnliche Gleichnifs ist hier gefährlich. Von Raum-
verhältnissen ist noch gar nicht die Rede; und man darf sie hier um desto
weniger einmischen, je nöthiger es künftig werden wird, sie gesetzmäfsig,
und ganz anders gestaltet, in diese Untersuchung einzuführen.
Hier ist blofs von einer Abänderung der Qualität die Rede, die
jedes zwar von dem andern erleiden sollte, aber wogegen es sich erhält
als das, was es ist. Störung sollte erfolgen; Selbsterhaltung hebt die Stö-
rung auf, dergestalt, dafs sie gar nicht eintrit.
§• 235.
Dies nun ist die ausführliche Deduction der Lehre vom wirklichen
Geschehen, oder von der wahren Causalität ; deren frühere kürzere Dar-
stellungen man mit den Waffen der Vorurtheile bestritten hat, und noch
lange bestreiten wird.
Widerstand, hat man gesagt, ist schon Product von Kräften. „Erst
J04 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
müssen Kräfte wirken ; dann wird ihnen durch andre Kräfte zviderslanden."
So redet man, um sich hintennach über den Widerstand der sogenannten
Trägheit der Körper zu wundern, die man für eine Kraft hält, weil sie
widersteht; deren Maafs und Gränze man aber nicht finden kann, indem
sie jederzeit sich nach der Stärke des Confiicts unter den Körpern richtet.
Es ist nämlich nach den gemeinen Erfahrungsbegriflen ein Cirkel vorhanden,
worin die Begriffe sich drehen. Widerstand soll aus Kräften entstehen;
aber fragt man: was ist Kraft? so erfolgt die Antwort: Kraft ist das, was
den Widerstand überwindet. Denn in der andern Erklärung: Kraft ist, was
den Zustand eines Dinges zu ändern strebt, enthält das Wort streben schon
die Voraussetzung der Anstrengung gegen den [172] Widerstand. Das Maafs
der Kraft, die in Thätigkeit gesetzt worden, wird mehr in dem überwundenen
Hindemifs, als in der Wirkung gesucht.
Wir haben so eben gezeigt, dafs es der innere Gegensatz in den Quali-
täten je zweyer Wesen ist, welchem beyde zugleich widerstehen. Mit dem,
was man gewöhnlich Kraft nennt, hat dieser Gegensatz keine Ähnlichkeit.
Denn hier ist kein Angriff von einer Seite, kein Leidendes gegenüber dem
Thätigen ; nichts, was darauf ausginge, Veränderungen hervorzubringen. Der
Gegensatz ist zwischen beydcn ; nicht aber in Einem von beyden.
„Aber so geschieht ja gar Nichts! Alles bleibt ja wie es ist! Wie kann
denn da etwas geschehen, wo das Reale lediglich sich selbst gleich bleibt?'1 So
redet man, weil man mit vollen Segeln in den Abgrund hineinfahren will,
den man vermeiden soll.
Wir haben vorausgesagt, dafs für das Seyende, in Hinsicht dessen, was
es ist, nicht das Geringste verändert werden darf. Es wäre die vollkommenste
Probe einer Irrlehre, wenn das, was wir Geschehen nennen, sich irgend
eine Bedeutung im Gebiete des Seyenden anmaafste.
Was würde es helfen, wenn wir uns auf Einwürfe, worin ein gänzliches
Verkennen dessen, was der Metaphysik Noth thut. sich zeigt, noch weiter
einliefsen? Besser ist's, die Quelle anzugeben, woraus sie fliefsen.
Der Mensch lebt in unaufhörlicher Verwechselung der beyden ver-
schiedenen Gebiete des Sejms und des Geschehens. Keins von beyden
ist uns so zugänglich, dafs wir es mit unmittelbarer, freyer Beobachtung
erreichen könnten. Unser Empfinden ist das einzige ursprüngliche Geschehen,
dessen wir inne werden; aber wie dies geschieht, sagt uns keine Erfahrung:
es ist [173] den Hypothesen vom physischen Einfluß und von der prä-
stabilirten Harmonie Preis gegeben. Vom eigentlichen Realen weifs der ge-
wöhnliche Mensch vollends nichts. Die Erscheinungen, die er real nennt,
liegen mitten im Wechsel; daher hat er keinen andern Erfahrungsbegriff
vom Geschehen, als diesen, es sey eine Abänderung in dem, was ist. Bil-
det sich doch der Mensch sogar ein, die Bewegung sey ein Geschehen; und
es seyen wahre Veränderungen der Dinge, wenn sie aus Ruhe in Bewegung
übergehn, oder umgekehrt; obgleich hier die Erfahrung selbst warnt und
zeigt, dafs ein bewegter Körper, so lange er nicht zerstofsen wird, oder
sonst Gewalt leidet, an jeder Stelle noch der nämliche ist und bleibt, den
man in der Ruhe kennen lernte.
Dafs nun die Begriffe des Seyn und Geschehens völlig incommensurabel
sind, dafs sie eben so wenig in eine Summe zusammenpassen, wie ein Kör-
2. Abschnitt. Ontologie. b. Capitel. Vom wirklichen Geschehen. iqc
per und seine Oberfläche, oder wie Fläche und Linie; dafs es im Reiche
des Seyn gar keine Ereignisse giebt, noch geben kann; dafs alle Triebe
und Tendenzen, alle realen und idealen Thätigkeiten, alle Einbildungen und
Rückbildungen, wodurch das Reale Formen annehmen soll, die es nicht
hat, immer nur den am Sinnlichen vestklebenden Geist verrathen, der
sich noch nicht im metaphysischen Denken orientirt hat; dies und vieles
Andere wird vermuthlich noch lange paradox klingen; weil keine philo-
sophische Schule, ausgenommen die der Eleaten, etwas gelehrt hat vom
reinen Seyn; vielmehr überall da, wo man davon zu reden glaubte, der
Standpunct der Betrachtung schon im Gebiete des Geschehens, ja nicht
einmal des ursprünglichen Geschehens lag, wovon wir hier sprechen, sondern
noch weiterhin, wo das Geschehen solche Modificationen empfängt, die auf
den Unterschied zwischen Geist und Materie hinweisen.
[174] In der Psychologie ist gezeigt, wieviel daran fehlt, dafs das Ich
ein Reales seyn könnte. Und dennoch, als Fichte von dem Ich, als von
dem letzten Anker der Gewifsheit, und vom einzigen wahren Realen redete,
wer unter den Zeitgenossen hat ihm in dem Puncte widersprochen, worauf
es ankam? Man war mit ihm gemeinschaftlich von der Realität des Ich
überzeugt; nur sollte es nicht das einzige Reale seyn. Und späterhin, als
man das Ich überstieg, sollte wenigstens Geistiges und Natürliches un-
mittelbar die zwey Seiten darbieten, welche das Absolute theils dem trans-
scendentalen Idealismus, theils der Naturphilosophie zur Untersuchung an-
weise. Aber das hiefs eben so wenig untersuchen, als wenn wir die Psy-
chologie hätten gründen wollen auf die Voraussetzung eines Geistes, dessen
wahre Qualität darin bestehe, sich Vernunft und einen Leib zuzuschreiben,
und nach diesen beyden Richtungen hin sich mehr und mehr zu entwickeln
aus ursprünglichem Triebe. Leicht hätten sich auf diese Weise die Vor-
räthe der alten Psychologie und Physiologie mit neuem Kitt zusammen-
kleben lassen; ohne irgend Jemandem, mit Hemmungssummen, mit Ver-
schmelzungshülfen, mit statischen und mechanischen Schwellen, beschwerlich
zu fallen. Sehr wohlfeilen Kaufs wären wir zu einer Psychologie gekommen,
die vortrefflich zu den Vorurtheilen des Zeitalters gepafst hätte. Statt dessen
mufste pflichtmäfsig das erste Ereignifs des Bewufstseyns, das Empfinden,
als eine Selbsterhaltung der Seele dargestellt, und hiemit Psychologie in die
richtige Verbindung mit der allgemeinen Metaphysik gesetzt werden. Wenn
es aber jetzt noch schwer scheinen sollte, beyde Wissenschaften gehörig
zu verknüpfen, so liegt es daran, dafs die Lehre von der Materie noch
fehlt, welche, wie sich nun bald zeigen wird, [175] mit der vom geistigen
Leben aus Einem Stamme hervorgeht.
§• 236.
Das wirkliche Geschehen ist infolge obiger Beweise nichts anderes als
ein Bestehen wider eine Negation. Da nun die Negation in dem Ver-
hältnisse der Qualitäten je zweyer Wesen liegt, so geschieht stets zweyerley
zugleich; A erhält sich als A, und B erhält sich als B.
Jede von diesen Selbsterhaltungen denken wir durch doppelte Ne-
gation; welche unstreitig der Affirmation dessen, was jedes Wesen an sich
ist, völlig gleich gilt. Allein diese doppelte Negation ist dennoch unendlich
io5 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
vieler Unterschiede fähig. Gesetzt, mit A => a -|" ß + 7 sey zusammen
C == p -\- q — ß: so wird auch jetzt A sich selbst erhalten; aber nun-
mehr wird nicht y, sondern ß die Art und Weise bestimmen, wie es sich
erhält. Der Gegensatz zwischen A und C ist ein andrer, als der zwischen A
und B. Die zufälligen Ansichten sind nur die Ausdrücke, welche die Wesen
annehmen müssen, um vergleichbar zu werden; aber indem wir durch
ihre Hülfe zwey Wesen vergleichen, finden wir sogleich, dafs in der Ver-
gleichung sich mancherley Puncte darbieten, worin Störung ^und Selbst-
erhaltung ihren Sitz haben können.
Jedes Wesen ist an sich von einfacher Qualität. Aber die vielen
Qualitäten lassen sich vielfach vergleichen; jede mit allen übrigen.
Dabey braucht nun nicht jede zufällige Ansicht aus drey Gliedern,
u, ß, y, zu bestehen, sondern der Glieder können gar viele seyn. Ferner
braucht nicht jede Vergleichung auf einerley zufälliger Ansicht zu beruhen;
sondern das Wesen erträgt unendlich viele Ansichten; so wie seine Quali-
tät unendlich vielen Vergleichungen zugänglich ist.
[176] jede Selbsterhaltung, oder jedes wirkliche Geschehen, das in
Einem Wesen vorgeht, wenn es sich gegen ein bestimmtes anderes Wesen
selbst erhält, hat demnach einen eigen thümlichen Charakter; aber diese Eigen-
thümlichkeit gilt nur im Gebiete des Geschehens. Alle Mannigfaltigkeit,
welche darin liegt, dafs A sich entweder gegen B, oder gegen C, oder
ce^en D u. s. w. selbst erhält, verschwindet sogleich sammt dem Geschehen
selbst, wenn man aufs Seyende, so wie es an sich ist, zurückgeht. Denn
es ist in allen diesen Fällen, A welches sich erhält, und A, welches er-
halten wird.
Gesetzt jedoch, ein Beobachter stehe auf einem solchen Standpuncte, daß
er die einfache Qualität nicht erkennt, wohl aber in die verschiedenen Rela-
tionen des A gegen B, C, D, u. s. w. selbst verwickelt wird, so bleibt ihm
nur das Eigentümliche der einzelnen Selbsterhaltungen, nicht die beständige
Gleichheit 'ihres Ursprungs und ihres Resultats bemerkbar. Dies ist der
Standpunct des Menschen, dessen verschiedene Empfindungen nichts an-
deres sind, als die verschiedenen Selbsterhaltungen der Seele, die sich selbst
nicht sieht, und nichts davon weiis, dafs sie in allen ihren Empfindungen
sich selbst gleich ist; und vollends nichts davon, dafs diese ihre Zustände
abhängen vom Geschehen in zusammentreffenden Wesen aufser ihr, deren
eigne Selbsterhaltungen ihr auf keine Wreise bekannt werden können.
% 237-
Gemäfs dem wahren Causalbegrifte, den wir jetzt kennen gelernt haben,
" sind nun die Ursachen weder transient, noch immanent ; weder transscenden-
tale Freyheilen, noch Regeln der Zeitfolge; sie [177] liegen eben so wenig
in besondern Vermögen, als in Tendenzen oder Kräften; man kann auch
eben so wenig anstatt ihrer ein absolutes Werden, ein Schicksal, substituiren.
Die Ursachen sind nicht transient. Denn die Wesen A und B, welche
sich gegen einander selbst erhalten, geben und nehmen einander Nichts;
jedes bleibt, was es ist.
Die Ursachen sind nicht immanent. Denn jedes ist Ursache der
Selbsterhaltung des Anderen.
2. Abschnitt. Ontologie. 6. Capitel. Vom wirklichen Geschehen. \qj
Die Ursachen sind keine transscendentalen Fr'eyheiten. Denn die Selbst-
erhaltungen erfolgen unausbleiblich aus dem Gegensatze der Qualitäten,
wenn die Wesen zusammen sind. Sie können aber auch nicht zusammen seyn,
denn ursprünglich ist jedes selbstständig, und ohne Beziehung auf das andere.
Die Ursachen sind keine Regeln der Zeitfolge. Denn gesetzt, die Wesen
seyen zusammen: so ist hiemit, ohne den mindesten Zeitverlauf, auch Stö-
rung und Selbsterhaltung gesetzt.
Die Ursachen liegen nicht in besondern Vermögen. Denn die Causalität
entspringt unmittelbar aus dem Gegensatze, welcher, wie schön gesagt,
zwischen den Wesen, aber in keinem einzeln genommen liegt. Und da-
durch wird die Causalität, unter Voraussetzung des Zusammen, sogleich
nothwendig, und nicht blofs möglich.
Die Ursachen liegen nicht in Tendenzen oder Trieben. Denn keine
Qualität eines realen Wesens ist mangelhaft, bedürftig, und in irgend einem
Übergange begriffen.
Die Ursachen liegen nicht in besondern Kräften. Sondern die Wesen,
ganz und ungetheilt wie sie sind, werden Kräfte, oder sind insofern Kräfte,
[178] inwiefern sie mit andern von entgegengesetzter Qualität zusammen sind.
Es giebt nicht anstatt der Ursachen ein absolutes Werden. Denn an
sich ist jedes Wesen blofs sich selbst gleich; und die doppelte Negation
in der Selbsterhaltung bekommt nicht eher eine Bedeutung, als bis die
einfache Negation des Gegensatzes zweyer Wesen vorausgesetzt wird.
Es giebt kein Schicksal. Sollte es ein solches geben, so müfste man
es in dem zufälligen Umstände suchen, dafs die Wesen zusammen sind.
Aber dies Zusammen ist nichts Reales; es ist eine formale Bestimmung
der Zweyheit, die in keinem Einzelnen liegt.
§• 238.
Schon im ersten Theile machten wir aufmerksam auf einige richtige
Ahndungen Derer, welche die causa transiens vermeiden wollten. Die Leib-
nitzische Schule sagte, das Leiden sey zugleich ein Handeln der leidenden
Substanz (§. 13). Diese Schule hätte den wahren Begriff der Selbsterhaltungen
finden können, wenn sie dem falschen Gedanken von der Lage der Sub-
stanzen, als ob dieselben aufscr einander seyen, aus dem Wege gegangen
wäre (§. 14, 16). Durch dieses räumliche Trennen entstand eine Sperre,
welche die Substanzen nicht überwinden konnten. Das Entgegengesetzte,
was die zufälligen Ansichten bezeichnen, mufs eins dem andern vollkommen
zugänglich seyn; sonst ist der Gegensatz der Qualitäten ein leerer Begriff.
Die Wesen müssen sich in solcher Lage befinden, wie die Vorstellungen
in der Seele, die einander hemmen. Damit ist fürs erste noch weiter
nichts gesagt, als dafs man den Begriff des Zusammen nicht auf eine
Weise bestimmen soll, wodurch Trennung in das Zusammen käme, welches
einen Widerspruch erge-[i7Q]ben würde. Die Synechologie wird bald
deutlicher sprechen.
Ferner machten wir auch aufmerksam auf Reinhold (§. 84.), der den
Stoff der Vorstellungen von aufsen gegeben werden, aber ihn innerlich
formen läfst. Auch dieser war dem ächten Causalverhältnisse nahe; und
weit näher als Fichte glauben wollte, der kein Nicht -Ich von aufsen ins
io8 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Ich einlassen mochte, aber sich dadurch ein innerlich widersprechendes
absolutes Ich aufbürdete, wie schon in der Psychologie gezeigt, und hier,
in der Eidolologie, noch ausführlicher entwickelt werden soll. Reinhold
hatte aber seine Untersuchung bey weitem nicht allgemein genug, sondern
ganz im Dienste Kants angestellt; welches nicht weiter hieher gehört; so
wenig als es nöthio- ist, hier noch den Eintrit eines blofsen Stoffes, der
immer die Fehler der alten causa transiens erneuern würde, zu widerlegen.
Endlich erwähnten wir die Selbstbejahungen Schellings (§. 102.),
freylich aber verliefen sich diese nicht blofs sogleich in Selbstverneinungen,
sondern auch, wenn sie wären vorsichtiger vestgehalten worden, so konnten
aus ihnen doch nur leere Begriffe werden. Die doppelte Negation bedeutet,
wie schon oben bemerkt, nichts ohne die einfache; ist diese ein leerer
Gedanke, so ist es auch jene. Hätte einer von Schellings Schülern ver-
standen, den unabsichtlichen Wink zu benutzen, welcher darin liegt, dafs
sich das Unendliche damit beschäfftigen soll, das Nichts zu verneinen: so
würde der Misgriff, der sich an das Nichts wendet, leicht verbessert worden
seyn. Leider aber sollte Schellings Lehre etwas vorstellen, was keine
Ontologie seyn kann; denn die Ontologie liegt in einer Tiefe, wohin die
Wurzeln solcher Bäume, die dem praktischen Leben unmittelbar Früchte
tragen sollen, nicht reichen. Schelling war von Spinoza verführt; und
wie wenig die-[i8o]ser seine Begriffe zu ordnen wufste, davon wollen wir
sogleich ein auffallendes Beyspiel in Betracht ziehn; denn wir sind hier
am Ende der Ontologie; und Spinoza ist eben daselbst am Ende des
ersten Theils seiner Ethik.
§• 239.
Ob früher vom Sittengesetze die Rede seyn müsse, als von Religion
(wie Kant wollte): das mag allenfalls Manchem zweifelhaft scheinen; aber
indem man irgend etwas Religiöses berührt, hat man unstreitig eben da-
durch auch das Sittliche bezeichnet, was im Religiösen allemal enthalten
ist. Dies mufs Jedem sein richtiges Gefühl sagen.
Nichts destoweniger hat Spinoza lange von der Substanz gesprochen,
die aus unendlichen Attributen bestehe, deren jedes ein ewiges und un-
endliches Wesen ausdrücke, — ehe es ihm auch nur einfällt, ein Wort
vom Guten und Bösen zu sagen; obgleich sein Buch eine Ethik werden
soll. Aber im Anhange zum ersten Theile findet er für gut, die „Vor-
urtheile" (praejudicia) vom Guten und Bösen, Verdienst und Schuld, Lob
und Tadel, Ordnung und Verwirrung, Schönheit und Hässlichkcit, vor seinen
Gerichtshof zu fordern. Damit vermengt er die Bemerkung, dafs die Men-
schen sich für frey halten, weil sie den Mechanismus ihres Begehrens
nicht durchschauen; welches allerdings wahr ist. Dann führt er als That-
sache an, dafs die Menschen ihren Nutzen suchen, und sich dessen be-
wufst sind; er vergifst aber zu sagen, dafs sie auch zuweilen ihren Nutzen
verschmähen, indem sie etwas Höheres suchen, und sich dessen bewufst
sind. Vielmehr, er vergißt es nicht, sondern er leugnet es; denn er be-
hauptet: homincs omni a propter finem agere, videlicet propter utile, quod ap-
[181] petunt. Nun folgert er, die Menschen sähen immer nur auf die
Zwecke, fragten nur nach den End- Ursachen; und hielten nur das überall
2. Abschnitt. Ontologie. 6. Capitel. Vom wirklichen Geschehen. 109
für das Wesentliche in den Dingen, was ihnen Nutzen und Vergnügen
brächte.
Und was hatte denn Spinoza dieser Gemeinheit der Menschen ent-
gegenzusetzen? Er, der das Recht der Gewalt gleich setzt, weil er aus
dem selbstgesponnenen Netze der notwendigen Entwicklungen seiner causa
immanens nach keiner Seite hin einen Ausweg zu finden wufste?
Spinoza hatte ihr Nichts anderes entgegenzusetzen, als seine onto-
Iogischen Meinungen, die er für intellectuale Anschauungen hielt. Die
ästhetischen und mit ihnen die wahren ethischen Begriffe, hatte er zuerst
verdorben, und dann als Vorurtheile verworfen; obgleich sich diese ver-
meinten Vorurtheile dennoch an andern Stellen seiner Ethik wieder regen;
und daselbst nicht geringe Inconsequenzen hervorbringen.
Darum ist strenge Naturordnung die einzige Ordn?mg, die er kennt.
Und wer so wie Spinoza, mit einseitiger oder auch nur mit vorherrschender
Liebhaberey die Ontologie umfafst, dem wird es niemals besser ergehn.
Mit Wahrheit kann er aus derselben nicht einen einzigen Gedanken her-
nehmen, der eine Werthbestimmung enthielte, welche, wie in der praktischen
Philosophie gezeigt worden, sich allemal auf Verhältnisse richtet. Wer
nun alle Werthbestimmung darum für Vorurtheil hält, weil sie in der Onto-
logie keine Beweise findet (deren sie gar nicht bedarf), der ist zu be-
dauern. Durch Künstelei ist aber die Ontologie oft genug gezwungen
worden, aus ihrem eigenthümlichen Geleise herauszugehn. Das wird alle-
mal von Denen geschehen, die sich selbst nicht genug beherrschen, um
ihr speculatives und praktisches Interesse ge-[i82]hörig zu sondern. In
dieser Hinsicht haben wir oft genug gewarnt; und können uns hier mit
dieser kurzen Erinnerung daran füglich begnügen.
So wenig übrigens die blofse absolute Position für sich allein brauch-
bar seyn würde bey Gegenständen, die für uns erkennbar seyn sollen
(wenn man nicht in Fichtes Ich, als in die Identität des Wissenden und
Gewufsten, demnach in vollkommenen Idealismus verfallen will), eben so
wenig brauchbar ivürde die relative Position seyn, wenn bey entgegengesetzten
Qualitäten stets auf bey den Seiten Alles gleich wäre. Aber von der Un-
gleichheit, — die man sich vorläufig als eine nach zivey Seiten ins Un-
endliche laufende Linie denken mag, — haben wir erst in der Naturphilo-
sophie zu reden. Eigentliche Ontologie ist keine selbstständige Wissen-
schaft; und obgleich sie vom Seyn redet, so geschieht doch dies in höchst
allgemeinen Begriffen, die nur den Werth von Abstractionen haben. Selbst
die Synechologie, zu der wir nun fortschreiten, wird sich begnügen, uns
nur auf die Mitte der vorerwähnten Linie zu versetzen, wo wir den starren
Körper antreffen werden.
[183] Dritter Abschnitt.
Syneehologie.
Erste Abtheilung.
Von Raum, Zahl und dem Ursprünge der Materie.
Erstes Capitel.
Von den verschiedenen Anfängen der Syneehologie.
§. 240.
Andere Gegenstände fordern einen andern Geist der Untersuchung.
Obgleich nun das Folgende wesentlich zum Vorhergehenden gehört: so
wird dennoch die Vollständigkeit und Bequemlichkeit der Betrachtung
dabey gewinnen, wenn wir einen Augenblick den Faden loslassen, der uns
von den Begriffen des Realen hinführt zu den leeren Formen, die uns
jetzt beschäfftigen sollen. Schon in der fünften und sechsten Abtheilung
des ersten Theils wurde unsre jetzige Arbeit vorbereitet. Vom Stetigen
wurde gefragt: ob es gegeben sey? [184] Wenn es dies ist, so kann man
von ihm eine Untersuchung beginnen; man hat dann nicht nöthig, sie als
abhängig von etwas Anderem darzustellen. Und wenn der gegebene Be-
griff widersprechend ist, so scheint deshalb schon allein die Untersuchung
zur Metaphysik zu gehören. Wenn jedoch der Begriff nicht das Reale
trifft, so darf man ihn nicht so behandeln, als ob man ein Recht hätte zu
fordern, der Widerspruch in ihm solle verschwinden; sondern es kann
alsdann dahin kommen, dafs man ihn für eine unvermeidliche Vorstellungsart
anerkennt, die so bleiben mufs, wie sie ist. Und dies wiederum kann
zweyerley Gründe haben; einen psychologischen, und einen wissenschaftlichen.
1. Hat der psychologische Mechanismus widersprechende Begriffe ver-
möge einer nicht blofs subjeetiven, sondern allgemeinen Nothwendigkeit
erzeugt: so gehören dieselben zu der Welt des Scheins, zum Gegebenen.
Alsdann mufs die Psychologie in diesem Puncte mit der Metaphysik sorg-
fältig verglichen werden, damit nicht Verwechselungen ganz heterogener
Untersuchungen entstehn, wodurch zwey Wissenschaften auf einmal ver-
dorben werden, wie es leider bisher der Fall gewesen ist. Demnach ver-
weisen wir den Leser auf die Untersuchungen über die Reihenformen in
der Lehre von der tnittelbaren Reproduction, — und deren Fortsetzung
in der Theorie des räumlichen und zeitlichen Vorstellens zu suchen ist.
3. Abschn. Synechologie. i. Abth. Von Raum, Zahl etc. i.Cap. V. d. verschied. Anf. tii
2. Hat der widersprechende Begriff einen wissenschaftlichen Grund:
so behält l er seinen Platz dort, wo er im Denken, mit vollem Bewufstseyn,
ohne irgend eine Täuschung, als eine Aufgabe, die sich wohl bestimmt ab-
fassen, aber nicht erfüllen läfst, hervortrit. Alsdann dient er zu Prämissen
im richtigen Schliefsen, gerade so wie ein völlig denkbarer Begriff. Die
Formel :
[185] yV^T . .
e = cos. (f -\- sin. r/ \ — 1
gehört zu den nützlichsten der Mathematik, obgleich sie nur eine gesetz-
mäfsige Verbindung widersprechender Begriffe ausdrückt.
§• 241.
Die Behauptung, das Stetige sey gegeben, kann einen doppelten Sinn
haben. Entweder man meint, es lasse sich ein Gegenstand in sinnlicher An-
schauung nachweisen, der stetig erscheine. Dieses müfste denn vor allem
die Materie seyn; jedoch so unbesonnen wird nicht leicht Jemand seyn,
dafs der vorgeben sollte, die kleinsten Theile der Materie wären deshalb
zu verwerfen, weil Flüssiges sowohl als Starres sich uns als zusammen-
hängend, und als theilbar, wo man will, darstelle. Man kann die kleinsten
Theile, die Elemente, freylich nicht sehen; daraus aber folgt nicht, dafs sie
nicht existiren.
Oder man beruft sich auf die sogenannte reine Anschauung. Das
heifst : wenn wir uns Raum, Zeit, oder was beyde erfüllt, vorstellen wollen :
so begegnet es uns im Gedanken allemal, dafs solche Theile, die wir uns
als die nächsten neben oder nach einander denken, in einander fallen. Soll
ihre Unterscheidung gelingen, so müssen wir etwas dazwischen setzen, das
keins von beyden sey. Dieses nun kann wiederum nicht als einfach, als
ein blofser Punct vorgestellt werden; sonst hätte es das gleiche Schicksal
des Zusammenfallens mit seinen Nachbaren wie vorhin. Vielmehr mufs
auch das Zwischengeschobene sich darbieten, beliebig getheilt zu werden,
wo man will; und soll die Theilung bestehn, so mufs auch hier ein neues
Zwischen -Schieben gestattet werden, sonst fällt doch das Getheilte an der
Gränze zusammen. Demnach ist jede Vorstellung [186] des Mehrern und
Gesonderten bedingt durch die Voraussetzung des Stetigen, in welchem es
Plätze einnimmt, wie Porcellan in der Baumwolle, um nicht zusammenzustofsen.
Denn wenn Jemand durchaus zwei starre Körper, etwa Kupfer und Zink,
dicht an einander drängt, dafs nichts dazwischen bleibt: alsdann giebt es
geometrische Puncte, in welchen, als den Berührungspuncten, beydes zu-
sammenfällt, so dafs wirklich an einem, obgleich unendlich kleinen Orte,
sowohl Kupfer als Zink gegenwärtig ist! Das Wort Aneinander aber ist
ein leeres Wort; man hat nur zu wählen zwischen der Durchdringung und
der Baumwolle.
So ungefähr meint es die sogenannte reine Anschauung. Ganz genau
kann sie zwar nicht sagen, was sie meine; denn es klebt ihr immer eine
verdächtige Ahndung an, ihre Voraussetzung des Stetigen möge wohl eine
Erschleichung seyn. Sie möge wohl dasjenige selbst machen, was sie zwischen
1 „so erhält er" SW.
II2 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
zwey Nächsten, die nicht zusammenfallen sollen, behauptet zu finden. Sie
möge wohl — indem sie Puncte, soviel man will, auf jeder kleinsten Linie
unterscheidet, in Gedanken den Raum, der nur ein Gedankending ist, ver-
mehren, damit zwischen je zwey gesonderten Puncten eine noch kleinere
Linie Platz habe. Nachweisen kann sie nicht, dafs sie innerhalb der an-
fänglichen Gränzen geblieben sey; denn es ist ja nicht von sinnlich dar-
stellbaren Gegenständen die Rede, sondern nur von Gedanken, die man
innerlich sehen mufs. Aber sie tröstet sich mit dem Schutze der Geo-
metrie; diese beweiset ja die incommensurabeln Linien! Freylich sagt der
Beweis nicht, dafs alle Linien incommensurabel seyen; sondern er spricht
von gewissen Constructionen, wobey Linien in solche Distanzen eingeschoben
werden sollen, deren Endpuncte schon vor den Linien, vor dem Ziehen
derselben, gegeben und vestgestellt waren. [187] Wenn aber Jemand wagt,
die Geometrie selbst als einen Gegenstand schärferer Untersuchung zu be-
zeichnen, um die Gränzen der Gültigkeit ihrer Begriffe zu bestimmen: dann
kehrt der reinen Anschauung ein stolzes Selbstbewufstseyn zurück; sie schützt
nun die Geometrie, denn sie hat ihr den Boden bereitet!
Dieser Cirkel, und dieser verzagte Trotz, erinnert uns an eine frühere
Untersuchung, welche zeigt, wie es geschieht, dafs, so oft man zwey Puncte
in Gedanken auseinanderhalten will, sich jeder von beyden gleichsam strah-
lend verhält gegen den andern; daher die doppelte Strahlung einen Zwischen-
raum erzeugt, in welchem man beyde Puncte hin und her bewegen kann;
wie wenn sie ein flüssiges Element wäre, worin beyde, sie mögen näher
oder ferner stehn, eine Art von Atmosphäre besäfsen.* Wir wissen,
warum es mislingt, zwey nächste Puncte ohne Zwischenraum dergestalt an
einander zu denken, dafs sie nicht zusammenfallen.** Und deshalb kön-
nen wir es uns gefallen lassen, wenn Jemand meint, das Continuum sey
ein Gegebenes. Freylich ist es kein bestimmtes gegebenes Ding; auch
keine individuelle Vorstellung; sondern nur ein allgemeines Prädicat, welches
unvorsichtig genug für Linien und Flächen, für Zeiten, Grade und Räume,
ohne Unterschied gebraucht wird. Aber es ist wenigstens eine Vorstcllungs-
art, von der sich Niemand losreißen kann; und welche beym Anfange des
metaphysischen Benkens vorgefunden wird, ohne Bescheinigung ihres Ur-
sprungs; so dafs man sich über das Vorurtheil, sie liege ursprünglich im
menschlichen Geiste, eben nicht wundern darf.
[188] § 242.
Sey nun wirklich die Continuität für gegeben angenommen, so wenig
sie auch mit gegebenen Veränderungen und veränderlichen Dingen in gleichen
Rang treten darf, — denn diese sind bestimmt, und individuell gegeben,
jene aber nicht: — so stofsen wir dann zweytens auf den Widerspruch,
welche die logische Analyse der Continuität sogleich findet. Das Fliefsende
soll zusammenhängen, und doch nicht völlig in Eins fallen. Man unter-
scheidet in ihm ein Hier und Dort; dieser Unterschied bleibt in den kleinsten
Theilen, die Jemand herausheben möchte; und doch liegt das Continuum
* Vergl. Psychologie II; die Anmerkung zum § 114. [Bd. VI vorl. Ausg.]
** Ebendaselbst § 113, am Ende.
3. Abschn. Synechologie. I. Abth. Von Raum, Zahl etc. I. Cap. V. d. verschied. Anf. u?
weder hier noeh dort, sondern dazwischen. Es ist Vereinigung in der Schei-
dung, und Scheidung in der Vereinigung. Die Folge ergiebt sich leicht,
dafs in ihm unendlich viele Theile vorausgesetzt werden, die man sondern,
aber aus welchen man es doch nicht zusammensetzen könnte. Es ist eine
Gröfse, also eine Zusammenfassung; aber auf die Frage, was und wie vieles
zusammengefafst worden? erfolgt keine Antwort. Es ist eine endliche Gröfse,
wenn man es zwischen bestimmten Gränzen nimmt; aber diese Endlichkeit
enthält eine unendliche Fülle. — Jeder kennt diesen Widerspruch, aber
Jeder scheut sich, ihn beym rechten Namen zu nennen.
Die eigentliche Hauptfrage nun, die uns hier beschäfftigt, ist diese :
kann der Widerspruch in der Continuität als ein ergiebiges Princip einer Unter-
suchung behandelt iverden? Die Antwort ist verneinend.
Denn die Continuität findet sich als ein ziveifelhaftes Merkmal an
der Materie, welche für real gehalten wird; und zugleich als ein sicheres,
obgleich näher zu beleuchtendes Prädicat des Raumes und der Zeit; diese
aber sind offenbar ATichts ; denn sie sind [189] die leeren Formen der Zu-
sammenfassung des Realen, oder dessen, was dafür gilt.
Gesetzt nun erstlich, wir wollten die Materie als Continuum der
Untersuchung darbieten: so würde der Widerspruch fortgeschafft werden
müssen, wofern die Materie für real sollte genommen werden. Denn träte
ö"
an die Stelle ihrer Continuität irgend ein anderer Begriff; aber das Con-
tinuum verschwände darum nicht! Sondern Raum und Zeit würden sich
diesen Begriff stets zueignen; eben darum, weil sie mir leere Formen sind,
an welche die Methode der Beziehungen keinen Anspruch hat. Die Last
des Widerspruchs würde also nicht abgeworfen werden.
Glaubt man vielleicht, wir würden dadurch die Materie näher kennen
lernen? Dann müfsten wir überzeugt seyn, dafs ihr, als einem Gegebenen,
das Merkmal der Continuität zukomme. Aber dieser Umstand, der allein
die Untersuchung begründen und rechtfertigen könnte, ist gerade der, welcher
nur durch Vorurtheile einen Schein der Wahrheit erhalten hat. Gegeben
sind die kleinern Theile der Materie, welche sich dem Auge und dem
Mikroskop entziehen, ganz und gar nicht; blofs die Einbildung, die Materie
sey das, was den Raum erfülle, — - und zwar den contiuuirlichen Raum,
hat sich in die Stelle des Gegebenen widerrechtlich eingedrängt; und
wir werden in der Folge aufs Bestimmteste nachweisen, dafs diese Ein-
bildung nicht einmal von wahrer Bekanntschaft mit den Raumbemriffen
zeugt; viel weniger mit der wahren Natur der Materie übereinkommt.
Gesetzt ferner, wir wollten lediglich von den leeren Formen des
Raums und der Zeit reden: so würde nun der Widerspruch gar nicht
angegriffen, sondern blofs analysirt, und der Frage zugänglich werden, ob
er überall, wo er vorkommt, sich selbst gleich sey, [iqo] oder ob es für ihn
Modificationen gebe, die man von einander sondern müsse?
Hier nun, bey diesem sehr wichtigen Puncte, dessen Bedeutung all-
mühlig immer sichtbarer werden wird, hätte wohl längst die Arithmetik,
mit ihren verschiedenen Arten von Zahlbegriffen, l den Metaphysikern eine
schärfere Aufmerksamkeit auch für die andern Reihenformen abgewinnen sollen.
1 Zahlenbegriffen SW,
Herbart's Werke. VIII.
II i I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
1) Die Zahlen sind ursprünglich gesondert; die Continuität ist bey
ihnen nur eine nachgeborne, künstlich eingeschobene Vorstellungsart. Un-
streitig sind die ganzen positiven Zahlen die Grundlage aller höhern arith-
metischen Begriffe. Aber ihre Anwendung auf theilbare Ganze führt Brüche
herbey. Eine Volkszahl läfst sich nur alsdann dividiren, wenn die Zahl
nicht gerade eine Primzahl ist. Aber der Begriff der Divisoren, einmal
gebildet, wird nachmals wenigstens versuchsweise verallgemeinert; dies würde
geschehen, wenn auch nicht das Ganze häufig genug ein Continuum wäre,
das alle Divisoren ohne Ausnahme zuläfst.
Die Gröfse — , oder — , eroiebt nun eine unendliche Menge von Ein-
x n ° °
Schiebungen zwischen zwey nächste ganze Zahlen; nachdem x alle Werthe
von ganzen Zahlen zwischen Null und dem Unendlich-Grofsen angenommen
hat, oder für n eine wie immer grofse Zahl gesetzt, und m wiederum
durch alle Werthe nach der Reihe hindurchgeführt worden ist.
2) Aber die Grüfse a -f- — , wenn auch n jede, noch so grofse Zahl
n
bedeuten kann, stellt uns dennoch nur ein solches Continuum dar, welches
rationale Gröfsen in sich aufnimmt. Der Übergang von a zu a -f- 1
mag stetig seyn; dieser Begriff sagt Nichts von Gröfsen, die man schlechter-
dings nicht erreichen könne. [191] Im Gegentheil, alle unter jenem Ausdruck
enthaltene Gröfsen sind eine so möglich wie die andere; und zwischen
je zwey nächste Werthe noch neue einzuschieben, hat man die unbegränzte
Erlaubnifs, weil n stets gröfser genommen werden kann.
Hiemit contrastirt nun erstlich überhaupt das Irrationale, als dasjenige,
was sich jeder genauen Bestimmung entzieht; und zvveytens die Mannig-
faltigkeit der irrationalen Fortschreitungen. Man durchlaufe continuirlich
alle Zahlen mit den zwischen fallenden Brüchen: ihnen folgt ein System
von Quadratwurzeln, welches ebenfalls stetig ist; ein anderes System von
Cubikwurzeln , die nothwendig dichter gedrängt liegen; wiederum neue
Svsteme der vierten, fünften Wurzeln u. s. w. und, von ihnen allen ver-
schieden, unzählige Systeme von Logarithmen, nach andern und wieder
andern Grundzahlen. Jedes dieser Systeme ist ein Contimtnm, aber von
eigner Art; und wo findet man ein Ende, wenn man die mannigfaltigen
künstlichem Functionen hinzunimmt, deren wiederum jede nach ihrer Weise
das ganze Zahlengebiet durchläuft?
Wie viel nun von dem Allen lehrt wohl der allgemeine Begriff des
Continuums? Dieser scheint sich immer gleich; und darum meinte man
Raum und Zeit ganz einfach, ja genügend zu bezeichnen, wenn man sie
schlechthin für Continua erklärte.
Allein wir wünschen, es möge den Leser nicht befremden, wenn wir
ihm bald eine Construction des Raums vorlegen, die Anfangs eben so
wenig Continuität zeigt, wie die ganzen positiven Zahlen. Allmählig wird
ihr eine Reihe von Veränderungen begegnen, ähnlich der, welche wir an
den Zahlen bemerkt haben. Und wenn wir einmal in den Flufs des
Continuums «rerathen sind: so werden wir doch selbst darin noch Vn-
[ig2]terscheidungen anbringen müssen, die eben so wohl zulässig sind, als
die verschiedenen Dichtigkeiten der Quadratwurzeln und der Cubikwurzeln.
3- Abschn. Synechologie. i. Abth. Von Raum, Zahl etc. i. Cap. V. d. verschied. AnJ. 115
Aber wo liegt denn das Princip dieser Untersuchung?1 In den Zahl-
begriffen? Nein! Diese können nur aufmerksam machen auf die Möglichkeit,
dafs wohl die Continuität verschiedener Modifikationen fähig, und dafs sie
überhaupt vielleicht keine ursprünglich einheimische Bestimmung des Gegen-
standes sey, an welchem sie bemerkt wird; daraus folgt jedoch noch nichts
Sicheres, nichts Entscheidendes. — Noch weniger liegt das Princip in dem
allgemeinen Begriffe der Continuität, oder in jenen Vorstellungsarten der
sogenannten reinen Anschauung. Diese erwarten vielmehr von der Psy-
chologie die Erklärung ihres Ursprungs; sie selbst können nichts begründen,
und nichts widerlegen. Die ganze Untersuchung mufs daher anderswo
angefangen werden; wie sichs im folgenden Capitel zeigen wird.
§ 243-
Nicht überflüssig wird es seyn, hier eine frühere Bemerkung über
Raum und Zeit zurückzurufen, und mit dem Vorigen zu verbinden.
Der Grundbegriff der Zeit ist das Nacheinander. Darin liegt nichts
von Continuität; im Gegentheil, das Jetzt liegt zwischen dem Vorher
und Nachher dergestalt in der Mitte, dafs der Begriff der Gegenwart sich
schlechterdings nicht mit Vergangenheit und Zukunft mischen darf. Sonst
würde ein Widerspruch entstehen, den Niemand erträgt, selbst wenn er
nicht versteht, der Anschuldigung desselben auszuweichen. Das Jetzt, in-
dem wir es auffassen, ist freylich schon vorbey; aber eben deshalb geben
wir es, uns verbessernd, der Vergangenheit Preis; was sie erreichen kann,
dem entweichen wir; niemals aber lassen wir die Vergangenheit [193]
bis ins Jetzt sich ausdehnen; sie hört nicht erst auf, sondern sie hat auf-
gehört. Die Zukunft ereilt uns freylich immer, ehe wir es merken; aber
eben darum schieben wir sie weiter hinaus, und wollen eher etwas vom
Künftigen mit zum Jetzt rechnen, als jetzt schon das, was noch nicht ist,
beginnen lassen. Wenn wir fehlen: so soll der Fehler liegen in der Er-
weiterung des gegenwärtigen Augenblicks; nicht im Zusammenstofs dessen,
was war, mit dem, was seyn wird. Es ist klar, dafs wir sonst gar keine
anschauliche Vorstellung von der Gegenwart haben könnten, sondern dafs
der Philosoph sie künstlich wie einen mathematischen Punct zwischen Ver-
gangenheit und Zukunft eindrängen, und fortschieben müfste, wenn über-
haupt ein Begriff von ihr vorhanden seyn sollte.
Daher mufs man nicht zu dreist behaupten, die Zeit werde ursprünglich
als ein Continuum vorgestellt. Im Gegentheil, diese Ansicht entsteht erst
dann, wann der Versuch eintrit, über die Theilung irgend einer, im Be-
griffe gedachten. Zeitgröfse Rechenschaft zu geben.
Beinahe eben so verhält es sich mit dem Räume. Er heruht auf
dem Aufsereinander. Dies aber ist das Gegentheil des Ineinander. Und es
ist nur zu wahr, dafs die Menschen kaum einen andern Begriff mehr scheuen,
als den des Ineinander. Was sie deutlich vorstellen wollen, das setzen
sie auseinander ; zweyerley an Einem Orte scheint ihnen eben so wider-
sprechend als Seyn und Nichtseyn zugleich. Daher die Anhänglichkeit an
Atomen in alter und neuer Zeit; daher das Vorurtheil von der Undurch-
1 dieser Untersuchun«en. SW.
jj5 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
dringlichkeit; desgleichen von den Poren, durch welche Licht und Wärme
gehen sollen wie Gespenster durchs Schlüsselloch. Aber gesetzt auch, die
Erfahrungen von der veränderlichen Dichtigkeit der Materie, und von den
chemischen Auflösungen, durch welche, wenn sie vollkommen sind, das
[194] Licht mit unveränderter Anziehung hindurchgeht, — seyen mächtig
genug, um endlich für die richtige Lehre von der Durchdringung einige
Bereitwilligkeit zu schaffen, — was hat denn dieses für eine Beziehung
auf den Raum selbst? Mag in ihm das Materiale sich durchdringen; soll
denn dasselbe auch für die Theile des Raumes selbst gelten ? Wenn diese
sich in einander verkriechen, so sind sie für den Raum verloren; und da
sie Nichts an sich sind, so verschwindet der ganze Gedanke. Raum, als
solcher, seinem Begriffe nach, ist gar Nichts als reines und vollkommenes
Aufsereinander. Nun mufs aber Derjenige sich die Vorstellung des Continuums
sehr schlecht analysirt haben, der nicht gewahr wird, dafs er das Fliefsende
nur durch ein Verschwinden-Lassen der Sonderung denken kann. Fliefsen
die Theile des Raums nicht ineinander, so fliefsen sie gar nicht; die Rede
von der fliefsenden Gröfse, von den Fluxionen, mufs dann aufhören, nun
erstarrt der Raum, das heifst, alle seine Theile werden dergestalt bestimmte
und gleichsam selbstständige Theile, das eine Intelligenz, welche sie durch-
schaute, sie auch würde sondern können.
Was folgt nun aus dem Allen? Etwa dafs wir die Entwickelung des
§. 241. zurücknehmen, und das Continuum aufgeben müfsten? Nichts
weniger! Blofs dies folgt, dafs man nicht einseitig vom Continuum so
reden soll, als ob dies die alleinige, allgemein durchgreifende, und gleichsam
angeborne Form des Anschauens wäre. Daran ist nicht zu denken. Blofses
Vorurtheil, auf gewisse Verlegenheiten, die wir bald wegschaffen werden,
gestützt, hoffte leichtfertiger Weise die Untersuchungen, welche man der
Metaphvsik schuldig war, umgehen zu können. Der Wahrheit nach hätte
man bekennen sollen, dafs die Wissenschaft beyderley Vorstellnngsarten
[195] in den menschlichen Köpfen vorfindet, sowohl die vom Starren und
Undurchdringlichen, als die andre vom Fliefsenden, welches im Begriff
steht, sich ineinander zu verlieren. Und wir haben schon früher bemerkt,
dafs die Vorstellung des Fliefsenden nur insofern einen Sinn hat, als ihr
insgeheim die des Ruhenden und Starren zum Grunde liegt. Continuität
ist Flufs; Flufs ist Bewegung; Bewegung geschieht in dem als ruhend
vorausgesetzten Räume. Der Flufs der psychologischen Reproduktionen
ist der ganze Grund aller Raumvorstellung; aber die Distanzen zwischen
den Puncten, die räumlich auseinander treten sollen, sind dennoch durch
bestimmte Verschmelzungshülfen vestgestellt; und die Möglichkeit, dafs
mehr als das Gegebene zwischen diesen Puncten gesucht werden kann,
ist nicht eine ursprüngliche, sondern eine später hinzukommende. Diese
psychologische Bemerkung soll sich aber nicht an die Stelle der meta-
physischen Untersuchung eindrängen; sondern alles bisher Gesagte soll nur
die Bahn vorläufig ebnen, die wir jetzt zu durchlaufen haben.
§• 244-
Je dunkler und zweydeutiger die Continuität sich zeigt, sobald wir
sie als ein Gegebenes an Gegenständen, oder in bekannten Vorstellungs-
3. Abschn. Synechologie. i . Abth. Von Raum, Zahl etc. i . Cap. V. d. verschied. Anf. 1 1 7
formen aufsuchen: desto notwendiger mufs die Untersuchung derselben
eine andre Stütze haben; und die Hoffnung, als ob von hier aus ein
neuer, bequemer und sicherer Eingang in die Metaphysik hineinführte,
muls ganz aufgegeben werden.
Wir brauchen aber auch keinen neuen Eingang. Nur einige Geduld
ist nöthig, um den Vorrath, welchen die Ontologie uns übrig gelassen hat,
allmählig zu verarbeiten.
Schon oftmals haben wir scheinbares und wir/c-[ig6]liches Geschehen ein-
ander entgegengesetzt, und beydes von der wahren Qualität des Seyenden
unterschieden. Diese wahre Qualität wächst zwar nicht im mindesten durch
das wirkliche Geschehen; aber wohl ist sie umgekehrt die Grundlage des
letzteren; ihr Begriff bestimmt den Begriff der Selbsterhaltung, worin ein
Wesen dem andern Widerstand leistet (§. 234). Darin liegt das Kenn-
zeichen des wirklichen Geschehens. Hingegen das scheinbare Geschehen
empfängt die Bestimmung seines Begriffs nicht von den wahren Qualitäten;
die Wesen mögen solche oder andere seyn, was scheinbar geschieht, das
kann ihnen auf gleiche Weise begegnen, denn wie es auch begegne, es
ist ihnen stets fremdartig, und geschieht überhaupt nur in den Augen des
Zuschauers. Wir werden zwar in der Folge sehen, dafs unter Umständen
auch von den wahren Qualitäten vermittelst des wirklichen Geschehens
auf das scheinbare ein Schlufs erlaubt ist; allein selbst solche Schlüsse be-
ziehen sich zunächst nur auf das Schauspiel, was dem Beobachter, wenn
es einen solchen giebt, wird dargeboten werden; oder mit andern Worten,
sie bleiben im Kreise der Erscheinung, insofern sie eine gesetzmäfsig zu-
sammenhängende Reihe von Ereignissen darstellen.
Vermöge unseres Standpuncts in der Mitte der Erscheinungen ist
uns, als Menschen, das scheinbare Geschehen mindestens eben so wichtig
als das wahre. Von dem letztern würden wir ohne jenes so viel wie
Nichts wissen; auch haben ja überhaupt die Dinge nur insofern für uns
Werth und Bedeutung, als sie uns erscheinen. Was sich uns» auf keine
Weise kund thut, das ist für uns nicht vorhanden. Daher darf die
Untersuchung des scheinbaren Geschehens nicht gering geachtet werden.
Fragt man aber nach dem Princip dieser Untersuchung, [197] und
sucht man dasselbe, wie billig, im Gegebenen: so findet es sich in der
Veränderung. Doch der Deutlichkeit wegen ist es gut, noch einen Schritt
weiter rückwärts zu gehn.
Schon die Inhärenz führte dahin, ein Zusammen von mehrern realen
Wesen anzunehmen (§. 213, 214). Gewifs aber wird jedes derselben
durch eine absolute Position gedacht (§. 204;, daher kann unmöglich das
Zusammen der Wesen eine Bedingung ihres Daseyns ausmachen, sondern
es ist ihnen gänzlich zufällig. Sie könnten auch recht füglich nicht zu-
sammen seyn. Und da das Zusammen weiter nichts bedeutet, als dafs
ein Jedes sich selbst erhält gegen das andere (§. 234): so heifst dies so
viel, als: es kann auch recht füglich statt finden, dafs sie sich nicht gegen
einander im Widerstände befinden. Dabey darf nur nicht vergessen wer-
den, dafs in der Reihe unseres Denkens der Begriff des Zusammen die
Bedingung unserer Annahme der Selbsterhaltung ist; dergestalt, dafs, so-
bald wir das Zusammen der Wesen einmal voraussetzen, dann auch in
Ijg Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
der Reihe unseres Denkens die Selbsterhaltung eines jeden, als noth wendige
Folge auftrit; an sich aber hat das blofse Zusammen gar keine eigne Be-
deutung.
'Wollen wir nun die Zufälligkeit des Zusammen uns recht deutlich
vorstellen, so sa<ren wir: die Wesen könnten auch wohl nicht zusammen
seyn; hier aber liegt der Begriff des Nicht -Zusammen ganz im Gebiete
des willkührlichen Denkens. Das Problem der Inhärenz führte nicht hie-
her, sondern eben zur Voraussetzung des Zusammen.
Anders verhält es sich mit dem Problem der Veränderung. Dabey
liegt nothwendig eintretendes oder aufhörendes Zusammen zum Grunde.
Schon oben (§. 230) war vom Kommen und Gehen der Ursachen zu
sprechen. Wie sollte es anders seyn? Wenn die Zu[ig8]stände der sinn-
lichen Dinsie wechseln, und wenn ein Zustand durch ein Zusammen erklärt
werden soll, so kann nicht auch noch der entgegengesetzte, frühere oder
spätere Zustand desselben Dinges durch das nämliche, unverminderte und
unvermehrte Zusammen seine Erklärung erhalten. Sondern der Wechsel
der Erscheinung zeigt an, dafs ein Wechsel in den Gründen statt findet;
solchen Wechsel darf man in den wahren Qualitäten gar nicht, im wirk-
lichen Geschehen, sofern es von ihnen abhängt, auch nicht suchen. Also
mufs die Gemeinschaft unter den realen Wesen sich ändern; sie müssen
kommen und gehen.
Hiemit ist das Zusammen und Nicht-Zusammen der Substanzen einem
Wechsel unterworfen, der unmittelbar eine Zeitbestimmung in sich schliefst.
Leicht sieht man, dafs auch Bewegung und Raum dabey vorausgesetzt
werden; allein in diesem Puncte darf keine Übereilung statt finden. Ob
es erlaubt sey, einfache Substanzen in den sinnlichen Raum zu setzen :
das läfst sich nicht sogleich entscheiden. Unsere bekannten und aus-
gearbeiteten Vorstellungen vom Räume hängen mit der Welt des Scheins
so vest zusammen, dafs wir fürchten müfsten, Schein und Seyn zu ver-
mischen, wenn wir es wagen wollten, geradehin zu behaupten, jenes Kom-
men und Gehen der Substanzen sey eine solche Bewegung, wie die der
Körper um uns her. Vielmehr steht eine weitläufige Arbeit bevor, wo-
durch der Begriff, auf welchen die Untersuchung geführt hat, ganz unab-
hängig von allen schon fertigen Raum -Vorstellungen so weit mufs ent-
wickelt werden, bis wir klar sehen, wie und warum wir ihn mit Zuversicht
der Mathematik überliefern können, damit sie ihn weiter nach ihrer ge-
wohnten Weise behandele. Vorläufig nennen wir denjenigen Raum, wel-
chen wir zu dem Kommen [199] und Gehen der Substanzen unvermeid-
lich hinzudenken, den intelligibeln Raum.
Wir dürfen nun voraussagen, dafs derselbe sich am Ende in ein
Continuum mit drey Dimensionen, gleich dem sinnlichen Räume, ver-
wandeln wird; und dafs hierin also ein neuer Anfang der Synechologie zu
finden ist, welcher zur Untersuchung der Continuität weit mehr Sicherheit
und Bequemlichkeit gewährt, als die oben erwähnten, sehr zweydeutigen
Berufungen auf reine Anschauung jemals darbieten können. Wollte man
ihren wahren Gehalt erforschen, so müfste es durch die Psychologie ge-
schehn; diese aber lehrt niemals, wie man denken soll, sondern sie erklärt
nur das vorhandene, gleichviel ob wahre oder falsche Denken; und darauf
ß.Absch. Synechologie. i . Abth. Von Raum, Zahl etc. 2. Cap. V. d. starren Linie etc. ug
ist unsere jetzige Absicht nicht gerichtet. Sondern wir wollen wissen, wie
man den Begriff der Continuität dergestalt zu fassen habe, dafs er zur
Natur- Wissenschaft brauchbar werde; da wir ihn längst in Verdacht haben,
dafs er derselben bisher nach den Umständen bald nützlich, bald schäd-
lich geworden sey.
Zweytes Capitel.
Von der starren Linie und der Zahl.
§• 245.
Unsre erste Sorge sey jetzt, alles Überflüssige, was die Untersuchung
nicht fördern würde, bey Seite zu setzen. Von Widersprüchen und deren
Behandlung ist für jetzt nicht die Rede; es kommt darauf an, einen Be-
griff zu entwickeln, der aus einer Möglichkeit entspringt, und auf neue
Möglichkeiten hinweiset. Auch von der wahren Qualität, von ihrer Zer-
legung, vom [200] wirklichen Geschehen, dürfen wir abstrahiren. Nichts
Anderes beschäfftigt uns, als der höchst einfache Gedanke: ein paar ein-
fache Wesen, die wir A und B nennen wollen, können zusammen, sie können
aber auch nicht -zusammen seyn. Unsere Absicht, hiedurch die Erklärung
der Veränderung, und der Veränderlichkeit der gesammten Sinnenwelt
näher zu bestimmen, — die Natur der Materie, den Lauf der Welt ken-
nen zu lernen, — wollen wir zwar nicht vergessen; aber selbst diese Ab-
sicht thut für jetzt nichts zur Sache. Wir müssen uns einmal einer blofsen
Speculation überlassen, die immerhin so aussehn mag, als wäre sie ledig-
lich das Spiel einer müfsigen Stunde. Die Folgen werden sich schon
zeigen.
1) Angenommen, A und B seyen nicht zusammen: so liegt nun die
Möglichkeit, dafs sie zusammen seyn könnten, nicht blofs einfach, sondern
zwiefach vor Augen. Dem A fehlt B. Dem B fehlt A. Jedes bietet
sich dar, so dafs mit ihm das andre zusammen seyn könnte. Auf diesem
scheinbar geringfügigen Umstände beruht alles Folgende. Der Aufmerk-
samkeit kann hiebey wohl ein Gleichnifs aus der Logik einige Unterstützung
gewähren. Wir können A das Subject, B das Prädicat nennen, wenn wir
annehmen, jenes sey dasjenige, auf welches wir zuerst unser Augenmerk
gerichtet haben, um späterhin B zu ihm in Gedanken hinzuzufügen.
Die Möglichkeit schwebt uns jetzt schon vor, dafs zu dem voraus-
gesetzten A sich B geselle. Wir haben also mit dem wirklichen A den leeren
Gedanken von B verbunden. Diesen leeren Gedanken nennen wir das Bild
von B. Gleichfalls hängt an dem wirklichen B das Bild von A ; denn auch
B kann angesehen werden als wartend auf das hinzukommende, aber noch
nicht angelangte A.
[201] Aus den eben gebrauchten Ausdrücken kann man Alles, was
eine Zeit- oder Raumbestimmung andeutet, weglassen; nur zur Deutlich-
keit, zur bequemern Rede dienten die Worte ///'//zukommen und Anlangen.
Aber wesentlich ist es, zu bemerken, dafs nunmehr aus zwe/en Be-
120 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
griffen vier geworden sind; aus A und B wurden noch zwey leere Bilder,
weil Jedes von beyden einerseits als wirklich, andererseits aber als man-
gelnd dem Zusammen mit dem andern, gedacht wird. Die blofse Vor-
stellung dieses Mangels ist selbst der Ursprung des leeren Bildes von dem,
was mit dem Andern verknüpft seyn konnte. Man denkt es hinzu, eben
indem man es vermifst. Man denkt es zu dein Andern hinzu, bei welchem
man es vermifst. Aber nur als ein leeres Bild denkt man es hinzu, weil
man es vermifst. Die leeren Bilder dürfen nicht verloren gehn; sie sind
der eigentliche Gegenstand unserer Betrachtung.
2) Wie nun, wenn wir B als Subject betrachten, welchem A soll bey-
crefürrt werden ?
Die Beifügung sev geschehen : so verbindet sich von jenen vier Be-
griffen das wirkliche A mit einem schon verbundenen Paar, nämlich mit
B und dem Bilde von A. Diese drey sind nun zusammen. Der vierte
Begriff, welcher in diese Verbindung nicht eingeht, erleidet gar keine Ver-
änderung; er mufs blofs vestgehalten werden, obgleich er nur das leere
Bild ist von B; dasselbe Bild, welches zuvor in A die Möglichkeit be-
zeichnete, mit ihm könne B zusammen seyn. So nun gerade, wie damals
A und B nicht -zusammen waren, — und gleichsam zum Andenken an
dieses ehemalige Nicht -Zusammen, - — soll jetzt ganz genau bewahrt wer-
den der Gedanke : das leere Bild von B ist nicht zusammen mit jenen drey,
die tinter sich zusammen sind.
[202] 3) Wir wollen jetzt auf den Anfang der Betrachtung zurückblicken.
Dafs A und B zuerst als gesondert vorgestellt wurden, ist willkührlich;
man hätte auch beginnen können mit der Annahme, sie seyen verbunden;
dann aber hätte man, um die Zufälligkeit und Auflöslichkeit dieser Ver-
bindung deutlich anzuzeigen, sie trennen müssen.
Gerade auf diesem Punkte befinden wir uns jetzt. A ist zusammen
mit B; es braucht aber nicht, dafs dies Zusammen bestehe; wir könnten
es rückgängig machen, indem wir in Gedanken B vesthielten, und die
vorige Beyfügung des A durch ihr gerades Gegentheil, nämlich durch Ab-
sonderung von A, wieder aufhöben.
Allein auch das ist nicht nöthig. Um hier, wo alles willkührlich ist,
unsere Willkühr an den Tag zu legen (und eigentlich noch aus einem
andern Grunde der bequemern Ordnung, wie man weiterhin von selbst
bemerken wird), wollen wir nicht B, sondern A in Gedanken vesthalten;
die Sonderung aber soll geschehen durch B. Alles Andre soll ganz genau
bleiben wie es war. So erblickt man jetzt dreyerley ; nämlich ein ver-
bundenes Paar, ein leeres Bild für sich allein, und ein reales Wesen, auch
für sich allein.
Wir dürfen an diesem Puncte durchaus keine Mühe scheuen, um
uns deutlich auszudrücken. — Welches ist das verbundene Paar? Es ist
das wirkliche A, und ein leeres Bild von eben diesem A. Wie kommt
denn das Wirkliche in Verbindung mit seinem eigenen leeren Bilde? Da-
her, weil dieses Bild von ihm früher, und ursprünglich, dem B anhing ;
indem es in B die Möglichkeit repräsentirte, dafs mit demselben wohl A
zusammen seyn könnte; jetzt aber heben wir B aus der Verbindung heraus,
in welche schon wirklich A war versetzt worden. Welches aber ist denn
.Abschn. Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahl etc. 2. Cap. V.d. starren Linie etc. 121
jetzt das leere Bild, das für sich allein [203] gedacht wird? Es ist das
Bild von B. Dies wohnte ursprünglich in A; es zeigte dort die Möglich-
keit an, dafs mit A auch wohl B zusammen seyn könne; es blieb aber
allein zurück — zum Andenken des ursprünglichen Nicht-Zusammen, —
als A selbst gleichsam zum Prädicat wurde für das vorausgesetzte B, wel-
chem wir es verknüpften. Welches endlich ist denn das allein stehende reale
Wesen? Es ist B selbst. Denn dies eben wird aus der Verbindung mit
A und mit dem leeren Bilde von A, herausgehoben; indem die verlangte
Sonderung durch B, und nicht durch A, geschehen sollte.
Aber hier wird nun das eigne Nachdenken des Lesers von selbst
finden, dafs die Zahl von vier Begriffen, welche bisher genügte, jetzt nicht
mehr zureicht. Denn was heifst das, B stehe allein? Warum ist mit B
kein Bild von A verbunden? Braucht denn nicht mehr die Möglichkeit,
mit B könne A zusammen seyn, in B bezeichnet zu werden? In der
That braucht nichts Besonderes, nichts Absichtliches deshalb veranstaltet
zu werden; denn das Geforderte ist geschehen; die Antwort liegt in der
Frage. Gerade indem wir uns erinnern, mit B den möglichen Gedanken
seines Zusammen mit A zu verknüpfen, ist eben schon dieser Gedanke
selbst ein neues leeres Bild, welches wir unvermerkt geschaffen haben.
Und so giebt es nunmehr fünf Stücke in der Betrachtung; drey leere
Bilder, und zwey reale Wesen.
4) Die Construction ist noch nicht am Ende. Genau genommen
findet sie niemals ein Ende; denn das Nicht-Zusammen ist für die realen
Wesen A und B eben so zufällig wie das Zusammen; und nur ein be-
ständig fortgesetzter Wechsel dieser beyden gleich möglichen Voraussetzungen
stellt ihre ganze Zufälligkeit ins Licht.
Mit B, sagten wir so eben, könne A zusammen [204] seyn. Hie-
durch schufen wir ein drittes leeres Bild, welches, angeknüpft an B, zur
Vorbedeutung diente, dafs A dereinst selbst da seyn solle. Nichts ver-
hindert, dafs wir diese Vorbedeutung zutreffen lassen. Wir machen also
wiederum, wie vorhin (2), B zum Subject, und behandeln A als Prädicat,
indem wir es jenem beylügen. Da wäre nun Alles, wie es gewesen ist,
wenn nicht die leeren Bilder von neuem unsre Aufmerksamkeit forderten.
Das dritte leere Bild, welches ein zweytes ist von A, haftet an B.
Hiemit vereinigen wir A selbst. Also heben wir es hinweg aus jener
Verbindung, in die es mit seinem ersten leeren Bilde gerathen war. So
bleibt denn, — weil alles Übrige streng vestgehalten werden mufs, wie es
war, — das erste leere Bild von A allein stehn; so gerade, wie schon
zuvor das Bild von B allein blieb, und noch jetzt allein ist, denn Nichts
darf verloren gehn.
Hier wird nun schon eine Ordnung unter den Bildern bemerklich,
die bald deutlicher hervortreten soll.
5) Der Wechsel geht fort. A und B waren zusammen; sie sollen
jetzt wieder nicht zusammen seyn.
Der leichtern Übersicht wegen verfahren wir genau so wie zuvor
(in 3). Also B sondert sich ab. Dadurch entsteht in ihm, weil es immer
mit A zusammen seyn kann, wiederum ein neues Bild von A, das vierte
der Bilder überhaupt, und das dritte von A.
122 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
6) In diesem letzten Bude Hegt die Vorbedeutung dessen, was nun
folgen mufs. A vereinigt sich wieder mit B. So bleibt das Bild, mit wel-
chem es zusammen war, allein; und vergröfsert die Reihe der Bilder.
7) Diese Reihe, deren Begriff gleich näher zu bestimmen ist, und die
den Zielpunkt der Betrachtung ausmacht, wächst immerfort, indem sich
der vorige Procefs wiederholt.
[205] Gesetzt, wir haben n leere Bilder, und das nte Bild sey zu-
sammen mit A und mit B, -- welche demnach auch unter sich zusammen
sind, — so sondern wir wiederum B. Damit entsteht das (n -)- 1 ite leere
Bild; weil hier, wie jedesmal im ähnlichen Falle, die Möglichkeit vorhanden
ist, dafs mit B auch A zusammen sein könne; und weil eben dieser blofse
Gedanke das (n -j- l)te leere Bild selbst ausmacht. Alsdann vereinige
sich abermals A mit diesem Bilde und mit B, so wird das verlassene
nte Bild zu der Reihe der vorigen blofsen Bilder hinzukommen. Da nun
dieser mögliche Wechsel immer von neuem eben so möglich ist als zuvor:
so entsteht ein Zuwachs nach dem andern für die Reihe; sie geht folglich
ins Unendliche.
8) Es ist aber in der Reihe eine Ordnung, die sich überall, wo man
will, auch umkehren läfst.
Erstlich läfst sich die Reihe rückwärts durchlaufen, so dafs man von
dem nten zum (n — l)ten leeren Bilde in der Betrachtung fortgeht.
Zweytens kann man sprungweise rückwärts so gut als vorwärts, bald
dies bald jenes der Bilder in einer wiederholenden Auffassung hervorheben;
alsdann aber weifs man, dafs man spring/; das heifst: man ist sich der
Ordnungszahlen bewufst, welche den einzigen Unterschied der Bilder aus-
machen, und durch welche sie bestimmt geschieden sind.
Derjenige Unterschied, welcher Anfangs zwischen einem Bilde von A
und einem Bilde von B gemacht wurde, ist blofs als Hülfsmittel der deut-
lichem Darstellung zu betrachten; und dieses ist jetzt nicht mehr nöthig;
wir setzen es nunmehr bey Seite. Die Bilder sind unter einander voll-
kommen gleich; denn in der ganzen Betrachtung ist von der eigen thüm-
lichen Qualität des A, oder des B, gar nicht die Rede. Der Begriff des
Zusammen, und sein Gegentheil, das Nicht-[2o6]Zusammen, ist die einzige
Quelle der Reihe; hierin aber liegt gar nichts von dem qualitativen Unter-
schiede zwischen A und B.
Drittens: man kann auch jedesmal, wenn A und B zusammen sind,
B vesthalten, und A heraussondern.
Dieses Verfahren ist das Umgekehrte des Vorigen. Nun ist es zwar
an sich, auch nachdem schon jenes erste Verfahren vollzogen wurde, noch
immer willkührlich, ob man jedesmal für A ein neues leeres Bild erzeuge,
welches die Möglichkeit, dafs B mit ihm zusammen sey, repräsentire ; oder
ob man A aus dem nten Bilde in das (n — l)te Bild setzen will. Allein
dieses letztere Verfahren wird nothwendig unter der Voraussetzung, dafs
man den Begriff der Umkehrung genau vesthalten wolle. Denn unter den
Bildern geht ohnehin schon die Umkehrung vom nten zum (n — l)ten.
Und der Begriff der Umkehrung bezieht sich auf die frühere Ordnung,
deren Glieder eine der vorigen entgegengesetzte Behandlung erfahren sollen.
Unter dieser Voraussetzung also darf man, wenn statt des B nunmehr A
3. Abschn. Synechologie. i. Abth. Von Raum, Zahleta 2. Cap. V. d. starren Linie etc. 123
gesondert werden soll, keine neuen leeren Bilder erzeugen, welche sonst
eine andre Reihe, und nicht ein Rücklaufen in der schon vorhandenen
ergeben würden.
9) Gesetzt also, nachdem schon vom nten zum (n -f- l)ten Gliede,
und so weiter ins Unendliche, nach dem ersten, stets gleichmäfsig bey-
behaltenen Verfahren war fortgeschritten worden, verpflanze man beliebig
wieder A und B in das nte leere Bild; und beobachte von nun an,
wiederum gleichmäfsig, das entgegengesetzte Verfahren, nämlich jedesmal A
zu betrachten als Dasjenige, was aus der Gemeinschaft mit B gesondert
werde: so folgt nothwendig, damit die Entgegensetzung dieses und des
vorigen Verfahrens streng und genau sey, dafs nun A mit dem (n — l)ten
leeren Bilde zusammenfalle; worauf B sich mit ihm hier vereinige, als-[207]
dann A wieder gesondert werde, und B abermals nachfolge. Nun geht
aber bey dieser Art des Fortschreitens die Reihe der schon erzeugten leeren
Bilder nicht ins Unendliche, sondern A und B gelangen nach eben so
vielen Fortschreitungen, wie die Zahl n erfordert, wieder in den Anfang
der ganzen Reihe. Hier aber ist ihr Fortschreiten durch Nichts auf-
gehalten. Es entsteht nur der Unterschied, dafs jetzt nichts Umzukehrendes
sich darbietet; obgleich der allgemeine Begriff desjenigen Verfahrens , was
wir das umgekelirie nannten, noch immer die gleiche Regel des Fortschreitens
ausmacht.
Wenn also nunmehr A und B unter sich, und mit dem ersten leeren
Bilde zusammen sind, so mufs, damit dies umgekehrte Verfahren stets
gleichmäfsig befolgt werde, A wiederum gesondert werden. Nur ist jetzt
kein leeres Bild vorhanden, mit welchem es zusammen seyn dürfte; denn
an die in der ersten Fortschreitung erzeugten Bilder darf gar nicht gedacht
werden, weil sonst A dieselbe Fortschreitung machen würde, die vorhin B
gemacht hat; es soll aber nach der Voraussetzung. die umgekehrte machen.
Also erzeugt jetzt A selbst ein leeres Bild, denn es klebt ihm die Mög-
lichkeit des Zusammen mit B unvermeidlich an. Und nachdem dieses
Zusammen vollzogen worden, schreitet A, sich absondernd, wiederum fort;
und die Wiederholung dieses Verfahrens findet ebenfalls keine Gränze,
sondern geht, da es nur die Bezeichnung einer Möglichkeit ist, eben so
weit als diese Möglichkeit, das heifst, ins Unendliche. Die ganze Reihe,
vollständig zusammengefafst, ist also nun, vermöge zweyer entgegengesetzten
Fortschreitungen von einem beliebigen Anfange, zwiefach unendlich.
[208] §. 246.
Es wird nicht an Personen fehlen, welche auf alle Weise versuchen,
die vorige Construction zu beschuldigen, es lägen dabey schon Raum-
begriffe, aus der wohlbekannten vorgeblichen reinen Anschauung, — das
heifst eigentlich, aus dem vermöge des unwillkührlichen psychologischen
Mechanismus erzeugten sinnlichen Räume — versteckter Weise zum
Grunde.
Allein gerade umgekehrt kommen wir unsererseits diesen Beschuldigern
mit dem Verbot entgegen, dafs sie nichts von bekannten Raumbegriffen
einmengen sollen, weil sie sonst die ganze Construction unfehlbar ver-
derben werden.
12 4 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Wir wissen nur zu gut (denn es konnte nicht vermieden werden),
dafs gleich Anfangs, eben vermöge jener unerlaubten Einbildung von reiner
Anschauung, jene Personen sich's bequem gemacht haben. Da wir forderten,
man solle A und B nicht zusammen denken, haben sie nach ihrer ge-
wohnten Weise A und B in eine beliebige Weite auseinander gerückt,
gerade als ob schon Raum genug da wäre, von dem man eine beliebige
Gröfse zwischen A und B hineinschieben könne. Dieses, zwar unvermeid-
liche, Hineinschieben nun verbieten wir dennoch. Alles, was irgendwie
zwischen A und B seyn könnte, wenn es nicht jene leeren Bilder sind,
die wir selbst erzeugten, — soll verschwinden, und mufs in Gedanken
wieder ausgelöscht werden.
Was hiefs denn ursprünglich, A und B sind zusammen? Es hiefs, sie
sind im Causalverhältnis. Nun aber kennen wir die Selbstständigkeit jedes
realen Wesens; A sowohl als B sind solche Wesen; als zwey Selbstständige
sind sie von keinem gegenseitigen Verhältnisse abhängig. Sie können also
auch nicht-zusammen, das heifst, für einander nicht vorhanden [20g] seyn;
wovon die Folge ist, dafs alsdann, ungeachtet des Gegensatzes ihrer
wahren Qualitäten, welchen Gegensatz der Zuschauer sich durch zufällige
Ansichten deutlich macht, doch keine Störung und Selbsterhaltung eintrit.
Denn das wirkliche Geschehen der Selbsterhaltung jedes Wesens gegen
das andere folgt gar nicht aus den Begriffen, dafs die Wesen sind, oder
was die Wesen sind; sondern der einzige Erkenntnifsgrund eines solchen
Geschehens, ivenn es geschieht, ist die Erfahrung. Und die Erfahrung zeigt
die sinnlichen Dinge in Veränderung; hiemit zeigt sie mittelbar an, dafs
sich die nämlichen realen Wesen bald gegen einander selbsterhalten, bald
nicht; oder dafs wir sie in unserem Denken bald zusammenfassen müssen,
bald nicht. Wenn wir sie nun nicht zusammen fassen, so haben wir darum
doch noch keine Erlaubnifs, sie in irgend einen vorräthigen Raum hinein-
zusetzen. Es giebt also auch nichts, was wir zwischen A und B setzen
dürften. Nun begegnet es freylich (wir wollen es aufrichtig bekennen)
uns Allen, dafs wir in solchen Fällen einem unwillkürlichen psychologischen
Mechanismus nachgeben, der uns einen Raum aufdringt, welchen wir nicht
annehmen sollen. Hiegegen aber müssen wir uns stemmen; und gegen
die Bastarde unserer Phantasie eben so protestiren, wie der Mathematiker
gegen die Dicke der Flächen und gegen die Breite der Linien protestirt.
Wir wollen keinen Zwischenraum zwischen A und B; sie sind nicht zu-
sammen, aber es ist Nichts dazwischen. Die Klagen, man könne sich
das nicht vorstellen, helfen hier gar Nichts. Der Begriff soll rein bleiben;
und wir begehren keine Bilder, als ob man sie anschaue, sondern wir
fordern Begriffe, und deren Verknüpfungen. Man kann sich noch viel
weniger eine Quadrat- Wurzel aus einer negativen Gröfse vorstellen ; diese
kann man nicht einmal als etwas Denk[2 iojbares, vielweniger gleich einem
Anschaulichen fassen; aber man kann vollkommen genau damit rechnen;
und dazu gehört nichts weiter, als eine scharfe Aufmerksamkeit auf die
Merkmale und auf das Gesetz der Verbindung derselben in dem, gleich-
viel ob denkbaren oder undenkbaren, Begriffe.
Hinweg also mit jeder Frage, ob A und B sich noch als nicht zu-
sammen denken lassen, wenn nichts dazwischen wäre. Metaphysik ist
3 . Abchn. Synechologie. i . Abth. Von Raum, Zahl etc. 2. Cap. V. d. starren Linie etc. 125
nicht Psychologie; sie lehrt nicht, was man denkt, sondern, was man
denken soll; und das Sollen hängt weder hier noch in der Sittenlehre
ab vom Können.
§• 247-
So wenig nun Raumbegriffe eingemengt werden dürfen in die obige
Construction, wenn sie nicht von selbst darin entstehen: eben so gewifs
findet man einige derselben hier wieder, die man schon sonst kannte,
und mit Namen bezeichnete.
Zuvörderst den Begriff des Orts oder der Stelle. Dieser Begriff läfst
sich schon vor der gemachten Construction entdecken; nur ist es ohne
sie schwer, ihn sichtbar zu machen. A und B seyen nicht zusammen:
so braucht man nur diesen Gedanken, welcher A und B auf gleiche Weise
umfafst, so zu theilen, dafs er sich auf jedes von beyden insbesondere be-
ziehe. Alsdann hat A gleichsam die Wahl — oder eigentlich haben wir
zu wählen, — ob A noch ferner nicht zusammen, oder zusammen mit B
seyn solle. Dieselbe Wahl hat B in Beziehung auf A. Das Entweder —
Oder in dieser Wahl zeigt eine Beweglichkeit des Gedankens, welcher gar
nicht in der Qualität des A, oder des B, enthalten ist. Gesetzt, es gäbe
gar kein B: so hätte A nicht diese Wahl; sie entspringt für A aus dem
ganz zufälligen Umstände, dafs B auch existirt. A mag [211] wählen;
denn B hat etivas angeboten. Was aber B anbietet, das ist eine Art, wie
A könne gesetzt werden. Wie denn? Will man diesen Gedanken voll-
ständig entwickeln, so bedeutet er, A könne so gesetzt werden, dafs sowohl
A als B sich gegen einander selbst erhalten. Das geschieht, wenn es ge-
schieht, noth wendig in beyden. Aber die veränderte Setzung, vermöge
deren die Selbsterhaltungen beyde zugleich eintreten, geht nicht not-
wendig aus von beyden. Man kann B voraussetzen; man kann alsdann A
hinzusetzen. Eben so gut läfst sich auch A voraussetzen, und alsdann B
hinzusetzen. Dies ist die nämliche Operation, wie bey den Urtheilen in
der Logik, wenn sie schlechthin umgekehrt werden können, oder auch,
wenn man die nöthige Abänderung der Quantität nachträglich beyzufügen
sich vorbehält. Kein Cirkel ist ein Viereck; kein Viereck ist ein Cirkel.
Zwey mal zwey ist vier; und vier ist zweymal zwey. Rosen sind Blumen;
und Blumen (nämlich einige derselben) sind Rosen. Hier überall hatte
man zwey vorliegende Begriffe; und nun konnte man, unter Beobachtung
nöthiger Vorsicht, einen oder den andern zuerst hinstellen; alsdann den
andern hinzufügen. So gerade, wenn A und B aus dem Nicht -Zusammen
übergehn sollen ins Zusammen, hat man noch die Wahl, entweder eins
oder das andere vorauszusetzen, um das andre nachzutragen.
Welches man voraussetzt, dieses bietet dem andern die Stelle, oder
den Ort, tvohin es könne gesetzt werden. Die eben gegebene Erläuterung
zeigt nun deutlich das Verhältnifs zwischen dem Wo und dem Wie. Nämlich
das Wie ist ursprünglich so allgemein, dafs es auch das Wo unter sich
befafst. So sagten wir oben, was B anbiete, das sey eine Art, wie A
könne gesetzt werden. Allein es entdeckte sich gleich [212] darauf, dafs
man nicht nöthig habe, das Wie im vorliegenden Falle vollständig zu ent-
wickeln: und dafs die erste Hälfte dieser Kntwickelung das Wo ergebe,
I2Ö Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
sobald man sich der Freyheit bediene, welche sich darbietet. Die voll-
ständige Entwicklung des Wie? führte bey den realen Wesen auf das
wirkliche Geschehen ihrer Selbsterhaltungen; ein zwiefaches, nothwendiges,
unzertrennliches Geschehen, wovon kein Theil dem andern darf voraus
oder nachgesetzt werden. Aber das vorläufige Zusammenfassen des A
und B, wobey man noch nicht überlegt, ob und welcher Gegensatz der
Qualität zwischen beyden statt finde, gestattet eine Willkühr; man braucht
nicht beyde auf einmal und auf gleiche Weise zu fassen; man kann erst
Eins fassen, und alsdann ihm das andre bringen. Und noch ehe man
es bringt, kann man die Möglichkeit dieses Bringens überlegen. Daraus
entstand uns vorhin das leere Bild des A, welches geheftet war an B,
oder zusammen mit B, noch ehe und bevor A selbst dahin kam. Es ist
nun gleichbedeutend zu sagen: B bietet dem A einen Ort an, wo es styn
könne, oder: B gestattet, daß ihm das leere Bild von A, auch wenn A selbst
nicht mit ihm zusammen ist, dergestalt angeheftet werde, als gäbe es ein
wahres Zusammen des B mit dem leeren Bilde. Natürlich ist dies eine
blofse Fiction; denn gegen das blofse, nichtige Bild des A wird B nicht
sich selbst erhalten. Aber wir sind hier in der Gegend der Fictionen;
alle Raumbegriffe sind nichts anderes als Gedankendinge.
§• 248.
Femer findet sich in der gemachten Construction der Begriff des
Zwischen.
Im Allgemeinen ist dieser Begriff unläugbar allent-[2i3]halben da zu-
gegen, wo die Ordnungszahlen unzweideutig fortschreiten. Das nte leere
Bild liegt zwischen dem (n — l)ten und dem (n-j-l)ten.
Wie? werden jene Beschuldiger ausrufen (§. 246), haben zuir nicht
die Frevhcit, das (n -\- ljle Bild dergestalt seiticärts, oberwärts, hinterwärts
zu setzen, daß die Bilder in ihrer Lage weit genug von der Ordnung der
Zahlen abweichen ?
Nein ! Diese Frevheit ist schon abgeschnitten. Es ist ein für allemal
verboten, seitwärts, oberwärts, unterwärts etwas zu setzen, denn alle diese
Begriffe stammen aus dem als bekannt vorausgesetzten Räume. Wer jetzt
schon Puncte in ein Dreyeck stellt, der mag sich selbst beschuldigen, die
Fläche einzumengen, noch bevor wir es ausgesprochen haben, dafs wir
von einer Linie reden. Es geht nicht so schnell mit unserer Anknüpfung
des Bekannten an das Neue.
Wenn in unserer Construction B von A gesondert wird, so verliert
es sich damit nicht von demselben, sondern es bleibt ganz in der Nähe,
weil kein Zwischenraum vorhanden ist, um welchen beyde getrennt seyn
könnten. Es macht auch keine winklichte Bewegung, denn alsdann käme
ein Begriff von gegenseitiger Lage zur Anwendung, der aus der bisher
geöffneten Quelle nicht entspringen kann. Unsre Fortschreitung ist stets
gleichförmig. Indem wir von Bild zu Bild weiter kommen, liegt stets das
Vorhergehende hinter uns, ohne irgend einen andern Unterschied, als
welchen die Ordnungszahlen n — 1, n, n -+- 1, bestimmt angeben. Alles
Unbestimmte, Schwankende, was Jemand in unserer Construction meinen
könnte zu finden, würde \erschiedene Möglichkeiten voraussetzen, unter
3-Abschn. Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahl etc. 2.Cap. V. d. starren Linie etc. 127
welchen zu wählen wäre; aber wir wissen hier noch nichts von diesen
Möglichkeiten, und können folglich [214] nicht wählen. Es mag wohl
seyn, dafs Jemand unzählige Wege weifs, wie man von dem zwanzigsten
leeren Bilde gelangen könne zum vierundzwanzigsten; wir aber wissen
nicht anders, als dafs dieses letztre gar nicht da seyn würde, wenn es
nicht folgte auf das dreyundzwanzigste; und wiederum dies nicht wäre
ohne das zweyundzwanzigste; und so rückwärts. Daher können wir
schlechterdings nicht anders als nur vermittelst des ein, zwey, dreiund-
zwanzigsten gelangen vom zwanzigsten zum vierundzwanzigsten.
Wir sagen demnach nicht blofs: jene liegen daziüischcn, sondern auch,
sie liegen gerade dazwischen. Das heilst, ganz, und vollständig, und
unumgänglich dazwischen. Dies freylich in unserer Unschuld; denn wer
weifs, welche Künste des Umgehens wir künftig noch lernen werden!
Soviel aber ist gewifs, dafs wir die Richtigkeit unseres Ausdrucks sehr
leicht analytisch aus dem Sprachgebrauche nachweisen können.
Alle Schwierigkeit, welche man von jeher in der Erklärung des
Geraden gefunden hat, rührt daher, dafs man daneben immer schon das
Krumme in Gedanken hatte. Man bezog die gerade Linie immer nur
auf den Raum; in diesem giebt es allerdings Gerades und Krummes.
Hätte man gedacht an Zahl, Grad und Zeit: so wäre das Gerade sogleich
erkannt worden. Der siebente Grad der Wärme liegt gerade, und nicht
schief, zwischen dem achten und dem sechsten; eben so gerade als 7
zwischen 6 und 8, oder 8 und 6; denn es kann Niemandem einfallen
ihn zu umgehen, wenn die Wärme fallen oder steigen soll. Die Zeit
{liefst ebenfalls gerade; und Niemand läfst sich täuschen von den Ringel-
tänzen der Hören. Jedermann kennt die Gleichartigkeit wiederkehrender
Tagesstunden; aber Niemand hält die heutigen Stunden für eine ächte
Wiederholung der gestrigen.
[2 1 5] Vielleicht aber meint Jemand, das Gerade bekomme erst im Gegen-
satze gegen das Krumme seine rechte und volle Bedeutung. Das wollen
wir nicht ganz ableugnen; insofern aber können wir an diesem Orte noch
nicht ausführlicher sprechen vom Geraden, weil noch keine Quelle ge-
öffnet ist, aus welcher das Krumme, und der Gegensatz beyder, hervor-
gehen könnte.
§. 249.
Endlich dürfen wir es aussprechen; die gemachte Construction ist die
einer Linie; aber nicht einer stetigen, sondern einer starren.
Wäre sie keine Linie: so wäre sie eine discrete Reihe von Funden.
Denn ohne Zweifel sind die leeren Bilder, jedes einzeln genommen, Puncte.
Was sie abbilden, das ist vollkommen einfach in jeder denkbaren Beziehung
(§. 208, 20g); sie selbst, als getreue Bilder, müssen eben so einfach seyn.
Diese Bilder des Einfachen sind nun freylich nicht Gränzen einer Linie,,
eben so wenig als unsre Linie die Gränze einer Fläche; aber diese will-
kührlichen, wiewohl beliebten, Erklärungen sind ohnehin zu eng. Die Zeit,
die Folge der Grade, der Zahlen, denkt sich Jedermann unter der Form
der Linie, und doch ist dabey nicht zu denken an begränzte Flächen. Eben
so wenig kann die Zahl 7 oder 10 als Gränze zwischen dem, was unend-
I28 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
lieh wenig Mehr oder Weniger ist, gedacht werden, denn die zwischen-
eingeschobenen Brüche gehn nicht den ganzen Zahlen voran; sie folgen
ihnen nach. Die Zahlen 7 und 10 sind veste Puncte; das Zwischen-
geschobene schwankt und schwebt.
Zwischen unsern Puncten darf bekanntlich gar Nichts eingeschoben
werden. Gleichwohl sind sie vollkommen auf sei- einander; denn sie ent-
stehen aus dem Nicht -Zusammen. Dagegen bezeichnet das Zusammen
ein voll-[2i6]kommenes Ineinander; weil darin nicht das Mindeste liegt,
was dem Aufser ähnlich wäre; vielmehr das Nicht- Zusammen gänzlich auf-
gehoben wird durch das Zusammen. Zwey Puncte aber, zwischen denen
nicht vermöge der Construction andere, regelmäfsig im Denken erzeugte
Puncte liegen, sind aneina?ider, ohne Spur des Zusammenfliefsens und des
Zwischenraums.
Darum nun, weil das gewöhnliche Hülfsmittel des Sonderns, nämlich
das Zwischenschieben in Folge des psychologischen Mechanismus, für zwey
nächste Puncte gänzlich verboten ist, können wir unsre Construction nicht
als eine Reihe discreter Puncte betrachten; vielmehr nennen wir sie eine
Linie; und sagen mit der alten Metaphysik: extensio lineae ex numero puneto-
rum, quibus constat determinatus \ Allein wir hüten uns zu behaupten,
dafs diese Erklärung auf alle Linien passen könne. Was wir gefunden
haben, das ist eine Art von Linien; nicht lange, so werden wir auch eine
andere, geometrische Art von Linien finden, in der man vergeblich die
Puncte würde zählen wollen. Der Unterscheidung wegen nennen wir
unsere jetzige Linie starr, weil sie strenges Aneinander ihrer Puncte fordert,
die mit einer fliefsenden Gröfse keine Ähnlichkeit haben.
§■ 250.
Die construirte Linie löset nun die Aufgabe, das mögliche Zusammen
und Nicht - Zusammen geordnet, vollständig, und ohne fremdartige Bey-
mischungen zu denken.
Wollte Jemand zu diesem Zwecke blofs abwechselnd trennen und
zusammenfassen: so würde er bey der Zu-[2 1 7]sammenfassung die leeren
Bilder vergessen oder verwerfen, welche bevm Trennen entstanden, indem
jedes dem andern eine Stelle darbot (§. 247). Dies ist der erste Grund,
weshalb nicht Jeder von selbst auf unsre Construction kommen wird. Die
leeren Bilder scheinen höchst unbedeutend; hintennach aber geräth, wegen
dieser Vernachlässigung, die Lehre vom Raum dergestalt in Verwirrung,
dafs man sie gar nicht mehr mit den Vorstellungen des Realen in Ver-
bindung zu bringen weifs; und dann sucht man vergeblich nach einer Er-
klärung der Materie. Die Elemente derselben haben zwar eben so wenig
die Lage der Puncte in unsrer starren Linie, als die Materie dem geo-
metrischen Continuum gleicht: aber um zu bestimmen, wie die Elemente
liegen, mufs man erst das Starre kennen, um alsdann die Abweichungen
von demselben gehörig zu bestimmen. Alles Bisherige ist nur der Anfang
einer weitern Untersuchung.
* Baumgartens Metaphysik >;. 287.
2. Abschn. Svnechologie. i . Abth. Von Raum, Zahl etc. 2. Cap. V. d. starren Linie etc. i 2 9
Nachdem die Construction der Linie fertig ist, versteht sich nun von
selbst, dafs man die Freyheit hat, auf ihr A und B zu setzen, wohin man
will, und in jede beliebige Entfernung. Denn alle Puncte der Linie bieten
sich dar als mögliche Stellen für jedes der beyden realen Wesen, welche
eben so wenig irgendwo vest kleben, als sie überhaupt, an sich, räumliche
Prädicate haben. Wir haben nur die Form der Zusammenfassung unter-
sucht, deren unser Denken bedarf, wenn wir in Ein Vorstellen beyde ver-
knüpfen wollen.
Jetzt aber verdient noch bemerkt zu werden, dafs auch die Form
der Zusammenfassung nicht durchaus von der Voraussetzung einfacher
realer Wesen abhängt. Dies ist sehr leicht daraus zu erkennen, dafs wir
an die Qualitäten derselben, und an die absolute Position, zwar hie und
da erinnert, nirgends aber uns darauf gestützt haben. Man würde andre
Beyspiele für die näm-[2 i8]liche Construction finden können, wenn nicht
alle bekannten Gegenstände schon ihre inwohnenden Bestimmungen der
Gröfse oder anderer Beziehungen mitzubringen pflegten. Nicht die Realität,
nicht den Gegensatz der Qualitäten, wohl aber die Einfachheit mufs man
dem A und B lassen, wenn diese Buchstaben zum gleichen Behuf etwas
anderes bedeuten sollen. Auch den Begriff des Ineinander kann man
dabey nicht entbehren. Darum ist es schwer, gut passende Beyspiele
anderer Art zu geben. Dennoch kann es nützlich seyn, wenn Jemand
zur Übung etwan ein paar Zahlen auf ähnliche Weise zu behandeln ver-
suchen will. Wenn 7 -{- 3 = 10 gesetzt ist; und man, wie sichs gebührt,
jede dieser Zahlen rein intensiv denkt: so läfst sich wohl die 7 betrachten
als trennbar von 3, und auch als zusammenfliefsend mit ihr in der 10.
Sind sie gesondert: so liegt die doppelte Möglichkeit vor Augen, dafs die
7 durch 3, oder die 3 durch 7 einen Zuwachs empfangen könne. So
bietet jede der andern eine Stelle dar; und dieser Raumbegriff der Stelle
oder des Orts erzeugt sich wiederum unter Umständen, wo gewifs keine
räumliche Voraussetzung in geheim war gemacht worden. Allein um sich
davon ganz klar zu überzeugen, dafs wirklich genau dasselbe, was wir eine
Stelle gewohnt sind zu nennen, auch hier vorkomme: mufs man erst
solcher Stellen mehrere, und diese getrennt von den Gegenständen, —
man mufs sie als leere Stellen betrachten, wie vorhin unsre Bilder dann
waren, wann wir sie bloße Bilder nannten, nämlich solche, mit denen nicht
A oder B zusammen waren. Um dies zu vollziehen, füge man die 7 zur
3; sondere alsdann die 3; bringe ihr wieder die 7; sondere von neuem
jene, und trage diese hinzu; so, dafs man die Vorstellung des Scheidens
immer auf die nämliche Zahl, hingegen die des Hinzutretens auf die
andre übertrage. [2 1 q] Wir können dies rein arithmetisch so ausdrücken :
von 10 subtrahire man 3; zu dieser 3 addire man 7; das erstemal blieb
7, das zweytemal war das Bleibend- Vorhandene die 3, hingegen was vorhin
blieb, wurde nun Zusatz zu jenem. Man fahre eben so fort; wiederum
bleibt 7, also rückt 3 ; zu dieser nämlichen 3 rückt alsdann jene, während
diese bleibt. Man mag nun wollen oder nicht: so wird man endlich ge-
wahr werden, dafs die Zahl 10, obgleich stets dieselbe Zahl, doch hiebey
durch eine Reihe von Stellen hindurchwandert, die in Gedanken entstehn,
obgleich sie im sinnlichen Räume nirgends zu finden sind. Noch deut-
Herbart's Werke. VIII. 9
j^0 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
licher wird dies bey der Umkehrung. Von der 10 subtrahire man jetzt 7;
es bleibt 3. Statt nun zu der bleibenden 3 wiederum die subtrahirte 7
hinzu zu thun, — wodurch die 10 vollkommen wieder in ihren alten
Stand gesetzt würde: reflectire man auf die vorhin weggenommene Zahl;
ihr gebe man die, welche blieb. So fortfahrend verliert immer 3 die 7,
gewinnt immer 7 die 3 ; und entsteht immer 10 aus der 7 durch Zusatz
von 3, während eben so gut nach dem frühern Verfahren 10 jedesmal
aus der 3 durch Zusatz von 7 entstehn konnte. Was an diesem Bey-
spiele fehlt, das ist in den leeren Bildern zu suchen, die man hier nicht
leicht vesthalten kann. Denn was heifst ein Bild von drey? oder von
sieben? Entweder man stellt sich im eigentlichen Wortverstande, grob-
sinnlich, ein Bild vor, etwa das Zahlzeichen 3, die Ziffer 7; oder man
bezieht, wie es der Sache gemäfs ist, den Begriff drey, den Begriff sieben,
auf drey oder sieben Gegenstände; im letztem Falle aber kommt zum
Vorschein, dafs sieben mehr ist als drey, und beydes mehr als Eins; kurz,
die Intensität des Begriffs von reinen Zahlen geht verloren, auf welcher
eben die Kraft des Beyspiels beruhete.
Weil wir aber einmal bis zum Grobsinnlichen her-[2 2o]abgestiegen
sind, so wollen wir noch dem unauf merk f amen Leser, falls es einen solchen
giebt, — eine Arbeit zumuthen, die er gewifs machen kann, und bey
welcher ihm, wenn er sie lange genug fortsetzt, wohl irgend einmal der
wahre Sinn unserer Construktion einleuchten wird.
Nehmt einen grofsen Beutel mit Pfennigen. Zählt daraus zehn auf
den Tisch. Von diesen nehmt drey hinweg. Zu den dreyen fügt sieben
aus dem Beutel (denn die vorhin übrig gebliebenen 7 sollen liegen bleiben).
Nachdem jetzt von neuem diese zehn hingezählt sind, nehmt abermals
davon drey hinweg. Eben diese drey, verbunden mit neuen sieben aus
dem Beutel, zählt wieder auf den Tisch. Fahrt so fort; und bald wird
der Tisch zu eng werden, indem jedesmal 7 Pfennige liegen bleiben.
Holt einen neuen Tisch; füllt ihn wie vorhin. Bald wird der dritte, vierte
nöthig werden; die Reihe der Tische wird im Zimmer nicht mehr Platz
haben. Setzt also Eure Arbeit in dem daran stofsenden Gemach fort.
Bald werdet ihr die Strafse, den Markt, ja das freye Feld zu Hülfe nehmen
müssen. Das Bedürfnifs des Raums wird demnach fühlbar werden. Da
wir nun nicht so unhöflich sind, Jemandem hier eine wirkliche Handarbeit
mit kupfernen Pfennigen und hölzernen Tischen anzusinnen; sondern Alles
nur in Gedanken geschieht: so ist das Bedürfnifs des Raums unmittelbar
verbunden mit seiner Befriedigung, nämlich in Gedanken. Eben deshalb
auch wird Niemand in Versuchung gerathen, die Tische bald rechts bald
links, bald im obern bald im untern Stockwerke des Hauses aufzustellen;
sondern indem unsre Vorschrift ohne solche fremdartige Einmischungen
befolgt wird, dergleichen im wirklichen Leben etwa die häusliche Bequem-
lichkeit — gewifs ein fremdartiger Grund, — herbeyführen könnte, wird
das Product der [221] Arbeit ganz von selbst gerade vorwärts gehen, in
der nämlichen Richtung, worin es einmal begonnen wurde. Jetzt aber
müssen wir doch bekennen, in Einem Puncte eine falsche Vorschrift ge-
geben zu haben. Es sind nämlich von jeder Auszählung wirklich sieben
Pfennige liegen geblieben. Diese sollten nun blofs den Platz bewachen,
3. Abschn. Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahl etc. 2. Cap. V.d. starren Linie etc. 13 t
wo sie lagen, damit man nicht zweymal auf die nämliche Stelle zähle.
Mag also von fern eine andre Person der Auszählenden nachgehn, und
die Pfennige wieder einsammeln; das Metall brauchen wir nicht mehr,
wenn man uns nur die Stellen einräumt. Die Stellen aber brauchen keinen
Tisch; sie entstehen dadurch, dais zu dem Einen das Andere hinzu gethan
wird; und sie vermehren sich, wenn nach geschehener Sonderimg das Hinzu-
thun erneuert wird; und sie bilden eine Reihe, wenn die Erneuerung regel-
mäßig fortgesetzt wird; und die Glieder dieser Reihe sind atifser einander \
weil sie die wiederholte Sonderung abbilden; endlich, sie sind aneinander,
sobald jede fremde Einmischung abgehalten wird.
§• 251.
Da wir im Vorhergehenden gegen die Einmischung des psycho-
logischen Mechanismus protestirt haben : so könnte wohl Jemand fragen,
ob denn in der Metaphysik der intelligibele Raum zu Stande kommen
solle, ohne den psychologischen Bedingungen zu genügen? Und ob wir
vergäfsen, dafs wir zu unsern Vorstellungen selbst die Vorstellenden seyen?
Wer indessen nur wirklich die Psychologie gehörig verglichen hat,
der wird kaum noch so fragen. Denn er wird sogleich einsehen, dafs
allerdings die Reihe von Puncten, welche wir aus dem Nicht- Zusammen,
in seiner beständigen Abwechselung mit dem Zusam?nen, [222] erhielten, je
länger sie wird, um desto merklicher dem psychologischen Gesetz ent-
spricht, dafs jede Raum -Vorstellung auf abgestuften Verschmelzungen be-
ruhe. Bezeichnen wir die Puncte unserer Linie mit u, [i, y, ... so ver-
schmilzt die Vorstellung von u. mehr mit ß, weniger mit y, noch minder
mit S, und so weiter; die hintern Puncte der Reihe machen sogar die
vordem vergessen, das heifst, sie treiben deren Vorstellung auf die Schwelle
des Bewufstsevns. Es kostet also uns nicht die mindeste Mühe zu zeigen,
dafs allerdings gerade durch eben denjenigen psychologischen Verlauf,
welchen wir in der Mechanik des Geistes beschrieben haben, auch hier
die Vorstellung der starren Linie möglich wird.
Aber wenn der psychologische Mechanismus seine Schuldigkeit thut,
warum ist denn gegen ihn protestirt worden?
Antwort: darum, weil er nicht seine Schuldigkeit thut. Das wirk-
liche Product, was er in unserm Falle erzeugt, ist keine wahre Linie, son-
dern eine Reihe von Puncten ; zwischen welche sich immer noch hinten-
nach etwas einschieben läfst. Sollen zwanzig Puncte bestimmt unter-
schieden werden, so dafs die Linie aus ihnen bestehe, wir wir es allerdings
fordern : so mufs gleich die erste der hiezu gehörigen Vorstellungen neun-
zehn bestimmt unterschiedene Reste nach der Hemmung; übrig; lassen,
mit welchen sie der zweyten, dritten, vierten, . . . Vorstellung verschmolzen
sey. Nun kann man wohl in der einen Vorstellung so viele Reste ab-
theilen ; man kann etwa sagen, der gröfste Rest betrage 19/20, der nächste
18/20, und so fort, der kleinste also Vaoi m welchem Falle die ganze Vor-
stellung als bestehend aus 20 Zwanzigsteln gedacht wird. Aber keines-
weges besteht die Vorstellung aus diesen llieilen. Sondern die Theilung
beruht auf der [223] Hemmung; die Hemmung aber ist für die Vor-
stellung ein widriger Zufall, und folglich auch die Theilung. Gesetzt nun,
9*
j,-, I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
die Verschmelzung der Vorstellung des ersten Puncts mit denen des
zweyten, dritten u. s. w. sey wirklich so abgestuft, wie jene Theilung an-
zeigt ; und nun frage Jemand, ob denn zwischen dem dritten und vierten
Puncte Nichts mehr zwischen eingeschoben werden könne? so bedeutet
die Frage so viel, als, ob zwischen 18/20 und 17/.20 keine Brüche mehr in
der Mitte liegen? Allerdings liegen unendlich viele dazwischen. Die erste
Vorstellung ist also ganz unstreitig sehr wohl empfänglich für eine neue
Abstufung; es kann z. B. ein Rest = 35Ao mit irgend einer neuen Vor-
stelluno- y verschmolzen werden. Wenn alsdann die erste sich erhebt,
und die folgenden reproducirt: so wird der Rest 18,o0 = 36/40 schneller, der
folgende = 35/40 langsamer, der nachfolgende 17/20 = si/i0 noch langsamer
reproduciren. So gerät y in die Mitte zwischen dem dritten und vierten
Puncte, und diese liegen folglich nicht aneinander, wie sie doch sollten.
Diese Unfähigkeit des psychologischen Mechanismus nun, das An-
einander mit beharrlicher Treue darzustellen ; dieses unwillkürliche Gleiten
und Verfallen in ein allmähliges Zwischenschieben, welches erscheint wie
eine successive Theilung des vorgestellten Gegenstandes in immer kleinere
Theile, — kennen zwar die Anhänger der reinen Anschauung nicht nach
seinen psychologischen Gründen; aber sie fühlen den Erfolg! Und das
gilt ihnen statt des Beweises, die Vorstellung des Stetigen müsse die
herrschende seyn. Werden sie einmal mehr von der Sache erforschen,
so wird ihnen vor Augen liegen, dafs in dem wirklichen Vorstellen, als
einem psychologischen Producte, eben so wenig das Stetige als das An-
einander 'zu finden ist. Denn dazu würde gehören, dafs die einzelnen
Vorstellungen wirklich ihrer unendlich viele in unendlich verschie-[2 2 4]denen
Abstufungen verschmolzen wären; aber hier, wie überall, bleibt eine un-
übersteigliche Kluft zwischen dem Unendlichen und dem Wirklichen.
Eine höhere Ausbildung des psychologischen Mechanismus liegt dem
metaphysischen Denken zum Grunde. Sie hat uns zwar nicht eine Fähig-
keit gegeben, zu leisten, was nicht geleistet werden kann. Aber sie bringt
uns dahin, eine Forderung anzuerkennen, die wir erfüllen müfsten, wenn
unser Denken eine solche Form der Zusammenfassung annehmen sollte,
wie sie passend ist für ein mannigfaltiges Reales. Sie hütet uns vor der
Einbildung, als ob wir dasjenige aus dem Gebiete des Wissens, ja der
Untersuchung, entfernen müfsten, was sich nicht geradezu in die Form des
Stetigen fügen will.
Was würde man von Demjenigen sagen, der moralische Forderungen
durch Nachweisung psychologischer Beschränktheit würde umstofsen wollen?
Doch wir erinnern uns : hier hat man die Forderung für eine Erkenntnifs
der wirklichen Beschaffenheit des Geistes gehalten ! Und dort, gerade um-
gekehrt, hat man die geforderte Vorstellung des Aneinander lieber ver-
worfen, und sich mit der wirklichen psychologischen Unfähigkeit beholfen.
§• 252.
Das Nicht -Zusammen, welches sich schon in den ersten beyden
leeren Bildern, und dann femer in je zwey nächsten Puncten unserer
Linie darstellte, gab der gemachten Konstruction den Inhalt. Die Ord-
nungszahlen aber gaben die Form, indem sie bestimmten, wie viel mal die
3. Abschn. Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahl etc. 2.Cap. Von d. starren Linie etc. 133.
Fortschreitung wiederholt, und wie weit sie gediehen sey. Abstrahirt man
von dem Nicht -Zusammen, und von dem gleichzeitigen Vesthalten aller
leeren Bilder, wobey die frühern über den spätem [225] wenigstens nicht
vergessen werden sollten, — so bleiben die blofsen Ordnungszahlen zurück.
Ihre Reihe fing bey uns zwar erst an bey dem dritten Gliede; denn die
ersten zwey hatten wir dergestalt zugleich, dafs in ihnen unmittelbar kein
erstes vom zwevten konnte unterschieden werden. Allein bei der Um-
kehrung der Reihe kommt man allerdings eher an das zweyte als an das
erste, und dadurch werden beyde erkennbar. Nur weiter rückwärts können
die Ordnungzahlen nicht fortgesetzt werden; es giebt kein Nulltes Glied;
die Null würde kein vorhandenes anzeigen. Dafs die Mathematiker den-
noch das erste Glied einer Reihe mit o zu bezeichnen pflegen, hat übrigens
seinen guten Grund; sie zählen nicht die Glieder, sondern die Fort-
schreitungen. So pafst denn auch nach der entgegengesetzten Seite hin die
Bezeichnung — 1, — 2, und so weiter; indem Null nach beyden Seiten hin
den Anfangspunct des Fortschreitens angiebt. Allein wenn man die Glieder
zählt: so sind sie als sämmtlich vorhanden anzusehen; und daher ent-
sprechen ihnen keine negative Zahlen; wederOrdnungs- noch Cardinal-Zahlen.
Gleichwohl giebt unsre Construction vollständige Veranlassung, auch
über die Verbindung der Negation mit den Zahlen (welche von dem
Fundamente der Arithmetik wenigstens die Hälfte ausmacht) nachzudenken.
Bey dem Umkehren auf der Linie wird sie, vom Anfangspuncte an ge-
rechnet, offenbar verkürzt; es wird ihr etwas genommen, nämlich der-
jenige Theil, den man rückwärts durchläuft. Dieser also wird in Be-
ziehung auf sie verneint. Auch wenn man über den Anfangspunct hinweg
rückwärts geht, ist das vorhin Verneinte im gleichmäfsigen, ununterbrochenen
Wachsthum begriffen. Betrachtete man nun vorhin, bis zum Anfangspuncte,
die Verneinung als aufhebend das vorhandene Positive, so [226] giebt beydes
zusammen Null. Aber die Verlängerung des Verneinten, noch über den
Anfangspunct hinaus, hebt sich nicht durch ein Positives; daher besteht
sie als eine negative Gröfse, gleichsam wartend, ob ein Positives kommen
werde, sich mit ihr in Null zu verwandeln.
Dieser Begriff der negativen Gröfse hängt nun aber den Zahlbegriffen
gar nicht als ihr Merkmal an. Sondern die Negation bezieht sich auf die
Linie, welcher etwas gegeben und genommen wird.
Hiemit mufs man Betrachtungen über die Zahlen selbst verbinden.
Das Gezählte waren die Punkte; diese, in bestimmter Weite zusammen
gefafst, ergeben eine bestimmte Anzahl ; denn es liegen deren nicht mehr
und nicht weniger zwischen gegebenen Gränzen, als wie viele die Con-
struction erzeugte, welche eben sowohl die einzelnen zwischenfallenden, als
die Gränzpuncte gesetzt hat. Aber alle Puncte sind gleichartig; sie fallen
unter einen allgemeinen Begriff des Pnncts. Nun gehe man von diesem
Begriff in Gedanken aus; und überlege, welches Complement zu ihm
kommen müsse, um wiederum die Anzahl hervorzubringen ? Es ist offenbar
die Bestimmung: wie viel mal der allgemeine Begriff passe auf die Anzahl.
Kurz also: die Anzahl wird nun angesehen als ein Product ; dieses Pro-
duetes Multiplicandus ist der allgemeine Begriff; der Multiplicator , oder
das erwähnte Complement des Begriffs, ist die eigentliche Zahl.
1^1 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfangen etc. 1829.
Jetzt zeigt sich schon eine zwiefache, und völlig verschiedene Weise,
Negationen mit Zahlen zu verbinden. Man kann nämlich auch das Multi-
pliciren verneinen ; und das heifst bekanntlich Dividiren ; die Zahlen
werden hiedurch Divisoren. Das setzt voraus, man habe ein Product,
worin eine gewisse Zahl als Factor stecke; diesen Factor als solchen ver-
neinen, [227] heifst, ihm einen gleich grofsen Divisor entgegensetzen, und
ihn dadurch aufheben. Hingegen jene erste Negation ging auf den Multi-
plicandus; sie begleitete blofs die Zahl, der man ein Minuszeichen vor-
setzte; und das Product wurde nun zur negativen Gröfse.
Will man von hier aus einen Blick auf die bekannten Regeln der
Multiplication und Division mit entgegengesetzten Gröfsen werfen? Warum
geben verschiedene Zeichen Minus, gleiche Zeichen Plus? Jeder künst-
liche Beweis hievon ist eine Künsteley; der Grund darf gar nicht so dar-
gestellt werden, als wären die Zahlen afficirt durch die Zeichen. Sondern
die Zeichen gehen unmittelbar auf den allgemeinen Begriff des Gegen-
standes ; darum zählt man sie paarweise, um sie als gleichartige Negationen
gegenseitig aufzuheben; eine übrig bleibende Negation macht alsdann das
Glied negativ. Die Zahlen, und das Vervielfältigen, werden davon gar
nicht berührt; wissen davon Nichts. Sie multipliciren wie sonst. So auch
— a a a
~b~ = — ~b = _ ~b '
Denn dieses sind lediglich verschiedene Schreibarten; es ist an sich,
und ursprünglich gleichgültig, wohin man das Minuszeichen setze; es ver-
bindet sich doch weder mit a, noch mit b, noch mit dem ganzen Bruche,
■sondern es geht auf den Gegenstand, dessen allgemeiner Begriff zu den
Zahlen mufs hinzugedacht werden. Dies Hinzudenken ist die nothwendige
Ergänzung aller Zahlen ; und in der Vernachlässigung desselben liegt der
Grund, wenn die höchst einfachen, bekannten Anfänge der Arithmetik
irgend etwas Dunkeles zu enthalten scheinen.
Wenn in der Beziehung zwischen der Zahl und dem allgemeinen
Begriffe ihres Gegenstandes der Beziehungspunct eine Stufe höher gestellt
wird: so entstehn [228] die höhern arithmetischen Begriffe. Man be-
trachtet den Ausdruck: X . am. Hier bedeutet X den allgemeinen Begriff
eines Gegenstandes; er ist der ursprüngliche Beziehungspunct. Aber sein
Multiplicator am enthält dieselbe Beziehung zwischen Zahl und Gegen-
stand noch einmal auf einer höhern Stufe. Man soll X jetzt m mal mit
a multipliciren. Also hat man von der Multiplication mit a wiederum
einen allgemeinen Begriff gebildet; und auf die Frage: wie viele mal soll
multiplicirt werden mit a? antwortet nun die Zahl m als Multiplicator der
Multiplication.
Nichts ist leichter, als hieraus die verschiedenen Exponenten, die
Wurzeln, und die Logarithmen zu erklären ; und überhaupt zu der ganzen
Arithmetik die Eingänge zu beleuchten. Allein schon das Unentbehrliche
aus der Philosophie der Mathematik, ohne welches die Lehre von der
Materie sich nicht begründen läfst, war vielleicht eine unwillkommene
Unterbrechung.
3. Abschn. Synechologie. i . Abth. Von Raum, Zahl etc. 3. Cap. V. d. stetigen Linie etc. 1 3 g
Drittes Capitel.
Von der stetigen Linie und der Ebene.
§• 253-
Wir beabsichtigen jetzt, aus der bisherigen Construction herauszutreten,
um dieselbe zu erweitern. Dazu liegt zwar in der Möglichkeit, dafs A
und B zusammen oder auch nicht zusammen seyen, keine Aufforderung.
Denn jeder Punct unserer Linie stellt die Möglichkeit ihres Zusammen, je
zwev nächste Puncte stellen das einfache Nicht -Zusammen, und jedes Paar
getrennter Puncte jede beliebige Vervielfältigung [229] des Nicht-Zusammen
deutlich vor Augen. Umgekehrt, jede beliebige Entfernung des A und B
ist eine Distanz auf der Linie A B ; wenigstens verliert diese Linie alle Be-
deutung, und verwandelt sich in eine ganz leere, beziehungslose Einbil-
dung, sobald man etwa annimmt, B oder A, oder beyde, lägen nicht in
dieser Linie.
Aber die Erfahrungsgegenstände, mit ihren mannigfaltigen Inhärenzen
und ihrem vielfachen Wechsel, deuten nicht blofs auf zwey, sondern auf
viele reale Wesen. Daher können wir uns nicht mit A und B begnügen;
wir nehmen vielmehr sogleich noch ein drittes, C, hinzu.
Mit diesem C könnten sowohl A als B zusammen seyn. Ein leeres
Bild, als Andeutung davon, ist hiemit dem C angeheftet; es braucht nur
Eins ; da die eigenthümliche Qualität des A oder B hier nicht in Betracht
kommt.
Wo ist aber C? Sollen wir dasjenige leere Bild, das ihm anklebt,
als einen der Puncte unserer Linie A B betrachten ? Dazu ist gar kein
Grund : denn C ist ein selbstständiges Wesen, und nicht im mindesten ge-
bunden an eine Construction, deren Anlafs von A und B ausging. Wir
setzen also C aufser der Linie A B ; vorausgesetzt, es sey Nicht zusammen,
weder mit A, noch mit B. Eigentlich haben wir noch keinen Zwischen-
raum zwischen C und den andern beyden; da jedoch schon der Begriff
jeder beliebigen Entfernung, als eines solchen Nicht-Zusammen, aus welchem
der Übergang ins Zusammen frey steht, aus dem Vorigen bekannt ist; so
kann auch die Frage, ob C mit A und mit B zugleich aneinander seyn
könne? umgangen, und C gleich in irgend welche Entfernungen von beyden
gestellt werden; welcher Zusammenhang aber vielleicht zwischen diesen
beyden zugleich angenommenen Entfernungen seyn möge, das mufs sich
künftig zeigen.
[230] In jedem Falle müssen die Entfernungen des C von A und B
fürs erste als starre Linie angenommen werden ; denn wir kennen noch
keine andern Linien; und wir dürfen nicht springen.
Überhaupt versteht sich von selbst, dafs die Linie AC, oder die
Linie BC, jede ganz für sich allein betrachtet, alle die nämlichen Be-
stimmungen besitzen mufs, wie die Linie AB. Denn C ist nur ein anderer
Name; und von der Qualität der realen Wesen sprechen wir hier gar
nicht ; für das Zusammen und Nicht-zusammen ergiebt sich genau einerley,
ob nun die Zusammenzufassenden AC oder AB heifsen.
1^6 Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 1829.
In Frage kommt dagegen zuerst die Verbindung zweyer Linien, die
einen Punct mit einander gemein haben. Können etiva die Linien AB
und A C noch aufscr A einen anderen Pnnct gemeinschaftlich besitzen ?
Um diese Frage zu entscheiden, müssen wir zuerst noch ein paar
Bemerkungen über die Linie AB, oder überhaupt über eine für sich allein
betrachtete, beyfügen.
Von dem bestimmten Anfangspuncte A fortschreitend, finden wir
auf der Linie AB jede mögliche Entfernung, die sich genau, und ohne
Widerspruch denken läfst, gerade zweymal ; nämlich rechts und links, um
so, mit bekannten Namen, die entgegengesetzten Fortschreitungen zu be-
zeichnen. Vermöge der gemachten Construction ist aber jede Entfernung
bedingt durch alle kleineren ; denn der nte Punct ist ;///;- vorhanden als
nächster Znsatz zum (n — l)ten. Und aus dem nämlichen Grunde ist
wiederum diese bestimmte Entfernung die Bedingung jeder gröfseren; bis
ins Unendliche. Rechtshin ist also jede Entfernung nur einmal auf der
geraden Linie vorhanden; nimmt man ihr den nten Punct, so wird sie
vermindert um den [231] Fortschritt vom (n — l)ten, zum nten Puncte ;
das heifst, um ein einziges Aneinander , welches das Element der starren
Linie ist; giebt man ihr noch den (n -j- l)ten Punct, so wird sie um
ein solches Element gröfser. Eben so linkshin.
Jetzt kommt die Linie AC hinzu; deren Punct A gewifs beyden
Linien gemein ist. Und nun sind, wegen der völligen Gleichheit der
Construction, alle möglichen Entfernungen vom Puncte A viermal vorhanden.
Eben so vielemal erzeugt sich vom A aus der allgemeine Begriff des
Fortschreitens vom nten zum (n -j- l)ten Puncte, wobey der Werth von
n nur um Eins gröfser wird, wenn man denjenigen Punct, der eben der
(n -{- l)te hiefs, jetzt den nten nennt. Dies ist der allgemeine Begriff
der Richtung, über welchen wir weiterhin noch etwas beyfügen werden.
Man fasse nun zwev Richtungen zugleich auf; eine auf AB, die
andere auf AC; jene sey rechts, diese mag der Kürze wegen aufivärts
genannt werden, wobey jedoch von einer bestimmten Neigung der Linien
für jetzt noch nicht die Rede seyn darf.
Unsere Frage war: ob die beyden geraden Linien mehr als einen
Punct gemein haben können ? Gesetzt, es gäbe einen zweyten ; er heifse x ;
so läge x auf der Linie AB entweder gleich entfernt wie C von A, oder
weiter, oder näher.
Gleich entfernt kann er nicht seyn. Denn die vorgebliche gerade
Linie AxC (oder ACx) enthielte zwev Stücke, Ax und xC. Allein nach
der Voraussetzung soll seyn Ax = AC; folglich wäre xC = o; oder C
fiele zusammen mit x, und läge selbst in der Linie AB.
Weiter entfernt kann er auch nicht seyn. Denn nach dem Vorigen
giebt es auf AB einen Punct, welcher genau eben so weit, als C, ent-
fernt ist von A ; er heifse y. Dieser nun ist die Bedingung des Fort-
schritts [232] von A bis x; man kann nicht zu x gelangen aufser durch
v; nämlich auf der Geraden AB, wie vorhin gezeigt. Also müfste auf
dem vorgeblich geraden Wege, ACx, C in y fallen; gegen die Voraus-
setzung.
Minder entfernt endlich kann eben so wenig x liegen als C. Denn
3. Abschn. Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahl etc. 3-Cap. V.d. stetigen Linie etc. 137
hier eilt wiederum die unmittelbar vorhergehende Betrachtung, sobald man
nur die Linien verwechselt, und auch die Buchstaben C und x vertauscht.
Daher steht der Satz vest : zwey Gerade haben nur Einen Punci
höchstens mit einander gemein. Von hier aus giebt's vier verschiedene
Richtungen, die einander paarweise entgegengesetzt sind.
§• 254.
Der Punct A gleicht vollkommen allen andern Puncten auf AB.
Daher mufs es, vor näherer Untersuchung, als ganz zufällig erscheinen für
den Punct C, dafs er nun eben mit A, und nicht gleich gut auch mit
allen übrigen Puncten der Linie AB durch einen geraden Weg solle
verbunden seyn. Hier liegen zwar verborgene Klippen, deren Nach-
weisung von der höchsten Wichtigkeit ist. Allein da sie verborgen sind,
so können wir nicht hindern, dafs man sich von C aus so viele gerade
Linien denke, als nur immer Puncte auf AB vorhanden sind. Heifsen
demnach rechts von A an die folgenden Puncte nach einander u, ß, y,
(V, . . . so soll es Linien «C, ßC, yC, dC... geben; und sie sollen
sämmtlich gerade seyn. Bey dieser Annahme bleiben wir so Zange, bis
sich ein Irrthum zeigt; und wir werden so viel davon behalten, als die
Untersuchung uns übrig läfst. Die Sorglosigkeit, womit Fries in seiner
Naturphilosophie den Satz : durch zivey Puncte ist jedesmal eine Gerade
möglich, als ein [233] Axiom hinstellt, dürfen wir nicht nachahmen; ist
sie geometrisch, so ist sie doch nicht philosophisch.
Es ist klar, dafs die Linien insofern neben einander, immer weiter
rechtshin, liegen müssen, als dies bey ihren Anfangspunkten a, ß, y, ö . . .
der Fall ist. Verfolgt man sie weiter gegen C hin : so können sie ein-
ander nicht früher noch später treffen , als eben in C ; sonst hätten sie
mehr als einen Punct gemein. Ihre Ordnung und Folge bleibt also bis
C stets dieselbe, wie das Wort Rechts anzeigt, das von der Folge und
Fortschreitung auf AB abhängt. Zugleich aber mufs ihre Richtung, die
für jede Gerade bekanntlich nur Eine (oder deren entgegengesetzte) ist
und bleibt, auch aufwärts gehn ; denn sie müssen den Punct C er-
reichen. Diese Mischung ihrer Richtungen aus zweyerley gegebenen Rich-
tungen müssen wir näher betrachten.
Irgend ein Punct Rechts von A auf AB heifse /i. Statt nun gerade
von fi nach C, kann man ganz offenbar auch die Wege (.lA und AC
gehn. Das heifst, man kann in den zum Grunde liegenden Richtungen
BA und AC bestimmte Entfernungen durchlaufen, anstatt in Einer Rich-
tung den zwischen bestimmten Gränzpuncten liegenden Weg fiC zu
nehmen. Demnach lassen sich zwey Richtungen so verbinden, dafs sie
die Stelle einer einzigen vertreten. Diese Verbindung geschieht aber nicht
successiv, denn die Richtung fiC ist nur Eine und dieselbe für alle Puncte
auf der Linie /<C. Sie ist der allgemeine Begriff des geraden Fortschritts,
so dafs stets der nte Punct vollkommen zwischen dem ersten und dem
(n _j_ i)ten liege; worüber im §. 248. das Nöthige ist gesagt worden.
Da nun der allgemeine Begriff hievon sich überall auf der Linie /<C
gleich ist, so geht dieselbe schon in ihrem Anfange bey n zugleich auf-
wärts und links ; und [234] da der Punct /< auf AB liegen kann, wo
1^8 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
man will: so ist der Punct C nicht blofs vom Puncte A betrachtet auf-
wärts; sondern dieses Aufwärts gilt für die Lage des Puncts C gegen die
ganze Linie A B.
Femer mufs nothwendig ein gesetzmäfsiger Zusammenhang vorhanden
sevn zwischen den Richtungen und den Gröfsen der Linien. Denn je
zwey nächste Linien wie -/C, (VC, ... «C, rC, würden nur einerley Linie
seyn, wenn ihre Anfangspunkte y und (V, tt und v, zusammenfielen. Der
Unterschied dieser Puncte wiederum beruht blofs auf ihrer gröfsern oder
geringern Entfernung v.,n A. Xun ist AC immer nur einerley Linie,
aber u A wird verschieden, je nachdem u näher bey A, oder ferner ge-
nommen ist; und von eben diesem Umstände hängt die Richtung iiC
ab. In die Mischung von Richtungen, die nöthig ist, um die Richtung
iiC zu bestimmen, geht also mehr oder weniger ein von der Richtung AB,
und stets gleichviel von der Richtung AC; wobey wir die Gröfse des
Beytrags, und dessen Wichtigkeit, in Hinsicht der Linie und Richtung AB
soo-ar bis ins unendliche steigern müssen, wenn u ein unendlich entfernter
Punct seyn soll.
Könnte endlich das Rechts und das Aufwärts sich ganz aufheben :
so wäre man nicht sicher, ob beydes sich in der gemischten Richtung
wirklich als mit einander bestehend erhielte; allein man weifs aus dem
Vorigen so viel, dafs sie wenigstens nicht gänzlich entgegengesetzt sind;
daher sich in jeder Richtung «C gewifs sowohl vom Rechts (oder Links)
als vom Aufwärts etwas findet. Die nähern Bestimmungen hievon haben
wir jetzt erst zu suchen.
Nämlich wenn es einmal in der Folge unserer Linien eine Zusammen-
setzung von Richtungen, und ein Mehr oder Weniger der Wichtigkeit des
Beytrags giebt, den die zum Grunde gelegten Richtungen [235] in der
Mischung liefern: so entsteht die Frasre : ob denn auch AC eine solche
reine Richtung sey, dafs sie nicht, wie ihre Nachbarn, etwas von der Rich-
tung AB in sich trage? Oder wie man zu AB eine davon völlig ver-
schiedene, weder durch Gleichheit noch durch Gegensatz verwandte, Rich-
tung finden könne ?
§• 255-
Gesetzt, AC sey selbst schon eine unreine, gemischte Richtung, und
sie enthalte etwas von AB, oder vom Rechts: so kommt es darauf an,
sie hievon zu reinigen. Das kann nur geschehen durch gleich starke Zu-
mischung des Links. Nun giebt es ganz unstreitig auf der, durch die
Puncte A und B bestimmten, Linie für jedes Quantum Rechts ein gleiches
Quantum Links. Auch haben wir die Voraussetzung zum Grunde gelegt,
der Punct C könne mit jedem Puncte der Linie AB gleich gut durch
eine Gerade verbunden werden. Demnach mufs es nothwendig für AC
eine andre, ihr entsprechende Linie x\'C geben, welche gleich viel Links,
wie jene Rechts, enthält; ein dazu nöthiger Punct A' muls sich finden
lassen. Dann beruht auf der Entfernung AA' der ganze Unterschied der
Linien AC und A'C. Man vermindere diese Entfernung gleichmäßig von
beyden Endpuncten her; die Zumischungen müssen demgemäfs in gleichem
Grade abnehmen; und in der Mitte mufs sich der Eine Punct finden,
3.Abschn. Synechologie. i. Abth. Von Raum, Zahl etc. 3. Cap. V. d. stetigen Linie etc. 139
welcher mit C gerade verbunden die reine Richtung giebt, die nichts vom
Rechts auf Links auf AB enthält. Diese Richtung heifst bekanntlich die
senkrechte ; und es giebt nur Ein Loth vom Punct auf die Linie. Denn
jene gleichmäßig von beyden Seiten her abnehmende Entfernung ver-
schwindet nur einmal; indem die Endpuncte einander begegnen.
Will man nun die Mischungen aus ihren asten [236] Bestandtheilen
zusammensetzen, so wird man sich allemal des Lothes dazu bedienen.
Dafs nur Ein Loth zwischen dem Puncte C, und dem so eben be-
stimmten Endpuncte auf AB, möglich ist, beruht auf dem Satze, daß
zwischen zivey Punclen nur Eine Gerade möglich ist. Dieser aber folgt un-
mittelbar aus dem oben (§. 253.) geführten Beiveise , dafs zwey Gerade
nur Einen Punct gemein haben. Als Axiome dürfen dergleichen Sätze in
einer Philosophie der Mathematik nicht auftreten.
§• 256.
Zur Aufklärung der Begriffe über die Mischung der Richtungen ge-
hört nun noch sehr wesentlich der Beweis des Satzes : dafs zwischen zwey
Puncten die Gerade zugleich die kürzeste ist.
Wenn wir diesen Satz zu beweisen unterliefsen : so würde aus dem
Vorigen, oder überhaupt aus der Zusammensetzung der Richtungen, das
ganz natürliche Misverständnifs hervorgehn, als ob die zusammengesetzte
Richtung mit einer Addition der Gröfsen einerley, und eine Linie in der-
selben zugleich die Summe derjenigen Linien seyn solle, aus deren Rich-
tungen jene gemischt wurde.
Wie kann man denn wohl den Beweis führen: dafs zwischen zwey
Puncten die Gerade zugleich die kürzeste ist? Natürlich mufs gezeigt
werden, dafs Derjenige, welcher den krummen oder winklichten Weg vor-
zieht, etwas Überflüssiges thut in Hinsicht des Kommens vom Anfangs-
puncte zum Endpuncte. Wenn nun etwas Überflüssiges gethan wird, und
am Ende sich doch genau nicht mehr noch weniger im Resultate ergiebt
als das nämliche, was auf dem kürzeren Wege geschieht: so mufs noth-
wendig das Überflüssige sich [237] selbst aufgehoben haben; sonst wäre
es im Erfolge sichtbar.
Um uns leichter auszudrücken, wollen wir die Linien von gemischter
Richtung jetzt Hypotenusen nennen ; die von ursprünglich und rein ver-
schiedener Richtung aber, aus denen jene Richtung entstand, Katheten.
Nun kann jede Hypotenuse, sofern blofs von der Richtung gesprochen
wird, auch eine ursprüngliche Richtung darstellen. Denn unsre Annahme
(§. 254.) war die, dafs der Punct C gleich gut mit jedem Puncte auf AB
könne geradlinig verbunden werden; und es leidet keinen Zweifel, dafs
die Construction eben so gut von C hätte ausgehen können, als von A
oder B.
Die Katheten stehen ferner gewifs nicht senkrecht auf der Hypotenuse ;
das liegt in ihrem Begriff. Soll also jetzt als eine ursprüngliche Richtung
die der Hypotenuse betrachtet werden : so haben die Katheten gemischte
Richtungen. Dazu gehört ein Loth aus dem Puncte, welchen die Katheten
gemein haben, auf die Hypotenuse. Aber wohin, auf dieser letztern, wird
der andere Endpunct des Loths fallen?
IAO Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Um dies, sofern es nöthig ist, zu finden, bedarf man keiner Con-
structionen, sondern nur entwickelter Begriffe.
Man durchlaufe in Gedanken die beyden Katheten /ti A und A C ;
indem wir jetzt voraussetzen, AC sey ein Loth auf AB (§. 254 und 255).
Wer nun zuvörderst die erste Kathete durchlief: der kann in Ansehung
der stellvertretenden Richtung 11 C nicht still gestanden haben , und noch
weniger rückwärts gegangen seyn. Denn in die Bestimmung der ge-
mischten Richtung gehen als positive Bestimmungen die Richtungen bevder
Katheten ein; und zwar im Allgemeinen auf gleiche Weise; [238] so dafs,
wäre er bey A dem Endpuncte C noch gar nicht näher gekomfnen, als bcv
fi, alsdann auch die andere Kathete A C ihn durch kerne ihr insbesondere
eigene Fähigkeit nach C hin fördern würde.* Daher gehört zum Durch-
laufen der ersten Kathete eine bestimmte Strecke des Zugleich - Fort-
kommens auf der Hypotenuse ; und folglich mufs der Endpunct des Loths,
welcher diese Strecke abschneidet, an einem bestimmten Puncte zwischen
f( und C liegen.
Aus diesem Lothe und der Richtung /<C ist nun die Richtung fiA
zusammengesetzt. Jetzt werde die zweyte Kathete durchlaufen. Woraus
ist denn ihre Richtung zusammengesetzt ? Ebenfalls aus der Richtung // C
und dem Lothe. Aber dann wäre dieselbe gleich der vorigen Richtung
,«A; wenn nicht, wie ohnehin klar ist, auf dem Lothe jetzt die entgegen-
gesetzte Richtung genommen werden müfste.
Es liegt also am Tage, dafs der Gang durch die Katheten in An-
sehung des Loths erst vorwärts, dann rückwärts führt; wodurch dem Gange
von /t nach C etwas Überflüssiges beygemischt wird, das sich aufhebt.
Ein Gehen ist aber für sich allein betrachtet ein beständiges Fortschreiten
von jeder Stelle zur nächsten. Da nun der Gang auf der Hypotenuse
das Überflüssige vermeidend doch bey demselben Ziele anlangt : so ist er
kürzer als jener durch die Katheten.
Unser Satz ist also vorläufig in einem speciellen Falle bewiesen,
nämlich in dem Falle des Umwegs durch zwey lothrechte Linien.
Der Gegenstand der Betrachtung aber ist noch nicht erschöpft. Erst-
lich erweitert sich der geführte Beweis [239] ganz von selbst auf alle
Fälle, in denen ein Loth kann nachgewiesen werden, in Ansehung dessen
man für den Zweck, von einem Puncte zum andern zu gelangen, über-
flüssiger Weise rückwärts und vorwärts geht. Zweytens können wir, ohne
diese Fälle schon jetzt durch Constructionen zu verfolgen, die Betrachtung
des rechtwinklichten Dreyecks noch für einen andern Satz benutzen, nämlich
für den : dafs die Hypotenuse größer als jede Kathete einzeln genommen,
oder, was dasselbe sagt, dafs vom Puncte auf die gegenüberstehende Linie
das Loth der kürzeste Weg ist. Der Beweis dieses Satzes liegt schon im
Vorigen ; indem wir ihn aber noch besonders herausheben, wird dies zu-
gleich die Allgemeinheit des ersten Satzes am besten ins Licht setzen.
Man gehe von A durch C nach 11 ; dadurch gelangt man von A
nach fi ; oder, der Gang durch die eine Kathete und durch die Hypotenuse
vertrit die Stelle des Ganges durch die andere Kathete. Aber wie ist
* Hierin liegt ein anderer Satz, dessen wir gleich weiterhin erwähnen werden.
3-Abschn. Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahl etc. 3-Cap. V. d. stetigen Linie etc. 141
diese Stellvertretung beschaffen? Die Richtung AC enthält nichts von der
Richtung A/ti. Man kommt also in der letztern gar nicht vorwärts, indem
man bis C vorschreitet. Dagegen macht man einen Gang, der ganz und
sar wieder aufgehoben werden mufs, weil auf dem Lothe AC die ent-
gegengesetzte Richtung CA zu nehmen ist, um diejenige zu finden, welche
in die Bestimmung der Richtung Cfi eingeht. Wer sich bey C befindet,
der hat nichts vollbracht, sondern sein Geschafft vergröfsert. Das heifst,
er hat nun weiter zu gehen bis 11, als Anfangs; und dies um desto mehr,
je länger die Linie AC genommen wurde. Also umgekehrt: das Loth /<A
ist der kürzeste Weg von /< auf die Linie AC.
Nachdem dies bewiesen : kehren wir zum vorigen Satze zurück. Jeder
Punct eines Umwegs läfst sich denken als liegend in irgend einer Linie,
worauf der [240] gerade Weg senkrecht ist. Dadurch zerfällt dieser gerade
Weg in zwey Lothe, welche die kürzesten Wege im Gegensatz gegen die
Umwege anzeigen. Auf derjenigen Linie aber, welche den geraden Weg
senkrecht durchschneidet, stellt sich das Überflüssige dar, das die Umwege
mittelbar (obgleich nicht der bestimmten Gröfse nach) vorwärts und rück-
wärts durchlaufen. Und dies nun ist, wie es scheint, die vollständige Be-
trachtung des vorliegenden Gegenstandes ; so weit nicht veste Grofsen ge-
sucht werden, sondern blofs unbestimmt Längeres und Kürzeres ver-
glichen wird.
§• 257-
Jetzt aber durchlaufe man alle Hypotenusen rechtshin abwärts vom
Lothe. Ihre Gröfse wächst, nach dem so eben geführten Beweise, mit
der Zumischung des Rechts in ihrer Richtung. Sie werden unendlich,
indem diese Zumischung unendlich, und neben ihr die Beymischung der
stets gleichbleibenden Richtung des Loths unvergleichbar wird. Diese Rich-
tungen, deren Anfangspunct C, und deren Ziel zwar zu suchen ist auf
AB, aber so dafs er nirgend, wie weit man auch gehe, gefunden werden
kann, sind gleich den Richtungen auf AB selbst; denn in ihrer Mischung
verschwindet Endliches neben Unendlichem. Und dies geschieht eben so
linkshin wie rechts.
Hiemit erweitert sich der Begriff der Richtung; und wir müssen ihn
bey dieser Deduction der Parallelen näher betrachten.
Zwar kann keine Richtung ursprünglich gegeben werden, ohne ein
Von -Wo und Wohin. Aber wenn nun beydes durch zwey Puncte be-
stimmt ist: so ergiebt sich die gerade Linie, welche durch dieselben die
einzige ist, dergestalt, dafs je zwei andre Puncte der nämlichen Linie auch
die nämliche Richtung würden er-[24i]geben haben. Es ist also dem
Begriffe der Richtung zufällig, durch welche zwey Puncte sie gegeben
wird; und von ihnen mufs man abstrahiren, um den Begriff rein zu haben.
Eben so mufs man, wie wir jetzt sehn, auch sogar von der ganzen Linie
abstrahiren, denn es giebt auch durch einen gegenüberstehenden wieder
eine Linie von gleicher Richtung und Länge nach beyden Seiten ins Un-
endliche.
Der ganze Unterschied dieser Linien liegt demnach in ihrer Ent-
fernung von einander; ohne diese würden sie gänzlich zusammenfallen.
Y*2 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Die stets gleiche Entfernung mag man geometrisch aus dem all-
gemeinen Satze beweisen, dafs Parallelen zwischen Parallelen gleich sind.
Dieser folgt bekanntlich daraus, dafs die Diagonale des Vierecks, welches
zwey Paar Parallelen bilden, auch wegen zweyer Paare von Wechsel-
winkeln, zwey congruente Dreyecke schneidet. Die Gleichheit aber der
Wecliselwinkel folgt theils aus der Gleichheit der Scheitelwinkel — die nur
denselben Unterschied der Richtungen doppelt darstellen, — theils daraus,
dafs zwey Parallelen von einer drillen Geraden tinter gleichen Winkeln ge-
schnitten zverden; welches sich von selbst versteht, sobald einmal der Begriff
der, für beyde Parallelen gemeinschaftlichen, Richtung in seiner logischen
Allgemeinheit, für die man gar keine anschaidiche Construction verlangen
sollte, gehörig gefafst ist.
Bekanntlich hängt mit diesen Sätzen unmittelbar die stets gleiche
Summe aller Winkel im ebenen Dreyecke, welche zwey Rechte beträgt,
zusammen ; wobey wir uns nicht aufhalten wollen.
Auch die Ähnlichkeit der Dreyecke brauchen wir nur zu berühren.
Zwischen den Parallelen AB und PQ [242] werde der Abstand durch
ein Loth bestimmt. Wie viele Puncte in diesem Lothe, als einer starren
Linie, zu unterscheiden sind, so viel Parallelen liegen zwischen AB und
PQ aneinander ; weil ihr gegenseitiger Abstand sich nicht ändern darf.
Eine dritte, Gerade, welche AB und PQ schneidet, mufs alle zwischen
liegenden schneiden ; auch mufs dies für jedes Paar, welches aneinander
liegt, völlig auf gleiche Weise geschehn, weil alle Umstände gleich sind.
So wird die Dritte in eben so viele unter einander gleiche Theile zer-
schnitten, als wie viele Aneinander vorkommen. Vergleicht man nun die
Dreyecke, welche die Dritte mit den einzelnen Parallelen und dem Lothe
bildet, so sind deren Winkel gleich ; und die Seiten, welche man auf dem
Lothe und der dritten unterscheiden kann, sind proportional, weil sie von
gleichen Anzahlen solcher Theile abhängen, die sowohl auf dem Lothe
gleich grofs, als auch auf der dritten gleich grofs sind. Es lohnt nicht,
so leichte Sachen genauer zu entwickeln.
§• 258.
Alles Bisherige war nur Vorbereitung ; denn bis jetzt hatten wir nur
das Starre, noch nicht das Stetige im Auge. Oder vielmehr, wir sahen
wohl das Stetige ; nur war nicht Zeit davon zu reden.
Jetzt aber mag vorantreten die Frage, was aus den Proportionen im
Dreyeck werden möge, wenn die Grundlinie auf ein einziges Aneinander
beschränkt, oder überhaupt, wenn sie kleiner ist, als die Höhe? Die
Parallelen zur Grundlinie, welche im Dreyecke Platz haben müssen, richten
sich nach der Zahl der aneinanderliegenden Puncte auf dem Lothe; wie
können sie nun der Höhe proportional abnehmen, wenn die Grundlinie
nicht eben so oft das Aneinander enthält ?
Damit aber Niemandem gelüste, dergleichen Fragen [243] durch ein
Zickzack von Gehege um die Figur, statt ächter gerader Linien, zu be-
antworten, so müssen wir zur Eniwickelung eines Begriffs fortschreiten,
der zu solchem Spiele keinen Anlafs giebt, und dessen genauere Be-
stimmung ohnehin an der Reihe war.
3. Absch. Synechologie. i. Abth. VonRaum, Zahletc. 3-Cap. V.d. stetigen Linie etc. 143
Das Gegenstück des Parallelismus ist der Winkel. Bisher haben wir
denselben blofs überhaupt als einen Unterschied zweyer Richtungen be-
trachtet; ohne zu fragen, ob es denn auch ein Maafs für den Winkel
gebe? Unsre Construction (§. 254) zeigte zwar sehr bestimmt, dafs die
Hypotenusen durch den Punct C in derselben Reihenfolge liegen, wie die
Puncte auf der Linie AB. Sie zeigte, dafs der Unterschied der Rich-
tungen eine wachsende Gröfse ist; und dafs, wenn wir vom Lethe an-
fangen zu zählen, die nte Hypotenuse von demselben eine solche Abweichung
bildet, worin die zwischenfallenden Hypotenusen sämmtlich eingeschlossen
sind. Allein wenn Jemand sich fragte, welches wohl der kleinste mögliche
Winkel, und das Element sey, wovon jeder gröfsere Winkel nur eine Ver-
vielfältigung darstelle, ähnlich der starren Linie, worin sich das Aneinander
vielfach zeigt: — so würde ein solcher in unserer Construction selbst die
allerdeutlichste Zurückweisung der Frage finden. Denn wie viele Hypo-
tenusen mufs man durchlaufen, bis die Umdrehung um den Punct C vom
Lothe bis zur Parallele fortschreitet? Offenbar alle Puncte der Linie AB
müssen mit C geradlinig; verbunden werden. Deren sind aber unendlich
viele; so dafs man eine Unendlichkeit vollenden mufs, um zur Parallele
zu gelangen. Also besteht der ganze Quadrant aus unendlich vielen kleinen
Winkeln.' Aber noch mehr; diese kleinen Winkel sind unter einander
keinesweges gleich. Es ist leicht zu sehen, dafs der halbe Quadrant, der
Winkel von 45°, durchlaufen ist, wenn [244] beyde Katheten gleich sind
(dies sieht man schon aus der gleichen Abhängigkeit der Winkel von den
gegenüberstehenden Seiten), hingegen die zweyte Hälfte des Quadranten
erfordert die Verlängerung einer Kathete bis ins Unendliche. Da nun
der Fortschritt auf A B stets gleichförmig, und die Abhängigkeit des gegen-
überstehenden Winkels von diesem Fortschritte im Allgemeinen stets die-
selbe bleibt: so mufs es ein allgemeines Gesetz geben, nach welchem der
Winkel immer weniger zunimmt, während man seine Tangente gleichförmig
durchläuft. An ein kleinstes Element des Winkels ist also gar nicht zu
denken; wer da glaubte, es erreicht zu haben, der dürfte nur auf der
Tangente noch ein einziges Aneinander mehr zurücklegen, und er fände
einen kleineren Winkel. In der That ist jeder endliche Winkel als ein
Integral zu betrachten; aber eben deshalb mufs man nicht fordern, das
integrirte Differential solle irgend eine bestimmt angebliche Gröfse seynr
welches gegen die Natur des Differentials streitet.
Zu dem Winkel gehört die Kreislinie. Sie entsteht bekanntlich aus
den zusammengefafsten Endpuncten der Radien, welche wir sehr leicht
auf den immer wachsenden Hypotenusen (§. 257), die wis jetzt Secantcn
nennen wollen, abschneiden können. Die Kreislinie enthält nun gewifs so
viele Puncte, als wie viele Radien, oder wie viele Secanten es giebt; deren
sind unendlich viele. Aber nicht blofs unendlich viele Puncte enthält der
Bogen des Quadranten, sondern selbst diese nicht gleich dicht, weil die
Secanten immer dichter liegen, wie so eben gezeigt worden. Hier ver-
geht gewifs jeder Gedanke an Zusammensetzung eines endlichen Kreis-
bogens aus einer endlichen Zahl von an einanderliegenden Puncten.
Da jedoch die ungleiche Dichtigkeit der Puncte auf dem Bogen ledig-
lich davon abhängt, welchen Radius [245] man als den ersten, oder als
j i i I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfangen etc. 1829.
Loth auf die Tangente betrachte ; und dies bey allen Radien gleich mög-
lich ist: so versteht sich von selbst, dafs man jene ungleiche Drehung,
welche aus dem gleichmäfsigen Fortschritte auf der Tangente entsteht,
durch Abstraction bey Seite setzt: und den Winkel sich gleichförmig öffnen
läfst. Gewifs aber ist nun keine Öffnung die kleinste ; sondern jede solche
Drehung, welche einem bestimmten Aneinander auf der Tangente entspricht,
ist schon zu grofs, und mufs als ein Sprung angesehen werden. Die Kreis-
linie besteht also gar nicht aus Puncten, wenn sie auch daraus entsteht;
denn diese Puncte tiiefsen so vollkommen in einander, dafs an gar keine
Sonderung derselben zu denken ist. Dieser Umstand ist sehr merkwürdig;
denn wir werden in der Folge sehen, dafs in andern Fällen ein gewisser
Grad von Dichtigkeit zusammenfliefsender Puncte mufs angenommen wer-
den; bey der Kreislinie aber verschwindet jeder Begriff dieser Art ganz
und gar; und man hat hier das eigentlichste Continuum, das nur irgend
vorkommen kann.
§• 259-
Wir sehn nun aber auch die ganze Ungereimtheit des Continuums
vor Augen, welches uns nöthigt, einfache Puncte weder aneinander noch
in einander zu setzen, sondern sie dergestalt schwinden zu lassen, dafs
sie nicht Eins, nicht Zwey, vielmehr ein unendlich theilbares Ganzes, und
doch nicht streng aufser einander seyen.
Hier ist nöthig, zurückzuschauen auf den Weg, den wir gekommen
sind; und insbesondere auf den gewagten Schritt, durch den wir den
Punct C mit allen Puncten der Linie AC geradlinig verbanden; denn hier
begann, wie es scheint, das Unheil (§. 254).
[246] Um die dortige Untersuchung bequem wieder aufzufassen,
nehmen wir an (was erlaubt ist), die Linie AC sey selbst das Loth auf
AB; und nun komme in Frage, ob denn auch wirklich alle die Hypo-
tenusen möglich seyen, deren Richtungen durch C und durch die Puncte
auf AB nach der Reihe gegeben wurden. Die Frage zerfällt in zwey
verschiedene. Erstlich: ist jede einzelne Hypotenuse an sich, und für
sich allein, möglich? Zweytens, können sie neben einander bestehn ?
Um das Gewicht der ersten Frage zu würdigen, mufs man bedenken,
dafs wir jede Hypotenuse zwischen gegebenen Endpuncten hineingeschoben
haben ; als ob wir überzeugt wären, man werde, in der gegebenen Rich-
tung von jedem Endpuncte zum andern hin eine Reihe von Puncten starr
an einandersetzend, irgend einmal ganz genau den andern Endpunct treffen.
Wenn dies sich bestätigt, so ist unstreitig die gesuchte Linie vorhanden.
Wie aber, wenn wir, Punct an Punct setzend, am Ende nicht genau zum
Ziel gelangten ? Offenbar mufs der letzte Punct, den wir setzen, völlig zu-
sammenfallen mit dem schon bestimmten, welcher die Linie begränzen
soll. Gingen wir z.B. von 11, welcher Punct auf AB liegen soll, gerade
nach C ; so müfsten wir in der starren Linie durch den letzten Fortschritt
ganz genau C erreichen. Und wer konnte daran zweifeln ? So lange wir
nicht völlig in C eintrafen, war ja immer noch Raum, wenigstens für einen
untheilbaren, einfachen Punct, der selbst gar keinen Raum einnimmt, vor-
handen. Denn wir wissen, das Element des Raums ist nicht der einzelne
3.Abschn. Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahletc. 3. Cap.V.d. stetigen Linie etc. 14c,
Punct, sondern das Aneinander zweyer Puncte, welches das einfachste
Anfser darstellt; ohne dieses aber ist kein Raum denkbar.
Nun aber sind uns so seltsame Begriffe entstanden, [247] dafs aller-
dings in Frage kommt, was vorhin keiner Frage werth schien.
Der einfache Punct soll zum Thal zusammenschwinden mit seinem
nächsten. Also mufs er Theile haben! Wenn dies auch von unserm
Puncte C gefordert wird, so kann es leicht begegnen, dafs wir ihn am
Ende nur thcil weise mit dem letzten Puncte, den wir setzen werden,
zusammenfallen sehen. Dann aber ist die Linie, die wir gerade zwischen
ft und C setzen wollten, mit einer Ungereimtheit behaftet; sie enthält
einigemal das Aneinander vollständig, aber sie schliefst mit einem Bruch
des nämlichen kleinsten Raumtheils, welcher Bruch sich nicht denken läfst.
Um nun hierüber Gewissheit zu erhalten, müssen wir ihre Länge
suchen. Ist sie frey von der eben erwähnten Ungereimtheit, so läfst sie
sich wenigstens durch das Aneinander, als durch das kleinste und ur-
sprüngliche Maafs, genau messen; und da wir dasselbe bey den Katheten,
als starren Linien, voraussetzen, so ist alsdann die Hypotenuse mit ihnen
commensurabel.
Jedermann weifs längst das Gegentheil, wenn man seltene Ausnahmen
abrechnet.
Wir haben gewifs nicht nöthig, hier noch für unsre Construction
den Pythagoräischen Lehrsatz zu beweisen; ohnehin ist es, genau so, wie
der Beweis recht gut hieher pafst, schon beyläufig oben (§. 175) geschehn.
Weil aber dort Differentiale gebraucht sind, so möchte einem minder ge-
übten Leser die Erinnerung willkommen seyn, dafs Differentiale nicht zu
verwechseln sind mit dem Aneinander im Räume. Denn jedes Anein-
ander ist ein wirkliches Element des Raums; es ist also unvergleichbar
mit Differentialen, die nur das Wachsen und dessen Regel, keinesweges
aber wirkliche Theile der gewachsenen Gröfsen, anzeigen. Kein [248]
Integral ist, streng genommen, eine Summe von Differentialen; aber eine
starre Linie ist allerdings durch Addition des Aneinander, als dessen
Summe, entstanden.
Der Pythagoräische Lehrsatz entscheidet nun ganz deutlich, die
Hypotenuse sey in den allermeisten Fällen incommensurabel mit ihren
Katheten. Also wenn diese theilbar durch das Aneinander, so läfst sich
jene nicht dadurch messen oder dividiren. Sie mufs demnach zwischen
zwey nächste Vielfache des Aneinander fallen; und zwar jedesmal, man
mag die Figur gröfser oder kleiner zeichnen.
So sind denn unsere Hypotenusen wirklich mit einem sehr wichtigen
Fehler behaftet! Aber näher besehen ist dieser Fehler doch nicht von
der Art, dafs wir darum die gemachte Construction zurücknehmen dürften.
Denn es fehlt nicht an den Linien, sondern an ihrer Begränzung. In
die Richtung /uC fällt eine Linie; nur ist sie, als ein achtes Quantum des
Aufst 'reinander, um eine undenkbar kleine Gröfse zu klein oder zu grofs
für die bestimmten Gränzpuncte, wozwischen sie passen soll. Selbst aber
innerhalb dieser Gränzen ist der Begriff, wie grofs sie seyn sollte, arith-
metisch genau bestimmt; sie ist eine Function der Katheten. Also ist
Herbart's Werke. VIII. 1°
146 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
hier im Denken ein Begriff erzeugt, welcher beybehalten werden mufs,
da er mit andern bekannten Begriffen in einem vesten Zusammen-
hange steht.
§. 260.
Die zweyte Frage war: können die verschiedenen Hypotenusen
neben einander bestehn?
Angenommen, sie könnten es nicht: so entstünde die Frage: welche
soll man behalten, und welche wegweifen? Denn wenn jede, einzeln ge-
nommen, und für sich, möglich ist: wo ist denn ein Grund [249] des
Vorzugs, den eine vor der andern gelten machen könnte? Jede ist in
diesem Falle unbekümmert um die andre; das heifst, man denkt sich
jede einzeln, und so lange vergifst man oder ignorirt die andern; man
giebt aber keiner ein ausschliefsendes Recht, sondern hütet sich nur, sie
in ein gleichzeitig vorhandenes System zu verknüpfen.
Nun wissen wir schon, dafs ein Paar nächste Hypotenusen oder
Secanten sich gleichsam klemmen, und nicht Platz haben, indem sie von
ihren Endpuncten, wie nahe diese auch schon liegen mögen, gegen das
Centrum hin immer noch dichter zusammenlaufen sollen. Und eben
deshalb denkt sie sich Jedermann wirklich so, wie wir es eben nöthig
fanden. Indem man übergeht von der einen zu ihrer Nachbarin und so
weiter, bemüht sich nicht leicht Jemand, sie gleichmäfsig in Einen Ge-
danken zusammenzufassen; sondern die frühere wird im Übergange zur
folgenden vergessen; die Linien werden als hinüberfliefsend eine in die
andere, oder als wäre es Eine, die sich fortbewegte, wie eine Welle, —
vorgestellt und beschrieben. Durch diese Kunst — wenn es eine ist, —
verbirgt man sich das Ungereimte in der Zusammenfassung und Sonderung.
Dabey verschwindet nun auch die Bestimmtheit des Aneinander auf der
Tangente; und wir können es für jetzt auch füglich fahren lassen, wenn
wenigstens de?- Begriff von dem Hinüberfliefsen der Secanten in einander,
das heifst, von der Drehung, oder von der Eröff?iung des Winkels, in
einem bestimmten Zusammenhange steht mit dem Fortschreiten auf der
Tangente ?
dt
Durch die bekannte Formel d<i = ; — ist auch diese Frage
' 1-j-tt
längst beantwortet. Wir erwähnen ihrer nicht sowohl, um zu erinnern,
dafs die Formel sich [250] aus der Ähnlichkeit zweyer Differential-Drey-
ecke sehr leicht finden läfst, als vielmehr deshalb, damit der Zusammen-
hang derselben mit dem Pythagoräischen Lehrsatze bemerkt werde. Beydes
sind die Lösungen zweyer Probleme, die nothwendig zugleich hervor-
treten. Nämlich, wenn wir auf der Tangente gleichmäfsig fortgehn, wie
ändert sich alsdann erstlich die Secante, und zweytens der Winkel?
Wenn die Differentialformeln dafür gefunden sind, und dann integrirt
werden, so findet sich der Pythagoräische Satz dicht neben der Rectifica-
tion des Kreises. Und beydes sind so nothwendige Elemente der Geo-
metrie, als es aus unserm Vortrage offenbar hervorgeht, dafs man sogleich,
indem man der Linie einen Punct gegenüber stellt, auf sie geführt wird.
ß.Abschn. Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahl etc. 3. Cap.V.d. stetigen Linie etc. 147
Dieser Zusammenhang der Begriffe ist vorhanden, wenn gleich die äufsern
Bequemlichkeiten des Vortrags, wie er Anfängern pflegt gehalten zu
werden, ihn verdunkeln; schon durch die Verschiedenheiten der Beweis-
art, welche bey so eng verwandten Problemen möglichst gleichförmig seyn
sollte, und es hier so leicht seyn kann.
§. 261.
Die vorstehenden Lehrsätze der Geometrie lassen nicht den mindesten
Zweifel übrig, dafs auch diejenigen Begriffe, in welchen das Wider-
sprechende der Continuität seinen Sitz aufschlägt, noch eben so vest und
regelmäfsig zusammenhängen, als andre, die keinem Bedenken unterliegen.
Daher nun ist das Continuum, wenn nicht dessen Ansprüche über die
natürlichen Gränzen hinaus getrieben werden, auch gar kein Gegenstand
des Tadels; vielmehr eine für Geometrie und Metaphysik ganz unent-
behrliche Vorstellungsart.
Aber wo denn hat diese Vorstellungsart ihre natürlichen Gränzen?
[251] Keinesweges darf ihr in dem ursprünglichen Begriff des Aufser-
einander, welcher wenigstens zwey gesonderte Puncte erfordert, der Platz
angewiesen werden, als ob ihr derselbe mit Recht zukäme. Vermöge des
psychologischen Mechanismus bemächtigt sie sich zwar dieses Platzes;
allein dagegen haben wir längst, als gegen eine ganz unzulässige Usur-
pation, protestirt. Das Aufsereinander ist der Begriff der bestimmten
Sonderung; und damit verträgt sich kein Zusammenfliefsen. Dieses gilt
immer, wie lang auch die Linie seyn möchte, die man zwischen die ab-
zusondernden Puncte stellt. Jede Linie mufs entiveder starr seyn, oder
zwischen ohnehin schon vestgestcllten Puncten eingeschoben seyn; sonst ver-
hindert nichts, dafs man der Forderung nachgebe, sie solle, da sie ein-
mal fliefst, und in ihr Nichts vom Nächsten streng getrennt ist, allmählig
in Einen Punct zusammenfliefsen.
Demnach ist keine reine, selbstständige Linie als ein Continuum an-
zusehen. Sondern nur die abhängige Linie, welche Function von andern
Gröfsen ist, soll man als stetig betrachten. Ihre Grölse ist alsdann
bestimmt, indem der Werth der Function bestimmt, obgleich irrational,
ausfällt.
Nicht blofs die Hypotenusen sind solche Functionen, sondern auch
die Kreislinie ist es. Denn ihr Ursprung setzt Linie und Ebene, oder
von der Ebene wenigstens Einen Punct aufser der Linie, voraus. Sobald
aber Linie und Punct gegeben sind, erfolgt unaufhaltsam die ganze
Construction , welche wir gemacht haben; und in ihr auch der Kreis,
aber in Beziehung auf seine Tangente, durch welche erstlich Richtungen
in geordneter Folge vom Puncte aus bestimmt werden müssen, ehe durch
eine Abstraction hievon der spätere allgemeine Begriff der Drehung konnte
erzeugt werden.
Befremdet, und vielleicht mit Ironie, wird man uns [252] die Frage
vorlegen, warum denn unsere Behauptungen über so bekannte Dinge,
wenn sie gewifs und klar sind, nicht längst eingeleuchtet haben? Warum
sie erst jetzt zum Vorschein kommen?
10*
J48 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Statt unserer mögen darauf die bekannten Erklärungen Antwort
geben: Fläche ist Gränze des Körpers; Linie ist Gränze der Fläche;
Punct ist Gränze der Linie.
Man fing also an vom körperlichen Räume; natürlich vom sinnlichen,
denn an den intelligibelen , den wir zu construiren angefangen haben,
dachte Niemand. In dem körperlichen Räume nahm man Puncte beliebig
an; zwischen diese?/ zog man Linien. Waren denn die Puncte schon vest,
ehe die Linien dazwischen traten ? Warum sollten sie nicht ? Sie waren
ja irgendwo im Räume! Der Raum beschützte alle Orte, die in ihm
lagen; die Puncte bezeichneten eigentlich nur — sie machten nicht, erzeugten
nicht die Orte, wo sie standen. Wenn man uns nun zuerst zwey veste
Puncte giebt, und wir sollen eine Linie dazwischen schieben: so werden
wir uns hüten, zu rühmen: wir wüfsten, wie vielemal auf dieser Linie
das Aneinander sich wiederhole. Die Puncte können ja die Endpuncte
gewisser Katheten seyn, zu welchen die einzuschiebende Linie als Hypo-
tenuse passen mufs ! Auch sey es ferne, im sinnlichen Räume die Puncte
abzählen zu wollen. Liegen die Puncte einmal vest; ohne unser Zuthnn
vest: dann vermuthen wir irgend ein unbekanntes Gesetz, von dem sie
gehalten werden; und machen nicht Anspruch auf die Möglichkeit, in die
vorgeschriebene Distanz eine starre Linie hinein zu bringen.
Will man übrigens auf Linien im sinnlichen Räume, die ursprünglich
als Distanzen vester Puncte gegeben werden, ohne deutlichen Grund
dieser Vestigkeit, — den Begriff eines bestimmten Quantum der Exten-
[2 53]sion, oder einer bestimmten Summe des Aufsereinander, übertragen:
so mufs auch hier eine starre Linie in Gedanken zum Grunde gelegt
werden, von welcher die gegebene Distanz eine Function in sich auf-
nehmen könne. Diese Function beträgt als Gröfse im Räume jedesmal
eine endliche Menge des Aneinander, und sie soll noch aufserdem einen
unendlich kleinen imaginären Theil enthalten. Wo nun auf der ganzen
Linie dieser letztere Theil zu finden sey, ist unbestimmt; man kann ihn
überall, auf der Linie, suchen; und eben deshalb giebt es auf ihr keinen
Theil, wohin man ein achtes Aneinander zweyer Puncte mit Sicherheit
setzen könnte. Daher wird die ganze Linie an jeder Stelle als fliefsend
zu betrachten seyn. Das, was sie zu einer bestimmten Raumgröfse
macht, ist auf ihr nur schwebend vorhanden, zwischen gegebenen Gränzen.
Jene starre Linie aber, welche den geometrischen Functionen zum Grunde
liegend gedacht werden soll, gehört eben so wenig in die Geometrie, als
der logisch allgemeine Begriff des zu-Vervielfältigenden (§. 252) in die
Arithmetik; beydes sind nur Beziehten g spunde für die beyden Wissen-
schaften; deren Lehrer sich darum nicht zu bekümmern pflegen, weil ihnen
die Denkbarkeit der Begriffe wenig Sorge macht, wenn sie nur construiren
und rechnen können.
§. 262.
Noch einige Worte über den Begriff der Ebene, obwohl derselbe
schon im Vorigen liegt.
Das Ebene samrat dem Geraden bildet bekanntlich einen Gegensatz
gegen das Krumme, der nur dadurch eine nähere Bestimmung bekommt,
3. Abschn. Synechologie. i. Abth. VonRaum, Zahletc. 3. Cap.V.d. stetigen Linie etc. 14g
dafs er zwey Dimensionen des Raums zugleich treffen soll. Um diese
Bestimmung zu finden, müssen wir die Ausbildung des Kreises weiter
verfolgen.
[254] Es bedarf keiner langen Erörterung, dafs, wenn die Richtungen
des ersten Quadranten gemischt sind aus Unterwärts und Rechts, dann die
des zweyten werden aus Oberwärts und Rechts, die des dritten aus Ober-
wärts und Links, endlich die des vierten aus Links und Unterwärts
gemischt seyn. Denn fangen wir an bey dem vollkommenen, ungemischten
Unterwärts: so mischt sich ihm allmählig mehr vom Rechts bey; und in
der Parallele mit der ersten Tangente, also am Ende des ersten Qua-
dranten, wird das Rechts unendlich gegen das Unterwärts, welches letztere
demnach gegen jenes verschwindet; so dafs hier das reine Rechts ein-
tritt. In der weitern Fortsetzung, oder im Anfange des zweyten Qua-
dranten, wird das Unterwärts negativ, das heifst, es verwandelt sich in
Oberwärts. Aber dem Rechts ergeht es nun wie vorhin dem Unterwärts;
es verliert sich mehr und mehr gegen das Oberwärts; welches am Ende
des zweyten Quadranten allein übrig bleibt. Und so geht es fort; mit
der anfänglichen Richtung in jedem Quadranten verbindet sich die ent-
gegengesetzte der eben verschwundenen mehr und mehr; sie erlangt das
Übergewicht, und die anfängliche verschwindet am Schlüsse des Qua-
dranten. Hiemit vergleiche man §. 254.
Es ist nun klar, dafs der Mittelpunct des Kreises zwiefach einge-
schlossen ist. Er liegt mitten auf zwey Durchmessern zugleich, nämlich
auf den bevden, deren einer das Rechts und Links, der andre das Unter-
wärts und Oberwärts darstellt. Er liegt also auch mitten zwischen den
vier Endpuncten; und überhaupt zwischen je zwey Puncten, die man
Rechts und Links, Oben und Unten, annehmen möchte. Es ist aber leicht,
dieses von zweyen Durchmessern auf unendlich viele auszudehnen; man
braucht nur einen Durchmesser, das heifst, beyde Radien zugleich, aus
denen er besteht, [255] zu drehen, so zeigen die vorigen Entwicklungen,
dafs der Mittelpunct noch immer gerade zwischen den Endpuncten liegt, in-
dem, von ihm angefangen, die beyden Richtungen auf dem Durchmesser
vollkommen entgegengesetzt bleiben. Dreht man nun zugleich beyde,
auf einander senkrechte Durchmesser: so bleibt auch jenes doppelte
Zwischen für den Mittelpunct in Hinsicht der vier Endpuncte stets
dasselbe.
Aber der Kreis ist ein geschlossenes Ganzes; er enthält alle Com-
binationen zwever Richtungen mit ihren Gegentheilen ; seine Construction
läuft in sich selbst zurück. Das Nämliche mufs der zu ihm gehörigen
Kreislinie (§. 258) begegnen; und zwar so vielemal, als sie entsteht bey
willkührlicher Verkürzung des Radius : wodurch unendlich viele Kreislinien
concentrisch, und jede ganz zwischen zwev andern, gelagert werden. Das
Zwischen beruht hier unmittelbar auf der Lage jedes Puncts in jedem
Radius zwischen andern Puncten desselben Radius. Der Mittelpunkt ist
nun flächenförmig, das heifst, nach allen von ihm aus möglichen Rich-
tungen, welche sich auf zwey Grund - Richtungen zurückführen lassen, ein-
geschlossen.
Jetzt betrachte man eine Sehne im Kreise. Diese befindet sich gegen
I ^o !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
den Mittelpunct in dem Verhältnifs der Linie A A' gegen den Punct C,
nach der obigen Darstellung im §. 255. Denn dort erkennt man ohne
Mühe ein gleichschenklichtes Dreyeck, weil von beyden Seiten des Loths
Alles unter ganz gleichen Umständen auch ganz gleich ausfallen mufs,
nur mit Vertauschung des Rechts und Links. Man weifs also schon, dafs
mitten auf die Sehne ein Loth aus dem Mittelpuncte fallen mufs, welches
die kürzeste Linie von dorther ist. und von welchem angerechnet nach beyden
Seiten hin immer längere folgen, bis an die Radien, welche den Sector
einschliefsen (§. 257). Die Sehne also [256] schneidet alle in den Sector
fallende Radien, denn alle geraden Wege von ihr in den Mittelpunct sind
kürzer als die Radien; die ganze Sehne aber lieaft gerade zwischen ihren
Endpuncten; die Radien liegen ebenfalls gerade zwischen einander, denn
sie sind die verkürzten Secanten (§. 254), aus deren Ursprung wir wissen,
dafs sich in ihrer Lage zwischen einander das Zwischen, und zwar das
vollkommene, gerade Zwischen, auf der Tagente, wieder darstellt. So liegt
jede Sehne innerhalb des Kreises; und dieses Innerhalb ist der Begriff
der Ebene.
Um das noch deutlicher zu machen, wollen wir zuerst im Kreise eine
Figur zeichnen, die aus mehrern Sehnen, zum wenigsten aus dreyen, be-
stehen wird, wenn man nicht die Endpuncte zweyer Sehnen anders als
gerade verbinden will. Nun liegen die Radien des Kreises unendlich dicht
(§. 258). Wählt man also auf einer Sehne irgend einen Punct, so geht
durch diesen irgend ein Radius. Verbindet man diesen Punct mit irgend
einem Puncte einer andern Sehne durch eine gerade Linie : so hat man
zwev Puncte zwever Radien verbunden. Aber diese Verbindung war ent-
weder schon vorhanden, oder doch aus dem Vorigen sehr leicht zu er-
halten. Liegen nämlich die beyden Puncte, zwischen welchen sie eintrit,
dem Mittelpuncte gleich nahe: so ist die Gerade zwischen ihnen unmittel-
bar eine Sehne für irgend einen jener concentrischen Kreise. Liegen sie
in verschiedener Entfernung vom Mittelpuncte, so kann man dennoch eine
Sehne durch einen der gewählten Puncte so drehen, dafs sie auch durch
den andern gehn mufs ; und dann ist jene Gerade ein Theil dieser Sehne ;
sie schneidet also überall die schon vorhandenen Radien, und ist ganz
innerhalb des Kreises, indem sie an jeder Stelle nur da ist, wo irgend
etwas, das zum Kreise gehört, schon war. Wir wollen dieses nicht [257]
mit geometrischer Weitläuftigkeit entwickeln; es kommt uns nur auf den
Begriff der Ebene an, als eines Grundes oder Bodens, welcher für mög-
liche Constructionen, die sich auf zwey Dimensionen zurückführen lassen,
schon vorhanden ist, sobald man den Kreis construirt hat, um dessen
Mittelpunct man jede beliebige Figur zeichnen, und den man rückwärts
so legen kann, dafs der Mittelpunct überall, wo man will, innerhalb der
Figur fallen kann. Die Möglichkeit aller geraden Linien zwischen irgend
welchen Puncten der Figur ist alsdann durch den Kreis und seine Sehnen
dergestalt vorgezeichnet, dafs alle neuen Constructionen nur die vorigen
wiederholen. Und diese gesammte, schon vorräthige Möglichkeit, welche
aus der Mischung zweyer Richtungen hervorging, ist die Ebene.
Dafs sich dieselbe Möglichkeit auf alle krummen Linien in dieser
Ebene sehr leicht ausdehnen läfst, weifs Jeder, dem es bekannt ist,
3.Abschn. Synechologie. i. Abth. Von Raum, Zahl etc. 4. Cap. Vom körperl. Räume. 1 5 1
dafs jede Curve an jeder Stelle für einen unendlich kleinen Kreis-
bogen kann genommen werden; wobey wir uns hier nicht aufhalten
können.
Viertes Capitel.
Vom körperlichen Räume.
§• 263.
Der Inhalt dieses Capitels läfst sich vorhersehn. Wir haben noch
keinen vorräthigen intelligibeln Raum ; wir werden ihn aber zur Lehre von
der Materie gebrauchen; und wir werden ihn erreichen durch analoges
Verfahren, wie jenes, das uns die Ebene, als vorräthig für mögliche Con-
structionen, geschafft hat.
[258] Wie im §.253 das reale Wesen C, so kommt hier das reale
Wesen D hinzu. Da wir schon stetige Linien kennen, und wissen, dafs
sie in unserm Zusammenhange unentbehrlich sind: so braucht die Linie
AD nicht eine starre Linie zu seyn; eben so wenig, als es sich gebührt,
das unabhängige Wesen D an die bisher construirte Ebene zu binden.
Liegt nun schon D, wie es soll, aufser dieser Ebene: so kann auch die
Linie AD mit ihr nur den Punct A gemein haben. Denn fiele noch ein
zweyter Punct derselben in die Ebene : so wäre die gerade Linie, als die
kürzeste Verbindung beyder Puncte, sammt ihrer ganzen möglichen Ver-
längerung;, schon in der Ebene vorhanden; welches deutlich genug aus
dem Vorhergehenden erhellt.
Auch der Begriff des Loths ist schon bekannt genug aus §. 255.
Und es versteht sich nun von selbst, dafs ein Loth von D auf die Ebene,
wo es im Puncte P eintreffen mag, zugleich auf allen Radien des Kreises
um P senkrecht stehn mufs, damit es dem ganzen System der in der
Ebene möglichen Richtungen fremd sey. Hingegen die Linie AD wird
sich zerlegen lassen nach drey Richtungen.
Dem Puncte D ist es zufällig, nur mit A in der Ebene geradlinig
verbunden zu seyn. Jeder Punct in beliebiger Entfernung von P, dem-
nach jeder Punct eines Kreises um P, kann eben so gut mit D durch
eine Gerade verknüpft werden. Dies macht D zur Spitze eines Kegels;
oder vielmehr aller möglichen Kegel für alle mögliche concentrische Kreise
um P.
Der äufserste dieser Kegel mufs dergestalt gesucht werden, dafs ihm
ein Kreis von unendlichem Radius zur Grundfläche diene. Alle Linien
im Mantel dieses Kegels, folglich die ganze Vereinigung derselben, werden
parallel der Ebene, nach §. 257; oder wir finden hier den Parallelismus
zweyer Ebenen.
[259] Nimmt man aber die nämlichen Linien gleich lang, so ent-
steht "die Kugel: zuerst nur die Halbkugel, die sich jedoch leicht ergänzen
läfst. In ihr giebt es Schnitte, wie im Kreise Sehnen; und jede Ober-
fläche eines Körpers kann angesehen werden als liegend in der Kugel.
Ist sie eben, so stellt sie einen Theil eines Schnittes der Kugel dar.
jc2 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Wie nun im Vorhergehenden die Ebene sich als der jetzt fertige
Grund und Boden darbot, worauf man zeichnen könne, indem jede
Zeichnung nur ein Hervorheben, ein Wiederholen dessen sey, was in der
Ebene schon lag: so wird die Kugel, mit ihren unendlich dichten Radien,
und ihren sämmtlichen Schnitten, ein ähnlicher Stoff, von welchem man
nehmen kann, ohne ihn vermehren zu müssen, wenn man geometrische
Körper in Gedanken erzeugen will.
§• 264.
Die stereometrischen Constructionen interessiren nun hier nicht weiter,
als inwiefern sie mit der Frage zusammen hängen : ob wir den intelligibeln
Raum völlig ähnlich dem sinnlichen ausbilden müssen, oder ob sich irgend
ein Unterschied zeigen werde? Je bestimmter wir nun bisher gesehn
haben, dafs mit dem Eintrit des Begriffs vom Stetigen jeder frühere
Unterschied verschwand : desto auffallender kann der Umstand erscheinen,
dafs unsre bisherige Fortschreitung von einer Dimension zur andern
auf einem Verfahren beruht, welches sich offenbar stets weiter fortsetzen
läfst ; während doch nach der dritten Dimension des Raums sich Niemand
wird einfallen lassen, noch eine vierte anzunehmen. Wir setzten nämlich
zuerst zwey reale Wesen voraus ; und entwickelten den Gegensatz ihres
möglichen Zusammen und Nicht - Zusammen. Dann nahmen wir ein
drittes Wesen hinzu; darauf ein viertes. Warum [260] nicht, jetzt ein
fünftes ? Und wenn das dritte nicht gebunden war an die Construction
der Linie für die ersten beyden ; wenn eben so das vierte nicht der
Ebene angeheftet werden durfte, die für drey genügte: so wird ja auch
ein fünftes reales Wesen nicht beherrscht seyn durch eine Form des zu-
sammenfassenden Denkens; die wir uns blofs für die vier ersten aus-
gesonnen haben. Es wird also eine Linie AE geben müssen, welche nicht
in die Kugel fällt. Und wenn wir, dieses ablehnend, sagen wollten, wir
könnten uns das nicht denken : so würde man unsre eigne Behauptung
gegen uns richten, es komme hier nicht auf die Frage an, was man sich
vorstellen könne, sondern was man denken solle (§. 246).
Um nun zu zeigen, wie unpassend dieser Einwurf seyn würde, und
dafs der intelligibele Raum, gerade wie der sinnliche, nur drey Dimensionen
haben kann: müssen wir vor allem daran erinnern, dass es hier lediglich
um eine Form des zusammenfassenden Denkens zu thun ist; die nicht
erweitert wird, wenn die vorgeschlagene Erweiterung in die schon vor-
handene Construction zurückfällt.
Es kommt, nach allem Vorhergehenden, nicht blofs darauf an, von
einer Linie AE zu reden, und zu fordern, sie solle eine neue seyn, son-
dern darauf, das Neue mit dem Alten in Verbindung zu bringen. Nun
ist es zwar sehr leicht, den Punct E außerhalb der Kugel um A zu setzen ;
obgleich dieselbe, in ihrer ganzen Vollständigkeit gedacht, einen unend-
lichen Radius hat, mithin selbst unendlich ist. Denn vorausgesetzt, außer-
halb bedeute soviel als nicht innerhalb, wie es denn wirklich in unserem
Zusammenhange nichts anderes bedeuten kann: so darf man nur E in gar
keinen Raum, — oder auch in den sinnlichen Weltraum, — oder allen-
3. Abschn. Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahl etc. 4. Cap. Vom körperl. Räume. 153
falls in die Tonlinie, oder in [261] die Farbenfläche* setzen, welches zwar
ganz grundlos, aber nicht unmöglich seyn würde, da ein reales Wesen
an sich allen Raum-Constructionen gleich fremdartig ist ; alsdann ist E ge-
wifs aufser dem intelligibeln Raum, worin A sich befindet; und man hat
nun blofs den Fehler begangen, das mögliche Causalverhältnifs zwischen
A und E, welches durch die Gemeinschaft eines gemeinsamen Raums
mufste angedeutet werden, nicht zu berücksichtigen. Aber zugleich ist
man nun aus dem Zusammenhange der vorigen Untersuchung hinaus-
getreten. Denn es sollte eine Linie AE geben; oder wir wollen lieber
sagen, eine Linie EA; denn es kommt darauf an, von E zu A zu gelangen.
Dies kann man nicht, weil A völlig eingehüllt ist von der umgebenden
Kugel. Was jetzt noch zu A gelangen soll, das mufs sich gefallen lassen,
einen von den Wegen zu gehn, die schon durch die unendlich dicht zu-
sammenschliefsenden Radien i der Kugel bezeichnet sind.
Diese Umhüllung des Puncts A fand bey den vorigen Dimensionen
nicht statt. A lag auf der Linie AB zwar zwischen zwey Puncten ; und
durch einen derselben ging jeder Übergang auf der Linie. Aber diese
Einschliefsung war behaftet mit dem Gegensatze des Rechts und Links ;
sie lief nicht in sich selbst zurück. Späterhin mochte man in der Ebene A
zum Mittelpuncte des Kreises annehmen; alsdann war freylich A rings
umgeben ; aber die Radien, auf welchen man zu A gelangen konnte, lagen
nur zwischen zwey andern; und auf sie ging nun das Rechts und Links
der Linie hinüber, so dafs man den Kreis rechtshin und linkshin durch-
laufen kann. So lange nun der Weg zu A nicht rings umschlossen war,
liefs derselbe sich abändern. Man kann einen Radius des Kreises aufwärts
und nie-[2Ö2]derwärts bewegen, ohne dadurch eine der Richtungen,
die im Kreise schon gegeben sind, zu wiederholen. Allein in der Kugel
kann jeder Radius als jenes Loth angesehen werden (§. 265), welches mit
einem kegelförmigen Mantel umgeben ist. Dieser Mantel wird bestimmt
durch den Kreis der Grundfläche; er umschliefst den Radius, der ihm
zur Axe dient, weil der Mittelpunct des Kreises umschlossen ist von der
Kreislinie. Versucht man nun, den Radius irgendwie zu bewegen: so
fällt er in den Mantel; dort aber wird er wiederum die Axe für einen
neuen, ihn umgebenden Mantel; und so fort; daher seine Lage sich
gar nicht dergestalt verändern läfst, dafs sie nicht einen Theil der schon
gemachten Construction wiederholen sollte. Jeder neue Weg zu A
müfste aber als Abänderung eines frühern können angesehen werden,
wenn er mit der schon vorhandenen Construction in Verbindung treten
sollte.
Diese Construction also ist dergestalt fertig, dafs sie nichts Neues,
das zu ihr gehören könnte, und in ihr nicht schon als möglich vorgezeichnet
wäre, mehr annimmt. Darum kommt zu dreyen Dimensionen des Raums
keine vierte.
* Psychologie I, §. 100; und II, §. 139. [Bd. V und VI vorl. Ausgabe.]
1 zusammenfliefsenden Radien. SW.
1^4 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
§• 265.
Eine lange Mühe hat es gemacht, mit einem blofsen Gedankendinge
fertig zu werden; das jedoch für nichts Schlechteres zu halten ist, als das
ähnliche, womit sich Mathematiker aller Zeiten auf ernstlichste beschäfftigten.
Allein hier werden zwey Partheyen auf einmal widersprechen. Die eine
wird sagen, der intelligible Raum sey ja nicht der wirkliche Raum; die
andre, welche von Kant gelernt hat, dafs der Raum nichts Wirkliches
ist, wird fragen, ob wir denn im Ernste von der Materie, als von einem
Realen handeln wollen ? Wenn aber, wie sichs gebühre, Materie für blofse
Erschei-[2Ö3]nung gelte, warum denn aufser dem sinnlichen Räume
noch etwas ihm Nachgeahmtes gesucht werde ?
Im Grunde ist die letztere Parthey der ersten nicht so ungleich, wie
es scheint. Nicht der Raum, aber die Sinnlichkeit, deren Form er seyn
soll, gilt ihr für eine wirkliche Einrichtung in der vorgeblichen Organisation
des menschlichen Geistes; und hinter ihrem sogenannten transscendentalen
Idealismus steckt ein Realismus, dem wir eben so wenig huldigen können,
als jenem, welcher die wirklichen Dinge im wirklichen Räume sucht. Beyde
Partheyen sehn nicht ein, dafs in jedem Betracht der Raum eine Form
der Zusammenfassung ist, welche, wenn keine weitere Bestimmung hinzu-
kommt, den Dingen gar kein Prädicat, tür jeden Zuschauer aber eine Hülfe
darbietet, die ihm in vielen Fällen ganz unentbehrlich wird; und die er
sich selbst erzeugt, gemäfs der gegebenen Veranlassung.
Die erste Parthey mag sich fragen, ob sie im Ernste glaube, dals
der Zwischenraum zwischen dem Hungernden und der Speise, die ihn
sättigen könnte, eine wirkliche Bestimmung für jenen oder für diese ab-
geben möge? Soviel aber ist klar, dafs die Kenntnifs des gröfsem oder
geringern Zwischenraums vielfach wichtig ist, um die Speise zu erlangen.
Der Zuschauer erblickt darin nothwendig eine Bedingung, welche erfüllt
werden mufs, um die Sättigung zu erreichen; besonders wenn von Zufuhr
aus fernen Gegenden die Rede ist. Es verhält sich damit ungefähr wie
mit der Ungleichartigkeit der Sprachen. Griechisch ist nicht Arabisch;
aber dieser Gegensatz ist weder eine Eigenschaft des Griechischen noch
des Arabischen. Dennoch schätzt derjenige diesen Gegensatz als ein
gröfseres oder geringeres Hindernifs. welcher mit der Kenntnifs einer
Sprache die der andern zu verbinden wünscht. [264] So entsteht im zu-
sammenfassenden Denken solcher Gegenstände, die an sich in gar keiner
Verbindung stehn, eine Gröfse des Unterschiedes, die nicht blofs für eine
Person, sondern für jeden Zuschauer vorhanden ist, und, obgleich den
Gegenständen fremd, doch aus ihnen hervorgeht, und sich nicht willkühr-
lich so oder anders auffassen läfst. Haben zwey Sprachen eine zufällige
Ähnlichkeit: so liegt darin eine Erleichterung im Lernen der einen nach
der andern; die Gröfse des Unterschiedes findet sich dann geringer, als
im entgegengesetzten Falle.
Dafs nun die Gröfse des Unterschiedes der Sprachen weder in der
einen noch in der andern Sprache, sondern nur in der Zusammenfassung
liegt: dieses Beyspiel mögen besonders Diejenigen erwägen, welche nicht
begreifen können, dafs der Punct gar keinen Raum einnehmen, und doch
3- Abschn. Synechologie. i . Abth. Von Raum, Zahl etc. 4. Cap. Vom körperl. Räume. 155
das Auseinander zweyer Puncte das ursprüngliche Maafs des Raums seyn
soll. Wenn keiner von beyden Puncten ausgedehnt sey, dann, meinen
sie, könne auch das Aneinander der beyden keine Ausdehnung haben;
denn was in den Bestandtheilen, einzeln genommen, nicht liege, das werde
man auch in deren Summe nicht finden.
Und gerade umgekehrt! Gröfse, als solche, ist nur Zusammenfassung ;
dies ist so wahr, dafs, wenn jedes der Elemente schon an sich eine Gröfse
hat, dann die Zusammenfassung derselben allemal einen unreinen Begriff
giebt, der verschiedenartige Gröisen vermengt. Zwey Thaler sind keine
reine Zweyheit ; denn aufser der Zahl zivey trit hier auch noch ein
Werth hervor, dem es sehr zufällig ist, wenn er gerade durch zwey Münzen
repräsentirt wird. Zwey Personen geben eine reine Zweyheit erst nach
der nöthigen Abstraction von ihrem Gewicht, ihrem Volumen, und was
sonst von Gröfse jeder einzelnen vorkommen [265] mag. Bey zwey
Zahlen, welche durch Addition zusammengefafst werden, wie wenn 7 -j- 5
= 12, läfst man den Begriff der Zweyheit, so wie bey 6 -|- 2 -f- 4 = 12
den Begriff der Dreyheit, ganz fallen ; weil die mindeste Erinnerung daran
die Zahl, welche aus der Zusammensetzung derTheile entstehen soll, verderben
würde. Ursprünglich aber war die Zahl 7 doch die Form der Zusammen-
fassung für die gegebene Menge ihrer Theile 1 — j— 1 — f— 1 — |— 1 — |— 1 — |— 1 — f- 1 ;
und eben so die Zahl 5.
Sollen wir noch an ästhetische Urtheile erinnern? Wie oft wird man
es wiederholen müssen, dafs der einzelne Ton c oder eis weder harmonisch
noch disharmonisch ist, die einzelnen Töne e und g eben so wenig; und
dafs dennoch c, e, g einen reinen, eis, e, g einen unreinen Accord ergeben?
Alle Gröfse ist Form der Zusammenfassung. Aber diese Form selbst
kann eine nähere Bestimmung annehmen, durch den Gegensatz des Zu-
sammen und Nicht-Zusammen. Die realen Wesen A und B sind zwey,
und diese arithmetische Bestimmung bleibt die nämliche, sie seyen nun zu-
sammen oder nicht zusammen. Aber im Zusammen sind sie nicht aufser-
einander, im Nicht-Zusammen sind sie nicht Ineinander. Dies beydes,
eins wie das andere, ist noch blofser Mangel der Räumlichkeit. Das heifst,
man braucht an gar keinen Raum zu denken, wenn A und B blo/s und
lediglich zusammen sind; und man braucht abermals an keinen Raum zu
denken, wenn sie blofs und lediglich Nicht-Zusammen sind. Erst im vest-
gehaltenen Gegensatze dieser bevden Bestimmungen entspringt das Aufser-
einander.
Man gehe jetzt zurück in den §. 245; und man wird finden, dafs
wir den Begriff des Orts nur erhielten, indem zuir im Nicht-Zusammen
dennoch die [206] Möglichkeit des Zusammen vesthielten. Aufserdem würde
das Nichtzusammen blofs die Erlaubnifs ausdrücken, man könne füglich das
Eine vergessen, indem man des Andern gedenkt. Aber indem durch das
Nicht-Zusammen die Möglichkeit des Zusammen sich verdoppelt ; entstehen
zwey Orte, einander gegenüber, welche durch die fernere Construction des
Raums nur vervielfältigt, nicht aber ihrem Begriffe nach verändert werden ;
auch dann nicht, wann die Continuität dazu kommt, die nur als Gegensatz
des Fliefsenden gegen das Starre einen Sinn hat, und des letzteren gar
nicht entbehren kann.
j -5 Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Diejenigen, welche zuerst unsere Construction kennen lernen, sind ohne
Zweifel geneigt, die Puncte der starren Linie für blofse Unterscheidungen
in Begriffen zu halten; wie wenn Jemand die Grade der Wärme, oder
die Grade der Helligkeit unterscheidet, welche sich doch nicht nothwendig
aufser einander befinden. Wer nun freylich Gewicht hierauf, als auf einen
Einwurf, legen wollte: der müfste uns nachweisen, welcher Unterschied
denn sey unter den Puncten unserer starren Linie? Allein hoffentlich hat
schon die Construction der Ebene, und des körperlichen Raums eine bessere
Einsicht bewirkt. Es wird wohl Niemand den pythagoräischen Lehrsatz
oder die Rectification des Kreises (§. 259 und 260) irgendwo anbringen
können, wo keine wahren Raumverhältnisse Statt finden. Dies sey besonders
den Kantianern gesagt; die sich freylich am allerletzten überzeugen werden,
dafs es aufser ihrer eingebildeten reinen Anschauung, als Form der Sinn-
lichkeit, noch eine Quelle wahier Raum- Begriffe geben könne.
§. 266.
Gegen alle mögliche Misdeutung hilft am besten der [267] richtige
Gebrauch einer Lehre. So ist die Differentialrechnung für einen Anfänger,
der gern disputirt, ein Stoff zu stets erneuerten Einwürfen , bis er aus
der Anwendung lernt, dafs er durch die vermeinten Proben seines Scharf-
sinns nur seine Ungelenkigkeit im Denken verrieth.
Unsre Lehre vom intelligibeln Räume läfst sich nun zwiefach an-
wenden ; theils auf Ruhendes, theils auf Beivegtes. Die zweyte dieser An-
wendungen ist eigentlich die, welche in der ursprünglichen Aufgabe liegt,
die Veränderung zu erklären. Man gehe zurück in den §. 230, wo der
Zusammenhang der ganzen Untersuchung, die uns bis hieher führte, deut-
lich hervortrit. Die Veränderung nämlich konnte in Hinsicht des wirk-
lichen Geschehens, das in ihr liegt, zwar wohl erklärt werden durch die
Theorie von den Störungen und Selbsterhaltungen; aber der Eintril oder
das Aufhören dieses wirklichen Geschehens ist selbst ein scheinbares Ge-
schehen, dessen Begriff eine Zeit in sich begreift, welche leer bleibt vom
wirklichen Geschehen, und ihm doch vorangeht oder nachfolgt. Die Leer-
heit und gänzliche Nichtigkeit dieses Begriffs, als ob das Eintreten oder
Aufhören des Geschehens selbst einen Theil des Geschehens ausmachte
(wie wenn die Gränze und die leere Umgebung eines Körpers ein wahres
Prädicat desselben wäre), mufs man zuerst reiflich überlegen. Alsdann
aber ist es eben so nöthig anzuerkennen, dafs, wie der leere Zwischen-
raum zu unserer Vorstellung der Körper, so auch das scheinbare Geschehen,
welches in der Folge leerer und erfüllter Zeit liegt, in unserem Denken ganz
unentbehrlich ist, nachdem einmal die Anschauung uns Veränderung, als ein-
tretend nach einem frühern, anderen Zustande der Dinge, gegeben hat.
So wesentlich nun diese Überlegung zu unserer Auf-[2ö8]gabe ge-
hört: so finden sich dennoch Gründe, die weitere Ausführung derselben
zu verschieben. Zwar wäre es möglich, jetzt gleich von Zeit und Bewegung
zu handeln; wir hätten völlig zureichende Veranlassung, nachzuweisen,
dafs die realen Wesen als bewegt im intelligibeln Räume müssen gedacht
werden, wenn sie aus dem Nicht-Zusammen , welches der Veränderung
vorangehn mufs, übergehn sollen in das Zusammen, und folglich in das
3. Abschn. Synechologie. i.Abth. VonRaum, Zahl etc. 4.Cap. Vom körperl. Räume. 157
Causalverhältnifs, welches das wirkliche, der Veränderung zum Grunde
liegende, Geschehen ausmacht.
Allein die Raumbestimmungen brauchen sich nicht gleich zu ver-
wickeln mit den neuen Schwierigkeiten, welche die Frage nach dem, was
die Zeit erfüllt, herbey führen würde. Längeres Verweilen bey blofs for-
malen, leeren Begriffen ist nicht einmal rathsam. Der eigentliche Haupt-
gegenstand unserer ganzen Arbeit, — die Materie, — liegt nicht mehr
so entfernt, dafs sich nicht schon eine Spur sollte zeigen können, die zu
ihm hinführt.
Wir haben schon Raum und Causalität. Mehr mufs nicht nöthig
seyn, die Materie in ihren ersten Gründen zu erkennen, wenn sie anders
ein Beharrlich -Wirkliches, und weder ein ewig Fliefsendes, noch eine blofse
Erscheinung ist. Freylich wäre sie in steter innerer Verwandlung not-
wendig begriffen, dann müfste man ihrer Betrachtung die Lehre von der
Zeit voranschicken; und wäre sie nichts als blofse Erscheinung, dann hätte
erst die Eidolologie nach ihr zu fragen. Beyde Behauptungen bedürfen keiner
Widerlegung; besser ist, zu zeigen, wie die Sache sich wirklich verhält.
Als Eingang dazu mag die Betrachtung dienen, dafs sich reale Wesen
in dem intelhgibeln Räume nicht blofs bewegt, sondern auch ruhend denken
lassen. Letzteres auf zweyerley Weise; zusammen, oder nicht zusammen.
[269] Aber durch den Begriff des Irrationalen (§. 259) erhält beydes eine
nähere Bestimmung. Das Nicht-Zusammen erstlich braucht nicht gerade
eine rationale Distanz, das heifst, eine bestimmte Summe des Aneinander,
zu betragen; sondern zwey reale Wesen können recht füglich auch an den
Endpuncten irgend einer Hypotenuse stehn. Diese Stellung enthält zwar
einen widersprechenden Begriff; allein das Widersprechende der Stellung
liegt nicht in der Qualität der Wesen; es bleibt in der Raumbestimmung,
welche sich dergleichen Widersprüche, wie wir schon gesehen haben, un-
vermeidlich mufs gefallen lassen. — Gerade eben so nun verhält es sich
mit dem Zusammen. Ein paar reale Wesen können vollkommen zusammen,
das heifst, ineinander, seyn; aber diese Annahme ist nicht nothwendig.
Wir dürfen auch ein unvollkommenes Zusammen vorraussetzen; das heifst,
die realen Wesen A und B können in solcher Lage seyn, wie die beyden
letzten Puncte einer Hypotenuse, die theihveise einander decken sollen,
als ob ein Punct theilbar wäre. Die Fiction in diesem Begriffe trifft
wiederum lediglich den Raum ; sie berührt nicht im mindesten die Qualität
der Wesen ; auch nicht das wirkliche Geschehen ; denn die räumliche Lage
ist überall nichts für die Wesen selbst. Auch kann man voraussehn, dafs
bey der Bewegung alle diese widersprechenden Raumbegriffe unvermeidlich
auf die Zusammenfassung der Wesen müssen übertragen werden; denn das
Bewegte durchläuft nothwendig eben sowohl die irrationalen als die ratio-
nalen Distanzen bis zu seinem Ziele; und ehe es mit einem zweyten realen
Wesen in ein vollkommenes Zusammen eingeht, mufs ein unvollkommenes
Zusammen beyder Statt finden.
Es gehört wesentlich zur richtigen Einsicht in die Eigentümlichkeit
des Raums, dafs man die hier vor-[2 7o]kommenden Fictionen nicht
scheue. Diejenigen, welche überall nur Stetiges erblicken, und das Starre
ganz verkennen, kommen aus den Widersprüchen, die wir hier zulassen,
I cg Allgemeine Metaphysik nebsl den Anfängen etc. 1829.
gar nicht heraus; sie wissen nur nicht, dafs es Widersprüche sind. Darum
ist ihnen der Raum eine räthselhafte Gabe der Natur, sey es der äufsern,
körperlichen, oder der geistigen, durch Gesetze des Anschauens bestimmten
Natur. Wer aber den Raum als ein Geschöpf des zusammenfassenden
Denkens kennt, gerade so wie die Zahl, der wird sich nicht wundern über
die Erweiterung der Begriffe von imaginären Gröfsen. Wir sehen, dafs
gerade so nothwendig , und gerade so natürlich , wie die Algebra zur
Wurzel aus Minus-Eins kommt, auch die Geometrie zur Kreislinie, und
mit ihr zur Theilbarkeit des einfachen Puncts kommen mufste, die sie
sich aus falscher Schaam nicht gestehen wollte; während ihr die Algebra
das gute Beyspiel der Aufrichtigkeit so deutlich als nachahmungswerth vor
Augen stellte.
Fünftes Capitel.
Von dem Ursprünge der Materie.
§. 267.
Es wird gut seyn vorauszusagen, dafs wir in diesem Capitel nur auf
starre, nicht zugleich auf flüssige und gasförmige Körper, durch die Unter-
suchung können 1 geführt werden. Die Erklärung der letztern liegt tiefer,
sowohl nach Theorie als Erfahrung; indem kein Flüssiges ohne den Druck
seines Dampfs, kein Dampf und Gas ohne eine zusammenpressende Ur-
sache kann gegeben werden, da es sich sonst zerstreuen würde, und nicht
merklich bliebe.
[271] Von den vier Annahmen des vorhergehenden Paragraphen ist
eigentlich nur die letztere fähig, uns zum Gegenstande weiterer Betrach-
tung zu dienen. Denn wenn zwey reale Wesen in einer Distanz, ohne
Vermittelung, sich befinden, so mag dieselbe rational oder irrational seyn;
es fehlt die Bedingung der Causalität, das Zusammen; und es geschieht
Nichts. Sind sie aber vollkommen zusammen: so wissen wir schon, dafs
sie dem gemäfs sich in vollkommener Störung und Selbsterhaltung befinden.
Daraus nun ergiebt sich, wie es auf den ersten Blick scheint, dafs
einem unvollkommenen Zusammen eine mindere, dem Grade nach abge-
stufte, Störung und Selbsterhaltung entsprechen müsse. Und dies ist auch
nicht unrichtig, allein es genügt nicht.
Das unvollkommene Zusammen beruht auf einer Fiction, die wir
schon kennen. Ein paar Puncte liegen dichter als aneinander, das heifst;
sie haben sich theilweise in einander geschoben. Also haben sie Theile ;
und diese Vorstellung der Puncte mufs hier nothwendig auf die realen
Wesen übertragen werden, wenn deren unvollkommenes Zusammen soll
deutlich gedacht werden.
Die erste vorläufige Frage ist hier: wo Theile sind, da ist auch Figur ;
welche Figur aber paßt, auch nur als Fiction, auf einfache Wesen?
1 durch die Untersuchung geführt werden. SW. („können" fehlt.)
3. Abschn. Synechologie. i . Abth. Von Raum, Zahl etc.5. Cap.V. d. Ursprünge d. Materie. 1 5 g
Antwort: Einzig die Kugel. Denn es ist kein Grund vorhanden,
die Ausdehnung nach verschiedenen Seiten hin ungleichförmig anzunehmen.
Und diese Kugeln sind für alle reale Wesen gleich grofs. Denn es
ist kein Grund der Ungleichheit vorhanden; und ohne solchen darf die
Fiction nichts Ungleiches zulassen.
Also denken wir uns ein paar, theilweise durchdrungene, innerlich
vollkommen gleichartige Kugeln.
[272] Wer hier von Atomistik eine Spur finden wollte, der würde
sich sehr irren. Ato?7ie können einander nickt durchdringen ; bey uns aber ist
partiale Durchdnngung der ganze Grund, warum wir uns auf die gemachte
Fiction überhaupt einlassen. Und hier ivird sich gerade die Ursache zeigen,
warum bisher alle Versuche, aus Atomen oder Monaden die Materie zu er-
klären , fruchtlos bleiben mufsten.
Der bestimmte Begriff, auf welchen unsre Annahme führt, ist nun
der einer Selbsterhaltung, welche vollkommen sey in den durchdrungenen
Theilen, aber gar nicht vorhanden in den Theilen, wohin die Durch-
dringung nicht reicht. Dies ist die nothwendige Folge der gemachten Vor-
aussetzung. Denn in den durchdrungenen Theilen ist das Zusammen, und
hiemit völlige Causalität, vorhanden; in den nicht durchdrungenen Theilen
fehlt das Zusammen gänzlich; mithin fehlt gänzlich die Bedingung der Cau-
salität, und es giebt also keine solche.
§ 268.
Hier haben wir uns nun auf eine völlig unerlaubte Weise, — begreif-
lich nur um den richtigen Schlufs vorzubereiten, — in Widersprüche ein-
gelassen; und es kommt jetzt Alles darauf an, iti diesem Puncte das Unstatt-
hafte vom Zulässigen zu unterscheiden.
Raumbegriffe, die an sich weder die Qualitäten des Seyenden noch
ein wirkliches Geschehen bezeichnen, können es vertragen, dafs man
jene geometrische Consequenz , die uns beym Kreise und bey den Hypote-
nusen aufs Continuum führte, bey ihnen vesthalte. Denn es sind leere
Begriffe, deren Verknüpfung immer gut ist, so lange sie gesetzmäfsig fort-
schreitet. Aber nicht [273] in solchem Falle befindet sich das wirkliche
Geschehen. Dieses hört auf, ein wirkliches zu seyn, wenn es mit Wider-
sprüchen behaftet gedacht wird. Das aber ist uns im Vorigen begegnet.
Das wirkliche Geschehen, die Selbsterhaltung eines jeden Einzelnen
realen Wesens, wurde so gedacht, als ob sie sich dergestalt vermindern
liefse, dafs ein Theil eines solchen Wesens sich selbst erhalte, ein andrer nicht.
Aber es ist unwahr, dafs einfache Wesen Theile haben. Es ist also
auch durchaus unmöglich, dafs ein solcher Unterschied — Selbsterhaltung
hier, aber nicht dort, — in einem und demselben realen Wesen Statt
finde. Denn es giebt im realen Wesen kein hier und dort ; der ganze
Unterschied ist eine Fiction.
Wenn nun diese Fiction wenigstens in ihrer eigenthümlichen Conse-
quenz soll vestgehalten werden: so mufs der Satz bestehen: in dem gan-
zen realen Mcsen , in allen fingirten Theilen desselben , befindet sich einerley
Grad der Selbsterhaltung.
l5o I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1828.
§• 269.
Also, obgleich die Durchdringung nur als partial angenommen, oder
ein unvollkommenes Zusammen vorausgesetzt wurde: so ist doch die Selbst-
erhaltung blofs dem Grade nach geringer; sie geschieht aber in dem
realen Wesen ohne irgend einen Unterschied von Theilen.
Jetzt ist der Begriff des wirklichen Geschehens berichtigt. Aber nun
bleibt ein P'ehler in der Voraussetzung der Lage. Das unvollkommene
Zusammen führt eine Selbsterhaltung mit sich; zu dieser muss es passen;
das heifst: entiueder die Selbsterhaltung mufs sich richten nach dem Zu-
sammen, oder das Zusammen nach der Selbsterhaltung.
[274] Allerdings nun richtet sich die Selbsterhaltung nach dem Zu-
sammen, insofern sie überhaupt Statt findet selbst bey dem nur unvoll-
kommenen Zusammen. Ausbleiben kann sie nicht; aber sie kann sich
auch nicht theilen nach fingirten Theilen des Wesens.
Da nun überall, in diesen fingirten Theilen, Selbsterhaltung wirklich
geschieht: so mufs auch überall das Zusammen ihr entsprechen.
Was heifst nun dies?
Nichts anderes, als: unsere Voraussetzung kann nicht bestehen; es
bleibt nicht bevm unvollkommenen Zusammen. Sondern wenn einmal ein paar
reale Wesen in diese Lage gerathen : so ist die Nothivendigkeit vorhanden ,
dafs sie vollends in einander eindringen.
§. 270.
Bey einiger Überlegung konnte man erwarten, dafs wir die Materie
nicht früher als die scheinbaren Kräfte finden würden, durch welche sie
besteht; denn sie ist Nichts ohne diese Kräfte. Wo Materie gegeben wird,
da zeigt sie sich entweder durch Cohäsion, oder durch Repulsion ihrer
Theile bestimmt, oder durch beydes. Deshalb sind längst Attraction und
Repulsion als ihre Grundkräfte angegeben worden.
Wir haben nun so eben den ursprünglichen und einzig ?nöglichen
Grund der Attraction gefunden. Denn es hat gar keinen Sinn, von wirk-
lichen Grundkräften zu reden, die sich auf ein Raumverhältnifs beziehen
sollen. Der Raum ist einmal nichts Wirkliches; und nicht fähig, die Vor-
aussetzung wirklicher Kräfte darzubieten. Allein wir wollen uns bev diesem
Vorurtheil jetzt noch nicht aufhalten, sondern erst die Construction der
Materie vollenden. Dazu fehlt noch die scheinbare Kraft der Repulsion.
Sie ist leicht zu fin-[2 75]den; obgleich nicht bey zweyen realen Wesen;
auch geht sie der Attraction nicht voran, sondern sie folgt ihr nach.
Attraction ist das Erste, Repulsion das Ziveyte.
Man nehme jetzt drev reale Wesen, von welchen zwey unter sich
gleichartig sind. Diese mögen bezeichnet werden mit A und A'; das dritte
Wesen heifse B.
B sey in der Mitte; es seyen von zwey verschiedenen Seiten her A
und A', die mit ihm in ein unvollkommenes Zusammen gerathen waren,
jetzt eben im Begriff, vollends in B einzudringen, wie es nach der eben
vorhin gezeigten Schwierigkeit geschehen mufs. Soll es aber in der That
geschehen: so müssen nicht nur A und A' sich vollkommen selbsterhalten
3. Abschn. Synechologie. i . Abth. Von Raum, Zahl etc. 5 . Cap. Von dem Ursprünge etc. t 6 1
gegen B, was sie ohne Schwierigkeit können: sondern B mufs sich nun
doppelt, nämlich gegen beyde A, selbsterhalten. Wenn dieses möglich seyn
sollte, so müfste in dem Gegensatze des B gegen A eine solche Ungleich-
heit seyn, dafs ein einzelnes A nicht zureichte, um der ganzen Negation,
welche in B liegt, gegen die Qualität der A, völlig zu entsprechen.
Ein solcher Fall läfst sich nun im Allgemeinen sehr wohl denken;
und künftig werden wir, bey den Untersuchungen über die Verschieden-
heit der Materien, allerdings Manches daraus ableiten. Aber es läfst sich
auch das Gegentheil denken; und die einfachste Annahme, die wir zuerst
machen müssen, ist die, dafs der Gegensatz zwischen A und B gleich sey.
Alsdann kann B die geforderte doppelte Selbsterhaltung gegen beyde
A zugleich nicht vollziehen. Es kann aber auch keine wirkliche Störung,
ohne Selbsterhaltung, in B geschehen, wie wir aus der Lehre von der
wahren Causalität längst wissen. Sondern die Lage [276] der realen
Wesen, ihre räumliche Stellung, das blofs scheinbar Wirkliche, mufs sich
hier eben sowohl als zuvor nach dem wirklichen Geschehen einrichten und
abändern.
Das heifst: die bey den A können nicht ganz eindringen in B; wie sie
nach dem Vorigen doch sollten. Denn hier sind nun zwey entgegen-
gesetzte Nothwendigkeiten, welche die Lage bestimmen. Da in jedem A
jedenfalls Selbsterhaltung, ohne Unterschied der durchdrungenen und nicht
durchdrungenen Theile, wirklich geschieht: so sollten sie ganz eindringen,
und das nennen wir Attraction. Da aber B sich nicht doppelt selbst-
erhalten kann, so scheint es eine zurückstosfende Gewalt gegen sie auszu-
üben; und die nennen wir Repulsion. Zwischen diesen beyden Nothwen-
digkeiten mufs irgend ein Gleichgczoicht eintreten; oder: A und A' müssen
zum Theil in B eindringen, und dabey mufs es sein Bewenden haben.
§. 271.
Sollte nun der Ursprung der Materie noch nicht klar genug vor
Augen liegen: so können wir nachhelfen.
Man nehme jetzt der A so viele an, als man will. Wenn diese alle
zugleich in ein unvollkommnes Zusammen mit B gerathen: so müssen
sie alle tiefer eindringen; aber dieses ihr Müssen hilft nichts, wenn B
deren nicht mehr aufnimmt. Je mehr ihrer sind: desto weniger tief
können sie eindringen; und gesetzt, sie zuären alle eingedrungen, so würden
sie nach allen Seiten gleichmäfsig so weil herausgetrieben zcerden, bis sich
Attraction und Repulsion im Gleichgewichte befänden. Alsdann läge B in
der Mitte; und es würde mit allen A zusammengenommen mehr als eine?i
mathematischen Pnnct einnehmen; so dafs eine kör-\_2y]~\pcr liehe Ausdehnung
entstünde, und das Ganze nun ei 71 Klümpchen, oder eine nio lecula daist eilte.
Nun wollen wir zwar nicht behaupten, dafs wirklich jede unbestimmte
Menge der A auch nur unvollkommen in das einzelne B eindringen
könne; vielmehr ist dieses Gegenstand einer weitern Untersuchung. Aber
wenn eine bestimmte Menge der A zuirklich in B eindringt: so mufs aus
dem angegebenen Grunde auch lüirklich das beschriebene Klümpchen entstehen.
Herbart's Werke. VIII. I I
j52 L Allgemeine Metaphysik Debst den Anlangen etc. 1829.
Dieses Klümpchen hat alsdann seine bestimmte Dichtigkeit; gemäfs
dem Gleichgewichte der Attraction und Repulsion.
Will man es vergröfsern, so nehme man nun auch mehrere B hinzu.
Jedes der B wird seinerseits in die A, mit denen es in ein unvollkomme-
nes Zusammen gerathen war, so weit als möglich eindringen; und die
Klümpchen -werden zusammen eine körperliche Masse darstellen.
§• 272.
Der Grund, durch welchen die körperliche Masse existirt, beruht
nach dem Vorstehenden darin: dafs sich der äußere Zustand, die Lage
der Elemente, richtet nach dem innem Zustande, oder nach den Selbst-
erhaltungen jedes Elements gegen die, mit welchen es zusammen ist.
Soll nun die Masse getrennt werden: so mufs entweder der äufsere
Zustand gehindert werden, sich nach dem innern ferner zu richten; oder
die innem Zustände müssen verändert werden, so dafs sie jetzt auch
andere äufsere Zustände erfordern. Den Grund der Veränderung nennen
wir in jenem ersten Falle mechanisch; im zwevten Falle können wir [278]
ihn, bis in der Folge genauere Bestimmungen hinzukommen, vorläufig als
chemisch bezeichnen. Von organischen Gründen ist es hier zu früh, etwas
zu erwähnen.
Von welcher Art aber auch ein solcher Grund sey: so setzt ihm die
Nothwendigkeit, dafs sich der äufsere Zustand richte nach dem bisher vor-
handenen innern, einen Widerstand entgegen, welcher dem Zuschauer er-
scheinen würde als eine widerstehende Kraft.
Dieser Widerstand wächst, wenn das Zusammen der zum Thcil in ein-
ander eingedrungenen Diemen te vermindert wird. Denn die Nothwendigkeit,
dafs die Elemente so tief in einander seyen, wie es ihrem Gleichgewichte
der Attraction und Repulsion gemäfs ist, wird um desto dringender, je
weiter sie von dieser Forderung abweichen. Das geringste Zusammen ist
mit der stärksten Attraction verknüpft; weil es die gröfste Veränderung
der Lage erfordert.
Kann nun der Grund der Trennung, welcher Art er auch sey, diese
stärkste Attraction überwinden: so zer reifst die Masse plötzlich, nachdem
sie einen allmählig 'wachsenden Widerstand geleistet hat; denn auf den
o-erino-sten Grad des Zusammen folgt auf einmal das Aneinander, also ein
Nicht -Zusammen ; in diesem aber, wenn nichts Neues, Vermittelndes, zu-
o-eo-en ist, hört alle Causalität, also auch alle Bestimmungen des äufsern
Zustandes auf.
Kann hingegen der Grund der Trennung die stärkste und letzte
Attraction nicht überwinden, und hört alsdann dieser Grund auf zu wir-
ken: so kehren die Elemente, welche sich eine gewisse Dehnung hatten
gefallen lassen, in ihre vorige Lage von selbst zurück; denn sie folgen
dabey nur dem inwohnenden Gesetz ihrer Dichtigkeit. Dasselbe gilt bey
der Zusammendrückung.
[279] Alle Materie ist nothwendig elastisch. Denn das Gleichgewicht
ihrer Attraction und Repulsion kann, wie jedes Gleichgewicht , durch neue
hinzukommende Kräfte gestört werden. Aber je gröfser die Abweichung,
desto stärker wird die Nothwendigkeit der Wiederherstellung.
3.Absch.Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahl etc. 5. Cap. Von dem Ursprünge etc. 163
§• 273-
Um nun zu zeigen, inwieferne der Materie das bekannte Prädicat
der Undurchdringlichkeit zukommt: nehmen wir an, es habe sich aus
Elementen, deren Qualität mit C und D bezeichnet sey, eine andre
Masse gebildet; auch seven C und D, oder wenigstens eins von beyden,
solche Qualitäten, die mit A und B einen Gegensatz bilden. Alsdann
würden die beyden Massen AB und CD, wenn sie in einander eindrängen,
neue innere Zustände ihrer Elemente ergeben; und zuvor müfsten die
früheren innern Zustände, falls sie sich nicht mit jenen vertragen, eine
Abänderung erleiden. Ist nun solche Abänderung aus irgend einem
Grunde nicht möglich : so können auch die Massen nicht in einander
eindringen.
Durchdringlich aber ist die Materie erstlich für solche Elemente,
welche den innern Zustand derselben nicht verändern; zweytens für
solche, die ihn überwinden können. Wegen des ersten Falles mag man
sich an Durchsichtigkeit (Durchdringlichkeit fürs Licht), wegen des zweyten
Falles an chemische Auflösung erinnern.
Im zweyten Falle entsteht eine neue Art von Materie; weil der
neuen Verbindung auch eine eigenthümliche Verdichtung entsprechen wird.
§• 274.
Die Materie ist kein Continuum, so7idcr7i ursprünglich eine starre Masse.
[280] Denn die Fiction, auf welcher der Begriff beruht, setzt zwar
Theilbarkeit der Puncte voraus, welche, einmal zugelassen, keine Gränze
mehr hat. Allein die Verdichtung der Elemente beruht auf einem Gleich-
gewicht der Attraction und Repulsion (§. 270), und dieses kann für jeden
gegebenen Fall, da es aus den ursprünglichen Qualitäten der realen Wesen
hervorgeht, nur ein einziges bestimmtes seyn. Gröfsere oder geringere
Dichtigkeit erfordert hinzukommende Gründe (§. 2J2); demnach wird zwar
die Materie ihre Dichtigkeit continuirlich abändern lassen, aber sobald sie
in Freyheit ist, kehrt sie in ihre bestimmte Lage zurück, und erfüllt also
den Raum, worin sie ist, nicht nach dem unbestimmten Begriff des Con-
tinuums, nach welchem z. B. die Radien des Kreises so dicht liegen können,
wie man will (§. 258); sondern dergestalt, dafs zwey nächste Elemente
der Materie allemal einen bestimmten Bruch der ursprünglichen Einheit
im Räume, nämlich des Aneinander, darstellen.
Ferner kann man nicht annehmen, dafs die gegenseitige Lage der
Elemente gleichgültig seyn sollte für das Gleichgewicht der Attraction und
Repulsion. Man sieht vielmehr leicht ein, dafs jene A, B, A' (§. 270)
eine gerade Linie bilden müssen, deren Mittelpunct B ist; denn die bey-
den A werden gleichmäfsig aus dem mittlem B herausgetrieben, indem
doch jedes einzeln so tief als möglich eindringt. Eben so müssen drey
verschiedene Elemente bey gleichem Gegensatz, wenn sie nicht ganz in
einander dringen können, ein gleichseitiges Dreyeck bilden ; ein ungleich-
seitiges aber wird herauskommen, wenn die Ungleichheit der Gegensätze den
Attractionen eine verschiedene Stärke giebt. Die Entwicklung der mög-
11*
164 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfangen etc. 1829.
liehen Fälle kann hier nicht interessiren ; es ist genug, wenn man wahr-
nimmt, dafs mit der Dichtigkeit auch eine bestimmte Conß\_2^>\\guration
verbunden ist, die sich oftmals als Krystallisation offenbaren wird.
Jede Materie ist nun vermöge ihrer eigenthümlichen Configuration
ursprünglich starr, und sie strebt auch zur Starrheit in bestimmter Gestal-
tung, selbst wenn sie verhindert ist, ihre angemessene Gestalt anzunehmen.
§• 275-
Die Leichtigkeit, womit diese Sätze aus den früher entwickelten
Gründen auf den ersten Blick von selbst hervortreten, kann entschädigen
für die Mühe jener obigen weitläuftigen Darstellung des intelligibeln Raums.
Sollte es aber Leser geben, die noch nicht nachfolgen könnten, so ist
zwar hier noch nicht nöthig, alle einzelnen Bestimmungen über die Materie
ganz so, wie sie in den vorstehenden Paragraphen dargeboten sind, vest-
zuhalten, da wir noch nicht tiefer in die Naturphilosophie eingehn wollen ;
andererseits aber müssen wir doch bitten, an diesem entscheidenden Puncte
allen leichtfertigen Urtheilen zu entsagen, und lieber aufmerksam in das
Ganze der Gründe unserer Lehre zurück zu schauen. Um dies zu er-
leichtern, wollen wir die Sache jetzt analytisch behandeln.
Man weifs, dafs Leibnitz die Materie aus Monaden, Kant aber aus
den Grundkräften der Attraction und Repulsion construiren wollte; woraus
die ScHELLiNGsche Lehre durch Misverständnifs hervorging (§. 158). Wie
nun Leibnitz an die Verlegenheit stiefs, aus Puncten kein räumliches
zusammenhängendes Ganzes hervorzaubern zu können , so würden wir
ebenfalls, ungeachtet unserer Lehre von starren Linien, doch keine halt-
bare, mit Cohäsion versehene Materie gefunden haben, wenn wir die
Elemente blofs als an einander liegend dargestellt hätten. Auch ein tieferes
Eindringen [282] hätte nichts befestigt, nichts gestaltet, wenn nicht die
Fortdauer einer solchen räumlichen Lage durch ein inneres Gesetz als
nothwendig wäre erkannt worden.
Aber ein solches inneres Gesetz, von welcher Art sollte es seyn ?
Etwa eine Kraft ? ein Attribut, welches noch neben dem, was die Elemente
an sich sind, ihnen eine Extra-Beylage zu ihrer eigentlichen Qualität auf-
gebürdet hätte, um sie in Beziehung auf einander, in Gemeinschaft zu
versetzen? Dann hätten wir erst Alles vergessen müssen, was oben, in
der Ontologie, von der einfachen Qualität, von der beziehungslosen, ab-
soluten Position des Seyenden ist gelehrt worden.
Keinerley innere Eigenschaft konnten wir den realen Wesen geben,
wodurch sie Beziehung l auf einander, vollends gar 1 dämliche Beziehung
erlangt hätten, welche mit aller Nichtigkeit des Raums wäre behaftet ge-
wesen. Kein Zuwachs an wirklichem Geschehen, dessen veste Gränzen
in der Ontologie ein für allemal bestimmt sind, durfte, der Materie zu
Gefallen, zugelassen werden. Wir durften eben so wenig mit Kant die
blofse Undurchdringlichkeit in eine bewegende, gleichsam nach aufsen
drängende Kraft verwandeln; als mit Leibnitz ein reales Continuum,
1 Beziehungen SW.
3.Abschn. Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahl etc. 5. Cap. Von dem Ursprange etc. 165
unter dem Namen des vinculum substantielle, hintennach den Monaden
beyfügen; denn eine bewegende Kraft und ein reales Continuum sind
Hirngespinnste. Wegen des letztem vergleiche man §. 209; wegen jener
denke man zurück an das Alles, was wir im ersten Theile über den, von
allen bessern Denkern gern vermiedenen, Begriff der causa transiens
gesagt haben.
§• 276.
Zwar Kant setzte sich in seiner Vorstellung von der Materie über
die Schwierigkeit, die causa transiens richtig zu bestimmen, hinweg. Die
Erfahrung [2^^] zeigt Undurchdringlichkeit, als Vertheidigung der Gränzen
des Körpers ; er machte daraus eine bewegende Kraft, welche von innen
heraus die Gränzen zu sprengen, die Masse zu zerstreuen drohte. Die
NEWTONsche Attraction zeigt Verbindung der Massen, die als starre Körper
schon vorhanden sind; er machte daraus eine actio in distans , wodurch
aus Elementen, die sich zerstreuen wollten, erst Massen entstehen sollten.
Attraction und Repulsion sind entgegengesetzt; er legte den Gegensatz als.
innern Widerspruch unmittelbar in einerley Subject. Ja das Subject ver-
schwand ihm unter den Händen; Kräfte sollten da seyn, aber von dem
Dinge, dem sie angehören könnten ; und in welchem sie verknüpft oder
im Streite seyn möchten, war nicht weiter die Rede.
Wie mochte Kant dies ertragen? Die Antwort ist einfach: die
Materie sollte nur Erscheinimg sein.
Hiedurch aber wurde die Psychologie mit einer Last beschwert, die
sie unmöglich hätte übernehmen können. Denn es kam nun darauf an,.
Materie als Erscheinung, das heifst, als Erzeugnifs unseres Vorslellens, nach
allen ihren physikalisch bekannten Eigenschaften, Wirkungen, Verschieden-
heiten in den sämmtlichen Reichen der Natur, aus Gesetzen des Vor-
stellens zu erklären. Die alte Psychologie fühlte nichts von dieser Last.
Fichte allein fühlte sie, und fafste Muth, sie zu tragen. Alles in der
Welt sollte nun a priori deducirt werden, und zwar aus dem Ich! Nichts
anderes blieb übrig, wenn man sich nicht in das schwache Bekenntnifs;
wir wissen nicht, woher der Knoten kommt, den wir selbst geschürzt haben,.
ergeben wollte. Nun mufste die Dreistigkeit wachsen, denn sie mufste einer
völlig entstellten, und ganz unmöglichen Aufgabe, der sie angemessen seyn
sollte, sich gleich [284] stellen. Wie viel klangreiche Reden sind ver-
schwendet, um das Unmögliche möglich zu machen!
§• 277-
Jetzt vergleiche man unsre obige Lehre.
Was vertheidigt die Materie dann, wann sie sich undurchdringlich
zeigt? Die Lage ihrer Elemente, wie dieselbe zu deren innern Zuständen
pafst. Dem Stolse, dem Drucke, wodurch die Theile zunächst der Ober-
fläche gegen das Innere getrieben werden, giebt sie Anfangs nach ; aber
als elastisch stellt sich die gehörige Lage wieder her; denn die Selbst-
erhaltungen, gemäfs den ursprünglichen Qualitäten der Elemente, fordern
das ihnen gebührende Zusammen zurück. Die Gesetze des Stofses sind
davon entferntere Folgen.
l66 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1819.
Woher kommt die wahre Attraction, welche der Repulsion das Gleich-
gewicht hält? Sie kommt gar nicht; sie ist schon da, und würde den
ganzen Körper in einen einzigen Punct zusammenziehn, wenn nicht das-
selbe Gesetz, nach welchem sie da ist, nämlich dals der äufsere Zustand
dem innern folgt, für mehr als zwey Elemente dem Eindringen eine Gränze
setzte, die nicht überstiegen werden kann. Ztüey Elemente vereinigen sich
ganz in Einem Puncte : sie sind nun gar nicht räumlich vorhanden; sie
bilden keine Materie, denn der Punct, ihr Ort in Beziehung auf andre
Dinge, ist kein Raum. Sollten aber alle Elemente einer körperlichen Masse
in Einem Puncte beysammen seyn, oder, was dasselbe heifst, sollten sie
aufhören, Materie darzustellen: so gehörte dazu eine Gröfse der Selbst-
erhaltung in jedem Elemente, die nicht möglich ist. Denn ursprünglich
hat die Selbsterhaltung gar keine Gröfse. Sie ist einfach die Selbsterhaltung
des Einfachen; mehr kann sie nicht seyn. Nur zufällig wird auf sie der
Gröfsenbegriff übertragen ; und zwar [285] dann, wann statt ihrer Voraus-
setzung, statt des völligen Zusammen, das unvollkommene Zusammen ein-
trit. Alsdann wird die Selbsterhaltung zwar nicht getheilt, aber dem Grade
nach vermindert. Diese einzige Gröfsenbestimmung nimmt sie an; sie ge-
stattet, dafs man sie als Einheit betrachte, von der es Brüche geben kann.
Dies gestattet sie, weil sie selbst ein zufälliger Zustand des realen Wesens
ist, dessen Qualität ohnehin sich selbst gleich ist, und welchem der Gegen-
satz, worein es mit andern realen Wesen geräth, gar nicht anklebt; so
dafs die Selbsterhaltung nie gröfser wird als ihre Veranlassung.
Daher nun ist für die nämlichen Stoffe das Volumen, das ihnen jedes-
mal zukommt, höchst verschieden nach Verschiedenheit der Mischung.
Die Kohlensäure, welche sich im Kalke verdichtet hatte, nimmt sich weit
mehr Raum, sobald sie nicht mehr nöthig hat, da zu seyn, wo der Kalk
ist, in den sie so tief als möglich eindrang.
Wie aber bestehen Attraction und Repulsion mit einander in dem näm-
lichen Dinge, dessen Kräfte sie zu seyn scheinen? — Wollen wir etzvan
leugnen, dafs sie mit einander im Streite seyen? Gewils nicht! Es ist viel-
mehr sehr klar, dafs die Elemente völlig in einander seyn sollten, damit
der zwar verminderten, aber doch ungetheilten Selbsterhaltung auch überall
ein ungetheiltes Zusammen entspräche. Es ist nicht zu leugnen, dafs dieser
Notwendigkeit Abbruch geschieht, indem eine andre, die sich ihrerseits
auch Abbruch mufs gefallen lassen, dagegen auftrit. Die obigen A und A'
{§. 270) müssen ganz eindringen in B, denn es sollten auch nicht einmal
hngirte Theile von ihnen undurchdrungen bleiben, da die Fiction vom
wirklichen Geschehen fern bleiben mufs. Aber sie müssen zugleich das
Gegen-[2 86]theil; sie müssen nicht ganz eindringen in B, weil diejenige
Art von Selbsterhaltung, welche in B gegen A möglich ist, ihre Einheit
nicht übersteigen kann. Wie ist nun dieser Widerspruch beschaffen ? Liegt
er in der Qualität des Seyenden ? Nein ! Liegt er im wirklichen Geschehen ?
Auch nicht! Liegt er in wirklichen Kräften, Eigenschaften; liegt er
überhaupt in Einem Subjecte ? Eben so wenig! Sondern zwey Raum-
bestimmungen kommen hier in einerley Rechnung, ungefähr wie beym
Hebel, der noch niemals Jemandem anstöfsig war, obgleich er sich nach
beyden Seiten drehen sollte, und nur deshalb ruhet, weil zwey Kräfte auf
3.Abschn.Synechologie. i.Abth. Von Raum, Zahl etc. 5-Cap. Von dem Ursprünge etc. 167
ihn wirken, die einander nicht in ihrem Daseyn, vielweniger in einerley
Subject, sondern in der Bestimmung derjenigen Bewegung aufheben, welche
sie dem Hebel ertheilen.
§. 278.
»Aber ein anderer, weit härterer Widerspruch liegt der ganzen Lehre
zum Grunde. Ein Punct soll Theile haben!«.
In der That ! Dieser Einwurf kann gefährlich werden, nämlich bey
Lesern, welche das Buch so eben aufgeschlagen haben, um das Capitel
von der Materie mitten heraus zu lesen.
Wo liegt denn der Widerspruch des theilbaren Punctes ? Unerkannt
liegt er im Begriffe des Fließenden, des Continuum, worin man Theile
unterscheidet, die doch nicht verschieden seyn sollen, damit sie nicht aus-
einander fallen. Deutlich entwickelt liegt er in der obigen Lehre von
der stetigen Linie, wo wir die Unmöglichkeit gezeigt haben, ihn zu um-
gehen ; aber auch seinen Ursprung daraus, da/s Distanzen schon festgestellter
Puncte ein Quantum der Extension in sich aufnehmen sollen.
»Aber wenn dieser Widerspruch der blofsen Vorstellung des Raums
anhängt, warum überträgt man [287] ihn auf reale Wesen, deren Qualität
ja ganz unräumlich ist ? Warum wurden denn überhaupt diese Wesen
in die Stellung des unvollkommenen Zusammen eingeführt? Warum wurde
eine so ungereimte Voraussetzung nicht gleich als ganz unzulässig von der
Hand gewiesen ? Gegebene Widersprüche mögen Untersuchung verdienen ;
aber warum häuft man auf sie sogar noch willkührlich angenommene
Widersprüche ?«
Antwort: weil wir den einfachen, realen Wesen nicht verbieten können,
Materie zu bilden.
Gesetzt einmal, es wäre keine Materie gegeben : dann würde wenig-
stens die Möglichkeit derselben, falls sie sich a priori nachweisen liefse,
Aufmerksamkeit verdienen. Die Möglichkeit der Materie hört aber nicht
dadurch auf, dafs man den Begriff des unvollkommenen Zusammen wider-
sprechend findet. Die ganze Lehre vom intelligibeln Räume beruht auf
der Möglichkeit des Zusammen der realen Wesen. Das heifst: die erste
aller Voraussetzungen ist hier die, dafs man die Meinung, als könnte das
Reale im Räume, für sich allein, den Raum besetzen, und anderes davon
ausschliefsen, nicht etwan aufgegeben, sondern gar nicht gehabt habe. Die
realen Wesen können vollkommen in einander seyn: davon gingen wir
aus ; und an Undurchdringlichkeit war gar nicht zu denken. Wenn nun
schon ein paar Puncte im Räume durch den widersprechenden Begriff des
unvollkommenen Zusammen sind gedacht worden, welches man für den
Raum nicht vermeiden konnte: so setzte man in den einen dieser Puncte
erst ein reales Wesen ; nun aber bilde man sich nicht ein, der andere
Punct sey dadurch besetzt; denn er ist noch gerade eben so brauchbar
wie zuvor, um dorthin, unbekümmert um jenes erste, jetzt ein zweytes
reales Wesen zu setzen. Das eine hindert nicht im mindesten das andre ;
denn sie könnten auch recht füg-[288]lich ganz vollkommen in einander
seyn. Die ganze Schwierigkeit liegt blofs in der räumlichen Zusammen-
fassung der Puncte; diese Schwierigkeit hört nicht auf, wenn man auch
l68 !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
die realen Wesen hinwegnimmt. Die mathematische Notwendigkeit, den
Raum als Continuum zu betrachten, ist längst ausgemacht; und läfst sich
nicht ändern.
Hieraus folgt die unumschränkte Möglichkeit, von der Annahme des
unvollkommenen Zusammen mehrerer Wesen auszugehn. Man überspringe
nun das, was wir von der Unhaltbarkeit dieser Lage für zwey Wesen, der
Deutlichkeit wegen, vorausgeschickt haben ; man nehme vielmehr gleich
Anfangs eine wie immer grofse Menge von Elementen, als gedrängt in
einem Räume, worin nicht eben so viele wahrhaft aufsercinander liegende
Puncte können unterschieden werden; so kommt man auf Attraction und
Repulsion zugleich, und hiemit auf die gebührende innere Configuration
der ganzen Masse.
Die Absicht dieser ganzen Untersuchung liegt in dem Umstände :
Die Materie ist. gegeben.
Noch mehr! Sie war vor jeher, und ist bis heute, der Gegenstand
sehr mühsamer, und sehr wenig gelungener Untersuchung. In dieser ver-
wickelten Untersuchung, unmittelbar vom Gegebenen ausgehend, Licht zu
schaffen, ist nicht möglich. Da vielmehr alle bisherigen Lehren vom Seyn,
von der Qualität, von der Causalität, vom Räume, im Voraus bekannt
seyn müssen, ehe man irgend einen Lichtstrahl in das Dunkel des mate-
riellen Daseyns kann fallen lassen, so wird man wohl zufrieden seyn, dafs
wir zu diesem Zwecke uns der Voraussetzung des unvollkommenen Zu-
sammen bedient haben.
[289] Zweyte Abtheilung
der
Synechologie.1
Vom objectiv- scheinbaren Geschehen,
oder
Von der Zeit und dem Zeitlichen.
Erstes Capitel.
Von der Bewegung überhaupt.
§• 279-
Am Ende der Lehre von der Veränderung wurde bemerkt: die Zeit-
bestimmung, dafs vor und nach der Veränderung das Ding sich selbst nicht
gleich sey, habe zwar auf den Causalbegriff, der lediglich vom Nicht -gleich-
seyn abhänge, keinen Einfluls; dennoch sey sie nicht gleichgültig, vielmehr
beruhe auf dieser Zeitbestimmung die ganze Synechologie (§. 230).
Später sahen wir: wenn die Zustände der sinnlichen Dinge wechseln,
und wenn ein Zustand durch ein Zusammen erklärt werden solle, so könne
nicht auch noch der entgegengesetzte, frühere oder spätere Zustand des-
selben Dinges durch das nämliche Zusammen seine Erklärung erhalten;
sondern das Zusammen und Nichtzusammen der Substanzen sey einem
Wechsel unterworfen (§. 244).
Deshalb nun durchsuchten wir zuerst in der Synechologie die ge-
sammte Möglichkeit der Formen, welche der Wechsel des Zusammen und
Nichtzusammen insofern annehmen kann, als man die von ihm darge-
botenen leeren Bilder stets vesthält.
[290] Allein das Übergehen von Bild zu Bild, welches man den
Substanzen zuschreiben mufs, haben wir noch nicht erwogen; sondern
uns in dieser Hinsicht vorläufig ein ganz willkührliches Denken erlaubt
(§. 245 u. s. f.), welches jetzt wegfallen, und einer genauen Untersuchung
Platz machen mufs.
Bey dieser Gelegenheit wird alsdann ein Gegenstück der nächst vor-
hergehenden Untersuchung hervortreten. Die innern und die äufsern
Zustände der Substanzen müssen einander stets entsprechen (§. 209).
Wenn nun der äufsere Zustand früher bestimmt ist, als der innere, so
1 „der Synechologie" fehlt. S\V.
I -jq I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
wird der letztere, wenn er kann, sich nach jenem richten; und nur sofern
er das nicht kann, jenem ein Gesetz geben. Darum erblickt man das
Geschehen nicht eher im Zusammenhange, bis man die gegenseitige Ab-
hängigkeit der äufsern und der innern Zustände auch von den erstem
ausgehend, und die Bestimmung des Geschehens von ihnen ableitend, er-
wogen hat. Hiebey werden wir uns wiederum in blofs formale Begriffe,
nämlich des scheinbaren Geschehens, vertiefen müssen; indem sie zu der
Verknüpfung des wirklichen Geschehens nöthige Ergänzungen und Mittel-
glieder darbieten.
§. 280.
Das Zusammen der realen Wesen A und B soll im Wechsel, vor
oder nach dem Nichtzusammen eintreten. Da wir aus dem Vorigen
wissen, dafs, wenn sie einmal zusammen sind, alsdann ein Schein von
Attraction vorhanden ist, und eins das andre nicht leicht verlassen kann,
so wollen wir die einfachste Annahme wählen: A und B seyen noch nicht
zusammen, und nun stehe ein solcher Wechsel bevor, dafs ihr Nicht-
Zusammen übergehn werde ins Zusammen.
Dieser Wechsel kann nicht etwa blofs in jenem vor- [2 9 ^beschrie-
benen Übergange aus dem unvollkommnen ins vollkommne Zusammen
bestehn. Denn ein solcher Übergang geschieht unfehlbar sogleich. Die
Veränderung aber ist dergestalt gegeben, dafs ihr ein Zustand der Dinge
vorausging, der nicht sogleich verschwand, sondern entweder anhaltend be-
obachtet wurde, oder selbst schon eine Reihe von Ereignissen in sich
schlofs. Es hilft also nicht, blofs ein unvollkommnes Zusammen voraus-
zusetzen vor dem vollkommenen; sondern man mufs annehmen, ein völliges
Nicht-Zusammen finde Statt, bevor das Zusammen eintrit. Aus jenem
geschieht der Übergang in dieses.
In dem völligen Nichtzusammen ist B ganz unabhängig von A; wo-
fern nicht irgend eine Vermittelung zwischen beyden vorhanden ist, und
eine solche Möglichkeit geht uns für jetzt nichts an.
Nun können wir das Übergehn entweder dem B, oder dem A, oder
beyden zuschreiben. Vorläufig wählen wir den ersten Fall. Auf welchem
Puncte der geraden Linie AB auch B sich befinde: es soll den Ort ver-
lassen, um einzutreffen in A. Da es jedoch von A ganz unabhängig ist:
so mufs ihm diese Bestimmung dergestalt beygelegt werden, dafs auch,
wenn A gar nicht da wäre, doch die Orts- Veränderung, oder die Bewegung
des B genau die nämliche sevn würde. Es käme also auch dann in den
Ort, wo sich A befindet. Aber würde es nun, sich selbst überlassen, in
diesem Orte bleiben?
Jedermann weifs die Antwort: es würde mit der Richtung und Ge-
schwindigkeit, womit es ankommt, weiter gehen.
Wir bezweifeln keineswegs die Richtigkeit dieser Antwort; aber wir
fragen, waium sie richtig und einleuchtend ist? Diese Sache ist nämlich
doch nicht ganz [292] so klar, wie man sie wohl glauben mag; sondern sie
lälst einer Frage Raum.
Wenn wir zuerst so fragten : hat wohl die Beivegung des B irgend
eine Ursache? So würden die Meisten geneigt seyn, diese Frage zu be-
3. Abschn. Synechologie. 2.Abth. V.obj.-scheinb. Gesch. etc. i.Cap. V.d. Beweg, etc. iyi
jähen; denn sie sind gewohnt, sich Bewegung als eine Art von wirklichem
Geschehen zu denken, welches von selbst nicht Statt finden könne, da viel-
mehr der natürliche Zustand eines Dinges, das sich selbst überlassen ist,
Ruhe sevn werde, nicht aber Bewegung.
Allein man wundere sich nicht, wenn wir aus dieser Voraussetzung,
die für einen Augenblick als wahr angesehen werden mag, einen dringenden
Einwurf gegen jenes Fortsetzen der Bewegung ableiten.
Der Grund, warum B seinen Ort auf der Linie AB, wo wir es zu-
erst auffaßten, verlassen hat, möge seyn, welcher er wolle: so bezog sich
doch gewifs dieser Grund auf die damalige Stelle von B ; denn um seinet-
willen hat es eben diese Stelle verlassen müssen. Sobald es aber dieselbe
verläfst, ist eine Veränderung der Umstände vorgefallen; und man kann
nicht behaupten, es müsse aus dem nämlichen Grunde weiter gehn; dazu
würde vielmehr ein eigner Beweis erfordert werden, dafs der Grund auch
für die folgende Stelle des B wieder eintrete.
Dies läfst sich durch Vergleichungen erläutern. Wenn ein Faden
gespannt wird durch ein Gewicht: so giebt derselbe Anfangs mehr, später-
hin weniger nach, weil die wachsende Spannung sich der fernem Aus-
dehnung widersetzt. In der Psychologie ist als Gesetz der Mechanik des
Geistes überall jede Erhebung und jedes Sinken der Vorstellungen in dem
Maafse verzögert gefunden, wie der Nothwendigkeit des veränderten Zu-
standes durch die Veränderung selbst mehr und mehr Genüge geschah.
Eben so: wenn eine bestimmte Noth-[2 93]wendigkeit vorhanden wäre,
dafs B von seinem ursprünglichen Orte bis A gehe, so würde, wofern Alles
allein auf diese Nothwendigkeit ankäme, der Drang derselben durch die
Annäherung an A allmählig abnehmen; und B würde nur erst in unend-
licher Zeil nach A gelangen; worüber die Lehren der Mechanik des Geistes
vom Sinken der Hemmungssummen u. s. w. hinreichende Auskunft geben,
deren Anwendung Niemand verfehlen kann.
Gewifs pafst dies doch nicht auf irgend eine Bewegung, weder im
sinnlichen noch im intelligibeln Räume. Aber warum nicht? Weil die Be-
wegung gar keines Grundes bedarf, sondern den Gegenständen im Räume voll-
kommen eben so naturlich ist, als die Ruhe.
§. 281.
Die ganze Überzeugung, dafs ein Bewegtes, dem kein Hindernifs
widerfährt, in gleicher Richtung und Geschwindigkeit stets weiter gehn
werde: beruht einzig auf der Voraussetzung, die Bewegung sey keine
wahre Veränderung, sondern das Bewegte befinde sich an jedem neuen
•Orte, den es erreicht, noch genau eben so wie an demnächstvorhergehenden;
und gerade wie diesen, so verlasse es jenen.
Dennoch denkt man sich die Bewegung wie einen Zustand, in welchen
ein Ding erst habe versetzt werden müssen, um aus der Ruhe zu kommen ;
woran ohne Zweifel etwas Wahres ist, wenn jemals vorher das Ding ruhig
gelegen hat; aber eben dies ist eine grundlose Voraussetzung.
Wäre überhaupt Bewegung ein Zustand des Bewegten, so wäre sie
ein Trieb, denn so nennt man ein solches Bestehen, welches innerlich
nöthigt zum fortgehenden Wechsel. Dieser Trieb würde alle künf-[2Q4]
Ij2 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
tigen Fortrückungen, wie sie durch die gerade Linie der Bahn bestimmt
sind, prädestinirt in sich enthalten. Er würde zum Theil befriedigt durch
jeden Theil der wirklich vollzogenen Bewegung. Aber nimmermehr kann
ein Trieb, der zum Theil befriedigt worden, gleich seyn ihm selbst vor der
Befriedigung ; sondern er ist nothwendig schwächer um das Quantum,
welches von ihm befriedigt wurde. Die Bewegung müfste demgemäfs
nothwendig langsamer werden; sie könnte nicht, wie sie mufs, mit völlig
gleicher Intensität, die wir Geschwindigkeit nennen, ins Unendliche fortgehn.
So lange man nun freygebig war mit allen erdenklichen Accidenzen,
Attributen, Modificationen ; so lange man die Einfachheit der Qualität,
und die Unmöglichkeit, in dieselbe irgend etwas Fremdartiges hineinzu-
bringen , verkannte ; so lange man nicht begriff, dafs alle Raumbegriffe
blofse Relationen ausdrücken, die ganz unfähig sind, irgend welche Be-
stimmungen des Realen herzugeben; das heilst, so lange man keine wahre
Ontologie vor Augen hatte: da erschien es als recht wohl thunlich, den
Dingen jenen Zustand, den man Bewegung nannte, — als ob wirklich die
Bezuegung Etivas in dem Bewegten zväre, das dem Ruhenden fehlte, — bald
zu geben, bald wieder zu entziehen. Man hätte sich freylich wundem
sollen, dafs der Wechsel selbst ein Zustand sey, und dafs der Trieb in
diesem Zustande niemals eine Spur von Sättigung zeige. Aber solche
speculative Verwunderung ermattet in den allermeisten Köpfen zu bald,,
als dafs sie die gebührende Anstrengung des Denkens hervorrufen könnte;
sie verstummt in den Armen der Gewohnheit; und man begnügt sich,
wenigstens rechnen zu können, auch ohne den Gegenstand der Rechnung
zu begreifen.
[295] Eine Nebenbemerkung zum Vorhergehenden ist diese: wenn
Bewegung kein Zustand, so ist sie auch keine Wirkung, und es giebt
keine Kraft, wodurch sie als Wirkung könnte hervorgebracht werden. Diese
Sätze mögen dunkel erscheinen, weil man gewöhnt ist, von bewegenden
Kräften reden zu hören. Allein statt aller Erläuterung diene der Rück-
blick ins vorige Capitel; wo von den scheinbaren Kräften der Attraction
und Repulsion der wahre Grund ist nachgewiesen worden, den Niemand
für eine wirkliche Beschaffenheit des Realen halten wird.
§. 282.
Da nun das Bewegte nur darum gleichmäfsig fortrückt, weil gar kein
Unterschied liegt -in der Art, wie es sich in jedem Puncte seiner Bahn
befindet; da sich also in der Bewegung durchaus nichts verändert, nichts
ereignet: so kann man, der Wahrheit gemäfs, Bewegung gar nicht als
Prädicat des Bewegten auffassen; den ganzen Wechsel, welchen die Be-
wegung darstellt, mufs man aufser dem Bewegten suchen. Er liegt in
der That blofs darin, dafs andre und wieder andre Stellen der Bahn als
die Orte angesehen werden, worin sich das Bewegte befindet. Genau
genommen also mufs man die ganze Vorstellungsart umkehren. Die Orte,
Puncte, Bilder des Sey enden, — diese sind das Wechselnde; sie gehn
vorüber an, oder vielmehr in dem, was wir das Bewegte nannten; aber
es ist nicht bewegt; es ruhet; denn ihm können wir den Wechsel, welchen
die Bewegung fordert, gar nicht beylegen.
3-Abschn. Synechologie. 2. Abth. V.obj.-scheinb. Gesch. etc. i.Cap. V.d.Beweg. etc. i 73
Will man nun diese neue Ansicht ausbilden, nach welcher sich der
Raum in entgegengesetzter Richtung von derjenigen bewegt, die vorhin
dem Realen zugeschrieben wurde: so bemerkt man bald, dafs dabey ein
doppeltes Raumbild entsteht. Die Bahn rückt durch [296] den Gegen-
stand; dabey verkürzen sich die sämmtlichen Distanzen an einer Seite,
und die an der andern verlängern sich. Aber Verkürzung, Verlängerung,
setzen die Vergleichung mit den frühern Gröfsen voraus. Man hält also
unvermerkt den bewegten Raum gegen einen zum Grunde liegenden ruhenden;
und in dem letztem ruhet auch dasjenige, was wir vorhin als das Bewegte
ansahen.
Aber das reale Wesen B sollte gelangen zu A (§. 208). Diesem A
war ein Ort in demjenigen Räume zugeschrieben worden, welchen wir
Anfangs als ruhend betrachteten. Da wir ihn jetzt als bewegt ansehen,
so wird er, wenn keine andre Bestimmung gemacht wird, das reale Wesen
A mitbringen müssen; eben darum, weil es in ihm ruhen, oder den Ort
nicht verändern soll.
Also jedes reale Wesen ruhet in seinem eignen Räume ; aber jedes, sammt
seinem Räume , beivegt sich im Räume des andern , wenn überhaupt Bewegung
Statt findet.
Es ist nämlich jetzt ohne viel Worte klar, dafs die Bewegung blofs
relativ ist, und dafs man jedes reale Wesen einzeln genommen als ruhend,
dann aber ihm gegenüber das andre als bewegt betrachten müsse.
In der gewöhnlichen Vorstellungsart wird jedoch nur Ein Raum an-
genommen; und dieser als ruhend betrachtet. Er ist alsdann ein fremder,
oder nicht eigner Raum, für dasjenige, was sich in ihm bewegt.
§• 283.
„Das Vorstehende (wird Mancher sagen) ist gar keine Erklärung der
Bewegung; vielmehr eine Ableugnung derselben. Denn wenn sie kein
Zustand des Bewegten, und überhaupt gar kein Prädicat desselben ist;
wenn demzufolge die gerade Linie zwischen ihm [297] und dem andern,
gegenüberstehenden Realen, die Bewegung übernehmen, und dieses Andre
mitbringen mufs: so wirft diese Betrachtung, da sie auf beyde reale
Wesen, auf A und B, gleich gut pafst, jedesmal die Bewegung von einem
auf das andre; jedes also, worauf wir eben refiectiren, ist das Ruhende;
folglich keins ist das Bewegte, und so kommen sie nimmermehr zusammen.«
Wäre es darum zu thun, die Bewegung zu leugnen, so gäbe es dazu
noch weit stärkere Gründe, welche der alte Zeno schon in der Ferne ge-
zeigt hat.
Unsere jetzige Absicht ist eine ganz andre; sie ist schon oben (§. 281
im Anfange) ausgesprochen. Es kommt darauf an, zu zeigen: dafs zwey
reale Wesen eben so gut ursprünglich in Bewegung, als ursprünglich in
Ruhe gegen einander seyn können.
Der Umstand, dafs Bewegung keine Beschaffenheit und kein Zustand
des Realen ist, lenkt die Aufmerksamkeit ganz auf die Raum-Construction,
wodurch beyde Reale verbunden zu seyn scheinen.
Wer zwey Gegenstände als in Annäherung begriffen denkt: der hebt
noth wendig in jedem Augenblicke das wieder auf, was er so eben gesetzt
174 ^ Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
hat. Er schrieb ihnen eine bestimmte Distanz zu; diese soll sich ver-
kürzen eben indem sie eintrit, und schon verkürzt, soll sie eben deswegen
sich abermals verkürzen; und so wird jede dieser Raumbestimmungen als
eine solche gedacht, die nur entsteht, um sich selbst aufzuheben.
Darum ist die Bewegung gerade das bekannteste sinnliche Bild des
Widerspruchs in der Veränderung. Und wie die Veränderung im Realen
nicht kann gedacht werden; vielmehr auf blofse Acte der Selbsterhaltung
schon in der Ontologie zurückgeführt ist, so müfsten wir auch jetzt Alles
aufbieten, um den Begriff der Bewegung dergestalt abzuändern, dafs statt
seiner ein an-[2g8]derer Begriff, frey von Widersprüchen, hervorträte, —
wenn wirklich das Reale in der Ungereimtheit befangen wäre.
Statt dessen sind vorbeugende Mafsregeln ergriffen. Erstlich befreyten
wir das Reale von allem Verdacht; zweytens haben wir auch die räum-
liche Form der Zusammenfassung in so weit gesichert, als es nöthig und
möglich ist.
Es ist unstreitig leichter, sich die realen Wesen gegenseitig ruhend
als in Bewegung zu denken. Allein worin liegt hier die Bequemlichkeit?
Man braucht nur Eine Construction des Raums; und für je zwey Reale
eine bestimmte Distanz, bey der es sein Bewenden hat. Wollen wir nun
diese Bequemlichkeit unseres zusammenfassenden Denkens als einen gültigen
Grund ansehn, weshalb wir die Wesen ursprünglich in gegenseitiger Ruhe
denken müfsten? Dagegen ist vorläufig, und bis zu weiterer Entwickelung
im vierten Capitel, zweyerlev zu sagen. Erstlich: Unsre Form der Zu-
sammenfassung ist keine wahre Gemeinschaft der Wesen; und sie sind an
diese Form nicht gebunden. Der leere Raum ist unserm eignen Bekennt-
nisse gemäfs ein völliges Nichts; und er legt uns blofs die Verbindlichkeit
auf, seine Bestimmungen consequent vestzuhalten. Zweytens: Bewegung
mufs einmal angenommen werden; die Erklärung der Veränderung, welche
letztere gegeben ist, erfordert es so. Ist es nun überhaupt möglich, Bewegung
als zulässig zu betrachten (wovon weiterhin zu sprechen ist), und müssen l
wir einmal auf jene Bequemlichkeit in der Form der Zusammenfassung
Verzicht leisten: so können wir dieses eben so gut ursprünglich, als in
Folge irgend eines spätem Motivs. Ursprünglich, indem wir zwey Reale
in Einen Raum zu setzen versuchen, bietet jedes eben so gut als das andre
den Anfangspunct der ganzen Raumconstruction dar; und, [299] wenn wir
von dem einen zum andern eine Linie ziehen, giebt dieses andre uns
die Richtung der Linie eben so gut an, als ob wir umgekehrt von diesem
zu jenem gingen. Ist also hier eine Schwierigkeit: so haftet sie wenigstens
an keinem von der den; und sie verräth blofs, dafs wir zum Behuf unseres
Vorstellens etwas haben zusammenknüpfen wollen, was an sich völlig un-
abhängig ist, und keiner Verknüpfung bedarf. Um nun diese offenbare
Unabhängigkeit gleich Anfangs anzuerkennen, denken wir uns als möglich,
dafs eine jetzt vorhandene /Annäherung recht füglich aus unendlicher Ferne
her geschehen sevn könne, indem wir die jetzige Bewegung als Fortsetzung
einer frühern, und so ferner, betrachten; und unsre Vorstellung der durch-
laufenen Bahn rückwärts ins Unendliche verlängern.
1 „müssen" nicht gesperrt. SW.
. Abschn. Synechologie. 2.Abth. V.obj.-scheinb.Gesch. etc. 2.Cap. V. d.Geschwindigk. 175
Zweytes Capitel.
Von der Geschwindigkeit.
§. 284.
Man wird mehr Licht fordern; allein wir können hier nur einen
schwarzen Flecken beleuchten, und nachweisen, dafs er unschädlich ist.
Die Bewegung- wird von den Mathematikern als ein Product aus
zwey Factoren behandelt, Geschwindigkeit und Zeit. In der That zerfällt
sie, ihrem Begriffe nach, gleichsam von selbst in diese Factoren. Denn
sie ist gleichförmig, wenn keine scheinbaren Kräfte hinzukommen. Das
heifst: sie wiederholt sich unaufhörlich; die Wiederholung aber ist eine
Vervielfältigung- dessen, was jedesmal geschieht. Man fasse [300] also dieses
durch einen allgemeinen Begriff, so hat man den Multiplicandus eines Pro-
ducts, dessen Multiplicator die Menge der Wiederholungen seyn wird. Und
man halte dieses nicht für blofs figürliche Redensarten; die Zeit ist im
eigentlichsten Sinne ein Multiplicator der Geschwindigkeit, wie sich sehr
bald zeigen wird.
Wäre nun die Geschwindigkeit ohne Schwierigkeit denkbar, so wäre
es auch die ganze Bewegung ; die Zeit, oder die Menge der Wiederholungen,
kann man von dem Fehler befreyen.
Oben (§. 282) fanden wir den Satz: jedes reale Wesen ruhein seinem
eignen Räume; es bewege sich nur in dem Räume eines andern. Indem
wir ihm also jetzt Geschwindigkeit beylegen, betrachten wir es als liegend
in einem fremden Räume, das heifst, in einem solchen, worin ein anderes
reales Wesen ruhet. Warum wir diesen Raum fremd nennen, das werden die
Widersprüche im Begriffe der Geschwindigkeit deutlich genug offenbaren.
Wie wir oben bey einem bekannten Satze anknüpften, um von der
Bewegung überhaupt deutlich zu sprechen; nämlich bey dem Satze, dafs
sie, sich selbst überlassen, gleichmäfsig fortgehe : so ist auch hier ein längst
bekannter Begriff zu benutzen. Jedermann räumt ein, die Geschwindigkeit
sey eine Gröfsc, denn sie könne vermehrt und vermindert werden. Fragen
wir weiter: was für eine Größe? so lautet die Antwort, eine intensive
Gröfse. Das ist nicht ganz falsch; aber es ist ein schlüpfriger Punct, aus
welchem man unmittelbar in Irrthum zu gleiten Gefahr läuft.
Wie wird diese intensive Gröfse gemessen ? Nach dem Räume, der
mit ihr in gegebener Zeit wird durchlaufen werden. Und hieraus bildet
sich leicht das Vorurtheil: Geschwindigkeit sey ?ioch nicht selbst Bewegung,
sondern die künftige [301] Bewegung liege darin eingewickelt. Sie sey ein Zustand
des Bewegten, vermöge dessen es eine Tendenz habe, sich weiter zu bewegen.
Es ist so natürlich, sich Geschwindigkeit als einen uisus, ja gleich-
sam als ein Wollen zu denken, woraus Bewegung erst hervorgehn werde,
dafs es nicht überflüssig seyn dürfte, hier den Zeno zu Hülfe zu rufen.
Das Bewegte, sagte Zeno, ruhet in jedem Puncte seiner Bahn, wäh-
rend des Augenblicks, da es in demselben ist; also ruhet es immer.
Jedermann wird sogleich widersprechen. Das Bewegte ist in stetiger
Bewegung; also ruhet es in keinem Puncte, weil es in jedem nur insofern
ist, als es kommt und hindurchgeht.
iy5 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Man entwickele nun diesen Gedanken. Es ist nicht möglich, das
Bewegte auch nur für einen untheilbaren Augenblick so zu denken, als
ob seine Stelle eben jetzt durch einen einzigen Punct — oder bey kör-
perlichen Massen durch einen Raum, der ihrem Volumen genau gleich
wäre — zulänglich könnte angegeben werden. Denn darin läge Nichts
vom Ankommen und Hindurchgehen. Sondern man mufs die vorige und
die folgende Stelle mit hinzunehmen. Und dieses ist um desto nöthiger,
je gröfser die Geschwindigkeit; denn mit ihr wächst der Begriff des Hin-
durchgehens durch jede Stelle, im Gegensatze gegen das Verweilen in
derselben.
Das Bewegte hat also nicht Geschwindigkeit, sofern es an irgend
einem Orte ist, sondern sofern man das Seyn an diesem Orte sogleich
wieder aufgehoben denkt; dergestalt, dafs man nicht erst setze und dann
aufhebe, sondern beydes unmittelbar verbinde.
Will man dies leugnen? Sobald man setzt ohne noch aufzuheben,
hat man die Bewegung durch eine [302] augenblickliche Verweilung an dem
Orte, wohin man setzte, verdorben.
Hiemit ist zweyerley zugleich klar: erstlich, dafs Geschwindigkeit nicht
erst künftige, sondern jetzige Bewegung anzeigt; und zweytens, dafs sie
einen Widerspruch enthält. Wer dies anzuerkennen verweigert, der wird
unmittelbar von dem Einwurfe des Zeno getroffen. Und umgekehrt: Zeno
droht mit der Skylla; gegenüber liegt die Charybdis.
§• 285.
Ein andrer Grund des Zeno kann, indem wir ihn berichtigen, auf
die genauere Bestimmung leiten, wie die Stelle des Durchgangs mit der
vorigen und folgenden im Begriffe der Geschwindigkeit verbunden wer-
den mufs.
„Das Bewegte kann nicht den kleinsten Theil des Weges zurücklegen,
weil es zuvor dessen Hälfte zurückgelegt haben müfste, welches wiederum
von dieser Hälfte gilt, und so fort ins Unendliche. Die Bewegung ge-
winnt also keinen Anfang, denn dazu ist kein Theil klein genug."
Dieser Gedanke des Zeno wäre ganz richtig, wenn wirklich das Be-
wegte so gedacht werden dürfte, als durchHefe es das gesammte Aufser-
einander seiner Bahn im strengen Sinne Nacheinander. Aber daraus würde
noch eine zweyte ungereimte Folge entspringen. Alsdann nämlich wäre
das Quantum des Weges zugleich das Maafs für die Zeit, worin eine end-
liche Bewegung vollbracht würde. Je mehr Aufsereinander, desto mehr
Nacheinander. Allein die Zeit ist keinesweges bey aller Bewegung dem
Räume proportional, denn es soll verschiedene Geschwindigkeiten geben;
und jede bestimmte Geschwindigkeit ist sogleich und unmittelbar ein be-
stimmter Anfang der Bewegung.
[303] Man darf, wie vorhin gezeigt, dem Bewegten gar nicht erst
eine Stelle und dann die nächste geben, sondern beyde müssen unmittel-
bar, indem man sie unterscheidet, in Gedanken zusammengezogen werden,
damit das Bewegte keinen Augenblick irgendwo ruhe. Und diese Zu-
sammenziehung, vermöge deren das Bewegte geradezu an zwey Orte zu-
gleich gesetzt wird, hat ihren bestimmten Grad; indem man die zusammen-
3.Abschn.Synechologie. 2.Abth. V. obj.-scheinb.Gesch. etc. 2.Cap. V.d.Gescbwindigk. iyy
gezogenen Orte dennoch in bestimmtem Maafse verschieden, oder aufser-
einander denkt. Sonst kommt keine bestimmte Geschwindigkeit her-
aus; oder man erhält gar nur Eine, als ob das Bewegte so geschwind
srinse, wie die Zeit fliefst. und als ob hiemit das Aufsereinander und das
Nacheinander sich gegenseitig entsprächen. Mehr davon im folgenden
Capitel.
Die ganze Härte des Widerspruchs, welchen wir fordern, damit der
Begriff der Bewegung wenigstens scharf bestimmt sey, dringt sich auf in
der Berichtigung des, unter dem Namen des Achilles bekannten, Grundes
wider die Bewegung. Das Langsamere soll vom Geschwinderen auf glei-
cher Bahn nicht eingeholt werden können, weil jenes im Augenblick des
Einholens wieder entläuft. „Die Distanz des einen vom andern sey so
klein man wolle: sie läfst sich in so viel Theile theilen, als wie vielemal
das Hintere schneller ist als das Vordere. Sey Achill tausendmal so
schnell wie die Schildkröte; und sey sie von seinem ausgestreckten Finger
noch um einen Fufs entfernt: so mufs er diesen um einen Fufs weiter
strecken zum Berühren; unterdefs entwischt sie um einen Tausendtheil
des Fufses. Sein Finger durchläuft auch diesen, unterdefs entschlüpft
sie, und die Entfernung beträgt ein Milliontheilchen. So gehts fort.
Der Nachfolgende kommt vor dem Einholen an die Stelle, wo so eben noch
das Einzuholende war; und während der Bewe-[304]gung, die er macht,
um diese Stelle zu erreichen, ist jenes schon nicht mehr da geblieben,
wo er es suchte."
Dies Räsonnement verwickelt Diejenigen, welche die unendliche
Theilbarkeit des Weges einräumen, und dafür mit einer entsprechenden
unendlichen Theilbarkeit der Zeit sich trösten, unvermeidlich dergestalt,
dafs sie zwar Anfangs in das Theilen, was ins Unendliche gehn müfste,
sich einlassen, dann aber mit einem Sprunge die unendlich vielen Zeit-
theile als abgelaufen betrachten, weil sie merken, dafs sie eben sowohl die
Zeit, als den Weg bis zum Puncte des Einholens, aus unendlich vielen
Theilen zusammensetzen müfsten, womit sie nicht fertig werden können.
Der Sprung und die doppelte Unendlichkeit der Theilung, alles ist gleich
fehlerhaft, und hilft zu Nichts. Die langsamere Bewegung mufs die ganze
Zeit, während welcher sie geschieht, ausfüllen, ohne Pause; so dafs jedem
Wechsel von Augenblicken, welchen die Zeit in sich schliefst, ein Fort-
rücken im Räume entspreche. Angenommen, dem sey also: alsdann giebt
es keinen solchen Zeitwechsel mehr, vermöge dessen man ein gröfseres
Quantum des Nacheinander in der schnellem Bewegung unterscheiden
könnte. Also zvird das Geschivindere doch in mehrern Stellen seines Weges
zugleich sevn müssen? Ja freylich! damit hätte man anfangen sollen. Die
gröfsere Bahn des Schnellern scheint zwar ein gröfseres Quantum der
Succession vor Augen zu stellen; allein die wahre Menge des Nachein-
ander ist die Zeit selbst; genügte diese irgend einer langsamem Bewegung,
welche ohne Pause fortging, so mufs sie auch jedem gröfseren Wege ge-
nügen, den das Schnellere während derselben durchläuft.
Vergleicht man den Achilles mit jenem unmöglichen Anfange der
Bewegung, so ist klar, dals beyde Betrachtungen auf dem nämlichen un-
Herbart's Werke. VIII. 1 2
jy3 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
richtigen Grunde [305] beruhen; nämlich der Voraussetzung unendlicher
Theilbarkeit des Weges. Aber jeder Weg hat vermöge der bestimmten
Geschwindigkeit sein bestimmtes Element; einen Bruch des Aneinander,
welches wir oben, in der Lehre von der starren Linie, als deren Element
bezeichneten, und späterhin einer fingirten Theilung unterworfen fanden.
Von dieser Theilung, die bey der Kreislinie und bey den Hypotenusen
schlechthin ins Unendliche geht, kann man zwar auch bey der Bewegung
dann Gebrauch machen, wann gefragt wird: wie viele mögliche Geschwin-
digkeiten giebt es? Darauf ist unstreitig die Antwort: unendlich Viele.
Denn jeder Grad, um welchen das Aneinander mag zusammengezogen,
oder jeder Theil desselben, welcher als augenblicklicher Ort des Bewegten
mag gedacht werden, giebt eine bestimmte Geschwindigkeit; und hier ist
der Bestimmung ein unendliches Feld der Möglichkeit geöffnet. Aber
man mufs bestimmen ! Das heifst, man mufs angeben, inwiefern das Durch-
sehen eines Bewegten durch einen Punct seiner Bahn abweichen soll vom
Stillstehen in diesem Puncte; und wieweit verschieden zwey nächste Stellen
geachtet werden sollen, aus deren einer kommend und in deren zweyte tretend
das Bewegte sich zugleich, in dem untheilbaren Jetzt, beß?idet. Und diese
Angabe geschieht mittelbar durch die Vestsetzung der Geschwindigkeit.
Nachdem nun dieselbe geleistet ist, fallen jene beyden Gründe des Zexo
zugleich und von selbst weg. Der Anfang der Bewegung ist nicht kleiner
als das Element des Weges; das Einholen geschieht dann, wann das
Langsamere vom Schnellern nur noch um das Element des Weges ge-
trennt ist; denn hier hat die geforderte Theilung des Weges ein
Ende.
Verlangt man, dafs wir das Element des Weges [306] noch deutlicher
beschreiben, als schon geschehen ist ? Alan betrachte das Aneinander der
starren Linie als unendlich theilbar; benutze aber diese Theilbarkeit nur
dazu, um beliebig, jedoch auf bestimmte Weise, das Aneinander durch
einen zwischen eintretenden Punct in zwey Stücke zu zerlegen. So falle
nun der Punct x zwischen A und das daran liegende B. Folglich ist das
Stück Ax zu klein, um ein wahres Aufsereinander darzustellen; es ist
eben deshalb gerade recht, um als ein Ort des Durchgangs, oder als
Element des Weges betrachtet zu werden. Der Grad von Verschiedenheit
zwischen A und x bestimmt die Geschwindigkeit. Damit dieselbe gleich-
förmig sey, nehme man, unbekümmert um B, eine Distanz xy = Ax,
und wieder yz = Ax, und so weiter. Der erste Ort des Bewegten ist
nun weder A noch x, sondern, ohne Unterschied der Zeit, Ax; der zweyte
Ort ist xy, der dritte xz, und so ferner. Was jetzt an der Bestimmung
der Geschwindigkeit noch fehlt, das ist die Richtung und davon reden
wir sogleich.
§. 286.
Die gröfste, unmittelbarste Evidenz hat in der vorstehenden Ausein-
andersetzung ohne Zweifel der Umstand, dafs die wahre Quantität des
Nacheinander, nämlich die Zeit, nicht gleich ist dem Quantum der Suc-
cession, welches in den durchlaufenen Wegen sein Maafs findet. Die Zeit
ist zwischen zwey Zeitpuncten eine bestimmte Gröfse; aber dem Quantum
ß.Abschn.Synechologie. 2.Abth. V.obj.-scheinb. Gesch. etc. 2.Cap.V.d.Geschwindigk. i yg
der Succession können unzählige verschiedene Gröfsen beygelegt werden,
je nachdem die Geschwindigkeit wächst oder abnimmt.
Man möchte auf einen Augenblick glauben, diese Schwierigkeit sey
nun gehoben, nachdem wir das Element des Weges für gleichbedeutend
erklärt haben mit [307] dem augenblicklichen Orte des Durchgangs. Der
Weg Az besteht aus den Elementen Ax, xy, yz; diese Elemente mögen
nun gröfser oder kleiner genommen seyn, so reichen immer drey Zeit-
puncte hin für die ganze Bewegung durch Az. Und es scheint also auch
das Quantum der Succession unabhängig von der Länge des Weges, da
die Gegenwart des Bewegten in Ax, oder in xy, und so weiter, keine
Zeit verbraucht, und folglich keine Succession herbeyführt.
Aber eben dieses Folglich ist falsch. Allerdings liegt eine Succession
im Durchgehn durch Ax; sonst wäre die Richtung Ax von xA nicht zu
unterscheiden. So gewifs es ist, dafs man das Bewegte nicht erst in A
und dann in x setzen darf, als ob es während irgend eines untheilbaren
Augenblicks, oder während der kleinsten Zeit, die Jemand sich denken
möchte, in A ruhete; — so gewifs es ist, dafs im strengsten Sinne Zu-
gleich das Bewegte in A seyn und aus A heraus gehn mufs, um stets
völlig und wahrhaft in Bewegung zu seyn: — eben so gewifs kommt in
dies Zugleich ein Vorher und Nachher hinein. Denn vorher mufs man
ihm A, nachher mufs man ihm x zuschreiben, oder umgekehrt, je nach-
dem nun die Richtung der Bewegung seyn soll. Unterläfst man dies: so
ruhet es auf einer Stelle, die durch zwey nicht genau gleiche Puncte so
bestimmt ist, wie bey Irrational - Gröfsen (§. 259).
Man sieht hier, was es heifst, einen Widerspruch nicht wegschaffen,
sondern blofs logisch entwickeln. Das lästige Quantum der Succession ist
nicht verschwunden; es ist noch da! Allerdings bezeichnet der grössere
Weg des Schnelleren, es sey Mehr geschehen als bey dem gleichzeitig
langsamer durchlaufenen kürzeren Wege. Und der Raum kann überall
mit gleichem Maafse gemessen werden; liefs sich das Quantum der Suc-
cession für das Schnellere dadurch vermindern, dafs [308] man weniger
Sonderung in dem Wege vornahm, so sollte auch in dem andern Wege
für das Langsamere nicht so viel gesondert werden. Dann aber wäre
freylich die Zeit nicht ausgefüllt worden, sondern es hätte Pausen und
Ruhepuncte gegeben. So schiebt sich der Knoten hin und her, falls
Jemand meint, ihn zu vermeiden, ohne ihn zu lösen.
Der doppelte Widerspruch in der Geschwindigkeit, sowohl in Hin-
sicht des Orts als der Succession, ist hiemit nachgewiesen. Was haben
wir damit gewonnen? Bestimmtheit des Begriffs. Wer diese zu schätzen
weifs, der folge uns nun weiter zu einem andern Begriffe, den wir frey
von Widersprüchen darstellen werden, ohne darin ein besonderes Ver-
dienst zu suchen; und mit der Vorhersagung, dafs er dennoch unter Um-
ständen auch als zugänglich dem Irrationalen erscheinen wird.
12 =
iSo !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Drittes Capitel.
Von der Zeit.
§. 287.
Geschwindigkeit ist, wie wir gesehen haben, nichts anderes als Be-
wegung, zurückgeführt auf ihren allgemeinen Begriff. Aber jeder allge-
meine Begriff ist ein Multiplicandus (§. 252); und man sieht leicht, dafs
hier die Zeit den Multiplicator ausmacht. Die eigenthümliche Verbindung
jener beyden Factoren zu einem Producte näher zu bezeichnen, dient
Folgendes.
Jede intensive Gröfse kann auf zwiefache Weise multiplicirt werden,
innerlich oder äufserlich. Denn die Intensität kann gesteigert, sie kann
auch ohne Steigerung mehrmals dargestellt werden. Das letztere ge-[3og]
schieht, wenn nicht blofs ein Gegenstand, sondern mehrere vorhanden
sind, denen dieselbe Intensität zukommt. Die Wärme im Zimmer ist ein
desto gröfseres Quantum, je gröfser das Zimmer, das überall gleiche
Temperatur hat.
Aber es giebt noch einen dritten Fall, der sich findet, wenn man
die vorigen ausschliefst. Die Intensität soll vielemal vorkommen, nicht an
verschiedenen, sondern an demselben Gegenstande; und doch soll sie da-
durch nicht gesteigert werden. Das letztere würde unfehlbar eintreten,
wenn zu dem ersten Grade der zweyte, dritte, und so ferner, hinzukäme.
Also mufs man den ersten setzen ohne den zweyten; dann aber mufs
man ihn aufheben, und mit dieser Aufhebung die Setzung des zweyten
verbinden: wiederum den zweyten aufheben, und mit dieser neuen Auf-
hebung die Setzung des dritten verbinden; und so fort.
Hiebey ist es zufällig, ob man mit der Aufhebung die folgende
Setzung unmittelbar verbindet, oder nicht. Man kann aufheben, ohne im
Aufheben schon an das neue Setzen zu denken. Es ist eben so zufällig,
ob man mit der Setzung schon die Aufhebung verbindet. Wo nicht, so
trennen sich die Glieder der entstandenen Reihe; das Eins, Zwey, Drey,
wornach die Grade der Intensität gezählt werden, hängt dann nicht zu-
sammen.
Man versuche nun, diese Zufälligkeit aus dem aufgestellten Begriffe
durch eine veste Bestimmung hinwegzuschaffen. Die Aufhebung sey mit
der neuen Setzung unmittelbar verbunden; aber auch im Setzen liege
schon das Aufheben und Fortschreiten zum abermals erneuerten Setzen.
In diesem Begriffe liegt eine doppelte Reihe; eine der Setzungen,
und eine der Aufhebungen. Man könnte glauben, beyde machten Null
mit einander, und es sey [310] eigentlich gar Nichts gesetzt; allein durch
diese Auslegung würde man den anfänglichen Sinn verfehlen. Die Auf-
hebungen oder Verneinungen sollten blofs dazu dienen, die Setzungen
gesondert zu halten, damit sie nicht in einander fallen, und die intensive
Gröfse nicht gesteigert werde. Daher gelten, wenn der Begriff keine
neue Bestimmung erhält, nur die Setzungen; sie erklären immerdar, dafs
man nicht aufgehoben habe; und sind gleichbedeutend einer einzigen
Setzung, bey der nach keiner Aufhebung gefragt wird.
3.Abschn.Synechologie. 2. Abth. V.obj. -scheint). Geschehen etc. 3. Cap. Von der Zeit. 181
Dies ist der Begriff der Dauer; allerdings ein ganz unnützer Ge-
danke, wenn man nicht die Möglichkeit des Wechsels, welcher dadurch
verneint wird, gegenüber stellt. Wir schreiben einem Tone Dauer zu, weil
wir stets erwarten, er werde aufhören; aber nicht so leicht einer Farbe,
weil wir an deren Wechsel nicht so gewöhnt sind. Dem Realen kann,
der Wahrheit gemäfs, Dauer eben so wenig als Wechsel beygelegt werden,
weil bey ihm die Frage, ob die Setzung zurück genommen werden solle}
schon im Voraus durch Verzichtleistung hierauf beantwortet ist (§. 204).
Dennoch schreibt man ihm nicht ohne Grund Dauer zu, nämlich inwie-
fern es während des Wechsels stets vorhanden ist, folglich der Wechsel
ihm nicht gilt.
§. 288.
Soll also der vorstehende Begriff Bedeutung erlangen, so mufs die
Reihe der Aufhebungen in ihm sich beziehen lassen auf die Natur der
vervielfältigten intensiven Gröfse selbst. Bey dem Tone, der sich gleich
bleibt, oder in ähnlichen Fällen, ist das zufällig; und es kann nur dann
wesentlich seyn, wenn die Setzungen sich dergestalt sondern und doch
verketten, dafs die Aufhebungen sich nachweisen lassen.
Die erste Setzung mufs verschwinden, die zweyte [3 1 1] mufs von ihr
zu unterscheiden seyn, die dritte von der vorigen, und so fort. Wenn
eine Saite auf einem Bogeninstrument angestrichen und zugleich gestimmt
wird, so giebt sie dazu ein Beyspiel; denn es ist nun nicht der nämliche
Ton, welcher dauert, sondern er geht üher in den nächsten, der höher
oder tiefer liegt.
Allein alle möglichen Beyspiele dieser Art fallen nothwendig unter den.
Begriff der Bewegung, wenn schon derselbe nur figürlich darauf übertragen
scheint. Denn sobald die Setzungen gesondert, und doch in Form einer
Reihe zusammengehalten sind, so haben wir jenes Nicht-Zusammen, dessen
leere Bilder in der Vorstellung vestgehalten werden, und sich zum Über-
gange aus einem ins andre darbieten.
Das Element der Bewegung, durch einen allgemeinen Begriff gedacht,,
oder die Geschwindigkeit, ist Setzung, Aufhebung, und neue Setzung der-
gestalt verbunden, dafs die jedesmalige neue Setzung nicht ganz mit der
vorigen zusammenfällt, und hiedurch die geschehene Aufhebung, durchs-
Verschwinden am vorigen Orte, sich erkennen läfst. Da nun das Bewegte
sich an dem neuen Platze, wegen der durchgängigen Gleichartigkeit der
Theile des Raums, gerade so befindet wie am vorigen, so wiederholt sich
das Element der Bewegung, oder es wird multiplicirt durch die Zeit.
Demnach ist die Zeit nichts als eine Zahl; aber mit besonderer Be-
ziehung auf einen Multiplicandus von solcher Beschaffenheit, dafs seine
Vervielfältigung sich nicht anhäufen darf, vielmehr jedem Exemplar die
vorigen weichen müssen.
Dieser Zahl begegnet nun, wie jeder Zahl, eine Verwechselung mit
der Anzahl; oder, das Product wird verwechselt mit der Summe.
Von den Zahlen pflegt man zu sagen, sie bestünden aus Einheiten;
und hintennach wundert man sich [312] über die Einheiten, als Grofsen,
die keine Gröfsen sind. Eben so läfst man die Zeit zerfallen in Zeitpuncte ;
jg2 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 1829.
dann aber will sich die Zeit aus diesen Puncten nicht zusammensetzen
lassen; also schiebt man die Zeit zwischen die Puncte, als ob da Zeit
wäre, wo kein Zeitpunct ist.
Bey der Zahl überhaupt liegt der Fehler darin, dafs man den Be-
ziehungspunct des Begriffs, der von ihm unzertrennlich, aber verschieden
ist, so behandelt, als wäre er ein Merkmal im Inhalte des Begriffs. Der
Beziehungspunct aller Zahl ist der allgemeine Begriff des Gegenstandes,
welcher soll vervielfältigt werden (§. 252). Diesen zieht man in den Zahl-
begriff hinein, und nennt ihn die Einheit, als ob dieselbe mehrmals in
der Zahl läge. Sollen nun mehrere Zahlen in ein Produkt vereinigt wer-
den, so kommt die Ungereimtheit zum Vorschein, dafs die Einheiten jeder
Zahl multiplicirt werden sollen mit den Einheiten der andern; wobey
das Product so viel Multiplicanden bekommen würde als Multiplicatoren
da sind, anstatt dafs jedes Product nur Einen Multiplicandus erträgt. Am
auffallendsten wird dies bey den Brüchen, wenn etwa ein halbes mit drey
Viertheilen multiplicirt werden soll, als ob der vierte Theil eines voraus-
gesetzten Ganzen jemals ein Multiplicator werden könnte.
Bey der Zeit wird der Irrthum auffallender. Sie wird gedacht als
fliefsend, vorübergehend; ja man klagt, dafs sie so geschwind, oder so
langsam vorübergehe. Kurz: sie verwandelt sich aus dem Multiplicator
der Bewegung in das Bewegte selbst. Anstatt die Elemente, aus welchen
die Bewegung besteht, zu zählen, verwandelt sie sich in die Stimme solcher
Elemente; sie selbst hat nun eine Geschwindigkeit, und giebt dadurch zu
der ungereimten Frage Anlafs, ob [313] nicht vielleicht die Bewegung
eines Dinges eben so geschwind gehn könne, wie die Zeit fliefse?
Wie bey der Zahl sich der unbestimmte Gedanke des vielmal zu
Setzenden als Einheit darstellt, die wirklich mehrmals in der Zahl ent-
halten sey: so soll die Zeit auch eine Reihe von Zeitßuncten enthalten,
deren jedem das Kommen, Daseyn, Verschwinden, und Weichen vor dem
nächstfolgenden dürfe zugeschrieben werden, wodurch der Multiplicandus
der Zeit, nämlich die Geschwindigkeit, charakterisirt ist. Diese Vorstellungsart
läfst sich nicht verbannen, denn die Beziehung der Zeit auf ihren eigen-
thümlichen Multiplicandus ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal der
Zeit. Man kann nur sorgen, den Begriff richtig zu bestimmen, damit er
nicht Schaden anrichte durch Misdeutung.
§. 289.
Die Zeit ist die Zahl des Wechsels. Indem dieser Begriff allgemein
gedacht wird, ist von der eignen Gröfse des Wechsels, das heifst, von der
Intensität der Geschwindigkeit abstrahirt worden. Da nun auf die innere
Vielheit derselben nichts mehr ankommt, so erscheint jeder einzelne Wechsel
als untheilbare Einheit; diese Einheit liegt aber in der Reihe der Ordnungs-
zahlen, dergestalt, dafs die nte Einheit zwischen die (n— l)te und (n-f l)te
fällt; und der Übergang von jener zu dieser nothwendig die zwischen-
liegende treffen mufs. Und man soll den Übergang machen, denn die
(rT— l)te Einheit wird gesetzt, aufgehoben, und ersetzt durch die nte, und
so fort.
3. Abschn. Synechologie. 2. Abth. V. obj.-scheinb. Geschehen etc. 3. Cap. Von der Zeit, t 83
Ferner werden ungeachtet der Aufhebung doch die vorigen Ord-
nungszahlen nicht vergessen, sondern zusammengefafst ; und auch die
höhern Ordnungszahlen, bis ins Unendliche hinaus, werden überschaut, und
gehn mit in dieselbe Zusammenfassung ein. Dadurch ver[3 I4]wandelt sich
die Zeit in ein Analogon des Raums. Dieses ist ganz klar in jenen Aus-
drücken vom Vorübergehen der Zeit; denn der Vorübergehende ist nicht
vernichtet, er bleibt irgendwo, man mag ihn suchen an einem andern
Orte.
Das Analogon des Raums aber darf hier fürs erste kein anderes seyn
als die starre Linie. Denn bestimmte Zeit ist bestimmte Zahl des Wechsels.
Nun sind zwar auch Irrational - Zahlen bestimmte Gröfsen; aber sie sind
Functionen der rationalen; und man hat die Function nicht eher als ihre
Hauptgröfse.
Dies ists, was Diejenigen verkennen, welche die Zeit ohne Weiteres
für ein Continuum erklären.
Jene Einheiten sind nun die Zeitpuncte, und bestimmte Zeit ist eine
Strecke auf der starren Linie dieser Puncte, folglich enthält sie die Summe
derselben.
Die Construction der Linie geht bekanntlich nach zwe)' entgegen-
gesetzten Seiten ins Unendliche. Die Zeit kann sich dieser Construction
nicht entziehen. Denn das Aneinander zweyer Puncte, welches hier das
Xacheinander heifst, läfst sich überall dergestalt verrücken, dafs der nte
Punct in die Stelle des (n — l)ten oder (n-j-l)ten1 tritt, weil unter den
Puncten durchaus kein Unterschied ist. Wollte man einen Unterschied
machen, so läge er in demjenigen, was die Puncte erfüllt; davon aber ist
abstrahirt worden.
Hingegen entzieht sich die Zeit jeder Construction nach Art der
Fläche oder des Körpers. Denn sie ist Zahl ; und als Linie betrachtet
ist sie gerade, vermöge des bestimmten Zwischen, welches unter ihren
Puncten herrscht.
Gesetzt, ein Zeitpunct läge seitwärts von der schon construirten Zeit-
linie : so gäbe es, vermöge der bekannten Bestimmungen des Raums, ein
Perpendikel von ihm auf die Linie. Der Fortschritt auf diesem Perpen-
dikel [315] wäre kein Fortschritt nach der Richtung der Linie (§. 255).
Also in Hinsicht seiner wäre mit der Setzung desjenigen Puncte der Linie,
wo das Perpendikel eintrifft, keine Aufhebung, und kein Ersatz durch den
nächsten Punct verbunden, wider die Natur der Zeitpuncte (§. 288). Nach
diesem Beweise hat man auch hier nicht nöthig, sich auf reine Anschauung
zu berufen für den Satz : dafs die Zeit nur Eine Dimension besitzt.
§. 290.
Ungeachtet nun diese Construction nicht anders ausfallen kann, als
wir sie eben gemacht haben, sind die Zeitpuncte dennoch anstöfsig; und
ganz natürlicherweise noch mehr als die Puncte des Raums. Denn wie-
wohl sie auch im Räume nur insofern etwas bedeuten, als einer dem
1 an die Stelle des (n — l)ten tritt, . . SW. „oder (n -|- l)ten" fehlt in SW.
j 84 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
andern gegenüber steht : so stehen sie doch wenigstens, und sollen gleich-
mäfsig zusammengefafst werden. Aber die Zeit verliert einen Punct über
dem andern; und jeder Punct bedeutet nur insofern etwas, als über ihm
der vorige, und er über dem nächsten verloren geht.
Die Folge hievon ist schon oben kurz angegeben. Man sucht die
Zeit zwischen den Puncten, als wäre sie das Medium ihres Zusammen-
hangs. Und daher denkt man sich auch den Wechsel, der in die Zeit
fallen soll, als geschehend, indem die Zeitpuncte wechseln; so dafs die
Möglichkeit des Wechsels allgemein dargestellt seyn soll durch das Folgen
des einen Zeitpuncts auf den andern. Dann müfste also auch die Menge
der Unterschiede im Wechsel dargestellt seyn in der Gröfse des Folgens
der Zeitpuncte während eben dieses Wechsels. Und dann böte die ver-
laufene Zeit, welche einem solchen Quantum des Wechsels angemessen
war, auch zu jedem andern gleichzeitigen Geschehen das nämliche [3 1 6]
Quantum der möglichen Abwechselungen dar. Folglich wäre aller gleich-
zeitige Wechsel gleich grofs; alle Geschwindigkeit und jeder durchlaufene
Raum wäre in gleichen Zeiträumen gleich !
Die einfache Bemerkung, dafs zwischen zwey nächsten Zeitpuncten
keine Zeit liegt, mithin Nichts geschieht, sondern der Wechsel selbst in die
Zeitpuncte hinein fällt, genügt hier. Denn der Widerspruch, der in das
Element des Wechsels, oder in die Geschwindigkeit kommt, ist oben schon
als unvermeidlich nachgewiesen worden; man weifs auch, dafs man sich
darunter keinen wirklichen Zustand des Bewegten, oder gar des Ver-
änderten denken soll.
Aber die Zeit, als starre Linie gedacht, bleibt nun rein von Wider-
sprüchen. Und was die Hauptsache ist : der Begriff der Zeitpuncte ist
nun seinem Ursprünge gemäfs richtig vestgehalten. Denn sie waren nichts
anderes als die Einheiten, die als Svmbole der Elemente des Wechsels
dienten. Nun hatte man zwar, um diese Symbole zu bilden, abstrahirt
von der gröfsern oder kleinern Intensität des Wechsels, also von dem
innern Quantum der Geschwindigkeit. Aber der Weg der Determination
mufs allemal genau der entgegengesetzte seyn von dem Wege der Ab-
straction. Also : wenn man die Zeitpuncte anwenden will auf den Wechsel,
so fällt er, mit seiner Intensität, das heifst, mit der Gröfse seines innern
Gegensatzes, in seine Symbole, die Puncte, hinein, und nichts von ihm
darf zzvischen sie sich eindrängen wollen.
*D
§■ 291.
Nach allem diesen behaupten wir dennoch nicht, dafs die Zeit in
keinem Falle als ein Continuum zu betrachten sey. Um jedoch hierüber
ins Klare zu kommen, [3 1 7] ist es zweckmäfsig, erst einen andern Frage-
punet in Untersuchung zu nehmen.
Ist die Zeit, von der bisher, auf Veranlassung der Bewegung im
intelligibeln Räume, geredet wurde, nicht auch als eine intclligibele Zeit
zu betrachten? — Und wenn dies bejaht wird, mufs sie nicht von der
sinnlichen unterschieden werden ? Kann dies nicht auf eben die l Weise
1 eben diese Weise SW.
3.Abchn. Synechologie. 2.Abth. V. ohj.-scheinb. Geschehen etc. 3.Cap. Von der Zeit. 185
geschehen, wie wir früher den intelligibeln Raum unabhängig vom sinn-
lichen construirten ?
Wer das versuchen will, der erinnere sich zuerst, dafs der intelligibele
Raum nicht außer dem sinnlichen — als ob sie beyde in einem gemein-
samen gröfsern Räume durch irgend eine Kluft getrennt wären, — son-
dern in einer andern Gedankenreihe liegt ; so dals man den einen Raum
ignorirt, um den andern zu denken. Es ist nämlich leicht genug, sich
abwechselnd die eine oder die andre Gedankenreihe (oder psychologisch
richtiger : diese und jene Vorstellungsmasse) nach Belieben zu vergegen-
wärtigen.
Versucht man dasselbe bey der intelligibeln und sinnlichen Zeit,
unter der Voraussetzung, das seyen zwey Arten von Zeit, die man unter-
scheiden müsse, — so kommt man nicht damit zu Stande. Und warum
nicht? Weil der Wechsel der Vorstellungsmassen, den man hiebey im
Bewufstseyn bewirken mufs, selbst in die Zeit fällt. Daher findet man
den Augenblick des speculativen Denkens nothwendig in beyden Zeiten;
und hiemit fallen sie zusammen. Deshalb bedurfte es nicht des Aus-
drucks, intelligible Zeit. Auch ist keine Unterscheidung nöthig , da der
reine Begriff der Zeit keine Bestimmung dessen enthält, was darin
vorgeht.
Dies aber führt auf die bekannte Bemerkung zurück, dafs in einerley
Zeit eine unendliche Menge der verschiedensten Zeitreihen oder Begeben-
heften sich entwickeln, die einander völlig fremd sind.
[3 1 8] Bisher wurde die Zeit nur als der Multiplicator einer und der
nämlichen Geschwindigkeit Eines Bewegten betrachtet. Sehr leicht können wir
diese Betrachtung dergestalt erweitern, dafs sie auch ungleichförmige Be-
wegung, oder veränderliche Geschwindigkeit zuläfst; ohne uns übrigens hier
um die dazu nöthigen, scheinbaren bewegenden Kiäfte zu bekümmern.
Denn für die Zeitpuncte ist es ja gleichgültig, wie grofs die Intensität der
Geschwindigkeit seyn möge. Also kann jedes beliebige Gesetz der Bewegung
angenommen werden; unsre Vorstellung der Zeit, als einer starren Linie,
bleibt die nämliche. Mag z. B. der radius vector eines Planeten seine
gleichen Flächenräume und seine ungleichen Theile der Bahn zugleich
beschreiben : wir verweisen alles Schwierige dieser Vorstellung auf die
Raumbestimmungen; aber das Nacheinander bleibt eben so gleich, wie der
Mathematiker gewöhnlich sein Differential der Zeit als beständig betrachtet;
obgleich auch diese Vergleichung nicht zu weit ausgedehnt werden darf; denn
das Differential ist kein wirklicher Theil der Zeit; es ist blofs der Begriff
vom Entstehen eines neuen Zuwachses.
Während nun für einerley Gegenstand die Zeit immer die Form der
starren Linie behält, folglich keine Continuität, keinen Flufs, kein unbe-
stimmtes Schwinden der nächsten Theile verräth : ändert sich doch die
Sache, sobald mehrere gleichzeitige Bewegungen sollen zusammengefafst
werden. Denn die Zeittheile der einen Bewegung und der andern schliefsen
sich ncht mit der Bestimmtheit aus, dafs man die beyden starren Linien,
welche hiebey jede unabhängig von der andern im Vorstellen entstehen,
als punetweise genau zusammentreffend ansehn dürfte. Obgleich nun in
der Zeit kein solcher Zwang vorhanden ist, wie ihn im Raum der Kreis
jgß I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfangen etc. 1829.
und die Hypotenusen ausüben, die uns vom [319] Starren zum Stetigen
forttreiben; so mufs dennoch auch die Zeitlinie als unterworfen der Mög-
lichkeit betrachtet werden, dafs an sie die Forderung irrationaler Distanzen
ergehen könne. Dies nämlich ist allemal da zu erwarten, wo ein Zeit-
abschnitt zwey Endpuncte hat, deren späterer nicht durch eine unablässige
und zusammenhängende Folge der mittlem Zeitpuncte aus dem ersten
entstanden ist. Eine Bewegung des Gegenstandes A geschehe fortwährend ;
ganz unabhängig davon beginne nach einiger Zeit die Bewegung des Gegen-
standes P oder Q; so ist die Bestimmung des Anfangspunctes keiner
solchen Construction unterworfen, die man von der Bewegung des A ent-
lehnen könnte ; vielmehr trit hier der Fall jener Hypotenusen ein, die ein
Quantum der Extension innerhalb schon vestgestellter Puncte (§. 259) dar-
stellen sollen.
Viertes Capitel.
Vom objectiven Schein.
§. 292.
Man ist gewohnt, dafs überall, wo sich eine Untersuchung in Schwierig-
keiten verwickelt, der Trost bereit liegt, es sey nur Erscheinung; nichts
an sich Wirkliches. Auch bietet schon Kants Lehre die Unterscheidung
zwischen objectivem und subjectivem Schein. Der letztere ist aus zufälligen
Fehlern des Subjects herzuleiten; jener hingegen soll dem Gegenstande,
in wiefern er sich überhaupt irgend einem Subjecte zum Auffassen dar-
stellt, zugeschrieben werden.
Aber die Kantische Behauptung der Formen des Anschauens und
Denkens, welche dem menschlichen Gei-[32o]ste eigen seyn sollen, so
dafs seine Erfahrung sich dem Räume, der Zeit, den Kategorien unter-
werfen mufs, weil sie nun eben menschliche Erfahrung ist, — setzt eigent-
lich einen allgemeinen subjectiven Schein an die Stelle des objectiven.
Die Frao:e bleibt offen, ob nicht wohl andre Vernunftwesen andere Gesetze
des Anschauens und Denkens haben könnten ?
Eine solche Frage mufs ganz wegfallen, wenn der Schein in Wahrheit
nichl -subjectW seyn soll. Denn der strenge Gegensatz erfordert, dafs auf
keine Weise das Subject durch seine besondere Natur den Schein bestimme.
Wollte man aber dem Gegenstande eine Fähigkeit beylegen, eine
täuschende Gestalt anzunehmen: so kehrt selbst diese Voraussetzung in
die vorige zurück. Denn die Täuschung würde doch eine besondere
Schwäche in den Subjecten zum Grunde haben müssen, vermöge deren
sie nicht im Stande wären, den Trug zu durchschauen.
Wahrhaft objectiv kann nur ein solcher Schein heifsen, der von jedem
einzelnen Objecte ein getreues Bild, wenn auch kein vollständiges, so doch
ohne alle Täuschung, dem Subjecte darstellt; dergestalt, dafs blofs die
Verbindung der mehrern Gegenstände eine Form annimmt, welche das zu-
3. Abschn. Synechologie. 2. Abth. V. obj.-scheinb. Geschehen etc. 4. Cap. V. obj. Schein. 187
sammenfassende Subject sich mufs gefallen lassen. Diesen Begriff wollen
wir nunmehr ausführlicher entwickeln.
§• 293.
Man denke sich also ein geistiges Wesen, eine Intelligenz, lediglich
als einen reinen Spiegel für mehrere, von einander sowohl, wie von dem
Spiegel unabhängige Objecte. Wir fragen hier noch gar nicht, wie das
Verhältnis, vermöge dessen die Spiegelung erfolgt, möglich sey ; wir erinnern
uns aber, dafs zur wahren [321] und vollkommenen Erkenntnifs ein solches
Verhältnifs mufs angenommen werden; und bemerken leicht, dafs eben
hier, in der Methaphysik, falls sie Wahrheit gewährt, wir selbst dergleichen
Spiegel seyn müssen.
Die Objecte sind nun entweder zusammen, oder nicht zusammen.
Wird auf den letzteren Fall die Möglichkeit, dafs sie dennoch wohl zu-
sammen seyn könnten, übertragen: so liegt hierin (§. 245) die Vorstellung
des Orts, den sie sich gegenseitig darbieten. Auch ist bekannt, dafs die
Vervielfältigung des Nicht -Zusammen in der Form des Raums gar keine
besondere Einrichtung der Intelligenz erfordert; im Gegentheil, wo ein
objectives Vieles gegeben ist, und zwar unverbunden, aber so, dafs es
verbunden seyn könnte, da mufs es, nach dem Obigen, die Form der
räumlichen Auseinandersetzung annehmen, welche wir gerade hieraus haben
hervorgehen sehen.
Hier ist nun ein objectiver Schein im strengen Sinne. Das Raum-
verhältnifs, worin die Objecte sich zeigen, ist nicht im mindesten ein
wahres Prädicat, das irgend einem unter ihnen könnte beygelegt werden;
denn es beruht lediglich auf dem Zusammentreffen ihrer Bilder in der sie
abspiegelnden Intelligenz. Dennoch wird es gegeben; und die Intelligenz
ist daran gebunden; nicht minder wie an jede qualitative Bestimmung des
Gegebenen. Das Raumverhältnifs ist daher Schein, aber nicht subjeetiver
Schein, denn die Gröfse der Entfernung, und der Unterschied der Ruhe
oder Bewegung unter den Objecten hängen gar nicht ab von der Intelli-
genz; sie nimmt, was sie findet.
Um von der Bewegung — auf deren Erklärung es eigentlich hier
ankommt, — deutlich zu sprechen, wird es gut seyn, zuvor an denjenigen
objeetiven Schein zu erinnern, welcher entstehen lüürde, wenn irgend ein
Subject die Qualitäten der realen Wesen kennte. Als-[32 2]dann nämlich
müfste der Gegensatz unter den verschiedenen Qualitäten, worauf die
Möglichkeit der wahren Causalität beruht, offenbar werden. Nun läge
aber darin ein blofser Schein; denn der Gegensatz ist kein eignes Prädicat
für irgend eins der Wesen. Das Verhältnifs ist hier genau so, wie zwi-
schen einem Paar entgegengesetzter Farben oder Töne, denen ebenfalls
gar keine wahre Bestimmung aus dem Gegensatze erwächst.
Allein es siebt doch einen GTofsen Unterschied zwischen diesen
Fällen und dem Raumverhältnisse. Farben, Töne, und eben so die
wahren Qualitäten der realen Wesen, sind wenigstens innere Gründe des-
jenigen objeetiven Scheins, der in dem Beobachter entstehen mufs, indem
er die Vorstellungen von ihnen zusammenfafst. Er kann alsdann kein
anderes Verhältnifs zwischen ihnen annehmen; die Eigenheit eines jeden
l88 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
ergiebt unmittelbar seinen Gegensatz gegen das andere. Hingegen ein
Raumverhältnifs , worin zwey Objecte sich zeigen, während sie gegenseitig1
unabhängig sind, ist vollkommen veränderlich; es hat noch weniger
einen Grund in den Objecten als im Zuschauer. Es wird mit vollkomme-
ner Bestimmtheit gegeben ; und dennoch kann es keine Bestimmung für
irgend eins der Objecte darbieten, denen ihre Entfernung oder Nähe so
lange, als sie nicht mittelbar oder unmittelbar auf einander wirken, durch-
aus gleichgültig ist und nichts bedeutet.
&• 294-
Wie ensteht denn überhaupt ein solches Verhältnifs, das gar keinen
Grund in seinen Gliedern hat? Gewifs nur durch einen Zusatz von Seiten
des Zuschauers.
Diesen Zusatz kennen wir längst; es ist der Raum. Übertrüge nicht
der Zuschauer diese Form auf die Gegenstände: so hätten die Worte
Ruhe und Bewegung [323] nicht eher einen Sinn, als im Augenblick des
eintretenden Causal -Verhältnisses durch ein mittelbares oder unmittelbares
Zusammen. Was in Kants Behauptung, der Raum komme vom Zu-
schauer, psychologisch unrichtig war, das ist zum Theil, und nach Ab-
sonderung einer gleich zu erwähnenden Übertreibung, metaphysisch richtig;
und am auffallendsten dann , wann von gegenseitig unabhängigen Ob-
jecten gesprochen wird. Der Zuschauer stellt sie einander gegenüber,
und verleiht ihnen dadurch eine, lediglich i?i Gedanken vorhandene, Gemein-
schaft.
Die Vorstellung des Raums ist geeignet, zu der Zusammenfassung
der unter einander unabhängigen Objecte zu dienen. Aber nur zu dienen!
Eine Vorschrift, zvie sich die Gegenstände in sie hineinfügen sollen, kann sie
nicht geben. Darum ist hier Behutsamkeit nöthig, damit man nicht über-
treibe. Kants Vernunftkritik, in der Vorrede, lehrt: Der Gegenstand, als
Object der Sinne, richte sich nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsver-
mögens. *
Thäte der Gegenstand das wirklich : so dürfte die Raumbestimmung,
wodurch auf mehrere Objecte eine für sie fremde Gemeinschaft übertragen
wird, keinen Widerspruch enthalten. Diese Objecte würden uns dadurch
zu allererst ihren Gehorsam bezeugen, dafs sie still hielten für die Vest-
setzung einer gewissen, sich selbst gleichen Entfernung. Aus der Stelle
würden sie nur gehn auf gegebenen Antrieb; und je mehr durch die
schon erfolgte Bewegung dem Antriebe Genüge geschähe, desto langsamer
würde dieselbe fortgesetzt; indem sie in jedem Augenblicke nur dem Rest
des An-[32 4]triebes proportional seyn könnte; wie schon oben (§. 280)
angedeutet wurde.
Untersucht man die gemeine und natürliche Vorstellung, welche sich
Personen, die nicht Physik gelernt haben, von der Bewegung machen: so
* Kants Krit. d. r. V. Vorrede S. XVII.
während sie unabhängig sind SW. („gegenseitig" fehlt).
3-Abschn. Synechologie. 2.Abth. V.obj.-scheinb. Geschehen etc. 4. Cap.V.obj. Schein. 180.
findet man darin in der That ein solches Vorurtheil. Bewegung wird als
ein fremdartiger Zustand betrachtet, der von selbst allmählig nachlassen
müsse ; so wie er nur durch wirkende Ursachen habe hervorgehen
können. —
Wenn dem Zuschauer zwey reale Wesen vorschwebten: so stünde
es ihm frey, an jedes von beyden ein leeres Bild, einen Punct desjenigen
Raums, den er in Gedanken mitbringt, anzuheften. Das leere Bild wäre
nun ein erster, vester Punct; die übrigen Puncte desselben Raums könnten
o-eeen diesen nicht aus ihrer Lage kommen; und rückwärts, das reale
Wesen, sofern es betrachtet würde als befindlich in dem vesten Puncte,
müfste nun ruhen in seinem eignen Räume.
Was aber mit jedem einzelnen realen Wesen gelingen könnte, das
gelingt höchst unwahrscheinlich für beyde zugleich; weil dadurch zwischen
beyden eine Gemeinschaft entstünde, an welche die unter sich unabhängi-
gen Elemente nicht gebunden sind. Demnach soll der Zuschauer darauf
gefafst seyn, dafs eben, indem er in den Raum, worein er schon eins der
Elemente gesetzt hat, auch das andre setzt, es sich ihm entzieht. Her-
ausgehend nun aus seinem Orte, obgleich nicht aus dem Ratane (der
Möglichkeit der Zusammenfassung überhaupt), hat es schon eine Richtung
und eine Geschwindigkeit; diese wird jetzt die Regel der Zusammen-
fassung, welche das zweyte Object in Beziehung auf das erste gestattet;
und hiemit ist die gleichförmige Bewegung im Gange, welche bleibt, bis
ein Grund der Abänderung eintrit.
Hat der Zuschauer nicht an eins von beyden, son-[325]dern an
einen dritten vesten Punct den Raum geheftet, so mufs er gewärtigen,
bevde Objecte zugleich in Bewegung zu finden. Alsdann nämlich ver-
räth sich die Unabhängigkeit eines jeden der beyden von dem dritten.
Und dies kann auch als Hülfsmittel gebraucht werden, um zwischen
zweyen die Bewegung zu theilen, falls aus irgend einem Grunde es nicht
bequem seyn möchte, eins jener beyden als ruhend anzusehen.
§• 295.
Man setze statt Eines Zuschauers Viele, und, wenn man will, zu-
gleich statt zweyer Objecte eine beliebige Menge. Den Zuschauern allen
wird nun widerfahren, was vorhin dem einzigen. Sie werden das Netz
des Raums werfen wollen über alle Projecte zugleich; aber diese werden,
unabhängig von der Gemeinschaft, die ihnen solchergestalt würde beyge-
legt seyn, aus derjenigen Zusammenfassung, welche eben jetzt geschieht,
entweichen; so jedoch, dafs jedes im Entweichen sich selbst sein Raum-
verhältnifs bestimmt, weil es in bestimmter Richtung und Geschwindigkeit
davon geht. Eigentlich geschieht hier nicht den Dingen, sondern den
Zuschauern etwas ; aber diesen allen begegnet die gleiche Abänderung
der Form, in welcher sie die Objecte zusammenzufassen im Begriff
standen.
Bewegung ist also nichts anderes , als ein natürliches Mislingen der
versuchten räumlichen Zusammenfassung. Geschwindigkeit aber, und die
ihr inwohnende Richtung, sind die Bestimmungen, wie, und inwiefern
igo I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
die Zusammenfassung mislingt. Den Widerspruch in der Geschwindigkeit
darf man nicht auflösen wollen; das hiefse eben so viel, als dem natür-
lichen Mislingen eine Künsteley entgegensetzen. Der Grund des Wider-
spruchs liegt auch in keinerley Beschränkung oder Schwäche des mensch-
lichen Denkens, sondern in der Zufälligkeit [326] des Zusammentreffens,
womit die Bilder solcher Gegenstände, die unter sich in gar keiner Ver-
bindung stehn, einander in dem Spiegel begegnen, den für sie der Zu-
schauer darstellt. Dieser hat eine Form der Zusammenfassung bereit, wo-
hinein für jeden Augenblick die Gegenstände passen würden, wenn sie
in der Verknüpfung, worin die Form sie zeigt, sich wirklich befänden;
allein sie sind ohne Verknüpfung; dies verräth sich in der umgewandelten
Form, oder in der stets abgeänderten Bestimmung des Ortes. Ist aber
die Abänderung einmal gegeben, so bleibt sie, wenn nichts Neues hinzu-
kommt, sich dergestalt treu, dafs selbst wenn ein subjectiver Schein die
Auffassung stört, der Zuschauer sich noch späterhin davon befreyen, und
sich wiederum in den Zusammenhang des wahren, objectiven Scheins ver-
setzen kann ; wie es durch Berichtigung fehlerhafter Beobachtungen so oft
geschieht. Das könnte nicht seyn, wenn dabey die Person des Zu-
schauers in Betracht käme. Sondern darauf kommt es an, wie die Bilder
der Gegenstände in irgend einem, gleichviel ob idealen oder wirklichen
Zuschauer, zusammentreffen können. In diesem Sinne geschieht die Be-
wegung wirklich, auch wenn sie nicht beobachtet wird. Die Regel des
möglichen Beobachtens bleibt stehen. Sie würde aber alle Bedeutung
verlieren, wenn gar keine Beobachtung statt fände. Nur für Beobachtung
gilt sie; jedoch eben deswegen für Jeden, der, frey vom subjectiven
Scheine, sich zu derselben als Zuschauer darbietet.
§• 296.
Offenbar kommt in dieser Untersuchung nichts auf die Frage an,
woher, bey welchem Anlafs , der Zuschauer die Form des Raums sich
angeeignet habe. Daher können wir ohne Bedenken ein Beyspiel im
sinn- [3 2 7] liehen Räume suchen; wiewohl die Bewegung, deren wir zur
Erklärung der Veränderung bedurften, ursprünglich im intelligibeln Räume
Statt finden sollte. Da nun auf der Erde eigentlich nirgends ein Fall
von ungehinderter gleichförmiger Bewegung vorkommt (wenn nicht etwa
bey Umdrehungen, die nicht hieher gehören), so wenden wir lieber unsre
Blicke zum Himmel.
Und hier finden wir die sogenannten Fixsterne, von denen Jeder
weifs, dafs ihre langsamen Bewegungen, unmerklich dem gewöhnlichen
Beobachter, dennoch den neuern Astronomen nicht entgangen sind. Wir
könnten auch Sternschnuppen und Feuerkugeln anführen, unter der Vor-
aussetzung, dals sie nicht in unsrer Atmosphäre entspringen, und mit
Abrechnung der Krümmungen ihrer Bahn, welche ihnen in unserm Sonnen-
system durch die verschiedenen Anziehungen begegnen.
Alle diese Körper verändern unaufhörlich ihre gegenseitige Stellung,
ohne dafs irgend einem ein reales Prädicat deshalb könnte zugeschrieben
werden. Wer da glaubt, sich ihren ursprünglichen Zustand als gegen-
3. Abschn. Synechologie. i.Abth. V.obj.-scheinb. Geschehen etc. 5-Cap. V.Schein etc. inj
seitige Ruhe denken zu müssen: der leiht ihnen eine Art von Rücksicht,
welche Einer auf den andern nehmen solle. Diese Gegenseitigkeit und
Rücksicht pafst aber nicht zu der absoluten Position, die Jedem unter
Voraussetzung seiner Realität zukommt.
Der Spinozist wird die unabhängige Realität leugnen. Dafür wird
er gestraft durch die gänzliche Unmöglichkeit, sich den Widersprüchen
in der Bewegung zu entwinden. Denn um nicht hierin, wie in einem
Abgrunde, unterzugehn, mufs man die gänzliche Zufälligkeit zweyer Objecte
nicht blofs für einander, sondern auch für den Zuschauer, der als ein
Dritter beyden zugleich gegenüber steht, vollkommen begriffen haben.
Sobald die gegenseitig bewegten Objecte sammt dem Zuschauer in Einem
Princip verknüpft sind, ist alle Be-[32 8]wegung absolut ungereimt, und
kann nicht einmal als Erscheinung gerechtfertigt werden. In der ursprüng-
lichen Einheit müfste Alles zusammenpassen.
Vielleicht aber wird man fragen, wo denn das Copernicanische System
bleibe, wenn Bewegung blols für mögliche Beobachtung vorhanden, und
kein Zustand der Dinge selbst sey? — Jeder Mathematiker hat ein Recht,
seine Gleichung zu ordnen, um sie aufzulösen. Die Anordnung ist aber
nicht die Wahrheit der Gleichung; dieser kann sie nichts geben noch
nehmen. Übrigens gebührt stets der bequemern Anordnung der Vorzug
vor jeder unbequemen; und so auch wollen wir dem Copernicanischen
System nicht im mindesten widerstreiten. Wenn gleich dieses Weltsvstem
vielmehr eine Erfindung als eine Entdeckung zu heifsen verdient: so ist
darum sein Werth nicht geringer. Man mufs bedenken, dafs der objective
Schein für den Zuschauer zu den wichtigsten Erkenntnissen gehört. Aller
Schein ist in ihm eine Art des wirklichen Geschehens; eben darum ist
ihm Alles daran gelegen, den subjectiven Schein zu vermeiden, und den
objectiven sicher und leicht zu überschauen. Jener würde ihn isoliren;
dieser setzt ihn in Verbindung und Übereinstimmung mit allen andern
Beobachtern. Und je leichter Jemand die gegenseitigen Bewegungen der
Dinge zusammenfafst, desto mehr weifs er voraus vom künftigen Geschehen,
dem wirklichen sowohl als dem scheinbaren; weil auf dem Unterschiede
des Zusammen und Nichtzusammen der Dinge alles Eintreten oder Aus-
bleiben des wirklichen Geschehens beruht.
[329] Fünftes Capitel.
Vom Schein im Laufe der Begebenheiten.
§• 297.
Der einfache Grundgedanke dieses Capitels ist folgender: Ver-
möge der Bewegungen fällt alles wirkliche Geschehen in bestimmte Zeiten.
Zur Bestimmung der Zeiten gelangt der Zuschauer mehr oder minder
genau durch die Erfahrung; indem sie Veränderungen eines Dinges als
jq2 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
gleichzeitig darstellt mit Zuständen anderer Dinge, die sich schon verändert
haben. Der Zuschauer vereinigt nun alle Zeitpuncte in Eine Reihe, und
füllt die Lücken zwischen dem wirklichen Geschehen aus durch ange-
nommene oder beobachtete Bewegung. Aber der ganze zeitliche Zu-
sammenhang der Reihe ist nur objectiver Schein.
Die Gründe davon sind leicht einzusehn. Die Zeit, als Analogon
des Raums (§. 289), stellt sich sogleich als doppelt unendliche Linie dar,
sobald durch die Veränderung auch nur ein einziges Nacheinander ge-
geben ist. Alle Veränderungen also, deren jede ein Nacheinander mit
sich bringt, ergeben die ganze Zeit; alle unendlichen Zeitlinien nämlich
fallen zusammen in eine einzige; weil von dem Geschehen, was in den
Zeitpuncten sich zuträgt, abstrahirt wird (§. 290). Beym Zusammenfallen
findet jeder Punct einer solchen Linie seinen gleichzeitigen, der mit ihm
einerley ist, auf allen andern Linien. Es entstehen also bestimmte Di-
stanzen selbst des verschiedenartigsten Geschehens in der Einen Zeit, die
alle jene Linien in sich fafst. Der Zuschauer fragt sich nach einem
Grunde dieser Distanzen; das heifst, er will wissen, warum gewisse Ereig-
nisse nicht früher oder später vor oder nach den andern eintraten? Nun
hängt das Eintreten ab von der vorgängigen Be-[33o]wegung (§. 279, 280).
Es mufs aber jede Bewegung, von der nicht ein besonderer Grund vor-
handen ist, rückwärts ins Unendliche construirt werden, damit das Be-
wegte sein Raumverhältnifs bey behalte; oder, damit es am neuen und am
vorhergehenden Orte sich auf gleiche Weise befinde (§. 281 ), nämlich als
im Durchgehen begriffen. Folglich läfst sich, unter Voraussetzung ge-
gebener Geschwindigkeit, für jedes frühere Ereignifs der Ort, wo damals
das Bewegte, dem später etwas geschieht, noch müsse gewesen seyn, —
und hiemit auch der Grund angeben, warum die beyden Begebenheiten
nicht zugleich, sondern nur in bestimmter Zeit-Distanz nach einander ein-
traten. Denn die Bewegung mufste erst vollendet seyn, um dasjenige
Zusammen herbeyzuführen, worauf das spätere Ereignifs als auf einer
notwendigen Bedingung beruht. Und sie konnte bey gegebener Ge-
schwindigkeit nicht früher noch später vollendet werden.
Die Beschaffenheit eines solchen Grundes aber kennt man aus dem
Vorhergehenden. Mufs die Bewegung rückwärts ins Unendliche construirt
werden, so hängt der Grund auf keine Weise mit dem wirklichen Ge-
schehen [§. 231) zusammen. Gesetzt aber auch, die Bewegung sey aus
scheinbaren bewegenden Kräften entstanden, dergleichen oben (§. 270)
nachgewiesen wurden: so liegen diese eingebildeten Kräfte doch nur in
der Notwendigkeit, dafs der äufsere Zustand sich richte nach dem innern;
und wenn etwan unter Umständen, die wir noch nicht kennen, irgend
eine Repulsion in verlängerte Bewegung ausschlägt (welches oft genug
vorkommt), so ist doch eine jede gleichförmige Bewegung, sie mag ent-
standen seyn, wie sie will, völlig gleichartig bey gleicher Richtung und
Geschwindigkeit.
Immer bleibt also der Grund, warum ein Ereignifs nicht früher oder
später eintrit, fern vom wirklichen [331] Geschehen, und noch entfernter
vom eigentlichen Seyn. Er liegt im Gebiete des objectiven Scheins. Und
wenn nun die Zeitreihe, worin hier und dort Begebenheiten, als angeheftet
3-Abschn. Synechologie. 2. Abth. V. obj.-scheinb. Geschehen etc. 5. Cap. V.Schein etc. ig^
an bestimmte Zeitpuncte, vorkommen, — wenn selbst die unendliche Zeit,
als erfüllt von allen Begebenheiten, zusammengefafst wird : so beruht, so-
viel wir bis jetzt sehen, die Einheit in dieser Zusammenfassung auf dem
ordnenden Geiste des Zuschauers.
§. 298.
An diesem Puncte hat unsere Lehre Ähnlichkeit mit der alten
Atomistik; — und das ist kein Übel, denn auch mit der Erfahrung, mit
dem gesunden Verstände, mit der Physik und Chemie hängt die Atomistik
sehr nahe zusammen, welches in den Naturwissenschaften immer von
neuem zum Vorschein kommt. Allein eben deshalb ist hier an den
grofsen Unterschied zu erinnern, der aus der Ontologie bekannt seyn soll.
Die Atomistik sucht Veränderungen aus Bewegungen zu erklären;
aber sie kann diesen Gang nicht vollenden, viel weniger ihn umkehren.
Sie bringt Atomen nur an einander; sie kennt kein Zusammen, kein wirk-
liches Geschehen, folglich auch keine Anordnung der Materie gemäfs den
innem Zuständen, und am wenigsten solche Bewegungen, die aus den
letztern entspringen müssen.
Um sie brauchbarer zu machen, hat man versucht, die Atomen mit
innem Kräften zu begaben. Wenigstens Kräfte der Anziehung und Ab-
stofsung, meinte man, könnten diese kleinen, absolut harten Körperchen
wohl in sich aufnehmen; an höhere Kräfte hat schwerlich im Ernste
Jemand gewagt zu denken. Alles Geistige, oder was dem ähnlich ist,
schien den, schon ursprünglich dem Räume dahin gegebenen, Atomen zu
fremdartig. Hiemit war die Atomistik von der Psycho-[2 32]logie so
völlig abgeschnitten, dafs man erst in Materialismus verfallen mufste, um
eine scheinbare Verbindung zu erkünsteln.
Die vorstehende Untersuchung aber, die nicht mehr enthalten kann
und soll, als was ihre Gründe darbieten, stellt lediglich anheim, Bewegungen
rückwärts ins Unendliche zu construiren, wenn andre Anfangspuncte der-
selben fehlen. Sie schneidet die Möglichkeit nicht ab, dafs aus dem Innern
das Äufsere folge; im Gegentheil, die Lehre von der Materie beruhet
ganz und gar auf der Nachweisung einer solchen Möglichkeit.
Zugleich aber erinnert die Untersuchung daran, dals, welche Gründe
der zeitlichen Ereignisse man auch annehme, doch niemals die Sphäre
des objectiven Scheins dadurch könne überschritten werden ; als welche
alles Zeitliche ohne Ausnahme in sich begreift, während das Reale und
die wahre Causalität weder räumlich noch zeitlich sind.
Wollte man nun diese Behauptung des objectiven Scheins idealistisch
nennen : so würde man sie damit der Lehre Kants näher stellen; und
gewifs mit Recht, insofern wir zuerst von Kant gelernt haben, Zeit und
Raum als Formen der Erscheinung zu betrachten. Doch auch diese
Ähnlichkeit darf nicht für gröfser gelten als sie ist.
§. 299.
Hume und Kant gebrauchten beyde die Causalität, um daraus die
Succession der Weltbegebenheiten zu erklären. Dies ists, welches wir
verneinen müssen.
Herbart's Werke. VIII. J3
jQi I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Keine Ursach ohne Wirkung! Also auch keine vor der Wirkung.
Beyde sind absolut gleichzeitig. Diese Forderung liegt in den Begriffen;
und durch die ontologische Untersuchung, welche alle wahre Causalität
auf Selbsterhaltung zurückführt, wird sie bestätigt.
[333] Kant verlor die wahre Causalität aus den Augen; seine Causa-
lität, als Regel der Zeitfolge, gehörte ganz der Erscheinung. So mufste es
kommen, wenn unmittelbar aus dem Causalverhältnifs die Succession der
Begebenheiten hervorgehn sollte. Aber so durfte es nicht kommen, wenn
irgend ein wirkliches Geschehen, z. B. das Entstehen sinnlicher Empfin-
dungen in uns, und das freye Handeln, aus intelligibeln Ursachen sollte
abgeleitet werden. Der Causalbegriff liefs sich einmal nicht auf Erschei-
nungen beschränken, er bleibt unentbehrlich für das wirkliche, und insbe-
sondere für das geistige Leiden und Thun.
Man lasse es sich also gefallen, dafs aus eigentlichen Ursachen keine
Succession entsteht, und dafs dieser zeitliche Schein einen Erklärungsgrund
erfordert, der vom Realen eben so weit entfernt ist, als er selbst. Be-
wegung braucht nicht nothwendig einen höhern Grund; sie ist von selbst
da, wenn ein Vieles in gegenseitiger Unabhängigkeit vom Zuschauer im
Räume zusammengefafst wird. Mit ihr findet sich die Reihe der Begeben-
heiten ebenfalls ganz von selbst; und die Erklärung ist so lange zu-
reichend ohne höhere Hülfe, wie lange man nicht höhere Merkmale
dessen, was erscheint, in die Betrachtung aufnimmt. Die allgemeine
Metaphysik aber mufs auf ihrem Posten bleiben ; und diejenigen Fragen
beantworten, die man ihr vorlegt.
Dahin gehören nun vorzugsweise diejenigen, welche Kant zu den
Antinomien verwiesen hat. Jetzt, nachdem uns die Untersuchung endlich
auf das Feld geführt hat, woran die Meisten bey dem Worte Metaphysik
zuerst denken, — was anders aber verstehn sie darunter, als eine Art
von Kosmologie a priori? — mag man jene Antinomien mit dem bis-
herigen Vortrage vergleichen. Es wird sich finden, dafs die dritte und
vierte Antinomie schon durch die Ontologie, in den [334] Capiteln vom
Seyn und vom wirklichen Geschehen, beseitigt, die Frage der zweyten
Antinomie aber durch die Construction der Materie erledigt ist. In der
ersten Antinomie finden sich zwey Betrachtungen beysammen, betreffend
die Gränzen der Welt in Raum und Zeit. Kant hätte diese beyden
Arten der Begränzung nicht als gleichartig behandeln sollen. Raum und
Zeit sind beyde Multiplicatoren, jener des Wirklichen, diese des Ge-
schehens. Nun ist aber der Fall nicht gleich, wenn nach der Menge des
Wirklichen, und wenn nach der Menge des Geschehens gefragt wird.
Die Menge der Veränderungen fällt viel sichtbarer und vollständiger ins
Gebiet des Scheins, als die Menge dessen, was aufser einander im Räume
sich darstellt. Das letztere wird allgemein als Substanz betrachtet; und
wenn ihm die Realität, die es anscheinend besitzt, auch nicht in der Be-
schaffenheit zukommt, welche man sinnlich wahrnimmt, so kann ihm doch
ein Reales zum Grunde liegen, wie Kant selbst nicht würde geleugnet
haben. Denn nach seiner Lehre sollte allerdings ein transscendentales
Object den Erscheinungen correspondiren ; und gevvifs nicht blofs ein ein-
ziges, sondern viele dergleichen ; sonst wären die freyen Willen, um welche
ß.Abschn.Synechologie. 2.Abth. V.obj.-scheinb. Geschehen etc. 5-Cap. V.Scheinetc. ige
es bey Kant hauptsächlich zu thun war, alle unter einander, und mit
dem Grunde der Sinnenwelt zusammengewachsen, mithin keinesweges frey
gewesen. Nun hätte die Behutsamkeit erfordert, nicht eben so leicht
eine unendliche Menge des Realen im Raum neben einander, als der
Zeitbestimmungen nach einander, zuzulassen ; und es mufs demnach die
erste Sorge seyn, die beyden Fragen, welche Kant vermischte, zu trennen.
Auch wird die Antwort sehr verschieden ausfallen.
Zuvörderst aber ist es rathsam, die Scheidewand zwischen dem intelli-
gibelen und de?n [335] sinnlichen Räume, deren wir nicht mehr bedürfen,
nunmehr fallen zu lassen.
Sie verschwindet fast von selbst, sobald man sich an das Eigene des
intelligibeln Raums erinnert. Es besteht theils in seinem Ursprünge, theils
in seinen starren Linien ; übrigens geht seine Construction vollkommen in
dasselbe Continuum über, welches auch der sinnliche Raum darstellt. Daher
kann der sinnliche Raum rückwärts angesehen werden, als läge ihm ur-
sprünglich die nämliche Construction zum Grunde, wie dem intelligibeln;
denn obgleich dieses nicht psychologisch wahr ist, so kommt doch hierauf
nichts an, wenn man von den Gegenständen im Räume redet, inwiefern
sie Materie in ihm bilden. Die einzige Frage, auf welche man achten
mufs, ist die: ob das Zusammen in beyden Räumen die Bedingung des
Causal- Verhältnisses ist? Und dieses bezeugt die Erfahrung für den sinn-
lichen Raum so allgemein, dafs man von jeher die scheinbaren Wirkungen
in die Ferne als blofse und höchst seltene Ausnahmen von der Regel
betrachtet hat. Aber selbst hier zeigt sich bey genauerer Überlegung
eher Bestätigung als Widerlegung. Die Wirkungen in die Feme richten
sich nach der Entfernung; sie sind Functionen derselben. Der leere Raum
aber, — ein blofses Nichts, — könnte nicht Träger eines Gesetzes seyn;
diejenige Entfernung, von welcher die Gravitation, die elektrische und mag-
netische Anziehung oder Zurückstofsung Functionen seyn sollen, mufs
auf irgend eine Weise als realisirt, das heifst hier, als erfüllt angesehen
werden. Alsdann ist es allgemein wahr, dafs Causalität auch im sinn-
lichen Räume, so wie im intelligibeln, von einem Zusammen abhängt;
und wir dürfen im Verlauf der Untersuchung um so weniger einen Unter-
schied der beyden Räume unerwartet anzutreffen fürchten, da wir schon
oben in der Construction der Materie bemerken konn-[33Ö]ten, dafs die
für den intelligibeln Raum gemachten Voraussetzungen auf den sinnlich
bekannten starren Körper vollkommen wohl pafsten.
Kants Idealismus bevestigte eine Kluft zwischen der Erscheinung und
dem Realen, worüber man eigentlich niemals durch irgend eine consequente
Naturlehre hoffen durfte hinweg zu kommen. Jetzt ist wenigstens der
Versuch möglich, Erfahrung und Theorie zu vergleichen; und hiemit für
die Metaphysik diejenigen Bestätigungen allmählig vorzubereiten, deren
jede abstracte Theorie sich gern bedient, um Schutz gegen den Verdacht
eines verborgenen Irrthums zu erlangen.
§• 300.
Unter der Voraussetzung, dafs alle körperlichen Massen im sinnlichen
Räume, sofern sie starr sind, auf die früher beschriebene Weise aus ein-
13*
iqß I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
fachen Elementen bestehn: liegt sogleich die Entscheidung der Frage von
der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt im Räume, vermöge der
ontologischen Grundsätze vor Augen. Das Quantum des Realen kann
nicht unendlich seyn. Zwar giebt der Begriff des Seyn nicht die Menge
desselben an (§. 208), aber keine Vorstellung kann das Unendliche er-
schöpfen; es bleibt immer noch etwas nachzuholen (§. 209); und diese
Betrachtung, welche wir oben dem realen Continuum entgegenstellten, gilt
vollkommen auch gegen die unendliche Anzahl der realen Wesen. Sie
würde keine absolute Position vertragen; sondern stets mit dem Vorbe-
halte behaftet seyn, noch Etwas beyzufügen, welches in der jetzt voll-
zogenen Setzung nicht enthalten sey.
Aus einer endlichen Menge des Realen wird aber, vermöge der Con-
struction der Materie, auch von dieser letztern nur ein bestimmtes Quan-
tum gebildet werden.
Soll also die Welt dennoch unendlich ausgedehnt [337] seyn im Räume:
so mufs man, beym Mangel einer unendlichen Masse, zu unendlichen
leeren Zwischenräumen seine Zuflucht nehmen. Solche würden eine un-
endliche Zeit erfordern, damit das Getrennte zusammen käme. Und hie-
gegen ist insofern nichts einzuwenden, als man die Bewegungen rückwärts
und vorwärts ins Unendliche verlängert denken mufs. Der unendlichen
Vergangenheit oder Zukunft mag unendliche Entfernung entsprechen. Nur
mufs man nicht sagen, dafs Jetzt, oder in irgend einem bestimmten Zeit-
puncte, die Welt unendlich grofs sey im Räume. Denn das hiefse den
Raum, die Form der Zusammenfassung, dazu misbrauchen, um statt der
Möglichkeit des Zusammen eine Unmöglichkeit auszudrücken, indem, was
erst in unendlicher Zeit geschehen kann, niemals geschieht. Möglich ist
das Zusammen des Realen: daher ist in jedem bestimmten Zeitpuncte
die Weltgröfse endlich. Gleichwohl ist die Welt nicht in Grämen ein-
geschlossen ; — - denn die Bewegungen nehmen sich so viel Raum wie sie
brauchen.
§• 301.
Merklich schwerer ist die Entscheidung der andern Frage: ob das
Quantum der nacheinander folgenden Ereignisse auch endlich seyn müsse,
und ob dem gemäfs die Reihe der Begebenheiten nothwendig irgend einen
Anfang gehabt habe ? Die Summe des zairklichen Geschehens kann nicht
unendlich seyn, aber der Eintrit jedes wirklichen Geschehens fällt nicht
anders in die Zeit, als so, wie das Reale in den Raum fällt; das heifst,
diese Vorstellungsarten werden nur zufällig darauf übertragen.
Die absolute Position verträgt keine Halbheit. Setzt man irgend
einen ersten Zusammenstofs : so mufs man die vorgängigen Bewegungen
rückwärts ins Unendliche construiren; man kann sie nicht irgendwo ab-
brechen. [338] Dies ergiebt zwar nur einen objeetiven Schein; aber die
Consequenz mufs doch vestgehalten werden; und man findet also für die
Dauer des Realen keinen Anfang.
Andererseits könnte man, blofs unter Begriffen verweilend, den ersten
Zusammenstofs sparen. Alles Reale könnte in einem Maximum der mög-
lichen Durchdringung sich ursprünglich befinden; dann bliebe es unbeweg-
3.Abschn.Synechologie. 2. Abth. V.obj.-scheinb. Geschehenetc. 5. Cap. V.Schein etc. 197
lieh) und es flösse gar keine Zeit. Dennoch ergäbe diese Voraussetzung
die gröfste Summe der möglichen Selbsterhaltungen, oder des wirklichen
Geschehens. Eine endliche Summe, für das endliche Quantum des Realen.
Und nun kann davon dasjenige Geschehen, das wirklich in unserer Welt
vorgeht, nur ein Theil seyn.
Jene bevden Voraussetzungen sind ein paar Extreme, die Niemand
ernstlich für wahr halten wird. Wir wollen aus ihnen eine mittlere An-
nahme zusammensetzen. Einiges Reale sey ursprünglich zusammen, an-
deres sey getrennt. Irgend einmal stofse zuerst ein Getrenntes auf das-
jenige, was schon zusammen ist; so giebt es also zwar einen ersten Stofs,
aber kein erstes Zusammen. Nun mufs man die Bewegung, welche dem
Stofse voranging, rückwärts ins Unendliche verfolgen. Aber für jeden Ort,
den das Bewegte vorher einnahm, und für alle Zeitpuncte, welche den
verschiedenen Orten entsprechen, entsteht die Frage: ob denn damals
schon jenes verbundene Reale zusammen gewesen sey? Die Frage kann
nur bejahend beantwortet werden: dennoch würde ein solches Damals gar
keinen Sinn haben, wenn es auf das verbundene Reale, in welchem zwar
Selbsterhaltungen Statt fanden, aber ohne Wechsel, ernstlich und für sich
allein sollte bezogen werden. Wo kein Wechsel, da ist keine Zeit. Hin-
gegen während Einiges wechselt, mufs vergleichungsweise Anderem die
Dauer zugeschrieben werden. Bringt man einmal die Zeit in Frage, so
ist kein Theil derselben leer vom wirklichen [339] Geschehen; zieht man
aber die Summe dieses Geschehens, so ist sie dennoch endlich; weil sich
das wirkliche Geschehen nicht nach Zeittheilen zusammensetzt.
Man kann nun die Voraussetzung noch unendlich mannigfaltig ab-
ändern, wenn man das unvollkommene Zusammen zu Hülfe nimmt; dessen
Folgen man einigermafsen aus der Lehre von der Materie, jedoch bey
weitem nicht vollständig kennt, und niemals vollständig kennen wird. So
viel aber sieht man leicht, dals immer eine endliche Summe des wirklichen
Geschehens (dessen Modifikation durch die gegenseitigen inneren Hem-
mungen hier aus der Psychologie herbeygerufen werden könnte) sich in
eine unendliche Zeit ausbreitet, daher zugleich die Endlichkeit dem Wirk-
lichen, die Unendlichkeit dem objeetiven Schein zu Theil wird; und durch
Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Schein die Schwierigkeit der
abgelaufenen unendlichen erfüllten Zeit gehoben wird.
[34°] Vierter Abschnitt.
Eidolologie.
Erstes Capitel.
Idealistische Metaphysik im Allgemeinen.
§• 3°2-
„Gesetzt, ein Beobachter stehe auf einem solchen Standpuncte , dafs
er die einfachen Qualitäten nicht erkennt, wohl aber in die verschiedenen
Relationen des A, B, C, D, selbst verwickelt wird, so bleibt ihm nur das
Eigenthümliche der einzelnen Selbsterhaltungen, nicht die beständige Gleich-
heit ihres Ursprungs und ihres Resultats bemerkbar. Dies ist der Stand-
punct des Menschen, dessen verschiedene Empfindungen nichts anderes
sind, als die verschiedenen Selbsterhaltungen der Seele, die sich selbst
nicht sieht, und nichts davon weifs, dafs sie in allen ihren Empfindungen
sich selbst gleich ist; und vollends nichts davon, dafs diese ihre Zustände
abhängen vom Geschehen in zusammentreffenden Wesen aufser ihr, deren
eigene Selbsterhaltungen ihr auf keine Weise bekannt werden können."
[341] In diesen Worten ist schon gegen das Ende der Ontologie
(§. 236) der wesentliche Inhalt der Eidolologie angedeutet.
In der Eidolologie nämlich soll Rechenschaft gegeben werden von
der Möglichkeit des Wissens. Wie kommen wir zum Gegebenen? Mit
welcher Sicherheit erkennen wir durch dasselbe die realen Wesen und
uns selbst?
Darauf ist die kurze Antwort: die gegebenen Empfindungen sind
Selbsterhaltungen der Seele; das Empfundene ist nur Ausdruck der innern
Qualität der letztern; aber die Ordnung und Folge der Empfindungen ver-
räth das Zusammen und Nicht-Zusammen der Dinge; daraus entsteht eine
geistige Ausbildung, worin zum Theil, mit grofsen Irrthümern vermischt,
aber auch der Berichtigung zugänglich, der Lauf der Begebenheiten sich
abspiegelt.
Aus der Psychologie wird man diese Sätze verstehen, und sie kaum
noch einer Erläuterung bedürftig achten. Dennoch ist der Sicherheit
wegen nöthig, die Untersuchung auszuführen. Der Idealismus ist ein Geg-
ner, den wir nicht verachten dürfen ; er stellt sich uns in den Weg, und
wir müssen uns waffnen.
4. Abschnitt. Eidolologie. i. Capitel. Idealistische Metaphysik im Allgemeinen, 199
§• 3°3-
Schon das erste Gegebene leidet eine gewisse Auffassung, die dem
gemeinen Verstände nicht natürlich ist, und deshalb den Philosophen wie
eine Entdeckung vorkommt, worauf sie mehr oder weniger Gewicht legen.
»Wenn Einer etwas weifs, so weifs er auch, dafs er es weifs, und er
weifs wiederum sein Wissen des Wissens, und so fort ins Unendliche.«
So meinte Spinoza (§. 54).
»Das: Ich denke, mufs alle meine Vorstellungen begleiten können;«
sprach Kant. Und weit umfassen- [3 4 2] der Fichte: ,,In aller Wahr-
nehmung nimmst du lediglich deinen eignen Zustand wahr."
So wird das Selbstbewufstseyn entweder eine allgemeine Beleuchtung
aller andern Vorstellungen, oder es soll gar derjenige Lichtstrahl seyn,
welcher sich durch mancherley Brechungen selbst in die scheinbaren Gegen-
stände verwandelt.
Kannst du sagen: ich bin mir äufserer Gegenstände bewufst?
»
Der Strenge nach könnte ich nur sagen: ich bin mir meines Sehens oder
Fühlens der Dinge beivufst.«
Diese Behauptung Fichtes ist der Ausdruck des gebildeten Selbst-
bewufstseyns, wie Derjenige es als innerlich gegeben vorfindet, welcher an-
fängt zu philosophiren. Dafs es nur ein Werk der Bildung ist, zeigt die
Psvchologie; aber ohne sie läfst sich die obige, für jede Stufe des geistigen
Lebens allgemein ausgesprochene Behauptung nicht zurückweisen. Niemand
kann in die früheren Perioden seines Lebens zurücktreten; und wollte
auch Jemand den Zweifel äufsern, Kinder hätten doch in früheren Jahren
nicht dies ausgebildete Bewufstsein, so würde man sogleich die Abferti-
gung hören, der Keim sey nur unentwickelt; in ihm liege aber die voll-
ständige menschliche Vernunft, also auch die Ichheit. Und wie Viele sind
stark genug, einer solchen Ausrede Widerstand zu leisten?
Das gebildete Selbstbewufstseyn mengt sich so unaufhaltsam in Alles,
dafs es sich selbst als allgegenwärtig und ewig erscheint, wiewohl es nichts
ist als ein Kind der Zeit.
Hiezu kommt die Entdeckung einer offenbaren Täuschung, welcher
man hingegeben war, so lange die sinnlichen Eigenschaften der Aufsen-
dinge, wie roth, kalt, süfs u. dergl. für inwohnende Bestimmungen der Gegen-
stände selbst gehalten wurden. Wer nun gewahr [543] wird, dafs er diese
vermeinten Eigenschaften blofs als seine eigenen subjectiven Zustände be-
trachten darf; wer noch überdies bemerkt, dafs Raum und Zeit nicht ein-
mal unmittelbar empfunden werden können (§. iöq); und wer die psycho-
logische Untersuchung vom Entstehen der Reihenformen aus Reproductions-
gesetzen nicht kennt : wie sollte der noch zweifeln, dafs alle Objecte, welche
aufser uns zu seyn scheinen, eigentlich, sowohl nach Materie als Form der
Erfahrung, in uns selbst liegen?
Diese Meinung wird verstärkt, wenn das Innere der Körper, unter
der Oberfläche, in der Erfahrung gesucht und vermißt wird, in welcher
es niemals vorkommen kann; ja wenn vollends die Substanzen und Ur-
sachen sollen nachgewiesen werden, und es sich nun verräth, dafs sie
hinzugedacht sind.
2QO I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Über dies Alles verweisen wir den Leser auf Fichtes Bestimmung
des Menschen, in welchem Werke der Idealismus die deutlichste, kürzeste
und reifste Darstellung seiner Grundzüge erhalten hat, die man wünschen
mag; und die besonders wegen der Sorgfalt zu empfehlen ist, womit sie
sich anknüpft an das unmittelbar Gegebene. Dagegen sind alle anderen
Formen des Idealismus, die mit willkührlichen Voraussetzungen anheben,
ohne wissenschaftlichen Werth. Je entschiedener sich die idealistische An-
sicht der Dinge von der gewöhnlichen entfernt, desto nothwendiger und
genauer mufs gezeigt werden, tueshalb sie einen unabweislichen Versuch
des menschlichen Denkens ausmacht.
In der Voraussetzung nun, die genannte Schrift sey in der Hand
des Lesers, machen wir auf einige Puncte besonders aufmerksam.
§• 304.
Erstlich; obgleich Wissen, Bewufstseyn, ja Selbst-[344]bewufstseyn,
das Element ist, in welches der Idealismus alle Gegenstände einzutauchen
strebt: so entgeht ihm doch nicht, dafs er eben hiedurch im eignen
Selbst eine unbewufste, unergründliche Tiefe eröffnet, aus welcher durch
unzählige, höchst mannigfaltige Verbindungen zwischen Fühlen, Anschauen
und Denken, alle scheinbar vorhandenen Gegenstände dergestalt hervor-
gehen müssen, dafs wir nur die Producte, nicht aber unser eigenes Pro-
duciren, gewahr werden. Ursprünglich und von selbst wissen wir nach
dieser Lehre keinesweges, was wir sind, und was wir thun, es gehört viel-
mehr ein ganz besonderer Aufschwung dazu, um in sich einzukehren, und
von der innern Productionskraft, wodurch die Scheinwelt entsteht, irgend
Etwas gewahr zu werden.
Auch behauptet der Idealist keinesweges, das eigne Selbst begreifen
zu können. Er bedarf in dem Ich einer entgegengesetzten Kraft, die
blofs gefühlt, aber nicht erkannt wird.* Er bekennt überdies, die Ein-
heit des Ich, welches Wissendes und Gewußtes zugleich ist, sey unbegieif-
lich; und des Moments, worin beydes sich trennt, könne man sich nicht
bewufst werden, da erst mit dieser Sonderung, und durch sie, das Be-
wufstsevn möglich werde.** Eine solche Dunkelheit im Centrum des
Lichts ist auffallend; und sie nimmt zu, je weiter man fortschreitet.
Anfangs, so lange es nur darauf ankommt, die Vorstellung äufserer
Gegenstände zu erklären, geht Alles, dem Anschein nach, leicht von Statten.
Denn alles Vorstellen, also auch jede Art des Vorstellens, ist ja in uns
selbst bevsammen; Gefühl, Anschauung und Gedanke. Die innere Agilität
des Geistes erscheint als [345] ein L?nieuziehe?i,*** und in ihrer ursprüng-
lichen Unbestimmtheit als Raum ; das Denken aber begränzt gewisse Räume
nach dem Maafse der Empfindung; zu diesem messenden und ordnenden
Denken, wodurch körperliche Massen gesetzt werden, kommt nun, um nach
dem Satze des Grundes die Affection in der Empfindung zu erklären, der
* Fichtes Wissenschaftslehre, S. 272.
** Fichtes Bestimmung des Menschen, S. 130.
*** A. a. O. S. 135.
4. Abschnitt. Eidolologie. i. Capitel. Idealistische Metaphysik im Allgemeinen. 201
Begriff der Kraft: „ich setze diese Kraft in den Raum, und übertrage sie
auf die raumerfüllende, angeschaute Masse.**"
Gegen das Ende aber kehrt sich die Geläufigkeit, alle Gegenstände
als blofse Producte des Vorstellens zu betrachten, gegen das eigne Ich.
„Bin ich mir denn Meiner, als eines intelligenten Wesens, unmittelbar be-
wulst? Wie könnte ich? Nur bestimmter Vorstellungen bin ich mir be-
wufst; keineswegs aber des Vermögens dazu, und noch weniger eines
Wesens, worin dies Vermögen ruhen soll. Ich denke es unbemerkt hinzu.
Der Gedanke von Identität und Persönlichkeit meines Ich ist eine noth-
wendige Erdichtung.***"
Hier verschwindet der Boden, auf welchem zuletzt Alles ruhen sollte.
„Alles Wissen ist nur Abbildung, und es wird in ihm immer etwas ge-
fordert, das dem Bilde entspreche. Diese Forderung kann durch kein
Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist nothwendig
ein System blofser Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck."
Ma^ nun immerhin der an sich selbst irre gewordene Idealismus
Trost beym Glauben suchen; wir schöpfen Verdacht, dafs sein Mifsgeschick
Gründe habe in sei-[346]nem falsch eingeleiteten Wissen. Aller Idealis-
mus betrachtet sich selbst als eine Umkehrung der gemeinen Ansichten;
er glaubt eine frühere realistische Philosophie verbessern zu müssen. Dem-
nach werden wir erst nachsehen, wie denn wohl derjenige Realismus be-
schaffen sevn mochte, den er umzukehren sich berufen hielt. Liefs dieser
Realismus sich umkehren: so war er unstreitig fehlerhaft; die Wahrheit
würde einer solchen Behandlung widerstanden haben. Zur idealistischen
Metaphysik gehört aber wesentlich ein Realismus, der beym Umkehren
keinen Widerstand leiset; und Fichte verschafft uns in dem angeführten
Werke gleich Anfangs den Vortheil, diesen Realismus in sorgfältiger Dar-
stellung vor Augen zu sehn.
§• 305-
Was sich vermuthen liefs (§. 98), nämlich dafs dieser Realismus im
Wesentlichen nichts anderes seyn würde, als Spinozismus, das findet sich
bestätigt.
Fichte beginnt; »ich ergreife die forteilende Natur in ihrem Fluge;«
— das heifst, er versetzt sich mitten ins Werden, ohne Unterscheidung
des wirklichen und scheinbaren Geschehens; wobey wir bemerken, dafs
jenes viel zu tief verborgen liegt, um im Fluge ergriffen zu werden; und
dafs also nur vom scheinbaren Geschehen die Rede seyn kann.
Nun eignet er zwar jedem Gegenstande eine völlige Bestimmtheit zu,
um der Verwechselung mit blofsen Allgemeinbegriffen vorzubeugen. „Aber
die Natur eilt fort in ihrer steten Verwandlung; indefs ich noch rede, hat
Alles sich verändert.1,1. Und warum? Wegen des allgemeinen und noth-
wendigen Mechanismus; den er folgendermaafsen beschreibt:
»Es ist, wenn ich die sämmtlichen Dinge als Eins, [347] „als Eine
Katar ansehe, Eine Kraft. Es sind, wenn ich sie als Einzelne betrachte,
* A. a. O. S. 155.
** A. a. O. S. 172.
202 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 182g.
mehrere Kräfte. Alle Gegenstände sind nichts anderes als jene Kräfte
selbst in einer gewissen Bestimmung. Und die Bestimmung liegt theils in
dem Wesen jeder Kraft, theils in ihren bisherigen Äufserungen, theils in
den Äufserungen aller übrigen Naturkräfte, mit denen sie in Verbindung
steht, aber sie steht, da die Natur ein zusammenhängendes Ganzes ist,
mit allen in Verbindung. Sie wird durch dies alles unwiderstehlich be-
stimmt. — Es giebt eine ursprüngliche Denkkraft in der Natur, wie es
eine ursprüngliche Bildungskraft giebt. Diese ursprüngliche Denkkraft des
Universums schreitet fort, und entwickelt sich in allen Bestimmungen, deren
sie fähig ist, so wie die übrigen ursprünglichen Naturkräfte fortschreiten,
und alle möglichen Gestalten annehmen. Ich bin eine besondere Bestim-
mung der bildenden Kraft, ivie die Pflanze; eine besondere Bestimmung der
eigen thü milchen Bewegungskraft, 'wie das Thier ; und überdies noch eine Be-
stimmung der Denkkraft: und die Vereinigung dieser drey Grundkräfte zu
Einer Kraft, zu Einer harmonischen Entwicklung macht das unterscheidende
Kennzeichen meiner Gattung aus; so wie es die Unterscheidung der Pflan-
zengattung ausmacht, lediglich Bestimmung der bildenden Kraft zu seyn.
— Gestalt, eigenthümlichc Bezvegung, Gedanke, hängen nicht etwa von ein-
ander ab; so dafs ich Gestalten und Bewegungen so dächte, weil sie so
sind, oder umgekehrt sie so -würden, zueil ich sie so dächte: sondern sie
sind allzumal die harmonirenden Kniwickelungen einer und derselben Kraft.
Ich bin nicht, was ich bin, weil ich es denke oder will; noch denke oder
will ich es, weil ich es bin; sondern ich bin und denke, bey-[348]des
schlechthin; beydes aber stimmt aus einem höhern Grunde zusammen. —
Mein Zusammenhang mit dem Natur-Ganzen bestimmt Alles, was ich war,
was ich bin, was ich seyn werde."
„Weg mit den vorgegebenen Einflüssen und Einwirkungen der äufsern
Dinge auf mich, durch die sie mir eine Krkenntnifs von sich einströmen
sollen, die in ihnen selbst nicht ist, und von ihnen nicht ausströmen kann.
Der Grund, warum ich etwas aufser mir annehme, liegt in mir selbst, in
der Beschränktheit meiner eigenen Person. Weil ich dies oder jenes, das
doch in den Zusammenhang des gesammten Seyns gehört, nicht bin, darum
mufs dasselbe aufser mir seyn; — so folgert und berechnet die denkende
Natur in mir. Meiner Beschränkung bin ich mir unmittelbar bewufst,
weil sie ja zu mir selbst gehört. Das Bewufstseyn des Beschränkenden,
— dessen, was nicht ich selbst bin, — ist durch das erstere vermittelt,
und fliefst aus ihm."
„In jedem Individuum erblickt die Natur sich selbst aus einem be-
sondern Gesichtspuncte. Es werden alle möglichen Individuen, sonach
auch alle möglichen Gesichtspuncte des Bewufstseyns wirklich. Dieses Be-
wufstseyn aller Individuen zusammengenommen macht das vollendete Be-
wufstseyn des Universum von sich selbst aus."
§• 306.
Das spinozistische Qualenus (§. 49) ist in der Aussage, die Natur sey
Eine Kraft, oder mehrere Kräfte, je nachdem man sie ansehe, unver-
kennbar. Eben so die harmonische, aber durch keinen gegenseitigen Ein-
liufs bedingte, Entwickelung der Attribute, welche das Wesen der Substanz
4. Abschnitt. Eidolologie. i. Capitel. Idealistische Metaphysik im Allgemeinen. 203
ausmachen. Desgleichen die Sorglosigkeit wegen der Frage: wie denn die
mehrern Attri-[34Q]bute, oder wie die reproductive, irritable, sensible Kraft
(um bekannte Ausdrücke zu wählen) Eins seyn können? Nicht minder
die Vermeidung der causa transiens, die bey FiCHTEn schon in dieser
realistischen Ansicht zur idealistischen Vorübung wird, indem die Möglich-
keit der Erkenntnifs nicht auf dem Einflüsse äufserer Dinge beruhen soll.
Denken begränzt hier das Denken, wie Körper den Körper; eine geringe
Verfeinerung des Spinozismus reicht hin, um die Entstehung des Wissens
aus Deutungen der eignen Beschränktheit zu erklären.
Kein gemeiner Realismus in der That ; aber dennoch ein nachlässiger !
Das Wort Kraft ist gemisbraucht worden, da es blofs den Repräsentanten
eines vielgespaltenen absoluten Werden ausmacht. Der Leser wird keine
Widerlegung verlangen; sonst müfste zur Einleitung in die Philosophie
zurückgewiesen werden.
Und wo liegt denn der Stein des Anstofses, um dessentwillen dieser
spinozistische Realismus verlassen wird? In der falschen und dennoch
dreisten Ontologie? In dem völligen Mangel der Methodologie und
Synechologie? Nichts weniger; dies alles erregt kein Bedenken; das Lehr-
gebäude wird ohne Fundament hingestellt, in Form von nackten Behaup-
tungen vorgetragen, und am Ende gepriesen, dafs es dem Verstände hohe
Befriedigung gewähre. Erst da entsteht in diesem Schlafe ein ängstlicher
Traum, wo von Tugend und Freyheit eine Erinnerung eintrit. „Tugend
und Laster sind unwiderruflich bestimmt; die Begriffe Verschuldung und
Zurechnung haben keinen Sinn. — Aber ich will selbstständig seyn; ich
will nach einem frey entworfenen Zweckbegriffe mit Freyheit wollen."
Dieses: ich will wollen, dient zum Motive, der Stimme des Idealis-
mus zu horchen; bis auch sie zu unwillkommnen Resultaten führt. „Alle
Realität ver\van-[35o]delt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein
Leben, wovon geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt.
Das Anschauen ist der Traum; das Denken ist der Traum vom Traume *.«
Und nun hilft der Glaube. Er hilft; denn er glaubt, was er will.
Dafs sein inneres Licht eine schimärische Welt beleuchtet, dafs er sich
mit blindem Eifer, ohne Kenntnifs der Bedingungen des Handelns, mit
falschen Begriffen von Natur und Geist, mitten ins Meer des Handelns
stürzt; — und ob er darin untergehen werde: - -■ das kümmert diesen
Glauben wenig. Dafs die Spaltungen des Glaubens noch weit häufiger
und unheilbarer sind, als die Spaltungen des Wissens: davon wollen wir
nicht weiter reden, sondern lieber hier abbrechen; und uns erinnern, dafs
die Bestimmung des Menschen ein populäres Werk seyn, und ein natür-
liches Schwanken des menschlichen Geistes im Bilde zeigen sollte.
§• 307-
Ernstlicher ist die Ähnlichkeit, welche der Idealismus selbst mit dem
Spinozismus annimmt, in der spätem Aniveisung zum seligen Leben. Be-
1 Das Anschauen ist der Traum vom Traume. SW. (Die Worte: „Das Denken
ist der Traum" fehlen.)
204 *" Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
kanntlich gilt sie Manchem für einen historischen Beweis von der Unhalt-
barkeit des Idealismus; und insofern dient eine kurze Erwähnung der-
selben unserm jetzigen Zwecke, obgleich wir weit entfernt sind, den
Spinozismus darum höher zu schätzen, weil der Idealismus bey ihm
aus und eingeht, und doch nicht Ruhe findet. Denn es fehlt viel daran,
dafs sich hier der Idealismus wirklich in Spinozismus versenkt, und auf-
gelöset hätte; vielmehr hat er ihn auf seine Weise neu erzeugt und ver-
ändert.
Gewitzigt und gewarnt durch sein früheres Misgeschick, da ihm selbst
die Realität des Ich verschwand, [351] die Möglichkeit des Handelns in
Gefahr gerieth,* die vermeinten Vernunftwesen aufser uns zu Producten
des eignen Vorstellens wurden, ** und nur vermöge einer Stimme des
Gewissens, die sich doch blofs auf ein zeitliches Handeln zu beziehen
schien, dem Glauben konnten empfohlen werden: beginnt der Idealismus
in der spätem Darstellung damit, den oben bemerkten Grundfehler des
Kantianismus (§. 32), dafs er den Begriff des Seyn zwar richtig bestimmt,
aber nirgends gebraucht, — zu verbessern. Wenn nämlich das Ver-
besserung heifsen kann, mit Parmexides schlechthin zu sagen: das Seyn
Ist, und es giebt nur Ein Seyn.***
Offenbar ist diese Verbesserung mit einem Fehler erkauft. Trotz
aller Betheuerungen verwandelt sich hier die anscheinend absolute Position
in eine Hypothese; die sich metaphysisch nicht vertheidigen läfst. Ein
Machtspruch ist keine absolute Position. Soll darin irgend ein Gehalt
liegen: so mufs das Gegebene aufgezeigt werden, in welchem unrcillkühr-
lich, für Alle, zu aller Zeit (und nicht erst im Geiste des Philosophen,
dem eben jetzt daran liegt, ein System zu machen), eine Position sich
vorfindet, die man umsonst versuchen würde, umzustofsen. Dahin führt
unser obiger Satz: zvenn Nichts Ist, so mufs auch nichts Scheinen; in Ver-
bindung mit dem andern: Wieviel Schein, soviel Hindeutung aufs Sern
(§. 198, 199). Abspringen vom Gegebenen heifst sogleich Hineinspringen
ins willkührliche Denken, dessen zahllose Kunststücke zu vermehren nicht
nöthig ist.
An die Einheit des Seyenden war übrigens der Ide-[352]alist ge-
wöhnt durch das Ich, aber diese Gewöhnung treibt ihn zu Mishandlungen
des Begriffs vom Seyn.
Obgleich er behauptet: das Sern ist einfach und sich selbst gleich, so
ist doch seine ganze nachfolgende Arbeit nichts als ein beständiges Ver-
stofsen wider diesen Satz.
„Durch ein Denken der völligen Einerleyheit des Seyn kommt man
blofs zu einem in sich verschlossenen und verborgenen Seyn." f Aber
man soll auch zum Daseyn, das heifst, zur Äufserung und Offenbarung
des Sevn, gelangen. Warum? — Das mufs man errathen aus der Be-
hauptung: Daseyn sey Bewufstseyn ; welches ausdrücklich als ein Seyn
* FlCHTEs Bestimmung des Menschen, S. 192.
** A. a. Orte, S. 306.
*** Fichtes Anweisung zum seligen Leben, S. ~, 8.
y Anweis. z. sei. Leben, S. 79.
4. Abschnitt. Eidolologie. i. Capitel. Idealistische Metaphysik im Allgemeinen. 205
außerhalb des nämlichen Seyns bezeichnet wird. „Das Seyn soll daseyn,
ohne mit dem Daseyn sich zu vermengen ; es mufs also von ihm unter-
schieden werden, und diese Entgegensetzung mufs in dem Daseyn selber
vorkommen; oder deutlicher: das Daseyn mufs sich selbst als blofses Da-
seyn fassen, erkennen, und bilden. Es mufs, sich selbst gegenüber, ein
absolutes Seyn setzen, dessen blofses Daseyn es eben selbst sey. Da/s
dem also sey, läfst sich einsehn; keineswegs aber kann das Wissen sein
eignes Entstehen begreifen, und wie aus dem innern, und in sich selbst
verborgenen Seyn eine Aufserung desselben folgen möge,* Vermöchte
der Begriff' sich selbst zu begreifen: so vermöchte er auch das Absolute
zu begreifen."** Der Zusammenhang dieser unzusammenhängenden Ge-
danken ist nun zwar nicht in ihnen selbst, wohl aber außser ihnen sehr
leicht zu finden. Das Seyn ist dem Bewulstseyn vorgeschoben worden.
Eigentlich wollte nur der [353] Idealismus, welcher gewohnt ist, vom Be-
wufstseyn, als dem Gegebenen, auszugehn, das Versinken ins Nichtige und
Leere, was ihm seiner Natur nach begegnet, vermeiden; darum setzt er
zuerst das absolute Seyn; alsdann knüpft er an dieses das Bewufstseyn;
aber er kann sich nicht verhehlen, dafs er hier nur einen Zusammenhang
gefordert hat, den er nicht einsieht, und dessen Unmöglichkeit vielmehr
aus dem wahren Begriffe des Seyn hervorleuchtet.
Nachdem aber einmal das Seyn, mit einem Daseyn behaftet, wie mit
einer Krankheit, — sich hütet vor der Vermischung mit ihm, als ob es
die Ansteckung blofs fürchtete, und noch nicht erlitten hätte: ist jedes von
beyden nur zu charakterisiren durch das andere; „da/s es nicht sey, was
das andere ist, und umgekehrt, dafs das audeie nicht sey, was dieses ist.***"
Und weiter: ,,das Beivußstseyn, als ein Unterscheiden, ist es, in welchem
das ursprüngliche Wesen des göttlichen Seyns, und Daseyns, eine Verwand-
lung erfährt. Das lebendige Leben ist es, was da verwandelt wird; und
ein stehendes und ruhendes Sevn ist die Gestalt, welche es in dieser
Verwandlung annimmt. Der Begriff ist der eigentliche Weltschöpfer."
Diese Worte verkünden deutlich genug den, in seinem Innern völlig gleich
gebliebenen, Idealismus. Damit aber Niemand den Spinozismus, mit wel-
chem er verkehrt, ganz vermisse: setzen wir noch eine spätere Stelle her:
„Was ist, in dem unendlichen Gestalten, das realiter und thätig Gestal-
tende? Das absolut-Reale ist es, welches Sich gestaltet; sich selbst, wie
es innerlich ist; nach dem Gesetze einer Unendlichkeit. Es gestaltet sich
[354] nicht Nichts, sondern es gestaltet sich das innere göttliche Wesen." f
§• 308.
Die Gewalt fühlbar zu machen, womit der Idealismus, um sich halten
zu können, einen erkünstelten Realismus in sich selbst hineinzwängt: dies
war der Zweck der vorstehenden Auszüge. Wer dürfte es wagen, irgend
einer Lehre solche innere Mishelligkeit zur Last zu legen, wenn nicht die
* A. a. O. S. 85.
** A. a. O. S. 109.
*** A. a. O. S. 107.
7 A. a. O. S. 225.
2o6 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Thatsache vor Augen läge, dafs eben Derjenige, der mit Recht als das
Haupt der Idealisten angesehen wird, sich dahin gedrängt fand, indem er
das Unhaltbare haltbar machen wollte?
Mit solcher Gewalt den zvahren Realismus umzukehren, ist nicht mög-
lich. Vielmehr blickt hier allenthalben derjenige Rest des gerneinen Realis-
mus durch, welcher auch im Spinozismus ist stecken geblieben. Ursprüng-
lich erscheinen die sinnlichen Dinge als Complexionen von Merkmalen.
Diesen ähnlich, ist Spinozas Substanz eine deutliche Complexion zweyer
Attribute. Und so glaubt denn auch der Idealist nichts Befremdendes zu
sagen, wenn er im Absoluten Seyn und Bewufstsevn verknüpft.
Ursprünglich erscheinen die Sinnendinge unendlich theilbar, aber die
Theile werden im gemeinen Denken und Handeln erst gemacht, nachdem
die Masse schon gegeben vorliegt. Auch erscheinen sie veränderlich in
der Zeit, und doch bedenkt sich Niemand, zu sagen: ihre Substanz be-
harre mitten im Wechsel. Wenn nun die Theilbarkeit erst hinzukommt,
nachdem die Masse schon da ist, — und wenn der Wechsel geschieht,
ohne die Substanz zu beschädigen: warum sollte denn nicht Spinoza, im
Unendlichen eine Fülle von endlichen [355] Dingen zulassend, auf den
Beyfall des gemeinen Verstandes rechnen? und warum sollte er nicht die
Substanz für ewig und unveränderlich erklären, trotz dem, dafs den end-
lichen Dingen bald diese, bald jene Sonderung und Zusammenfassung be-
gegnet. Wenn aber Spinoza das Alles thun darf, was hindert denn
FiCHTEn, die Reflexion für das spaltende Princip zu erklären, wodurch
eine Vielheit von Erscheinungen zu Stande komme? Die Eine, in sich
geschlossene und vollendete Welt bleibt ja in der absoluten und Einen
Grundform des Begriffs, und selbst nachdem die einzelnen Reflexionen im
wirklichen, unmittelbaren Bewufstsevn auseinandergetreten waren, kann man
noch in dem, sich darüber erhebenden, Denken die Grundform wieder
herstellen!*
Im gemeinen Vorstellen schreibt man den Dingen Kräfte zu, wenn
in ihnen ein innerer Grund des Wirkens, und zwar des regelmäfsigen,
unter entsprechenden Umständen unausbleiblichen Wirkens, gesucht wird.
So ist die Schwere die Kraft, womit die Körper zur Erde streben oder
gezogen werden; so ist der Magnetismus eine Kraft, zugleich sich zu rich-
ten und das Eisen herbeyzuziehn ; so hat jedes Saamenkorn eine Kraft
zu wachsen und Nahrungsmittel zu assimiliren. Warum sollte denn nicht
im Ich eine Kraft zu wollen und eine zu reflectiren, eine reale und ideale
Thätigkeit unterschieden werden ? Und wenn einmal dergleichen Kräfte,
Tendenzen, Thätigkeiten im Realen Platz haben, wenn der Begriff, dafs
durch sie etwas wird, was sonst nicht gewesen wäre, keinen Anstofs erregt,
wenn einmal die Worte Äufserung, Offenbarung, Spaltung etwas fürs Reale
bedeuten können: warum sollten denn nicht die Spaltungen ins Unend-
liche gehn, und [356] daneben noch, wie es FiCHTEn beliebt hat, in
ariderer Hinsicht eine fünffache Spaltung eintreten? Alles ist in diesem
Zusammenhange gleich gut und gleich schlecht; vom wahren Seyn, von
der einfachen Qualität, vom wirklichen Geschehen, von dem Unterschiede
* A. a. O. S. 117.
4. Abschnitt. Eidolologie. 2. Capitel. Vom Ich und Nicht -Ich als Thatsache. 207
zwischen ihm und dem objectiven Schein, — kurz, vom wahren Realis-
mus, ist hier nicht das mindeste zu spüren.
Wirklich also sind wir durch den Idealismus dergestalt zurückgeworfen,
dafs es scheint, wir müfsten die Metaphysik noch einmal von vorn an-
fangen.
[356] Zweites Capitel.
Vom Ich und Nicht -Ich als Thatsache.
§• 309-
„Ist es denn nicht wahr, dafs die Dinge erscheinen?"
So würde uns ein Idealist zuerst fragen, wenn er versuchen wollte,
uns zu seiner Lehre hinüberzuziehn. Durch diese Frage würde er uns
an die unleugbare Thatsache erinnern, welche nicht blofs dem falschen
Idealismus, sondern auch der wahren Eidolologie zum Grunde liegt.
Weiter würde er uns die Wahl lassen, ob wir den Dingen aufser uns
das Erscheinen beylegen wollten, wodurch sie gleichsam aus sich heraus-
sinsen, und zu uns kämen; oder ob wir lieber in uns selbst, wo die Er-
scheinungen sind, auch den Grund derselben annehmen möchten? Er
würde nämlich darauf rechnen, dafs wir das Aus-Sich-Heraus-Gehn der
Dinge, um zu erscheinen, nie deutlich machen könnten; indem kein Ding
et-[35/]was aufser sich, und gleichsam losgerissen von sich selbst, seyn
kann. Oder würden wir wirklich die alten Demokritischen sldoXa in der
Luft herumflattern lassen? Würden wir ihnen die vorgebliche Ähnlichkeit
mit denjenigen Dingen, von denen sie kämen, zugestehen; und würden
wir auf das gute Glück rechnen, welches uns nun gerade diese Bilderchen
zuführte, ohne nur zu fragen, wie wir es denn wohl anfangen wollten, sie
aufzufangen? Das Alles würde zu thöricht seyn, als dafs der Idealist
uns in Gefahr glauben sollte , der Thorheit noch anzuhängen , sobald
wir sie nur einsähen. Er würde nun unser Bekenntnifs erwarten, das Er-
scheinen könne unmöglich den Dingen zugeschrieben werden, als ob es
von ihnen käme; und diesem Bekenntnifs müfste dann ein zweytes
folgen, nämlich dafs der Grund aller Erscheinung ohne Zweifel in uns
selbst liege.
Wenn nun die erwarteten Bekenntnisse dennoch ausblieben: so
würde er mit uns in unsere Ontologie zurückgehn. Er würde uns fragen,,
ob wir nicht bey den Problemen der Inhärenz und Veränderung deutlich
genug selbst gesprochen hätten vom Erscheinen einer Substanz durch
mehrere Merkmale? Er würde uns zur Rede stellen wegen der dort ge-
gebenen Erklärung.
Gar keine Erklärung, würde er sagen, sey dort zu finden. Geschlossen
sey zwar, dafs, wo mehrere Merkmale, da erstlich ein Reales, zweytens
in demselben so viele Selbsterhaltungen gegen andre Wesen, als wie viele
Merkmale, angenommen werden müfsten. Aber der Schlufs erkläre auch
nicht einmal dem Scheine nach die Merkmale, sofern sie Vorstellungen
2o8 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
in uns seyen. Denn gar nichts sey darum in uns, weil ein paar von
uns verschiedene Wesen, jedes für sich, in den innern Zustand der Selbst-
erhaltung gerathe. Das sey höchstens etwas für die realen Wesen, in
denen es also ge-[358]schehe; aber wenn es sich so verhalte, so bleibe
doch itnsre Kennt7iifs davon ganz unberührt.
Dies nun würden wir einräumen; und ihn fürs erste weiter reden
lassen.
Wo der Sitz der Erscheinung (würde er fortfahren), da sey auch der
Sitz der Schlüsse, wodurch man versuche, sie zu erklären. Ohne Frage
nach irgend welchen bestimmten Gesetzen des psychologischen Mechanis-
mus, liege es am Tage, dafs die Schlüsse, so gut wie die Erscheinungen,
lediglich Ereignisse in uns selber seven; und daher werde es auf immer
vergeblich seyn, irgend eine Metaphysik so anzulegen, dafs in ihr auch
nur das Geringste auf äufsere Gründe gerechnet werde; indem sowohl
die Erklärung, als das zu Erklärende in der leeren Einbildung bestehe,
sobald es von aufsen zu kommen oder nach aufsen zu gehen Anspruch
mache.
Hierauf würden wir ihn auffordern, Erklärungen nach seiner Art zu
versuchen; wenn er nicht lieber vorher überlegen wolle, ob, und welchen
Vorrath an Erklärungsgründen er wohl in dem eignen Selbst voraussetzen
müsse, um in demselben den grofsen Bildersaal, den wir die Welt nennen,
zu eröffnen.
Hätte er nun irgend etwas von unserm ganzen bisherigen Vortrage
verstanden, — gleichviel zuas, und wie wenig es auch seyn möchte, —
so müfste er sogleich die Verlegenheit ahnden, in welche ihn selbst die
mindeste Regung, welche er des Erklärens wegen unternehmen könnte,
riothwendig versetzen müfste.
Gesetzt aber, jetzt hielte er sich zurück: wäre uns dadurch geholfen?
Auch wir sind, wie es scheint, in Verlegenheit. Wir können die Thatsache
des Wissens, — sey es wahres oder nur vermeintes Wissen, — nicht
ableugnen. Kann jener sie nicht von innen heraus erklären, ohne sich
sogleich in Widersprüche zu ver-[359]wickeln, so müssen wir um so mehr
die Bahn brechen. Dieses aber fordert vor allen Dingen, dafs wir nach-
sehn, was denn eigentlich zu erklären vorliegt. Die Thatsache, das Ge-
gebene, darauf kommt es zuerst an, wenn wir nicht in ein ganz leeres
Denken verfallen wollen.
§• 3io.
Schon oben, als wir vom Gegebenen sprachen (§. 169), mufs die
Thatsache erwähnt seyn, welche wir jetzt brauchen, und welche früher
absichtlich zur Seite liegen blieb. Unter den Formen der Erfahrung, die
wir von deren Materie unterschieden, war es eine; und zwar die letzte,
die wir nannten. Wir stellten sie ans Ende, weil sie zu den übrigen —
den Formen des Raums, der Zeit, der Inhärenz, der Veränderung, — in
der That erst hintennach hinzukommt. Ja sie kommt sogar zu sich selbst
hinzu; und wird eben deshalb im gemeinen Leben nur unvollständig auf-
gefafst. Es ist diejenige, worauf mit der gröfsten Unbehutsamkeit der
geistigen Kraß begründet wird, als ob es genug wäre, eine Classe von
4. Abschnitt. Eidolologie. 2. Capitel. Vom Ich und Nicht- Ich als Thatsache. 20Q
innern Ereignissen zu bemerken, um hiemit schon von der Existenz einer
Kraft überzeugt zu seyn. Wir reden hier von der vermeinten Kraft der
Reflexion.
Auf jedes Gegebene kann refieciirt werden als auf ein Gegebenes.
Diese Thatsache findet sich im gebildeten Bewufstseyn vor. Steigt die
Bildung bis zum Philosophiren: so erzeugt sich allmählig eine Leichtigkeit,
auf das Reflectiren wiederum zu reflectiren ; und dies geht bis ins Un-
endliche. Man sagt sich, dafs man wisse; man sagt sich auch, dafs man
wisse von seinem Wissen, und so fort.
Es wird überdies ein Punct angenommen, in welchem alles Gewufste
beysammen sey, und mit ihm das Wis-[3Öo]sen vom Wissen, bis ins
Unendliche. Dieser Punct heifst Ich. Ich zveifs von Mir, dies gilt nun
für das Gewisseste im ganzen Gebiete des Wissens, denn — Ich bin mir
selbst der Nächste; nichts Anderes ist mir in meinem Wissen so unmittel-
bar und so beständig gegenwärtig.
Zu diesem Puncte wird hinzugedacht das Seyn. Daher der Satz:
Ich bin. Mit welchem Rechte das geschehe, wird nicht untersucht; dafs
ein geheimer, höchst verwickelter psychologischer Mechanismus diese Re-
flexionen möglich macht, so weit sie möglich sind, — im Gebildeten,
nicht im Rohen und Wilden; im Menschen, nicht im Thiere, — dies
wird entweder gar nicht einmal geahnet, oder doch so schlecht überlegt,
als ob man wirklich in die rohen Menschen und in die Thierseelen hin-
eingeschaut, und einen specifischeu Unterschied zwischen beyde gefunden
hätte. Eine Kraft mehr im Menschen, als in irgend einem Thiere!
Personen, welche wissen, wie viel dazu gehört, um scharf zu beob-
achten, sollten nun freylich einsehn, dafs in diesem Puncte gar keine
genaue Beobachtung möglich, und die Gefahr einer Selbsttäuschung hier
um desto offenbarer ist, weil Niemand sich auf die Frage bestimmt ant-
worten kann: wer er denn eigentlich sev?
Zwar die gemeine Unvorsichtigkeit findet es höchst leicht, ein Ich
und ein Nicht -Ich einander entgegen zu setzen. Aber Fichte brauchte
einmal den sehr bekannt gewordenen Ausdruck : die meisten Menschen
würden sich eher für ein Stück Lava im Monde halten , als für ei?i Ich.
Konnte er denn mit entschiedener Sicherheit von diesem Princip ausgehn,
wenn es so leicht verschieden gedeutet, so schwer einstimmig aufgefafst
wird? Dazu sind wenigstens Vor-[36i]bereitungen nöthig, um die That-
sache gehörig zu bestimmen.
Die gemeine Auffassung scheidet nicht den Leib vom Geiste ; erst
dem Denker fällt der Leib ins Nicht -Ich. Aber auch dem Denker noch,
— und selbst Fichteii, — gehört zum Ich ein Trieb, der sich aufs
Handeln richtet; ein Sitz des Wollens und Fühlctis ; ein Gemilth. Gleich-
wohl, wenn der Begriff des Ich streng soll gefafst werden, so kann man
diese Bestimmungen nicht zulassen. Sie sind kein Wissen, kein Reflectiren;
sie gehören vielleicht mit in den Punct, worein unter andern auch das
Wissen, und das Wissen des Wissens gesetzt wurde; aber es ist nicht
unmittelbar klar, ob sie darin nicht vermöge einer blofs zufälligen Anhäu-
fung beysammen sind.
Herbart's Werke. VIII. 14
2io I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfangen etc. 1829.
"Während nun diese ganze Auffassung sich sehr schwankend zeigt:
können wir eben deswegen uns nicht gegen Fichtes Grundsätze in der
Wissenschaftslehre erklären, welche so lauten: Das Ich setzt Sich; es setzt
ein Niclit-Icli sich entgegen; es setzt beydes als gegenseitig durch einander
beschränkt. Mag die Scheidung des Ich und Nicht -Ich insofern unsicher
seyn, als die Scheidungslinie vom Einen hier, vom x\ndern dort gezogen
wird: sie wird dennoch von jedem Menschen gemacht; und wir müssen
sie im Allgemeinen anerkennen ; soviel sehen wir schon hier.
Folglich ist im Ich mancher/er beysammen; theils eine zusammenge-
setzte, wenn auch noch nicht streng begränzte, Vorstellung von dem, was
zum Ich gehöre, theils noch weit mannigfaltigere, und durchaus nicht in
eine bestimmte Sphäre eingeschlossene Vorstellungen von andern Gegen-
ständen; ungefähr so wie die Dinge selbst gefunden werden, die auch
nach den Umständen mehr oder weniger Eigenschaften zu haben scheinen.
[362] Und was ergiebt sich daraus für den Gang der Untersuchung?
Das Ich ist eine Comple.vion von Merkmalen; es fällt demnach unter den
logisch höhern Begriff eines Problems, das wir schon kennen, des Problems der
Inhärenz.
Hier ist also nicht etwan Aussicht zu einer ganz neuen Metaphysik,
sondern Anweisung, man solle das Ich einer schon geführten Untersuchung
unterordnen. So sagt die wissenschaftliche Überlegung, ungeachtet aller
idealistischen Begeisterung.
§• 3".
Anzuerkennen, dafs es für das Ich einen logisch höhern Begriff gebe;
einzuräumen, dafs eine früher geführte Untersuchung, wobey an das Ich
gar nicht gedacht wurde, etwas darüber zu entscheiden haben könne : dies
wird dem Idealisten äufserst schwer fallen.
Fichte behauptete einst: man dürfe der Wissenschaftslehre — und
das hiefs bey ihm, der Lehre vom Ich, — keinen einzigen logischen
Satz, auch den des Widerspruchs nicht, als gültig vorausschicken. Hin-
gegen müsse jeder logische Satz, und die ganze Logik, aus der Wissen-
schaftslehre bewiesen werden. Es müsse gezeigt werden, dafs die in ihr
aufgestellten Formen wirkliche Formen eines gewissen Gehalts in der
Wissenschaftslehre seyen. Abstraction und Reflexion sollten aus ihr die
Logik entnehmen.* So weit ging das Vorurtheil des Idealisten, nur in
seinem Gedankenkreise sey ursprüngliche Wahrheit.
Aber die Logik hat sich vor Jahrtausenden, nicht aus Betrachtungen
über das Ich, sondern aus den damaligen Philosophemen mancherley Art,
abgesondert, [363] und ist eine selbstständige Lehre geworden, vermöge
ihrer innern Evidenz.
Uns interessirt nun hier nicht diese ganze Lehie, sondern nur das,
in ihr vorgezeichnete, Verhältnifs der Unterordnung eines Begriffs von
gröfserem Inhalte unter einen andern, der eben deswegen, weil ihm von
eben diesem Inhalte nur ein Theil angehört, einen gröfseren Umfang be-
sitzt. Was im Allgemeinen von diesem, das gilt insbesondere von jenem.
FICHTE über den Begriff der Wissenschaftslehre, S. 46.
4. Abschnitt. Eidolologie. 2. Capitel. Vom Ich und Nicht -Ich als Thatsache. 211
Durch diese Unterordnung erwächst den Wissenschaften ein ähnlicher
Vortheil, wie der bürgerlichen Gesellschaft durch Gesetze. Die Gerech-
tigkeit erhebt sich dadurch über den Verdacht der Parteylichkeit und der
Befangenheit.
Wir haben in der Ontologie die Probleme der Inhärenz und der
Veränderung untersucht; wir haben in der Synechologie gesehen, wie sich
einfache Elemente in diejenige räumliche Verbindung versetzt finden
können, die man Materie nennt. Dafs in keinem Realen ursprünglich ein
Mannigfaltiges liegen könne, hatten wir vorher gezeigt.
Jetzt wende man diese Untersuchungen an. Das Ich, noch vor ge-
nauerer Betrachtung seiner eigenthümlichen Merkmale, zeigt sich als eine,
der Veränderung unterworfene, Complexion von Merkmalen. Was daraus
folgen müsse, ist leicht zu finden, und darf unter Voraussetzung der früher
gewonnenen Einsicht, nicht mehr geleugnet werden.
§• 312.
Man bediene sich also nach §. 220 nun der Begriffe der Substanz
und der Ursache. Die Substanz, welche wegen des Ich mufs gesetzt
werden, heifst nach gemeinem und unverwerfiichem Sprachgebrauche die
Seele. In ihr giebt es keine Attribute; denn es [364] giebt überhaupt
keine solche. Sondern wie viele Merkmale, so viele Ursachen. Das heifst
hier: die Seele ist nicht ursprünglich eine Reflexionskraft, ein Trieb u. dergl.
Sie ist auch nicht zusammengesetzt aus realer und idealer Thätigkeit, wie
Fichte wollte. Vielmehr mufs ihrer ganzen geistigen Mannigfaltigkeit eine
hinreichende Menge und Bestimmung eines vielfältigen Zusammen mit
andern und wieder andern realen Wesen vorausgesetzt werden. Dieses
ist nunmehr vollständig bewiesen; und diese Lehre der Eidolologie ist die
erste metaphysische Grundlehre der gesammten Psychologie. Obgleich
aber der Beweis keiner neuen Stützen bedarf, sondern lediglich der Sub-
sumtion des Ich, wie es als gegeben vorliegt, unter die Lehrsätze der
Ontologie: so kann es, und wird sich dennoch finden, dafs noch beson-
dere Bestätigungen nachkommen, wann der besondere, eigne Inhalt des
Begriffs vom Ich wird genauer untersucht seyn.
Hier ist nur noch des Sprachgebrauchs wegen zu merken, dafs die
Nebenbedeutung des Wortes: Seele, als sey sie das Belebende des Leibes
(die Aristotelische Entelechie), durchaus mufs entfernt gehalten werden.
Der Begriff hievon steht mit dem geführten Beweise nicht in der min-
desten Verbindung; und ist an sich völlig falsch.
§• 313-
Unbestimmt aber ist das erhaltene Resultat noch insofern, als man
nicht genau weifs, auf welche Complexion von Merkmalen man es eigent-
lich beziehen soll. Hier müssen wir zurückkehren zum Gegebenen ; und
nachsehn, ob sich etwa das Ich vom Nicht-Ich genauer als bisher werde
scheiden lassen ? Denn obgleich vor Augen liegt, dafs das Ich irgend eine
Complexion von Merkmalen ist, so blieb doch oben (§. 310) die Um-
gränzung dieser Complexion noch schwankend.
14*
2i2 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
[365] Wir wollen nun die Untersuchung so führen, dafs wir dabey
auf zwey ganz entgegengesetzte Systeme, das von Fries und von Fichte,
zugleich Rücksicht nehmen; überdies aber sie dergestalt ordnen, dafs wir
sogleich noch eine logische Subsumtion, ähnlich der im vorigen §. gewinnen.
Fries bemerkt: „das Verhältnifs von Ursach und Wirkung in dem
thätigen Ich ist das einzige ganz unmittelbare seiner Art, dem kein anderes
in unserer Erkenntnifs gleich kommt. Das Wesentliche des Lebens be-
steht in einem Handeln ohne Behandeltes, einer Thätigkeit nur in sich
selbst, durch die Nichts wird, als nur die Handlung selbst; wie dies z. B.
im Vorstellen und Erkennen der Fall ist. Alle äufseren Bewirkungen
bestehen darin, dafs eine Ursach den Zustand eines andern Dinges ver-
ändert; dafs die Accidenzen eines Körpers durch die Kräfte verändert
werden. Wenn z. B. ein Körper die Bewegung eines andern verändert,
so ist nicht nur das Anziehen des Ziehenden , sondern noch veränderte
Bewegung des Angezogenen vorhanden. Bey der unmittelbaren innern
lebendigen Thätigkeit des Vorstellens giebt es hingegen kein solches Be-
handeltes, sondern nur Handlung rein für sich." *
Wir wollen ihm die Auslegung lassen, die er hievon macht; und so-
gleich die wahre aufsuchen. Gewifs wird das Wort Handeln, oder Thäligseyn,
hier in ganz anderm Sinne gebraucht, als bey irgend einer causa tran-
siens. Wenn ein Körper gegen den andern Attraction auszuüben scheint :
so kennen wir den Zusammenhang dieses Ereignisses aus § 26g. Die
äußere Lage mufs sich richten nach dem innern Zustande. Dies giebt
dem Zuschauer, falls ein sol-[3Ö6]cher da ist, den objectiven Schein der
Bewegung, ein scheinbares Causal -Verhältnifs. Entgegengesetzt demselben ist
das wahre Geschehen; welches rein innerlich vorgeht, wiewohl jedesmal
zwiefach, indem zwey reale Wesen, jedes gegen das andere sich selbst erhalten.
Demnach hat uns Fries in seiner Beschreibung eines Handelns ohne
ein Behandeltes , dergleichen das Vorstellen seyn soll, nichts anderes ge-
sagt als: Vorstellunge?i sind die Selbsterhaltungen der Seele. Dies mufsten
wir aus dem vorigen §. ohnehin erwarten. Wenn die Seele mit andern
und andern Wesen (mittelbar oder unmittelbar) zusammen ist: so müssen
in ihr Selbsterhaltungen vorgehn; diese sind für sie selbst ein blofs inneres
Thun; denn von den zugehörigen Selbsterhaltungen der andern Wesen
fällt nichts in sie hinein, und sie kann unmittelbar davon nicht das Min-
deste merken.
Dafs nun auch dieser zweyte Hauptsatz noch vielen nähern Bestim-
mungen entgegengeht, versteht sich von selbst. Wir haben aber nun
schon beynahe die ganze metaphysische Grundlage der Psychologie ; welche
dort nur konnte angezeigt, nicht bewiesen werden. ** Denn es fehlte dort
an den Prämissen des Beweises.
§• 3M-
Fries und Fichte veranlassen uns in den nähern Bestimmungen
ihrer Auffassung des geistigen Lebens zu einer und derselben Bemerkung.
* Fries, Metaphysik, S. 397.
'*■"■ Psychologie I, §. 31. (Bd. V vorl. Ausgabe.
4. Abschnitt. Eidolologie. 2. Capitel. Vom Ich und Nicht -Ich als Thatsache. 213
Beyde sind so einseitig, dafs keiner den andern widerlegen kann; und
beyde bleiben stecken in Widersprüchen.
Fries sagt : Ich bin das innerlich Thäligc in der Zeit. Er nimmt also
das Ich als Individuum; [367] und man kann ihm die Möglichkeit dieser
Auflassung nicht ableugnen, ungeachtet dadurch ein ungeheures Nicht-Ich
(wenn man die Begriffe streng nimmt) ins Ich versetzt wird. Der Mensch
findet sich wirklich als thätig und leidend , folglich in ungetrennter Be-
ziehung auf die Dinge, mit denen er in Wechselwirkung steht.
Zwar versucht auch Fries hier noch eine feinere Scheidung; aber
sie mislingt ihm aufs äufserste. Er hat ein reines Selbstbewufstseyn, dafs
ich bin, und daneben einen innern Sinn, wie ich bin. Eine Trennung,
wie die des Seyn und der Qualität; die nur ein Spiel in Begriffen dar-
bietet, während das Seyende nothwendig durch beyde verbundene Begriffe
zugleich gedacht wird. Das Sevn für sich wird durch absolute Position
vorgestellt; was ist und was heifst nun Position ohne Gesetztes? Und wie
sollten wohl die beyden Chimären, innerer Sinn und reines Selbstbewufst-
seyn, in Verbindung treten, wenn sie ursprünglich getrennt wären ? Dieses
Verfallen in leere Abstractionen ist ein solches, wogegen wir gleich An-
fangs (§. 160, 167) gewarnt haben.
Mit seinem reinen Selbstbewufstseyn, welches setzt ohne Gesetztes,
können wir nun gar nichts anfangen; wir müssen uns halten an seinen
innern Sinn, der wenigstens weifs, wovon er uns berichtet. Natürlich findet
dieser alles das Mannigfaltige, was man aus der empirischen Psychologie
kennt, auf einmal, aber zufällig, beysammen ; statt dafs es nach Fichtes
Weise allmählig, als Bedingung des Selbstbewufstseyns, im nothwendigen
Zusammenhange hätte deducirt werden müssen. Wer nun nicht verlangt,
von diesem nothwendigen Zusammenhange etwas zu begreifen, wer zu-
frieden ist, wenn ein Aggregat von Seelenvermögen herauskommt, der wird
ohne Zweifel fragen, wozu es denn hätte helfen, und was es hätte bedeuten
sollen, die Au-[3Ö8]gen anfangs absichtlich zuzudrücken, als ob man die
Thätigkeiten der Einbildungskraft, des Verstandes, des Begehrungsvermögens,
nicht eben so deutlich vor sich liegen sähe, wie das Selbstbewufstseyn ? —
Er wird sagen : Alles Gegebene, ivas ich zugleich vorfinde, das stelle
ich ohne Umstände zusammen, und erzähle, wie es beschaffen ist, oder doch,
unter welche Begriffe es nach meiner Ansicht fallen müsse. Nun finde ich in
mir nicht blofs ein Ich, sondern einen vielfach reizbaren und thätigen Geist;
dessen Beschreibung viel Mehr erfordert, als die blofse Erwähnung des
Selbstbewufstseyns. Auch habe ich schon bey Gelegenheit der Körperwelt
allerley Causalbegriffe, nach damaligem Gutfinden, vestgestellt ; als da sind
Gruiidkrafte und abgeleitete Kräfte, vollständige und unvollständige Ur-
sachen, Vermöge?!, Triebe, Erregbarkeiten, Reiz u. dergl.* Obgleich ich
nun niemals diese Begriffe einer kritischen Untersuchung unterworfen habe,
ob sie etwas bedeuten können, oder ob sie innerlich ungereimt sind : so
brauche ich sie doch wenigstens für die Sinnenwelt, die ja nur Erschei-
nungen enthält. Nun bin ich an diesen Gebrauch einmal gewöhnt, also
fahre ich fort sie anzuwenden in der Sphäre des innern Sinnes, der ja
* Vergleiche Fries, Metaphysik. §. 63.
2i4 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
auch nur das Zeitliche sieht. Ob nun der Begriff des Geistes, den ich
auf solche Weise bestimme, mehr als ein Gedankending werde, das kann
ich nicht behaupten. „Der innern Erfahrung wird der Geist, als ihr zeit-
licher Gegenstand, ein andauerndes, einzelnes, lebendiges Wesen, dem wir die
Vermögen seiner innern Thätigkeiten zuschreiben , welches wir in Gegen-
wirkungen mit der Kürperwelt und vermil-[^6g]lelst dieser als Person in
geselligen Verhältnissen mit Seinesgleichen finden."*
So massenweise fafst Fries die Erfahrung! Dafs er nun kein ein-
zelnes Problem aus der Masse herausheben, und es genau untersuchen
kann, versteht sich von selbst. Aber eben dies Zugreifen, um die ganze
innere Erfahrung auf einmal in Beschlag zu nehmen, dünkt die Meisten
besser, und dem Gegenstande angemessener, weil sie gewohnt sind, es
eben so zu machen.
Und zu dieser Ungenügsamkeit gehört eine desto gröfsere Genügsam-
keit auf der andern Seite. „Als Geist bin ich ein einzelnes, individuelles
Subject, welches sich in keine Vielheit von Subjecten auflösen läfst. Hie-
mit wird aber nicht eine einfache, geistige Substanz, sondern nur Einzelnheit
eines Dinges vorausgesetzt, wovon eine dauernde Form wechselnder Substanzen,
z. B. eine Organisation, schon ein Analogon ist.1'**
Späterhin aber trit an die Spitze der Ideenlehre der Grundsatz:
„Jeder Mensch hat das Vertrauen zu seinem Geiste, dafs er der Wahrheit
empfänglich und theilhaft sey."*** Das Scheinsubject, weiches mit dauernder
Form wechselnder Substanzen verglichen werden durfte, soll ein Gefäfs
werden für Wahrheit? — x\ber noch mehr! „Wir nennen die Geisteszvelt,
der ewigen Wahrheit nach, das Reich der Zwecke." f Und ferner: „Die
Geisteswelt ist uns die Welt der ewigen Wahrheit; und jeder Gebrauch der
Ideen verliert sich in bedeutungslose Phantasien, [37°] sobald er zu etwas
ander m als zur Anerkennung der Selbstständigkeit des Geistes verwendet wird."
§• 315-
Wenn ein höheres Wesen, als unbefangener Zuschauer, auf den
Menschen herabblickt, so mufs es ihm ohne Zweifel auffallen, wie seltsam,
und mit sich uneins, der Mensch sein eignes Ich bald hoch, bald niedrig
schweben sieht; und wie er. um Sich zu fassen, bald nach dem Schein,
bald nach der Wahrheit greift.
Wir selbst sind solche Zuschauer; und sehen ohne Mühe, dafs mit
blofser Subsumtion unter frühere Lehren, wie dergleichen vorhin (§. 312,
313) vorkamen, die Eidolologie sich nicht begnügt; dafs es uns vielmehr
noch die Auflösung eines eigenen Widerspruchs kosten wird, den Begriff
.des Ich richtig zu bestimmen.
Allein wir nehmen uns Zeit, um genauer zu erfahren, auf welche
Weise denn wohl Fries dem Geiste die Vermögen seiner innern Thätig-
* A. a. O. §. 79.
** A. a. O. §. 79.
** A. a. O. §. 89.
| A. a. O. §. 91.
4. Abschnitt. Eidolologie. 2. Capitel. Vom Ich und Nicht-Ich als Thatsache. 215
keit zuschreibe ? Kann er den Begriff einer Complexion von Merkmalen
(§. 310) für das Ich genauer bestimmen; kann er angeben, welche Merk-
male es seyen, ivie sie zusammengehören, welche Form der Verknüpfung
sie annehmen, — so wird es uns willkommen seyn; und er spannt unsre
Erwartung desto mehr, da er versichert, der bisherige Mangel der Theorie
liege einzig daran, dafs man mit der Beobachtung nicht weit genug gegangen
scy, und nicht fein genug gesondert habe. * Wenn das wahr ist, so brauchen
wir keine Mühe an einen Widerspruch zu wenden.
In der That bietet er Logik und Metaphysik zu-[3 7 i]gleich auf, um
die Form der Verknüpfung zu bestimmen. ,, Innere Thätigkeiten und die,
ihnen entsprechenden, Vermögen müssen unter einem allgemeinen Begriffe
vereinigt werden. So entsteht! aber erst generelle Besirifte von Geistes-
vermögen, z. B. Vorstellungsvermögen, Einbildungskraft ; diese dürfen nicht
mit Grund -Vermögen verwechselt werden. Jene gehören nur zur Classi-
fication der Begriffe; letztere hingegen in ein Natursystem von Gründen
und Folgen."
Und ein solches Natursystem, woran einzig gelegen seyn könnte, soll
blofs durch Beobachtung gefunden werden ? Seit wann hat man gehofft,
wahre Causalität falle unmittelbar in die Wahrnehmung?
Ein Beyspiel wird dargeboten. „Vorstellung ist ein allgemeinerer Be-
griff als Erkenntnifs. Dennoch ist Erkenntiüfsvcrmögen das Grundvermögen,
von dem jede Art des theoretischen Vorstellens nur abgeleitet wird."
Befremdende Behauptung! Gesetzt, es gäbe ein Erkenntnisvermögen,
wodurch wäre sein Vorrang als Grundvermögen zu beweisen? In dem
vor uns liegenden Buche fehlt jeder Schein des Beweises. Wie wäre es
auch nur begreiflich zu machen, dafs ein ursprüngliches Erkenntnisvermögen
aus seiner Natur so weit heraus gehn könnte, um bald wissentlich, bald
aus Schwäche, sich dem Irrthum, oder dem Dichten, oder dem leeren
Denken, hinzugeben, und solchergestalt sich von seinen Gegenständen zu
entfernen, die, wenn von Erkenntnifs 1 gesprochen wird, nothwendig wahre
Gegenstände seyn müssen ?
„Aufser diesem Verhältnifs von Grundvermögen und generellen Ver-
mögen giebt es noch Verhältnisse zwischen Hauptvermögen und Neben-
vermögen ; so ist Vernunft nicht eigentlich Grundvermögen, woraus der
Sinn oder das Begehren begriffen werden könnte, [372] aber sie ist doch ein
Hauptvermögen, wogegen Sinn und Begehrung nur Nebenvermögen sind.
Ohne Erkenntnifs - Kraft nämlich wäre weder Sinn noch Wille möglich,
aber diese sind doch durch erstere noch nicht gegeben, sondern kommen
erst hinzu."
Sind wir so bald am Ende unserer Hoffnungen? Das eben war zu
fürchten : ein Mannigfaltiges neben einander, welches scheinen würde, sich
Eins an das Andere zu lehnen, aber nicht aus einander zu erklären ; so
dafs man Jedes weder ohne das Übrige, noch durch das Übrige würde
begreifen können. Keine schlimmere Lage der Sachen für die Speculation
A. a. O. S. 82.
1 „Erkenntnifs" nicht gesperrt SW.
?I5 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
läfst sich denken, als diese, wo zwar das Bedingte auf seine Bedingung
hinweiset, die Bedingung aber nicht stark genug ist, um das Bedingte zu
bevestigen. In solchem Handel ist der Wechsel zwar ausgestellt, aber
nicht acceptirt, und noch weniger gezahlt.
„Endlich (lesen wir weiter) steht noch zuweilen ein Vermögen so unter
der Bedingung des andern, dafs es sich nur vermittelst des andern äufsern
kann, ohne von ihm als Grundvermögen abzuhängen. So ist der Sinn die
erste causa motrix, wodurch alles innere Leben angeregt wird, und ohne
welche selbst die Vernunft sich nicht zeigen könnte."
Wo ist in diesem Gewirre Anfang und Ende? Das Vermögen der
Erkenntnifs ist das Grundvermögen. In diesem Grundvermögen giebt es
ein Hauptvermögen, Vernunft; ein Nebenvermögen, Sinn; aber jenes, das
Haupt, wartet auf den Anstofs seines Untergeordneten ! Kehren wir doch
die Gedankenreihe einmal um! Der Diener treibt den Herrn; beyde
aber sind zusammen Eins, nämlich der Grund, woraus das übrige Haus-
we-[373]sen seine Existenz schöpft! In schlechten Wirthschaften mag es
hie und da so aussehn!
§• 3i6.
Mit der Zusammenfügung des Mannigfaltigen der innern Erfahrung
steht es schlimm; aber noch ungleich schlimmer mit den Begriffen, durch
welche es soll gedacht werden. Da nun diese Begriffe das Wichtigste
sind, und ohne Zweifel im Gegebenen selbst für Jedermann ein Antrieb
liegt, sie ungefähr eben so zu bestimmen, wie Fries, der sich ja einer vor-
züglich sorgfältigen Beobachtung befieifsigt hat: so wollen wir fürs erste hier
so nachgiebig als möglich verfahren ; und versuchen, ob, und wiefern wohl
diese Begriffe sich mit dem, was wir schon wissen, werden vereinigen
lassen? Alsdann wird sich die nöthige Abweichung von selbst finden.
„Der menschliche Geist (lesen wir bey ihm §. 80) ist eine erreg-
bare Selbsttätigkeit."
Das könnten wir als einen populären Ausdruck wohl einräumen.
Nämlich die Seele (§. 312) ist in mannigfaltiger Selbsterhaltung begriffen,
deren ganze Möglichkeit auf den zufälligen Ansichten beruht (§. 234), die
von ihr richtig sind ; während die wirklich eintretende Selbsterhaltung jedes-
mal aus dieser Möglichkeit hervorgehoben wird durch Anderes, was mittel-
bar oder unmittelbar mit ihr zusammen ist. In diesem Sinne empfängt
sie eine Wirkung, die man allenfalls einen Beiz nennen kann ; und ihre
Selbsterhaltung mag nun erregt, oder, wenn man lieber will, die Seele mag
als aufgeregt zur Selbsterhallung in bestimmter Form betrachtet werden.
Dann kann gelten, was Fries weiter hinzufügt:
„Die Empfänglichkeit dieser Selbstthätigkeit ist der Sinn. Die Thätig-
keit ist Erregung. Der Reiz wird [374] aber in der innern Erfahrung
nicht wahrgenommen. Daher sind hier die ursachlichen Prädicate nicht
Kräfte, sondern nur Vermögen, welche einer sinnlichen Anregung bedürfen,
um zur Thätigkeit gereizt zu werden."
Obgleich wir uns nun eine solche Sprache wohl nach unserer Art
deuten können, so werden wir sie uns doch nicht aneignen. Denn Reiz-
barkeit setzt im bestimmteren Sprachgebrauche schon innere Spannung
4. Abschnitt. Eidolologie. 2. Capitel Vom Ich und Nicht-Ich als Thatsache. 217
voraus ; und das ist ein neuer Begriff, der in dieser ganzen Metaphysik
noch nicht vorgekommen ist, während der Leser ihn aus der Psychologie
schon kennen wird. Die Spannung trit erst ein, wo innere Zustände sich
gegenseitig hemmen ; und die Reizung hat zunächst Reproduction zur Folge.
Hier sind diese Begriffe gänzlich fremd; und die Bemerkung wird nur im
Vorbeygehn gemacht, um künftigen Misverständnissen vorzubeugen.
Wie aber denkt sich nun Fries seine Geistesvermögen ? Sind das
wirklich blofse Möglichkeiten in unserm Sinne, deren Ausdruck die zufälligen
Ansichten enthalten würden, ivemi Jemand dieselben kennte? — Niemand
kennt sie ; daher würde weiter Nichts von ihnen zu lehren seyn. Auch
giebt es ihrer keine bestimmte Zahl, sondern man kann ihrer unendlich
viele annehmen; am allerwenigsten aber darf man sie für reale Prädicate der
Seele halten, wie dies aus der Ontologie sattsam bekannt und deutlich seyn soll.
Fries hingegen kennt seine Geistesvermögen; er unterscheidet sie in
Grundvermögen, abgeleitete Vermögen, General -Vermögen (das Wort steht
wirklich dort S. 415), Special -Vermögen, Hauptvermögen, Nebenvermögen
u. dergl. m. Ob er sie auch gezählt habe, wissen wir nicht genau; ver-
muthlich aber hält er sie für zählbar; und die Zahl wird bey ihm nicht viel
gröf-[3 75]ser herauskommen, als etwan auf den nach Galls Cranioskopie
eingetheilten Schädeln. Wenigstens lehrt er ausdrücklich : „der Gegenstand
der innern Erfahrung ist ein System von Vermögen des Geistes." Auch
setzt er hinzu : „die mannigfaltigen Erscheinungen der innern Erfahrung
können nie im eigentlichsten Sinne aus einem einzigen Vermögen des
Geistes erklärt werden, weil alsdann der Zustand desselben ein beharrlicher,
ohne Veränderung, seyn müfste."
Diese Stelle ist doppelt merkwürdig. Erstlich mag sie die verworrene
Ansicht Derjenigen aufklären, welche sich wegen der Spaltung des Ich in
eine Vielheit von Vermögen dadurch zu entschuldigen glauben, dafs sie
versichern, sie hätten niemals diese Vermögen als ivirklich getrennt, sondern
stets zur Einheit verbunden gedacht. Desto schlimmer für sie! Denn sie
zeigen blofs, dafs sie nicht recht wissen, ob sie wirklich Eins, oder Vieles
denken. Ihnen mag gesagt seyn, dafs sie wirklich Vieles annehmen
müssen, weil wirkliche Einheit kein Princip eines Mannigfaltigen seyn kann.
— Wir aber haben nun zweytens eine Frage vorzulegen. Fries räumt
ein, dafs ein einziges Vermögen nur einen beharrlichen Zustand, ohne
Veränderung, hervorbringen würde. Also seine Vermögen thun Nichts!
Sonst brächte ja schon ein einziges Vermögen, indem es, nach seinem
eignen Ausdrucke „in seinem einmaligen Zustande der Thätigkeit beharrte", l
und „in stetem Ab/lnsse wirkte", die entsprechende Reihe von Veränderun-
gen hervor! Indem wir ihm diesen Widerspruch hingehn lassen, fragen
wir nun, was denn wohl aus dem System von Vermöge?/, folgen solle? Ge-
setzt, dieses ganze System sey im Abflüsse aller seiner Thätigkeiten be-
griffen, so giebt es einen zusammengesetzten Flufs, eine Art von Resul-
tante, oder Diagonale, nach der ihr [37b] Gesammtwirken fortgehn mufs.
Wie kommt denn dahinein der Wechsel, die Abweichung? Ist es Ernst,
dafs ein Vermögen allein keine Veränderung hervorbringt, so gilt dies
1 beharrt SW.
2Ig I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 1829.
von jedem, mithin auch von allen; das ganze System ruht. Wenn aber
der obige Ausdruck verfehlt war, so thun sie alle fortwährend zusammen-
genommen etwas, und immer das Gleiche; ihr Wirken beschreibt nun
gleichförmig eine oder mehrere Linien; ohne Abweichung des Grades, der
Richtung und Geschwindigkeit. Die Vielheit hilft nichts; sie erklärt nicht
die innere Erfahrung.
Das hat er selbst gefühlt, und sich nun erst, zu spät, zurückgezogen
in eine Unwissenheit, die wohl früher hätte eingestanden werden sollen.
„Allein so bestimmt das Gesetz des steten Abflusses auch scheinen mag,
so ist es doch im innem Leben von keiner genauen Anwendung. Denn
jeder innern Thätigkeit und jedem Vermögen derselben kommt zu jeder
Zeit ein bestimmter Grad zu, der größer oder kleiner, und sogar als ver-
schwindend gedacht werden kann." Dafs er so gedacht werden könne, ist
falsch. Man kann nicht nach Belieben das nämliche Thätige, was man
eben jetzt ah in Thätigkeit begriffen denkt, in eben diesem Denken wieder
als ruhend denken. Wohl hat man Anfangs bey innern wie bey äufsern
Thätigkeiten die Wahl, sie als ruhend oder als bewegt, fortschreitend, zu
denken: aber der einmal gefafste Gedanke mufs consequent vestgehalten
werden. Darauf beruht die Lehre von der gleichförmigen Bewegung der
Körper; man darf nicht abspringen von der einmal gemachten Voraus-
setzung. „Aber wir vermögen die Bedingungen nicht vollständig zu beobachten,
unter denen die Stärkung oder Schwächung eines Geistesvermögens steht."
Was für Beobachtungen sind es denn, die uns fehlen, [377] und die wir
zu haben wünschen? Etwa die von den physiologischen Einwirkungen,
wodurch das System der Geistesvermögen mag gestört oder gefördert
werden? Hatte Fries Lust, mit den Physiologen von Gehirnfibern, mate-
riellen Ideen u. dergl. zu phantasiren: so hätte er von einem System der
Geistesvermögen gar nicht reden sollen; die innere Erfahrung hätte dann
keinen geistigen Zusammenhang. Soll aber irgend ein System im Geistigen
angenommen werden: so mufs man nicht in demselben Augenblicke
Mangel an Beobachtung vorschützen, wo sich die Frage nach dem gesetz-
mäfsigen Wirken dieses Systems hervorthut. Nicht die Beobachtung fehlte,
sondern das Denken; von Stärkungen und Schwächungen eines Geistes-
vermögens wurde ein leerer Begriff der Möglichkeit dergestalt eingeschoben,
als ob wohl zufälliger Weise die Vermögen bald wachsen, bald abnehmen,
bald einander fördern, bald hindern könnten; und als ob von solchem
regellosen Spiele die innere Erfahrung selbst dergestalt ergriffen wäre,
dafs sie keine zusammenhängende Beobachtung liefern könnte. Gerade
umgekehrt! Gäbe es ein System von Geistesvermögen: so würde die
innere Erfahrung als ein regelmäfsiger Erfolg daraus hervorgehn. Dann
hätten wir im gesunden, wachsenden Zustande (denn an Traum und Deli-
rium ist hier nicht zu denken), und in solchen Stunden, worin wir uns
den Aufsendingen nicht hingeben, eine eben so regelmäßige Reihe von
innern Erscheinungen, wie die astronomischen es sind. Und diese Reihe
wäre bey verschiedenen Individuen nahe gleich, weil das angenommene
System der Geistesvermögen in ihnen gleich seyn soll. Dann gäbe es
keine Verschiedenheiten der Meinungen, der Lehren, der Neigungen.
Allein dem widerspricht die wirkliche innere Erfahrung; darum läfst Fries
4. Abschnitt. Eidolologie. 2. Capitel. Vom Ich und Nicht -Ich als Thatsache. 219
seine Gedankenreihe vom stetigen Abflüsse der Geistesvermögen im [378]
nämlichen Augenblicke fallen, wo ihm die Gefahr drohte, seinen Irrthum
einzusehn.
§• 317.
Der Begriff von einem, in stetigem Abflüsse seiner Thätigkeit be-
findlichen Geistesvermögen ist nachgebildet dem einer gleichförmigen Be-
wegung. Nun haben wir oben (§. 280, 281) gezeigt, dafs solche Be-
wegung nicht als ein innerer Trieb des Bewegten darf angesehen werden,
weil der Trieb durch seine eigne Befriedigung abnehmen, folglich die Be-
wegung nicht einen Augenblick gleichförmig seyn würde. Die Thätigkeit
eines Geistesvermögens, wenn es ein solches gäbe, geschähe aber gewifs
aus innerm Triebe, und die Schwächung (nach der bekannten Formel
1 — e ) würde ihr erstes Naturgesetz seyn. Alle Geistesvermögen zu-
sammengenommen stünden unter diesem Gesetze ; und ihre gemeinsame
Thätigkeit könnte nun so viele Formen annehmen, als wie viele aus ver-
schiedenen Voraussetzungen ihrer ungleichzeitigen Anregung sich berechnen
liefsen.
Eine solche Rechnung aber wollen wir Niemandem empfehlen. Denn
erst müfsten wir ein blofses Vermögen — das heifst, eine blofse, prädis-
ponirte Möglichkeit dessen, was künftig, zu irgend einer Zeit, einmal wer-
den kann, — aufnehmen in die nicht blofs mögliche, sondern wahre, und
zeitlose, Qualität der realen Seele. Zweytens müfsten wir die vielen Ver-
mögen beherbergen in der nämlichen, einfachen Qualität. Drittens müfsten
wir uns vertragen mit dem Keime von Veränderungen, der in jedem
solchen Vermögen alles Entgegengesetzte seiner künftigen Evolutionen
oder Aufserungen schon jetzt einschliefsen sollte.
Endlich würden wir wohl auch noch einen uns ganz [379] neuen
Begriff von latenten Kräften mit aufnehmen müfsen. Bisher zwar sprachen
die Physiker von latenter Wärme, nämlich in der Voraussetzung, dafs bey
den bekannten Formänderungen der Körper das Caloricum mehr gebun-
den, oder umgekehrt mehr offenbar werde. Eben so ist eine Elektricität
latent, — etwan im Elektrometer, — so lange sich eine gleich starke ent-
gegengesetzte aus der Ferne her wirksam beweiset ; mit Hinwegnahme
dieser Wirksamkeit trit die latente wieder hervor; und man hat hier, wo
Bindung und Entbindung ganz in unserer Gewalt sind, das klarste Beyspiel
davon, dafs der Begriff, welcher dem Kunstworte anhängt, auf eine freye
Kraft nicht passen würde, sondern eine Gebundenheit voraussetzt.
Ganz in diesem Sinne war von latenten Vorstellungen in einer psy-
chologischen Abhandlung gesprochen worden. Ungefähr um dieselbe Zeit,
oder kurz darauf, schrieb Fries seine Metaphysik. Darin heifst es: „eine
Kraft wird latent, ohne durch entgegengesetzte Thätigkeit aufgehoben zu
seyn, nur indem der Fall nicht da ist, in dem sie wirken kann. Z. B. die
Kraft eines Magneten, wenn kein Eisen in der Nähe ist. Der Fall
kommt nun auch bey Geistesvermögen vor, z. B. bey dem Willen, der
sich als Gesinnung immer gleich sevn kann, aber doch nur bey einzelnen
Gelegenheiten zur Aufserung kommt."
2 20 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Wir erinnern uns, dafs Jeder, wenn er sich deutlich erklärt, und
wenn er es darauf ankommen lassen will, eine Sprache für sich allein zu
reden, Herr seines Sprachgebrauchs ist. Wer aber einer eben aufgestellten
neuen Lehre dadurch sich entgegen setzt, dafs er die, für dieselbe sorg-
fältig gewählten Redensarten anders gebraucht, ohne nur irgend in den
Sinn dieser Lehre eingedrungen zu seyn : der mufs gewärtigen , dafs
man [380] seine Begriffe schärfer prüfe, als sonst nöthig möchte ge-
wesen seyn.
Wir halten uns jedoch nicht länger hiebey auf; denn es liegt am
Tage, dafs, und warum der Begriff einer Kraft, die vorhanden ist, und
auf Gelegenheiten wartet, um hervorzubrechen, schon in der Ontologie für
nichtig und widersprechend erklärt ist. Eine solche Kraft, wenn sie wahr-
haft Ist, — wenn ihr das Seyn soll zugesprochen werden, — erfordert
eine absolute Position. Dies ist ein identischer Satz. Denn etwas als
seyend betrachten, heifst, es schlechthin setzen, so dafs es bey dieser ab-
soluten Setzung sein Bewenden haben könne (§. 204). Eine Kraft aber,
welche wartet auf Gelegenheiten, um sich zu zeigen wie sie ist, durch
die Thätigkeiten, die ihre Qualität vorgeblich ausmachen, — eine solche
Kraft bezieht sich ihrem Begriffe nach auf etwas Frerndes. Das heifst, um
diese Kraft zu denken, mufs das, was man denkt, durch eine relative
Position bestimmt werden; wodurch die absolute Setzung unmöglich ge-
macht, die wirkliche Kraft für ein Unding erklärt wird. Wenn nun Fries
nach seiner Sprache den Geist mit allen seinen Vermögen der Möglichkeit
hingiebt, latent zu werden,* so bleibt ihm überlassen zu bestimmen, ob
sein Wissen oder sein Glauben vom Geiste so beschaffen ist, dafs darin
statt der absoluten Position eine relative zureichen könne ? Denn in das
geheimnifsvolle Verhältnifs seines Wissens und Glaubens kann eine blofse
Metaphysik nicht eindringen; da ästhetische Urtheile nicht in ihre Sphäre ge-
hören; und da Kant mit gutem Grunde erinnert: „es ist von der äufsersten
Erheblichkeit, Erkenntnisse, die ihrer Gattung und ihrem Ursprünge nach
von andern unterschieden sind, zu [381] isoliren, und sorgfältig zu ver-
hüten, dafs sie nicht mit andern, mit welchen sie im Gebrauche gewöhn-
lich verbunden sind, in ein Gemisch zusammenfiiefsen." **
§• 3i8.
Lange vor Fries war das Ich dahin gekommen, sich an sich selbst
als an einen Geist mit allerley Vermögen zu besinnen; denn lange vor
Sokrates hatte es angefangen, sich in dieser Art, von Selbstbesinnung
vielmehr als Selbslbewu/stscv/i, zu üben. Wenn man sich zu verschiedenen
Zeiten fragt: wer bin ich? und wenn man die unzähligen Antworten, die
man nach und nach erhält, niederschreibt, sammelt, ordnet: dann kommt
ein ganz anderes Ich zum Vorschein, als wenn im täglichen Leben auf
die Frage: tvo bist Du? geantwortet wird, ich bin hier; ich komme gleich.
Jenes ist eine Frucht der Zeit, die nimmermehr völlig reifen kann; dieses
* A. a. O. §. 80, Nr. 5, am Ende.
** Kants Kritik d. r. V. Methodenlehre 3. Hauptstück.
4. Abschnitt. Eidolologie. 2. Capitel. Vom Ich und Nicht -Ich als Thatsache. 22 I
ist ein Geschöpf, wie es scheint, des Augenblicks; wenigstens ist es fast
so leer, wie das Kantische: Ich denke, welches unsre gemeinsten eben so-
wohl als die seltensten Vorstellungen soll begleiten, und ihnen zum An-
knüpfungspuncte dienen können.
Fichte nun, dessen reifen und überreifen Idealismus wir im vorigen
Capitel übersichtlich betrachteten, mag uns jetzt noch durch seine frühe-
sten Bemühungen, in der Wissenschaftslehre, helfen, uns das augenblick-
liche, einfache, flüchtige Ich, was noch mit keinen weitläufigen Reminiscen-
zen, mit keinem schweren Schatze von Geistesvermögen beladen ist, zu
vergegenwärtigen, und, wenn es seyn kann, zu veredeln und zu verklären.
Der Contrast zwischen ihm und Fries ist grofs, und die entgegengesetzten
Meinungen können unser Auge schärfen, indem wir sie neben einander
stellen.
[382] Durch das Kantische: Ich denke, waren alle Gegenstände in
den Platz des Gedachten versetzt, und standen dem Ich, als dem Denken-
den, gegenüber. Einer von den gedachten Gegenständen war das Ich
selbst. Also stand es an zwey Plätzen zugleich ; einerseits in der Reihe
mit den andern Dingen, andererseits ihnen allen entrückt, und gleichsam
auf einem höhern Puncte. Nun war auch schon seit Kant die Bemer-
kung geläufig geworden, dafs an den Dingen gewisse Formen des An-
schauens und des Denkens zu unterscheiden seyen, die man nicht so
ansehen dürfe, als ob sie unmittelbar in der Empfindung gegeben wären.
Die Dinge waren nach Kant nur nicht ganz Producte des Ich; ein kleiner
Schritt weiter, und sie wurden es vollends; da die Empfindung, welche
zur Form scheint hinzugethan zu werden, offenbar nur im Ich liegt, und
das Ding an sich, welches aufser der Vorstellung als Grund derselben
angenommen wird, nun als ein lächerlicher Versuch erschien, das Unvor-
stellbare vorzustellen. Fichte fafste also die ganze Reihe des Gedachten
als ein Werk des Ich, vollbracht ohne Wissen und Wollen, durch innere
Nothwendigkeit. Und nun gerieth ihm das Ich in die sonderbarste aller
Verwickelungen. Als Complexion von Merkmalen, wie die andern Dinge,
wurde ihm zwar ein Daseyn beygelegt, und darin war es den übrigen
Dingen gleich. Aber eben dies beigelegte, vorgestellte Daseyn war kein
wahres Seyn; die Beylegung ging aus von dem absoluten Subject. Wollte
man von diesem nun auch sagen, es sey? Dadurch wäre es selbst in die
Reihe gefallen. Besser schien, zu sagen, es handelt. Darin liegt denn
freylich, dafs es sey, und zwar allein wahrhaft sey; aber nur, indem es,
als ächte causa sui, sich selbst setzt. Das Seyn ruht nun auf dem
Handeln. Doch dies ist noch das Geringste. Es setzt nicht blofs sich,
sondern auch sich in der [383] Reihe, und die ganze Reihe. Aber wäh-
rend nun die ganze Reihe in ihm liegt, setzt es sie doch nicht sich
gleich, sondern sich entgegen; als Nicht-Ich. Alle Realität ist ursprüng-
lich in ihm, und sein Werk; dennoch erkennt es sie nicht dafür, sondern
giebt sie gleichsam weg und ertheilt das bey iveitcm gröfste Quantum der-
selben dem Nicht -Ich. Was ist nun das wahre Ich? Doch ohne Zweifel
das, und ein solches, wie es wird als sein eigenes Werk. Aber dann kann
dieses Werk unmöglich vollendet seyn, denn es ist als setzendes Ich, als
ursprüngliches Subject, selbst der Ursprung von Allem. Demnach mufs
222 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
das Werk vorrücken; es mufs wenigstens allmählig dahin abgeändert
werden, dafs das Nicht-Ich verschwinde, und das gesetzte Ich dem setzen-
den gleich werde. Die jetzige Setzung des Ich, wie wir in diesem Augen-
blicke uns finden, weil wir eben uns so setzen, ist also nichts Ganzes;
sondern das Vorrücken gegen das Nicht-Ich, welches jetzt geschieht und
immer fortgeht — mit andern Worten, das Handeln in der Welt, nach
dem Gesetze der wachsenden Selbstständigkeit, und der fortwährenden
Unterwerfung aller Dinge, — welches sittliches oder freyes Handeln heifst,
— dies ist die eigentliche Ichheit, deren Wurzel daher vielmehr in dem
praktischen Vermögen als im theoretischen mufs gesucht werden.
So sollte die Sittlichkeit darin bestehen, eine theoretische Irrung
des Vorstellens auszugleichen. Eine Ansicht, die nur durch Neben-
ideen deutlich gemacht werden könnte, auf die wir uns hier nicht ein-
lassen.
Aber dem sorgfältigen Denker kann es weder so leicht werden, diese
Lehre zu erwerfen, wie Fries, verdrieslich über die Störung des Kan-
tianismus, für gut fand; noch so leicht, sich in ihr vestzusetzen, und sie
[384] gar auf die Physik zu übertragen, wie Schelling einst voll kühner
Hoffnung unternahm.
Es kommt vielmehr darauf an, nachzusehn, welche Veränderung sie
im berichtigenden Nachdenken erhalten mufs. Diese Untersuchung bleibt
dem nächsten Capitel vorbehalten. Hier müssen wir noch eine Übersicht
der mannigfaltigen Gegenstände bey fügen, welche bisher zur Betrachtung
vorgelegt wurden.
§■ 319-
Es wäre nicht schicklich gewesen, gegen das Ende der allgemeinen
Metaphysik den Idealismus noch als eine Lehre darzustellen, die wahr
sey. Der aufmerksame Leser hätte sich darüber nicht mehr täuschen
lassen ; das Vorhergehende widerspricht zu deutlich ; und der Versuch,
fürs erste eine künstliche Täuschung hervorzubringen, würde keine An-
regung des Untersuchungs-Geistes (was allein der Zweck hätte seyn können),
sondern nur Verwirrung zur Folge gehabt haben. Deswegen zogen wir
es vor, sogleich im ersten Capitel der Eidolologie den Idealismus als in
seiner eignen Auflösung begriffen historisch zu bezeichnen.
Alsdann haben wir in diesem zweyten Capitel zuerst die beyden
Hauptsätze herbeygeführt, dafs die Seele Substanz ist, und dafs die Vor-
stellungen ihre Selbsterhaltungen sind. Hiedurch sichern wir der weitem
Betrachtung ein paar Stützen, an welchen Derjenige, der unsre wahre
Meinung sonst nicht deutlich genug ausgedrückt finden möchte, sich halten,
und von wo aus er sich orientiren kann.
Nun gehörte aber zur Vollständigkeit der Auffassung die doppelte
Ansicht des Ich, nach welcher in demselben entweder das Object, oder
das Subject, als vorherrschend erscheint. Fries zeigt das Ich ganz als
Object; sein Subject in der transscendentalen Apper-[385]ception schwimmt
wie Schaum oben auf, ohne irgend etwas zu bestimmen; denn die ein-
zelnen Geistesvermögen, welche dem objectiven Ich zu Merkmalen dienen,
haben jedes seinen eignen stetigen Abrlufs, der, man begreift nicht wie?
4. Abschn. Eidolulogie. 3. Cap. Schärfung des Begriffs vom Ich und Widerlegung etc. 22\
zu Anomalien im wirklichen Verlauf des Lebens kommt, von welchen jene
Stetigkeit billig frey seyn sollte.
Fichte im Gegentheil wendet sich ganz an das Subject, als an das
Setzende, welchem das Gesetzte folgen mufs. Sollen wir noch hier, wie
zuvor bey Fries, überlegen, ob wir eine solche Lehre wohl mit unserer
schon aufgestellten Ontologie vereinigen könnten? Das ist unnöthig. Unser
Satz: die Seele ist Substanz; ihre Selbsterhaltungen werden durch andre reale
Wesen veranlafst, — widerspricht dem Idealismus geradezu. Wenn wir
uns vorbehalten, seine Lehre weiter zu prüfen: so geschieht das nicht in
der Meinung, das einmal Bewiesene könnte wieder umgestofsen werden;
sondern deshalb, weil in dem Ich noch ein Problem liegt, dessen Auf-
lösung uns neue Begriffe, nähere Bestimmungen der vorigen Resultate
geben soll.
Fichtes Auffassung zeigt die gerade entgegengesetzte Einseitigkeit
der älteren, welche Fries erneuert, und weiter auszubilden versucht hat.
Fichte ist nicht der Wahrheit, aber der Untersuchung näher als Fries;
dies erkennen wir als seinen Vorzug an; während Andre es als einen
Mangel betrachten, weil sie nicht gewohnt sind, Motive für das fortschrei-
tende Denken zu suchen und zu schätzen.
Uns gilt offenbarer Irrthum mehr als halbe Wahrheit, wenn jener
uns fördert, wo diese uns aufhält. Schon darum schätzen wir auch
Fichtes ältere Lehre höher, als die spätere vielfach aecommodirte und
verworrene.
[386] Drittes Capitel.
Schärfung des Begriffs vom Ich, und Widerlegung des Idealismus.
§• 320.
Zuerst die Frage, wie viel aus den beyden Lehrsätzen, die im vorigen
Capitel gefunden wurden, folgen möge?
Vorstellungen sind Selbsterhaltungen der Seele. Aber dieser Satz
pafst nicht unmittelbar auf eigentliche Vorstellungen, das heilst, auf Bilder,
wodurch Dinge repräsentirt werden. Denn die Seele, ein reales, einfaches
Wesen, erhält sich; ein solches Thun oder Geschehen mufs geradeso ein-
fach seyn, wie sie selbst, die dadurch erhalten wird, als das, was sie ist.
Folglich können wir den Satz zunächst nur auf einfache Empfindungen
beziehen; wie Ton und Farbe.
Nun entsteht hieraus für die Eidclologie eine dreyfache Scheidung
unter den Vorstellungen, deren Erklärung gesucht wird.
Die erste Classe der Vorstellungen (im weitem Sinne des Worts) sind
die einfachen Empfindungen selbst; und diese machen hier keine Schwie-
rigkeit, da wir uns um ihre Veranlassung aufser der Seele für jetzt nicht
bekümmern. Die zweyte Classe enthält solche Vorstellungen, welche als
Verbindungen einfacher Empfindungen in bestimmten Formen anzusehen
sind; und dahin gehören die Vorstellungen der sinnlichen Dinge, mit ihren
2 2A ^ Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Merkmalen, und ihrer räumlichen Gestaltung. Dabey kommt schon der
Ursprung solcher, in jedem Falle besonders bestimmter Formen in Frage.
Die dritte Classe aber ergeben diejenigen Vorstellungen, deren Inhalt nicht
Empfindung ist; wie die des Raums, der Zeit, und aller übersinnlichen
Gegenstände.
[387] Die zweyte Classe ist nicht so geheimnisvoll wie die dritte.
Denn sie erinnert an den Umstand, dafs Verbindung unter den Empfin-
dungen gar nicht ausbleiben kann, weil dieselben nothwendig in der Einen
Seele, welche in ihnen allen nur sich selbst erhält, zusammenfallen müssen.*
Hiebey entsteht sogleich die weitere Frage: warum sie detm nicht alle, die
später entstandenen mit den frühem, ohne irgend einen Unterschied, zusammen-
fallen, so daß ihr Voj gestelltes ein unt heilbares Eins ausmache? Und die
Antwort kann nirgends anderswo den Grund setzen, als in ihnen selbst.
Die Einfachheit der Seele, als eines realen Wesens, dessen Qualität kein
Mannigfaltiges in sich schliefst, erlaubt nicht, in ihr besondere reale Eigen-
heiten anzunehmen, wodurch eine Absonderung der Empfindungen ent-
stehen könnte. Die Beschaffenheit der zufälligen Ansichten, nach welchen
diejenigen Selbsterhaltungen geschehen, die wir als Empfindungen kennen,
mufs es mit sich bringen, dafs nicht alle mit allen, sondern einige mit
Ausschüefsung anderer, in Verbindung treten; wodurch für uns eine Mehr-
heit von Dingen entsteht.
Von hier aus eröffnet sich schon ein Zugang zu denjenigen Unter-
suchungen über die Hemmung unter den Vorstellungen, welche ursprüng-
lich auf einem andern Wege sind gefunden worden.** Auch kann der
Faden der Betrachtung fortlaufen bis zu den Complicationen und Ver-
schmelzungen; ja bis zu den Reproductionsgesetzen und den Reihen-
formen.
[388] Folglich bleibt auch die dritte Classe kein undurchdringliches
Geheimnifs; allein die Untersuchung würde doch auf diesem Wege allein
schwerlich überall fortkommen. Wenigstens wollen wir hier still stehen,
um uns zu orientiren.
Es ist leicht zu erkennen, dafs wir uns in der Gegend des Kantischen
Idealismus befinden. Nach ihm sollen zwar die Empfindungen von aufsen
kommen; auch müssen sie sich selbst die Formen ihrer Verbindungen
gleichsam auswählen; denn in Kants Lehre liegt, wie wir oft erinnert
haben, kein Grund für die bestimmten Gestalten, in welchen das Em-
pfundene zusammentrit. Dennoch sollen die ganzen, ungetheilten Formen
des Raums, der Zeit u. s. f. ursprünglich im Gemüthe bereit liegen; und
eben das müfsten wir, wenn keine Untersuchung weiter führte, uns als
ein unbegreifliches Wunder, und als einen Flecken unserer Ontologie,
ebenfalls aufdringen lassen; da solche Vorstellungen, die nichts Empfind-
bares enthalten, nun einmal als Thatsachen vorhanden zu seyn scheinen,
und jene dritte Classe ausmachen.
* Vergl. Psychologie II. §. 118. (Bd. VI vorl. Ausgabe.)
** Psychologie I, § 29 und 36. (Bd. V vorl. Ausgabe.) Wer diese Unter-
suchungen nicht schon kennt, der mufs sie hier des Zusammenhangs wegen nothwendig
kennen lernen, und am angegebenen Orte aufsuchen.
4. Abschn. Eidolologie. 3. Cap. Schärfung des Begriffs vom Ich, und Widerlegung etc. 2 2 ■%
Dahin gehören denn ganz besonders auch die Vorstellung Ich. Und
wir bekämen demnach, wenn wir so auf halbem Wege stehen blieben,
eine Zusammensetzung aus wahrer und falscher Psychologie; ein Gemenge
aus Mechanik des Geistes, und aus ursprünglichem Selbstbewufstseyn, nebst
den zugehörigen Formen des Verstandes und der Vernunft, ja auch selbst
der Sinnlichkeit. Wird das vielleicht irgend einmal Beyfall finden bey
den Eklektikern?
§• 32 1.
Bestehen kann wenigtens eine solche Zusammensetzung unmöglich.
Derjenige Theil in ihr, welcher der Mechanik des Geistes entlehnt ist,
wird allmählig [38g] weiter um sich greifen; und die Seelenvermögen
werden sich immer enger beschränkt finden. Denn die Lehre von den
Reihenformen durchdringt von selbst sowohl die leeren Bilder des Raums
und der Zeit, als die Kategorien.* So wird das Gleichgewicht gestört
werden, worin wir im vorigen Capitel Fichte und Fries erblickten; und
zwar zum Nachtheil des letzteren. Eben darum aber wird der Idealismus
einen temporären Sieg erlangen.
So lange im Gemüth ein unerklärbares Mannigfaltiges von allerley
Formen und Gesetzen beysammen zu seyn schien, erblickte das Ich sich
selbst als ein Nicht-Ich. Denn diese Organisation des Geistes, mit vieler-
ley Vermögen, wie könnte sie dem Ich besser entsprechen, als die Or-
ganisation des Leibes? So nun gerade, wie der einigermafsen Gebildete
Sich Selbst unterscheidet von dem vielfach zusammengesetzten Leibe, eben
so setzt auch unvermeidlich der schärfer Denkende das System von Geistes-
vermögen, welches ein buntes Mannigfaltiges ist, dem Einen und untheil-
baren Ich entgegen. Wie könnte Ich Mich erkennen in dem zufällig vor-
gefundenen Schatz von Anlagen, mit denen ich ausgerüstet bin? Wie
sollte Ich auf diese Weise Mich Selbst verwechseln mit meinem angebornen
Besitzthum ?
Anders verhält sich die Sache, wenn ich selbst in allen meinen sei-
stigen Reichthümern der Producirende bin. Je mehr die eigne Thätig-
keit sichtbar wird in dem, was vorhin nur ein innerlich Gegebenes zu
seyn schien: desto mehr Hoffnung ist vorhanden, dafs Ich Mich Selbst
in allem Dem erkennen werde, was ich unbewufst hervorbrachte, und
dann als ein Geschenk einer von mir verschiedenen Natur hinnahm. Es
ist nämlich alsdann nicht ein Werk, das unabhängig von mir bestünde,
son-[39o]dern es hat sein Bestehen nur in meinem Thun, und gehört
insofern zu mir Selbst.
Ist einmal der Idealismus auf diesen Punct der Betrachtung ge-
kommen, so säumt er nicht länger, von dem Ich alles dasjenige auszu-
stofsen, was nicht dem setzenden Ich als sein Product kann zugeschrieben
werden; und dagegen alles Das in die Zahl dieser Producte aufzunehmen,
was, wie er sagt, das Ich in sich findet.
Dafs aber der Idealismus den Begriff des Ich in voller Schärfe auf-
fassen sollte: daran fehlt viel. Der Ausdruck, das Ich setzt sich, es ist
* Psychologie II, §.114 am Ende; und §. 124. (Bd. VI vorl. Ausgabe.)
Herbart's Werke. VIII. 15
226 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
nur das, als was es sich setzt, es ist Identität des Objects und Subjects, —
dieser Ausdruck zwar wird leicht gefunden, aber es ist nicht leicht, ihn
vestzuhalten. Als Was denn setzt sich das Ich? Bekanntlich nicht blofs
als denkend, sondern auch als fühlend, als wollend und wirkend. Dem-
nach zugleich als leidend und als handelnd. Hiezu aber gehören Gegen-
stände, die mit dem Ich in Wirkung und Gegenwirkung stehen. Das Ich
setzt also auch diese Gegenstände, jedoch in Beziehung auf sich; denn
wer sie als Dinge an sich betrachten würde, der vergäfse in diesem Augen-
blicke nur Sich als den Betrachtenden.
Was ist nun das Ich? Es ist das Setzende des Ich und des Nicht-
Ich; mithin gewifs kein reines Ich. Denn ein solches müfste nur allein
Sich setzen (§. 318).
Hier liegt ein Widerspruch vor Augen. Das Setzende des Nicht-Ich
kann gewifs nicht defmirt werden durch jene Identität des Setzenden und
Gesetzten. Es ist also nicht Ich; nicht das in sich zurückgehende Wissen
von Sich. Gleichwohl finde ich mich so; ich ergreife mich so in der Mitte
meines Wirkens und Leidens. Ich bin also mir selbst nicht gegeben als
ein blofses Ich, sondern zugleich als mein eignes Gegentheil, als Nicht-Ich.
[391] Was ist nun dabey zu thun? Wir wissen es zwar; aber wir
wollen noch einen Augenblick das Beginnen Derjenigen betrachten, die es
nicht wissen. Diese halten vest an dem gegebenen Begriffe, als ob ihm
ein wahrer Gegenstand entspräche; sie schieben die Schuld der Unbegreif-
lichkeit lieber auf ein mangelhaftes Begreifen, als auf die Verkehrtheit des
Begriffenen. Und was werden sie nun herausbringen?
§• 322.
Ein unvollkommenes Ich, das sich selbst nicht gleich ist, liegt vor
Augen. Das wahre Ich sollte gegeben seyn. Also wird das wahre, reine
Ich als eine Forderung hinzugedacht. In dieses mufs das unreine Ich auf-
gelöset werden. Kann man sich nun damit begnügen, zu hoffen, oder zu er-
warten, und voraus zu sagen, die Forderung werde künftig einmal erfüllt werden ?
Fichte, in seiner altern Lehre, begnügte sich damit; er stellte die
Reinigung des Ich, den Sieg über die Natur, als ein Sollen, als sittliche
Aufgabe dar. Jedoch ists kein Wunder, dafs diese Lehre eine andere
Gestalt annahm.
Abstrahirt man von der Zeit, als von einer Form des Anschauens;
überlegt man, dafs jedes Künftige schon im Keime wirklich ist: so ver-
wandelt sich die Forderung des reinen Ich in die Behauptung, es sey
schon vorhanden, nur nicht im gemeinen Selbstbewufstseyn gegeben, sondern
verdunkelt und verhüllt.
Unser menschliches Ich erscheint sich selbst zu klein. Allem Ge-
setzten müfste das Setzende gleich seyn. Nur einem kleinen Theile nach ist
unser Gesetztes dem Setzenden gleich. Also — Wir sind nur kleine Theile
desjenigen Ich, das wir als das Ganze hinzudenken müssen.
Hinzudenken? Unsre Erkenntnifs von dem gan-[392]zen, reinen Ich
kann nicht ein Denken seyn; denn das wahre Ich setzt unmittelbar sich
selbst, und nicht erst mittelbar durch Schlüsse.
4-Abschn. Eidolologie. ß.Cap. Schärfung des Begriffs vom Ich, und Widerlegung etc. 22 7
Haben wir also eine wahre Erkenntnifs vom reinen Ich : so mufs
dieselbe nicht Denken, sondern Anschauung heifsen. Und nun kommt es
nur noch darauf an, dafs man sich wirklich einbilde, eine solche An-
schauung zu besitzen. Dann kann aus dieser Lehre nach Belieben Spino-
zismus, mit seinem dritten Grade der Erkenntnifs, ■ — ■ oder auch, wenn
man will, Plotinismus werden, sammt allen schönen Reden vom Urlicht
und seinen Strahlen.
Was wir eben das reine Ich nannten, das ist, bey näherer Betrach-
tung, auch so noch nicht vollständig vorhanden, sondern es wird erst
werden. Das Eine, was Allem vorangeht, gelangt nämlich zum Theil in
uns, zum Theil aber eben so in Andern, überhaupt also zunächst nur in
den Individuen, zu einem vielgespaltenen Selbstbewufstseyn. Und diese
Spaltungen können nur aufhören, insofern allmählig alle Individuen durch
jene Anschauung sich erheben zur Rückkehr in das Eine.
Kein Wunder nun, wenn die Individuen, nicht blofs Sich, sondern
zugleich ein grofses Nicht- Ich in Sich finden. Die Spaltung des Einen
ist daran Schuld. Für jeden Theil, der als gesondert vom Ganzen er-
scheint, sind alle andern Theile Nicht-Ich. Dennoch liegen alle Theile
in Einem, dessen Wesen gerade in der Energie besteht, womit es sich
strahlend ausbreitet. Mithin findet jedes Individuum Alles in sich; es
sieht das Ganze; nur nicht sich, das Individuum, als das Ganze. Und so
ist der Widerspruch — zwar nicht aufgelöset, aber glücklich im Cirkel
herumgeführt !
In wie vielen Metamorphosen wird sich diese Schwärmerey noch hin
und hertreiben? Das Wirkliche ist nun [393] schon so oft zuirklich aus
dem Möglichen hervorgezaubert worden, dafs wir uns vergebliche Mühe
geben würden, wenn wir nachwiesen, das Eine sey nur eine Möglichkeit,
so lange es Eins bleibt, und es werde erst wirklich, indem es Vielheit in
sich setzt; ja es hebe seine Wirklichkeit wieder auf, und kehre in leere
Möglichkeit zurück, indem es gestattet, dafs die Individuen sich wieder in
das Eine versenken. Was würden wir mit solchen Widerlegungen ge-
winnen? Es fehlt den Vertheidigern dieser Lehre nicht an Dreistigkeit,
zu sagen, die Möglichkeit sey eben das wahre Seyn; und die Rückkehr
der Individuen in das Eine geschehe nur im Begriff, nicht in der Wirk-
lichkeit. Hielten wir nun vest an dem Satze, die Möglichkeit sey das
wahre Seyn, und folglich verunreinige sie sich, indem sie zur Existenz
heraustrete: so würde man uns antworten, eben darin bestehe die wahre
Möglichkeit, dafs sie keine blofse Möglichkeit sey, sondern die Wirklich-
keit in ihrem Schoofse verberge, welche demnach auch hervortreten müsse.
Eben so leicht würde man unser Bedenken wegen des gespaltenen Ich
mit der Behauptung zurückweisen, Spaltung des Ich sey eben das wahre
Wesen desselben, indem es ja sich selbst in Object und Subject zerlege;
damit aber das Object sich vom Subjecte unterscheiden könne, müsse es
mannigfaltig seyn, während ja dem Subjecte die Einheit zukomme; und
damit nun wiederum beyde gleich seyen, müsse die Mannigfaltigkeit, worin
das Eine sich objectivire, in jedem Puncte auch als Subject sich selbst
anschauen ; welches denn die Vielheit der Individuen zur nothwendigen
Folge habe. Nichts ist leichter, als auf solche Weise eine Ungereimtheit
15*
228 !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
aus der andern zu erzeugen, und mit hinlänglicher Dreistigkeit jeder Wider-
leo-uno- dadurch zu entgehen, dafs man gerade das Ungereimteste selbst
behauptet; denn alsdann ist [394] man sicher, nicht erst ad absurdum
geführt zu werden.
Aber es giebt doch für diese Dreistigkeit einige Entschuldigung,
welche in der Natur des Gegenstandes liegt. Sie wird sich gleich zeigen.
§• 323-
Nirgends im Gegebenen liegen die Widersprüche so gedrängt, als
eben im Selbstbewufstseyn , wo das gewöhnliche Vorurtheil den Sitz der
Wahrheit sucht.
Soll der Begriff des Ich scharf gedacht werden, — und das ist die
erste Bedingung aller möglichen Untersuchung, — so darf er nichts anderes
enthalten, als eben nur die Einerleyheit des Wissenden und Gewufsten.
Sobald das Gewufste irgend eine ihm eigene Bestimmung annimmt, die
zur Antwort dienen könne auf die Frage, was denn eigentlich gewulst
werde? — so geht die Einerleyheit verloren, welche Wissendes und Ge-
wufstes verbinden soll. Sey das Gewufste irgend ein A, so ist das Wissen
von A nicht A selbst, und die Summe: A plus dem Wissen von A, ist
kein Ich.
Auch setze ich mich in der That nicht als irgend etwas Bestimmtes
und sich selbst Gleiches; sondern bald so bald anders; dergestalt, dafs
alle nähern Bestimmungen dem Ich zufällig bleiben.
Nach dieser Vestsetzung fällt nun alles ohne Ausnahme ins Nicht-
Ich, als was das Ich sich pflegt zu setzen; z. B. als fühlend, als handelnd,
als wollend. Dahin gehören auch alle Seelenvermögen, Verstand, Ver-
nunft, Gedächtnifs, Affect, Begierde, — kurz Alles, was der Mensch in
seiner geistigen Organisation zu haben glaubt, wie wenn es die Gliedmaafsen
wären, deren er sich im geistigen Handeln bediene.
Hiemit ist nun zwar die oben verlangte Scheidung (§. 310) vollzogen,
und die Erklärung von Fries (§. 314) [395] entschieden verworfen. Allein
obgleich dies das einzige Mittel ist, um Bestimmtheit in die Begriffe zu
bringen, so trennt sich doch hier das gegebene Ich vom Begriffe des Ich
insofern, als jenes mehr zu enthalten scheint, wie dieser aufnehmen will.
Man kann freylich nicht angeben, was eigentlich das gegebene Ich
enthalte. Aber doch fehlt es in gemeinem Selbstbewufstseyn niemals an
irgend einer Angabe, wie das Ich sich finde. Immer trägt es eine fremd-
artige Bestimmung des jetzigen Thuns ödes Leidens mit sich ; immer also
nimmt es irgend ein Nicht-Ich an; wiewohl hintennach wieder davon ab-
strahirt werden kann.
Mit dieser schlüpfrigen Natur des gegebenen Ich, welches sich nie
als ein bestimmtes Besonderes, aber doch immer als irgend ein Besonderes
setzt, können wir uns nun in der Speculation nicht vertragen. Sondern
hier liegt der erste Widerspruch: das Ich findet sich als ein Nicht- Ich.
Sobald wir aber den strengen Begriff des Ich speculativ vesthalten
wollen: findet sich in demselben eine zweyte ganze Classe von Wider-
sprüchen; dies sind nämlich diejenigen, deren Auseinandersetzung aus der
4-Abschn. Eidolologie. 3-Cap. Schärfung des Begriffs vom Ich, und Widerlegung etc. o 20
Psychologie bekannt ist. * Das Ich entwickelt sich in eine doppelt unend-
liche Reihe, indem .weder das Object angegeben werden kann, da immer
das Gewufste nur das Wissen selbst seyn soll, — noch das Subject je-
mals völlig erreicht wird, indem immer das Wissen selbst Gewufstes für
ein höheres Wissen reyn mufs. Dazu kommt noch, dafs je zwey nächste
Glieder der unendlichen Reihe im Gegensatze des Wissens und Gewufsten
stehen, folglich nicht gleich gesetzt werden können.
Man würde ganz vergebens gegen diese Widersprüche sich darauf
berufen, dafs ja das gegebene Ich kein reines Ich zu seyn verlange. Das
gegebene Ick trägt nur noch schwerer an seinen Widersprüchen, weil sich
auch sogar die individuellen Bestimmungen einmischen, um derentwillen
wir so eben den Satz aussprachen, das Ich finde sich als Nicht-Ich. Aber
darum hört es nicht auf, unter den allgemeinen Begriff der Ichheit zu
fallen. Die Ichheit liegt in der Identität des Wissenden und Gewufsten;
und wer nicht auf sein eignes Selbstbewufstseyn Verzicht leistet, der mufs
bekennen, dafs er diesen Begriff auf sich anwendet.
Ein dritter Widerspruch in der Art, wie wir uns finden, kommt zum
Vorschein, wenn man vom Ich ganz abstrahirt. Alsdann wird das Be-
wufstseyn ein Bildersaal, worin allerley Gemälde von der Welt und ihren
wechselnden Gestalten beysammen sind. Das vorstellende Subject, das
sich als Eins darstellt, kann nicht an sich diese Mannigfaltigkeit besitzen
oder erzeugen; dagegen spricht der Satz von der Einfachheit der ursprüng-
lichen Qualität. Allein es ist. nicht nöthig, auf diesen Widerspruch be-
sondere Rücksicht zu nehmen; wir kennen ihn, und haben seinetwegen
schon oben (§. 312) ein vielfaches Zusammen der Seele mit andern
Wesen angenommen.
§• 324-
Das Ich scharf denken, heifst, den Idealismus widerlegen. Hiemit
beschuldigen wir FiCHTEn, das Ich nicht scharf gedacht zu haben; und
um die Beschuldigung zu beweisen, wählen wir das vorzüglichste seiner
Werke, das System der Sittenlehre. Es ist nothwendig, dafs wir auf diesen
merkwürdigen Punct hier zurückkommen, weil ohne ein solches Beyspiel
das Ge- [3 9 7] wicht der obigen Auseinandersetzungen schwerlich hinreichend
würde empfunden werden. Aber auch nur insofern, als der Anfangspunct
des Irrthums in der Fichteschen Sittenlehre zugleich das eigentliche Cen-
trum alles Irrthums in der Lehre vom Ich bezeichnen kann, wollen wir
uns hier damit beschäfftigen.
Fichte beginnt dort damit, den strengen Begriff des Ich, nämlich
Identität des Wissenden und des Gewufsten, zu subsumiren unter den
höhern, das heifst, allgemeineren Begriff einer Identität des Handelnden
und des Behandelten. Gegen diese Subsumtion, wenn sie zu Etwas
dienen könnte, ohne einen Fehlschlufs einzuführen, wäre nichts zu erinnern.
Hier aber dient sie gerade nur zu einem Fehlschlufs. Denn es heifst
gleich darauf: „Das Denken aber ist hier ganz aus dem Spiele zu lassen."
Dies ist nun schon unmöglich. Das Handeln ist nur der logisch höhere
Psychologie I, §. 27. (Bd. V vorl. Ausgabe.)
230 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Begriff; soll er sich verwandeln in den des Ich: so mufs auf die Frage:
was für ein Handeln? geantwortet werden: diejenige Art des Handelns,
welche Denken, und noch bestimmter, welche Wissen heifst. — Wozu aber
soll denn die unzulässige Forderung führen? „Da das Gedachte mit dem
Denkenden identisch ist, bin der Denkende allerdings ich selbst ; aber das
Gedachte, Objective, soll blofs für sich, und ganz unabhängig vom Denken,
Ich seyn, und für Ich erkannt werden; denn es soll als Ich gefu?iden
werden."
Man sieht nun schon das Ziel. Der Begriff des Ich soll sich nicht,
wie es doch unvermeidlich geschieht, nach der Seite des Objects hin, in
eine unendliche Reihe verwandeln. Wenn man fragt: als was denn setzt
sich das Ich? soll nicht geantwortet werden, als Identität des Wissenden und
des Gewufsten. Denn [398] wenn so geantwortet ist, so ei folgt sogleich
die weitere Frage: was ist denn das Gewufstc? Antwort: das Ich, oder
die Identität des Wissenden und des Gcivufsten. Neue Frage : Was ist
denn nun hier das Gewufste? Vorige Antwort, vorige Frage, und wiederum
dieselbe Antwort, und abermals dieselbe Frage, und so ins Unendliche.
Dieser Kreislauf soll vermieden werden; damit nicht die Leerheit und
eben dadurch der Widerspruch im Ich zu Tage komme, welches ein
Wissen vorspiegelt, dessen Gewufstes gänzlich fehlt.
Fichte aber fährt dreist fort: ,,So?iach müfste im Gedachten, als
solchem , d. i. inwiefern es blofs das Objective sevn , und nie das Sujective
werden kann, — also das ursprüngliche Objective ist, eine Identität des
Handelnden, utid des Behandelten Statt finden."
Darauf entgegnen wir: wenn so etwas Statt fände, so wäre es keine
Identität des Wissens und Gewufsten, folglich kein Ich, sondern ein
Nicht-Ich; und wenn das Ich als solches sich setzte, so setzte es sich als
Nicht -Ich; und es wäre hiemit zwar eingestanden, dafs der sich selbst
widersprechende Begriff des Ich habe verändert werden müssen; aber die
Veränderung wäre nicht regelmäfsig, und eben so wenig der Wahrheit
gemäfs vollzogen worden.
Damit man aber sehe, dafs dieser Fehler wirklich begangen worden:
fügen wir noch die fernere Erklärung hinzu: ,,so, dafs es nur Object seyn
könne, sagte ich, also (?) ein reelles Handeln auf sich selbst; — nicht ein
blofses Anschauen seiner selbst, %uie die ideale Thätigkeit es ist, — sondern
■ein reales Selbstbes/immen seiner selbst durch sich selbst. Ein solches aber
ist nur das Wollen; und umgekehrt, [399] das Wollen denken wir nur so.
De) Satz: sich finden, ist demnach absolut identisch mit dem: sich
wollend finden."
So ist denn der Begriff des Ich verdorben. Und dieses kann nun,
wenn man das Verwechseln zwischen Wissen, Handeln, Wollen, bey Seite
setzt, füglich mit der Art verglichen werden, wie Fries erklärte: Ich bin
das innerlich Ihätige in der Zeit (§. 314). Denn im Grunde holt Fichte
hier den Nothbehelf des Wollens nur aus der innern Erfahrung. Allein
aus dieser Quelle fliefst sogleich, wenn sie einmal geöffnet wird, noch sehr
vieles Andere. Auch verwickelt sich das Wollen mit den Gegenständen,
welche gewollt, und zugleich angeschaut oder gedacht werden ; daher das
Ich sich auf der Stelle auch setzen müfste als setzend das Nicht-Ich; ein
4. Abschn. Eidolologie. 4. Cap. Schärfung des Begriffs vom Ich, und Widerlegung etc. 23 I
Umstand, welchen zu vermeiden Fichte in der That gar nicht für nöthig
hielt, da er ihn im Gegentheil recht weitläuftig auseinandersetzte.
Die eigentliche Spitze des Begriffs war also abgestumpft; hiedurch
war die Untersuchung schon aufser ihrem Geleise, ehe sie einen Anfang
gewonnen hatte. Die erste Bedingung aller Untersuchung ist die, dafs
man ihren Gegenstand genau fixirt.
Und meint Jemand, er könne gemächlich das Objective im Ich aus
der innern Erfahrung herbeyziehn: so wird die Erfahrung selbst ihn wider-
legen. Es ist nicht wahr, dafs sich das Ich allemal nur wollend finde;
vielmehr findet es sich eben so oft leidend. Es ist eben so wenig wahr,
dafs mit der Vorstellung Ich allemal die Voraussetzung des geistigen
Thuns und Lebens verbunden sey; vielmehr sind die Worte, ich schlief,
und ich werde einst todt seyn, uns Allen geläufig.
[400] §. 325.
An diesem Orte nun sollte die eigentliche Auflösung des Wider-
spruchs im Begriffe des Ich, nach der Methode der Beziehungen,
ihren Platz finden. Denn alles Vorhergehende hat allmählig auf den
Punct geführt, den Begriff scharf zu denken; und zugleich die Abwege zu
bemerken, auf welche man durch Vernachlässigung dieser Sorgfalt ge-
rathen kann. Allein die Auflösung des Widerspruchs ist vollständig in
der Psvcholosne vor°-etras;en ; und da ohnehin jenes Werk in den Händen
des Lesers seyn mufs, so dürfen wir das dort Gesagte hier nicht wieder-
holen. Es bleiben demnach nur diejenigen Zusätze für den jetzigen Vor-
trag übrig, die der Metaphysik mehr als der Psychologie angehören.
Zuerst nun ist zu erinnern, dafs die richtige Behandlung des Wider-
spruchs mit dem offenen Bekenntnifs desselben beginnt. Dies ist das
Gegentheil des eben erwähnten Fichteschen Verfahrens. Fichte wollte
durchaus, das Objective, als zvas das Ich sich setzt, sollte noch immer
Ich, also eine Identität seyn; aber in dieser Identität liefs er den Unter-
schleif zu, sie könne füglich eine reale, ein Selbstbestimmen, ein Wollen
seyn. So half er sich, indem ihn die Schwierigkeit drückte, das Object
in unendlicher Ferne suchen zu müssen, und doch nicht finden zu können.
Hinweg nun mit dem Unterschleif! An dessen Stelle trete das gerade
Bekenntnifs : das Object kann nicht selbst Ich seyn.
Aber zweytens: eben so wenig, als ein erkünsteltes Ich in der Stelle
des Objects zu dulden ist, gestatten wir uns, aus der innern Erfahrung
irgend ein vestes, bleibendes Object herzunehmen, dessen Vorstellung man
für die des Ich ausgeben möchte. Bestimmte Objecte sind allemal etwas
Anderes, als Identität des Wissens und des Gewufsten; und sie versperren
sogleich den Weg, [401] auf welchem man zur Erklärung der Ichheit
gelangen kann, so bald einmal angenommen wird, sie könnten in ihrer
Bestimmtheit für dasjenige gelten, als was das Ich sich setze. Wenn irgend
ein A vorgestellt wird, so haben wir eine Vorstellung von A; wenn wir
noch B hinzunehmen, so kommt der Begriff einer Vorstellung von A -j- B;
aber A und B mögen seyn, was sie wollen, sie erklären nimmermehr,
wie Jemand auf den Einfall kommen könne, er habe eine Vorstellung
von Sich Selbst.
2^2 !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Auch sagt die Methode der Beziehungen sogleich, und mit kurzen
Worten: der Objecle müssen mehrere seyn, die sich gegenseitig modificircn,
und nur in dieser Modification sind sie gleich dem vorgestellten Subjecte.
Drittens: Nun ist die Frage, worin besteht die Modification? Aber
der Anfang der Beantwortung liegt unmittelbar im Vorhergehenden. Die
Bestimmtheit des A und B, welche immer, und in gleichem Grade im
Wege steht, was auch A und B seyn mögen, diese Bestimmtheil mufs auf-
gehoben werden. Was irgend dienen mochte, im Ich die Stelle des Objects
zu bezeichnen, das mufs diese Stelle wieder verlassen. Darum ist es
ganz unnütz, durch ein Wollen, Selbstbestimmen u. dergl. eine Ähnlich-
keit mit dem Ich zu erkünsteln; als ob ein unächtes Ich den Platz des
Objectes besser ausfüllen könnte, als irgend etwas ganz fremdartiges.
Gerade umgekehrt: die mehrern Objecte müssen sich unter einander nicht
blofs fremd, sondern sogar entgegengesetzt seyn, damit sie sich gegen-
seitig aus dem Platze herausdrängen, den kein mögliches bestimmtes Ob-
jeet bleibend ausfüllen kann.
Hieraus mag man beurtheilen, wie gute oder schlechte Dienste solche
Begriffe der geistigen Thätigkeit, wie Denken, Wollen, Handeln, oder auch
des innern Lei-[402]dens, wie das Empfinden, Fühlen, Trauern u. dergl.
für sich allein genommen leisten können, um das Ich zu erklären. Freylich
klingt es leidlicher, zu sagen: Mein Ich ist mein Geist und mein Gcmüth,
als zu sprechen: Ich und mein Körper bin Eins und dasselbe (§. 116).
Auch ist in der That jenes kein so arger Irrthum, wie dieses. Aber Irr-
thum ist es dennoch; und das verräth sich besonders darin, weil es nicht
ganz gelingt, den Platz des Objects im Ich dergestalt durch Geist und
Gemüth auszufüllen, dafs mit allgemeiner Zustimmung der Leib völlig aus-
geschlossen würde. Nämlich unter den wandelbaren Objecten, die ab-
wechselnd die Stelle des Gewufsten, welches dem Wissen gleich seyn soll,
vertreten und einnehmen, ob sie gleich sich gefallen lassen müssen, den
Platz wieder zu räumen — unter diesen befindet sich häufig, ja ursprüng-
lich sogar vorzugsweise , der Leib ; er giebt aber zur Ichheit seinen Bey-
trag keinesweges durch die Correspondenz, welche vergeblich zwischen den
organischen Functionen des körperlichen Lebens, und den innern, geisti-
gen Thätigkeiten bestehen soll: sondern durch den Gegensatz zwischen
Leib und Geist, vermöge dessen weder Leib noch Geist das beständige
Object im Ich ausmachen, sondern sich aus dieser Stelle gegenseitig ver-
drängen. So geschieht es wenigstens so lange, bis eine höhere Bildungs-
stufe erreicht wird, auf welcher der Leib ein für allemal vom Ich ausge-
schlossen ist und bleibt.
Die vorstehende Bemerkung streift schon über die Eidolologie hin-
aus in die Psychologie, welcher es überlassen werden mufs, die mancher-
ley möglichen Abwechselungen und Verhältnisse der verschiedenen Vor-
stellungen näher zu untersuchen, die sich als das Objective im Ich dar-
bieten können. Der Eidolologie genügt es zu wissen, dafs das Ich nichts
Anderes ist und seyn [403] kann, als ein Mittelpunct wechselnder Vor-
stellungen. Nichts Anderes nämlich bleibt übrig, wenn das Gewufste, mit
welchem im Ich das Wissen identisch seyn soll, kein Bestimmtes, das
als solches zu dem eigentlichen Ich gehöre, enthalten darf. Der Mittel-
4- Abschnitt. Eidolologie. 4. Capitel. Von der Möglichkeit des Wissens. 2 XX
punct, in welchem die Vorstellungen wechseln, ist das Subject, was die
Vorstellungen hat, und enthält; denn Vorstellungen hoben heifst vorstellen,
selbst noch ohne nähere Bestimmung, ob dieses Haben eine besondere
Thätigkeit erfordere, oder ob es Gegenstand einer neuen, darauf gerich-
teten Vorstellung werde (eine Bestimmung jedoch, welche sowohl Erfah-
rung als Psychologie noch hinzufügen). Derselbe Mittelpunct, wenn man
fragt, was für einer? wird bezeichnet durch die in ihm wechselnden Vor-
stellungen, die ihm jedoch nicht angehören durch ihr eigentümliches Vor-
gestelltes, welches kommt und geht; sondern nur im Wechsel, worin sich
die Vorstellungen begegnen ; so dafs eben dies Begegnen den Punct selbst
ausmacht, worin jede Vorstellung der andern eine?i Ort darzubieten scheint.
Wir nennen diesen Ort einen Mittel- Punct, weil in ihm sich die Vor-
stellungen sinkend und steigend, von Aufsen kommend, und nach Aufsen
wirkend, mit ihrer scheinbaren Bewegung einander durchkreuzen. So ist
das Ich nach der einfachsten Ansicht als Subject, das heifst als der vor-
stellende Punct, einer ley mit dem Objectiveu, sofern es wechselnd diesen
nämlichen, keiner andern Vestsetzung bedürftigen, Punct, als solchen be-
stimmt, oder ihn zu demjenigen macht, der er ist.
Hiemit sind einerseits die Schwärmereyen abgeschnitten, deren wir
oben (§. 322) erwähnten; andererseits aber ist auch die Einkörperung der
Physiologen, denen Fries folgt (§. iiö), unnöthig geworden, und [404]
man sieht, dafs die Ichheit des menschlichen Leibes nicht wesentlich
bedarf.
Viertes Capitel.
Von der Möglichkeit des Wissens.
§• 326.
Sobald man zu der Einsicht gelangt, dafs der Begriff des Ich, auf
welche Weise er auch gefafst werde, durchaus unfähig ist, die Qualität
eines Realen unmittelbar auszudrücken: stürzt der Idealismus mit allen
seinen Ansichten; denn sein Princip ist verloren. Die Quelle, woraus er
Alles ableiten wollte, ist versiegt.
Wem aber nicht der ganze Zusammenhang der Untersuchung ein-
leuchtet, der wird nun mit erneuerten Anstrengungen auf die Frage drin-
gen: wie denn das Wissen möglich sey ? Denn in uns ist das Wissen;
wofern nun die Gegenstände desselben aufsei uns liegen, so fehlt der
Übergang, die Bürgschaft, und das Vertrauen. Die Bilder in uns lassen
sich nicht vergleichen mit den Dingen aufser uns; alle Empfindung ist
nur unser Zustand ; alle Erklärung derselben ist unser Gedanke. So sagt
man, und verlangt, dafs darauf geantwortet werde.
Man lasse sich denn also einige unvermeidliche Wiederholungen ge-
fallen, da es nur darauf ankommt, das schon Bekannte zusammenzustellen.
Im gegenwärtigen Capitel soll gesprochen werden von dem Gehalt
und der Form des Wissens; von Wahrheit und Täuschung; endlich von
2\A I« Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
einer Erweiterung der Causalbegriffe, die bey Gelegenheit der fernem
Betrach-[405]tung des Ich entsteht. Zuvor müssen der Sicherheit wegen
einige Irrthümer zurückgewiesen werden.
Jeder denkt sich das Wissen als eine Abbildung der Gegenstände.
Daher die rohe Vorstellungsart, als ob von den Dingen die ihnen ähn-
lichen Bilder herkämen (etwan getragen von den Lichtstrahlen), und ohne
Weiteres in uns Platz nähmen. Oder die eben so rohe Meinung des
Spinoza, der Substanz wohne das Wissen von ihrer Ausdehnung bey;
und die Ähnlichkeit des Vorstellens mit dem Vorgestellten verstehe sich
von selbst. Wenn ein solches Wissen nicht aller Reflexion entbehrie: so
würde die Reflexion sogleich in Zweifel an der Wahrheit des Vorgestell-
ten übergehn, und zur Beantwortung der Zweifel wäre bey der vorgeb-
lichen Unabhängigkeit der beyden Attribute, Ausdehnung und Denken,
eben so wenig ein Weg offen, als bei vollkommener Trennung des Wissen-
den und Gewufsten.
Etwas minder roh ist die Ansicht, welche das Erkenntnifsvermögen
in ein unteres und oberes zerlegt. Denn hier wird wenigstens anerkannt,
dafs zuerst und vor allem das Wissen als ein Zustand des Wissenden,
gemäfs der Natur des letzteren, mufs betrachtet werden, während es sich
noch fragt, ob denn dieser Zustand schon urspiünglich dem Gegenstande,
der ihn veranlalst, ähnlich seyn werde oder nicht. So bleibt es doch
wenigstens dem obern Erkenntnifsvermögen vorbehalten, die empfangenen
Eindrücke zu prüfen, und vielleicht zu berichtigen. Freylich hilft das
nicht viel. Wenn der Sinn keine Wahrheit empfing, so kann der Ver-
stand keine Ähnlichkeit mit den Gegenständen hineinlegen; und wenn
endlich der Vernunft aufgetragen wird, dieselbe unmittelbar herbeyzu-
schaffen, so sind wir im Land der Wunder.
Umsichtiger, aber nicht zweckmäfsiger, gehn Diejenigen ans Werk,
welche den ganzen Vorrath unserer [40b] Kenntnisse durchmustern, und
alles, was sie vorfinden, neben einander hinschütten. Da finden sie nun
Sinnendinge, und mathematische Formen, und Kategorien des gemeinen
Verstandes, und transscendente Begriffe der Speculation, und praktische
Ideen, auf verschiedenen Stufen der logischen Unterordnung und Anwen-
dung. Was aus dem Allen zu machen, wie es zu verbinden sey: das
wissen sie nicht. Die Beziehungen sind zerrissen ; der Gebrauch und die
Bedeutung aller dieser Vorstellungsarten, ihr Zusammenhang im wahren
Wissen wird nur noch räthselhafter, wenn man so ganz verschiedenartige
Gedankendinge in Einer Reihe vor sich sieht. Das war die böse Manier
des Aristoteles, die ihn selbst in die gröfste Verlegenheit setzte. Schon
indem er seine vier sogenannten Principien neben einander aufzählte,
hatte er sich seine Arbeit verdorben; er mufste im ersten Augenblick
sehen, dafs dieselben sich nicht coordiniren liefsen.
Ist nun einmal das Mistrauen gegen das Wissen rege geworden: so
wendet es sich abwechselnd nach beyden entgegengesetzten Seiten. Bald
wird die Erfahrung angeklagt, dafs sie keinen brauchbaren Stoff liefere, bald
müssen die künstlichen Hülfsmittel des Denkens den Vorwurf tragen, dafs
sie jenen Stoff verfälschen. Bald will man das Gegebene nicht zulassen,
bald scheut man sich, es zu verarbeiten. Und doch ist beydes gleich
!
4. Abschnitt. Eidolologie. 4. Capitel. Von der Möglichkeit des Wissens. 2 3^
nothwendig; wie schon aus den ersten Betrachtungen der Methodologie
erhellet.
Jetzt aber müssen wir auf den Unterschied der psychologischen und
der metaphysischen Ansicht dieses Gegenstandes hinweisen, welche beyde
hier unvermeidlich zusammentreffen. Wenn das Mistrauen gegen die Er-
kenntnifs sich regt: so wird zweyerley gefragt: erstlich, woher kommt unser
wahres oder vermeintes Wissen ? Wie entsteht es, wie bildet es sich ? Wo
liegen [407] die ersten Anlässe des Zweifels und des Irrthums? — offenbar
eine psychologische Frage. Zweytens aber will man über den Gebrauch
und Werth aller Bestandtheile des Wissens Rechenschaft haben. Was für
eine Geltung hat die sinnliche Wahrnehmung? Welchen Beytrag zum
Wissen geben die allgemeinen Begriffe? Wieviel Überzeugung führen die
mathematischen Formen herbey? — Solche Fragen sind es, die uns hier
eigentlich angehn; obgleich immer ein Mangel wird gefühlt werden, wenn
nicht auch jenes Feld offen vor Augen liegt; denn allemal will man die
Herkunft, die Geschichte desjenigen erforschen, worüber einmal Bedenk-
lichkeiten walten.
Beyderley Betrachtungen aber bedürfen es in gleichem Grade, dafs
man sich die Zerlegung der Erfahrung in Materie und Form vergegen-
wärtige, welche aus den ersten Anfängen bekannt ist. Hierauf gestützt,
beschreiben wir zuvörderst ganz kurz (um so schnell als möglich ins Klare
zu kommen) das Wissen, wie es gemäfs dem Ganzen unserer Vorträge,
wirklich beschaffen ist.
§• 327-
Wie die Körper ursprünglich aus Elementen bestehen, die nichts
weniger als körperlich sind : so auch besteht das Wissen aus Anfängen, die
mit einem Abbilden nichts gemein haben. Es besteht aus Empfindungen;
die keineswegs etwas Äufseres abspiegeln, denn sie sind lediglich Selbst-
erhaltungen der Seele.
Nicht also an den Stoff des Wissens, sondern lediglich an dessen
Form mufs man sich wenden, wenn man es von der Seite seiner Ähn-
lichkeit mit äufsern Gegenständen auffassen will. Denn von der Empfin-
dung wird Niemand, wenn nicht gänzlich ohne Überlegung, ver-[4o8]
langen, sie solle die Beschaffenheit der Dinge aussaugen; Jedermann kennt
ihre durchaus subjective Natur.
Dieser Umstand nun scheint es zu seyn, der durch eine gränzenlose
Übereilung und Verwechselung es vergessen und verkennen machte, dafs
nichts destowemger die Empfindung das einzig mögliche Fundament des Wissens
vom Realen einhält und darbietet.
Denn die absolute Position, worauf einzig und allein der Begriff des
Seyn nach seiner wahren Bedeutung zurückzuführen ist, liegt nirgends
anders als in der Empfindung. Jede künstliche Setzung läfst sich zurück-
nehmen; jede solche Setzung, die auch nur den geringsten Verdacht erregt,
wie wenn sie nicht ganz so unwillkührlich und unvorbereitet als ein Ge-
gebenes zwischen die Einbildungen hineinträte, und den Faden des Ge-
dankenlaufes zerschnitte, wie dies das Kennzeichen der Empfindung ist,
— jede Setzung also, die eine Spur des Gemachten und von uns Ab-
2 7.6 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
hängigen an sich trägt, wird sogleich als täuschend verworfen, wo Zeug-
nisse für das Daseyn gefordert und geprüft werden. Und das mit Recht.
Es ist der Mittelpunct der alten falschen Metaphysik, sich einzubilden,
dafs man die absolute Setzung in seiner Gewalt habe, und nach Belieben
einen, Inbegriff von Realitäten setzen könne. Diese alte Metaphysik hatte
eben Nichts von absoluter Setzung begriffen, sonst würde sie gewufst haben,
dafs dieselbe vor allem Philosophiren, ja vor allem Denken vorhanden
seyn mufs, und dafs ihr alsdann lediglich Anerkennung gebührt, da man,
wenn sie mangelte, durchaus keinen Ersatz für sie würde finden oder her-
beyschaffen können. Alle Reden vom Absoluten haben für uns keine
Bedeutung, wenn unsere Setzung desselben nicht schon geschehen ist, ehe
wir die Rede vernahmen. Aber die Summe der wirklich geschehenen
[409] Setzungen können wir auch nicht kleiner machen als sie ist; viel-
mehr hat alle unsere unzweydeutige Empfindung in diesem Puncte gleiches
Recht, wenn auch nicht gleichen Erfolg.
Dafs nun hiemit eben so wenig der Trägheit des Empirismus das
Wort geredet ist, als der Keckheit der alten Metaphysik: dies mufs der
Leser aus den Elementen der Ontologie wissen. Es ist bekannt, dafs in
unserm Erkennen das Seyende durch zwey Begriffe gedacht wird; nämlich
durch den des Seyn und durch den der Qualität. Dafs man aus diesen
zwey Begriffen nicht zwey verschiedene Bestandteile des Seyenden machen
soll, ist ebenfalls bekannt; und es ist im ersten Theile dieses Werks genug
gegen die essen tia gewarnt, welche schon da steht, ehe die Komödie ge-
spielt wird, dafs sie die Existenz entweder von Aufsen her annimmt, oder
sich selbst diese Würde ertheilt. Warum aber zwey Begriffe für Einerley?
Das Seyende ist ja in Wahrheit nur Eins: und wir meinen es auch so;
woher denn die beyden Begriffe, daß es ist, und was es ist? - — Auch
dieses ist längst gezeigt (§. 198 u. ff.); und es brauchte nicht einmal ge-
zeigt zu werden. Denn schon der ganz gemeine Verstand ist darüber
hinaus, die wahrhaft erste, unmittelbare Position des Empfundenen so stehen
zu lassen, wie sie ursprünglich war. Die Dinge, welche er für real hält,
sind Complexionen von Merkmalen; und diese Form der Erfahrung, noch
vor aller Skepsis, hat schon das Empfundene in Adjectiva verwandelt,
welche den Dingen zwar beygelegt werden, aber nicht die Dinge selbst
sind. Die wahrhaft erste Position lag in den Adjectiven; aber sie hat
sich herausgezogen, um die Substantiva zu denselben zu bilden. Und
von diesem ersten Schritte, vermöge dessen die Bestimmung dessen, ivas
man setzt, verändert wird, obgleich die Setzung selbst beybehal-[4io]ten
wird, — ist die fernere Wanderung des Begriffs vom Seyn, welche in den
Svstemen verschiedene Wege nimmt, nur die Fortsetzung.
Dieser erste Schritt, vermöge dessen man nicht mehr, wie ursprüng-
lich, Gelb und Schwer und Dehnbar, sondern statt dessen gelbes Gold,
schweres Gold, dehnbares Gold setzt, — dieser hätte sollen von jeher ge-
nauer beachtet werden. Findet man es bedenklich, dafs irgendwo das
Gesetzte verändert wird, während doch die Setzung die nämliche bleiben
soll, so mufs man in diese niedrigste Region des gemeinen Verstandes
herabzusteigen sich bemühen; denn die absolute Position liegt nirgends
sonst, als in der Empfindung; dafs aber das Empfundene dennoch nicht
4. Abschnitt. Eidolologie. 4. Capitel. Von der Möglichkeit des Wissens. 2X~1
als das Reale betrachtet wird, dieses, wenn es ein Fehlschritt, wenn es
eine Veruntreuung ist, begegnet nicht erst in der Philosophie, sondern es
geschah mit allgemeiner, unvermeidlicher Beystimmung schon in unsern
frühesten Kinderjahren, noch ehe wir sprechen lernten.
Damit man nun einsehe, und vest überzeugt sey, dafs dieser Schritt
unvermeidlich ist: — zu diesem Zwecke haben wir in den ersten Grund-
lagen der Wissenschaft gefordert, man solle sich besinnen, ob blofs die
Materie der Erfahrung, das heifst, die Empfindung, — oder ob auch die
Formen der Erfahrung, gegeben seyen ? (§. 169 — 171). Wer es vernach-
lässigt, hierüber mit sich Eins zu werden, dem ist späterhin nicht zu helfen;
und es ist kein Wunder, wenn er hintennach das Wissen an allerley künst-
lichen Ankern bevestigen will, weil er den wahren und natürlichen verkennt.
Die Formen sind allerdings gegeben. Das heifst, die Empfindungen
liegen nicht, wie ein loses Aggregat, oder wie ein Chaos, in uns; sondern
eben indem sie gegeben werden, fügen sie sich in bestimmten Grup-[4i ilpen
und Reihen; und nur in dieser Bestimmtheit kann man sich auf sie, als
auf ein Gegebenes, berufen.
Darum nun mufs man mit ihnen zugleich auch alle die Motive des
fortschreitenden Denkens aufnehmen, sich gefallen lassen, und befolgen,
welche wir in den Formen der Erfahrung nachgewiesen haben. Darum
verändert sich im ganzen Laufe der Metaphysik fortdauernd die Kenntnifs
und Ansicht, die man gewinnt, weil das Denken nicht eher völlig Ruhe
findet, als bis es seine Aufgaben, die in den Formen der Erfahrung lagen,
gelöset hat.
Zum Grunde von Allem aber liegt immerfort die eine und gleiche
Basis der absoluten Position, welche durch Empfindung entstand, und im
Denken stets nur anerkannt und vorausgesetzt wurde.
§• 32 8.
Jetzt können wir vom Gehalt und von der Form des Wissens aus-
führlicher sprechen.
Gehalt des Wissens, im metaphysischen Sinne, ist das, was man weifs.
Dies ist völlig verschieden vom Stoff des Wissens, im psychologischen Sinne,
das heifst, von dem Ersten, was in der Seele geschieht, um ein Wissen
zu erzeugen. Die Empfindungen sind der Stoff, aber ganz und gar nicht
der Gehalt des Wissens; denn sie sind blofs unsere Zustände, ohne dafs
irgend eine Ähnlichkeit, irgend ein Abbilden, irgend ein Erkennen des
Vorhandenen in ihnen dürfte gesucht werden.
In der Form des Wissens (gegenüber dem Stoffe), so befremdend es
lauten mag, ist auch der Gehalt desselben anzutreffen, obgleich die Be-
stimmungen der Form viel weiter reichen. Dies wird gleich klar werden,
sobald man sich fragt, was denn das Gewufste sey? Weder die Frage
nach dem Was des Seyenden, noch [412] die nach dem wirklichen Ge-
schehen können wir dergestalt beantworten, dafs wir uns rühmen dürften,
jenes Was und dieses wirkliche Geschehen in unserm Wissen innerlich
abzubilden. Im Gegentheil, wir haben am gehörigen Orte das Bekenntnifs
abgelegt, dafs beydes unbekannt ist.
238 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Dieses pafst genau zu dem, was vorhin von der Empfindung be-
merkt wurde. Das einzige, ursprünglich absolut Gesetzte war das Em-
pfundene. Nachdem nun einmal erkannt worden, dafs dieses nicht real
sevn kann, bleibt von der absoluten Setzung nichts als die Form übrig;
einen Inhalt kann sie nicht wieder erlangen; sie hat ihn auf immer ver-
loren. Das ist der Sinn des bekannten Satzes: die Dinge an sich kennen
wir ?iicht ; eines Satzes, den der Dogmatismus niemals umstofsen wird,
wie oft er auch seine Anstrengungen erneuern möge.
Wir wissen gleichwohl, dafs Etwas, und zwar Vieles und Verschiedenes,
da ist ; und dafs unter seinen Qualitäten, die wir nicht kennen, Verhält-
nisse Statt fitiden, welche den Winken der Erfahrung gemäfs gehörig
zu bestimmen, die ganze Angelegenheit unseres theoretischen Wissens
ausmacht.
Und wie gelangten wir zu diesem Gehalte des Wissens? Lediglich
indem wir die Formen der Erfahrung, — welche bey ganz andern Em-
pfindungen eben die nämlichen hätten seyn können,* — zum Grunde
legten, und sie im Denken berichtigten. Daher bleibt unser Gewufstes
stets ein Formales; es bildet Verhältnisse ab, ohne die Verhältnifs-
Glieder eitizeln zu kennen; weil es von solchem Gegebenen ausgeht,
worin nicht die Beschaffenheit der Dinge, son-[4i3]dern nur ihr Zusammen
und Nicht - Zusaynmen sich abbildet.
Hierauf nun mögen Diejenigen, welche nicht begreifen, wie das Wissen
zur Übereinstimmung mit seiften Gegenständeti gelangen möge, ihr Augenmerk
richten. Die Frage hat schwer geschienen, weil man sich einen Frage-
punct machte und setzte, für den im Gebiete der Untersuchung gar kein
Platz ist. Qualitäten wollte man erkennen. Dafs alle vermeinten Quali-
täten auf Relationen hinauslaufen, — Ausdehnung auf den Gegensatz des
Hier und Dort, Denken und Wissen auf ein entweder wahres oder an-
genommenes Verhältnifs zwischen Bild und Gegenstand, Kräfte der Körper
auf den Raum, Kräfte des Geistes auf Gedachtes und Gewolltes, - - diese
Relationen störten nicht den Glauben, man wisse etwas von Qualitäten!
Nun frevlich konnte die Frage nicht ausbleiben: wenn die Dinge mit ihren
Qualitäten aufser uns, unabhängig von uns, existiren, wie soll es denn zu-
gehn, dafs wir von denselben ein Bild empfangen? Aber weder das Em-
pfangen noch das Darbieten darf in diesem Puncte Jemandem Schwierig-
keit machen, denn die ganze Frage hat keinen Gegenstand. Wir erkennen
gar keine Qualitäten, und was man dafür hält, das sind keine Qualitäten.
Wo wir eine Substanz erkennen, da geschieht es durch eine Gruppe
von Merkmalen, welche unter gleichen Umständen gleich erscheinen; weil
die Kette der Begebenheiten, deren Enden die Gruppe von Selbsterhal-
tungen unserer Seele ausmachen (welche wir Merkmale nennen), immer
den gleichen Zusammenhang hat. Aus was für Gliedern eine solche Kette
bestehen möge, — das heifst, was für Bedingungen zusammentreffen müssen,
damit wir etwan einen Ton hören oder eine Farbe sehen, — dies ist
hier gleichgültig. Zuletzt er- [4 Inhalten wir in jedem Falle nichts aus
der Substanz, sondern alles aus uns selbst. Dennoch ist nun das Resultat
* Psychologie II, §. 124. (Bd. VI voil. Ausgabe)
4. Abschnitt. Eidolologie. 4. Capitel. Von der Möglichkeit des Wissens. 239
vorhanden, dafs wir die Gruppe der Merkmale als Eins, und als ein ge-
wisses Bestimmtes, setzen, weil wir sie nicht beliebig trennen, und nicht
die Merkmale mehrerer Gruppen gegen einander vertauschen können.
Was ist nun abgebildet in unserm Wissen? Es ist die Einheit des realen
Wesens, welches sich unter Umständen für uns mit vielen Merkmalen be-
kleidet. Und was bildet sich ab in einem gegebenen Erfahrungskreise?
Es ist das Zusammenkommen oder Getrennt- Werden solcher Einheiten,
die sich unter einander die Gruppen von Merkmalen bestimmen, vermöge
deren sie uns erscheinen sollen. Wer etwas mehr in der Erfahrung sucht,
wer mit dem Gewebe von Relationen, woraus sie besteht, nicht zufrieden
ist, der kann sich vielleicht eine Erfahrung oder ein höheres Wissen nach
Wunsche phantasiren, allein dadurch wird seine Erkenntnifs nicht wachsen.
Weder Beobachtung noch Speculation würden soviel Anstrengung kosten,
wie es wirklich der Fall ist, wenn mehr als jene Verbindungen und Tren-
nungen in der Erfahrung gegeben würde. Allein dafür ist auch dieses
Gegebene keiner Anfechtung fähig wegen seiner Übereinstimmung mit dem,
was aufser uns ist. Denn was enthält es eigentlich ? Nichts mehr als
jenen objectiven Schein (§. 292), der für alle Zuschauer gültig ist, aber
keine Prädicate der Dinge selbst darbieten kann. Wieviel haben die Astro-
nomen aus solchem Schein gemacht, durch vereinigte Kunst und Kraft l
Der gewöhnliche Mensch bereitet sich daraus seine gewöhnliche Lebens-
klugheit, die Befriedigung seines Begehrens und die Heilmittel seiner
Schmerzen. Zu dem Allen ist eine Kenntnifs der wahren Qualitäten und
des wirklichen Geschehens in den Substanzen weder nöthig noch auch
nur brauchbar, und von irgend einem Einflüsse. [415] Wir leben einmal
in Relationen, und bedürfen nichts weiter. Einzig der Metaphysiker ist
es, welcher gewahr wird, wie entfernt das eigentliche Reale und das wirk-
liche Geschehen von unserm gewöhnlichen Gedankenkreise liegen. Und
auch ihm ist nichts Anderes gegeben, als was sich Allen darbietet; nur
die Sorgfalt, nicht absolute und relative Position zu verwechseln, bringt
ihn dahin, die wahren Wesen sammt den wahren Causalverhältnissen in
weitere Entfernung hinter den Erscheinungen zu stellen, als dies dem ge-
meinen Verstände geläufig ist.
§• 329-
Will man nun die Form des Wissens zuerst von der Seite auffassen,
von welcher es am unmittelbarsten als abbildend kann angesehen werden:
so suche man die Lehren vom Räume zugleich in der Psychologie und
hier in der Metaphysik auf, um von diesem Standpuncte aus die beyden
Wissenschaften so weit als mödich zu überschauen. Wir haben uns näm-
lieh berechtigt gefunden, den intelligibeln und den sinnlichen Raum, un-
geachtet ihres verschiedenen Ursprungs, dennoch in Ansehung der Resul-
tate gleich zu setzen (§. 299), welches so viel heifst, als: die empirischen
Raum -Verhältnisse sind ähnlich denen, worin eine Intelligenz, welche die
realen Wesen unmittelbar anschauen könnte, dieselben zusammenfassen
würde. Mit diesem Satze, durch dessen Mangel die Kantische Lehre sich
das Wissen sehr verkümmerte, — müssen in der Psychologie noch die
Untersuchungen über die Apperception und über das Anschauen (dort
-> ,0 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
9
R 125 — 128, und §. 147) verglichen werden, wenn man sich den Ur-
sprung der Vorstellungen als eigentlicher Bilder einer Welt von Objeden,
welche einander, und dem Subjecte gegenüber stehn, und von bestimmten
Umrissen eingeschlossen sind, deut- [4 1 6] lieh machen will. Die blofse
Eidolologie, als ein Theil der allgemeinen Metaphysik, würde nur die Auf-
gabe, solche Untersuchungen anzustellen, aussprechen, und an die Psycho-
logie verweisen können. Sie würde voraussetzen, es müsse irgend einen
psychologischen Mechanismus geben, wodurch, ohne Annahme der aus
ontologischen Gründen verwerflichen Seelen vermögen, die Objectivität un-
serer vorgestellten Welt zu Stande komme. Was aber die Fragen anlangt,
mit welchen der Idealismus sich über das Objective der Erscheinungen
quält, so sind sie aus Mangel an mathematischer Vorbildung gewöhnlich
so schief gestellt worden, dafs sie kaum die Geschichte der Philosophie
interessiren können; und sie fallen mit dem Idealismus zugleich weg.
Uns leistet hier die Psychologie nicht blofs in Ansehung der Raum-
verhältnisse, und überhaupt der mathematischen Formen, ihre Dienste, son-
dern auch in Ansehung der logischen Formen. Zwar auch schon die
blofse Eidolologie würde dem logisch- Allgemeinen keine Realität einräumen.
Das verbietet ihr die Ontologie. Das Allgemeine bezieht sich aufs Be-
sondere, und verträgt wegen dieser seiner relativen Natur keine absolute
Position. Am allerwenigsten verträgt es jene vermeinte Platonische Ent-
deckung, dafs Eins Vieles werde, indem das Allgemeine sich dem Be-
sondern und Einzelnen mittheile. Diese Träume sollten aus wachenden
Köpfen ein für allemal verbannt seyn. Dennoch aber könnte Verwunderung
entstehn, wie es doch möglich sey, dafs allgemeine Begriffe und Sätze
uns in allen Wissenschaften, und selbst hier in der Metaphysik, so un-
entbehrlich sind? Gehören sie zum Wissen (möchte man sagen), so müssen
sie doch wohl irgend etwas vom Gewufsten abbilden! Wo liegt nun dies
Abgebildete? Liegt es im Seyenden? Im wirklichen Geschehen? Im schein-
baren Geschehen? Es ist nirgends zu [417] finden! Eben darum nun,
weil das Allgemeine nirgends in der Sphäre des Gewufsten zu finden ist,
würde allerdings die Eidolologie, auch ohne psychologische Ausbildung,
den Satz aussprechen: das Allgemeine ist nur eine Abbreviatur, zur Bequem-
lichkeit, ohne irgend eine eigene Bedeutung. Dann aber möchte man noch
wegen der Gültigkeit » solcher Abbreviaturen Zweifel erheben. Man würde
immer noch behaupten, die allgemeinen Begriffe seyen doch wenigstens
als eine besondere Classe von Vorstellungen in der Seele vorhanden; und
wenn sie auch in den Wissenschaften nur als Hülfsmittel des Denkens zu
betrachten wären, so müsse doch noch über die Art und das Recht,
solche Hülfsmittel anzubringen, Auskunft gegeben werden. — Alle solche
Bedenklichkeiten sind abgeschnitten, so bald man aus der Psychologie
weifs, dafs allgemeine Begriffe auch nicht einmal in der Seele als eine be-
sondere Classe von Vorstellungen wirklich vorhanden sind. Sie sind logische
Ideale. Wir fordern von uns die Beyseitsetzung der speeifischen Differenzen,
um das Allgemeine rein zu denken. Die Forderung wird aber niemals
in aller Strenge erfüllt; der psychologische Mechanismus kann sie nicht
wegen Gültigkeit SW. („der" fehlt).
4. Abschnitt. Eidolologie. 4. Capitel. Von der Möglichkeit des Wissens. 24 1
erfüllen. Es giebt nur eine Annäherung an das Isoliren dessen, was ein-
mal in Complicationen und Verschmelzungen eingegangen ist. Eben darum
aber liegt auch in der Anwendung der allgemeinen Begriffe kein Räthsel.
Die einzelnen Vorstellungen liegen wirklich als Bestandtheile in denen, die
für allgemein gehalten werden; und das Allgemeine hat nur darum Gültig-
keit, weil es in jedem Einzelnen wiederkehrt. In allgemeinen Sätzen und
Beweisen finden wir blofs uns der Mühe überhoben, das Einzelne, ihm
gleichartige, noch einmal mit derjenigen Nachforschung zu verfolgen, die
wir jetzt anstellen würden, wenn wir sie nicht schon angestellt hätten.
[418] Was endlich die speculative Form des Wissens anlangt: so ist
diese hier in der Metaphysik vor Augen gestellt; und wir wissen, dafs sie
auf den Beziehungen beruhet, welche, wenn sie verletzt oder verkannt wer-
den, sich durch Widersprüche verrathen. Hier giebt es kein unmittel-
bares Wissen, sondern nur ein mittelbares. Das heifst mit andern Worten:
das Seyende bildet sich in der Seele nicht von selbst ab; sondern auf
höhern Bildungsstufen wird das Fehlerhafte der ursprünglich erzeugten
Bilder entdeckt und berichtigt; bis diejenigen Verhältnisse der unbekannten
Qualitäten des Seyenden zum Vorschein kommen, die man voraussetzen
mufs, weil man sonst die gegebenen Formen der Erfahrung nicht ohne
Widerspruch denken kann.
Dafs nun die drey fache Form des Wissens, die mathematische, lo-
gische und speculative (um vom blofs Empirischen zu schweigen), in Hin-
sicht auf Wahrheit und Zuverlässigkeit sich sehr verschieden verhält, ist
allgemein bekannt. Fragen wir aber, weshab denn die Speculation so
grofsen Täuschungen unterworfen ist: so bieten sich uns zwey Haupt-
umstände dar, von welchen der nachtheilige Einflufs am Tage liegt. Der
erste ist: Übereilung in Ansehung der absoluten Position; der zweyte: Ver-
zvechselung des scheinbaien Geschehens mit dem wahren.
1) Alle Begriffe, Gedanken, Vorstellungsarten, die nur in bestimmten
Beziehungen Ursprung und Bedeutung haben, werden ihres wahren Sinnes
beraubt, sobald die Beziehungen, in denen sie stehen, in Vergessenheit
gerathen. Alsdann findet man sie wie einen geistigen Vorrath, um dessen
richtiges Aufstellen, Anwenden, Verknüpfen man verlegen ist. Wer sie
aber nun schlechthin zu setzen versucht, dem verwandeln sie sich in reale
Gegenstände. So wurden einst Zahlen [419] und Ideen zu Principien der
Dinge. Eben so verwandeln sich ästhetische Urtheile in Seelenkräfte, oder
wenigstens in vorgebliche Qualitäten. In dieser Hinsicht könnten wir fast
in Versuchung gerathen, wegen einiger, dem Spinoza gemachten Vorwürfe
eine Palinodie zu singen. Denn so empörend es an sich ist, in einem
Buche, welches sich Ethik nennt, die Beurtheilung des Schönen und Guten
als Vorurtheil behandelt zu sehen: eben so offenbar ist andererseits, dafs
eben darum, weil diese Ethik keine Ethik, sondern eine Kosmologie ist,
das theoretische Interesse in ihr herrscht; und gewifs mufs dies theoretische
Interesse da, zvo es einmal herrscht, gegen die Einmischung der ästhe-
tischen Beurtheilung nachdrücklich protestieren; welches eben die Absicht
des Spinoza war. Übrigens versteht sich von selbst, dafs der Denker,
nicht etwan blofs als Mensch, sondern schon um die Ereignisse geistiger
Art zu begreifen, mit den ästhetischen Urtheilen vertraut seyn mufs; da
Herbart's Werke. VIII. 16
242 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
sie in der Welt eine ungeheure Gewalt ausüben, indem sie Gefühl, Wil-
len und Handeln bestimmen. In allen moralischen Kräften, deren Ener-
gie die ganze Geschichte bezeugt, sind sie thätig; von den Antrieben des
äufserlich Schicklichen und Anständigen bis zu den innersten Motiven der
Ehre und der Tugend sind sie — zwar bey weitem nicht allein das trei-
bende, aber das lenkende und richtende Princip. Dafs sie sich aber nur
auf Verhältnisse beziehen, und keine absolute Position ausdrücken, wird
hier als bekannt vorausgesetzt.
Auf unrichtige Anwendung der absoluten Position kann endlich das
Meiste von demjenigen zurückgeführt werden, was in der Psychologie (im
zweyten Abschnitte des zweyten Theils) über die natürlichen Täuschungen
in der Auffassung der Dinge und unserer selbst, ausführlich ist vorgetragen
worden.
2. Die Verwechselung des scheinbaren Geschehens [420] mit dem
wahren reicht so weit, als die Meinung, irgend ein Geschehen auf dem
Standpuncte des gemeinen Verstandes wahrhaft zu erkennen. Die Un-
richtigkeit aller bekannten Causalbegriffe, und die Unmöglichkeit des ab-
soluten Werden, hat uns gezwungen, die Theorie von den Selbsterhaltungen
einzuführen; diese aber sind dergestalt verborgen, dafs wir sie in dem
einzigen uns zugänglichen Beyspiele, nämlich in unsern einfachen Empfin-
dungen, nicht einmal als das, was sie eigentlich sind, auffassen, bevor die
Metaphysik uns aufmerksam macht. Hiedurch verschiebt sich uns das
Schauspiel des Geschehens in der Welt dergestalt, dafs selbst das offenbar
nichtige der Bewegungen als Etwas erscheint, und dafs zu diesem Nichts
sogar wirkliche Kräfte hinzugedacht werden. Etwas minder grofs ist die
Täuschung in Ansehung der angenommenen Geisteskräfte; denn in den
geistigen Ereignissen, zu welchen sie gleich jenen bewegenden Kräften hin-
zugedacht werden, liegt wenigstens das wahre Geschehen verborgen, wenn
gleich so verhüllt, dals es ohne die weitläuftigen Untersuchungen der
Psychologie sich nicht darin nachweisen läfst. An die letzteren müssen
wir nun noch kurz erinnern, insofern sie zur nähern Bestimmung der
Lehre von den Selbsterhaltungen beytragen.
§• 330.
Die Metaphysik, wenn sie sich das wieder zueignet, was wir in der
Psychologie von ihr entlehnt haben, gewinnt in diesem letzten Theile ihrer
allgemeinen Untersuchungen noch aufser den Erklärungen über die Bilder,
oder vielmehr in und mit denselben, eine ganze, höchst wichtige Sphäre
von Begriffen, die man, sofern sie in dem gemeinen empirischen Gedanken-
kreise sich spüren lassen, hier schon längst wird erwartet und vermifst
haben.
[421] Dahin gehört vorzugsweise der Begriff von 77/«« und Leiden.
Dafs man diesen in der Ontologie nicht suchen dürfe, haben wir mehr-
mals erinnert ; auch ist die wahre Causalität, welche in den Selbsterhaltungen
liegt, offenbar kein Thun, denn sie ist keine causa tiansicns, worin
man das Thätige dem Leidenden entgegensetzen könnte. In der Syne-
chologie fand nun vollends nur ein scheinbares Geschehen Statt; die
4. Abschnitt. Eidolologie. 4. Capitel. Von der Möglichkeit des "Wissens. 243
dortigen Attractionen und Repulsionen waren nur dem Namen nach
Wirkungen, eigentlich aber lediglich begleitende Phänomene für den Zu-
schauer, bey inneren Zuständen, denen der äufsere Schein entsprechen
mufste.
Hier, in der Eidolologie, könnte man sich ebenfalls leicht irren, wenn
man etwa das Vorstellen unmittelbar für ein Thun halten wollte, wie es
Fichte nur zu häufig genannt, beschrieben, ja sogar construirt hat, indem
er von Thätigkeiten redete, die ins Unendliche gingen, dann begränzt
würden u. dergl. m.
Oben (§. 325) kamen wir an den Satz: die Objecte, welche beym
Ich vorausgesetzt werden, müssen einander nicht blofs fremdartig, sondern
selbst einander entgegengesetzt seyn. Der Leser kennt schon aus der
Psychologie den Begriff des Strebens, auf welchen der angeführte Satz bei
gehöriger Untersuchung leitet. Das Entgegengesetzte der Empfindungen
darf sich nicht vernichten, sonst wäre es unnütz und von keinen weitern
Folgen; es mufs bleiben, aber eine Hemmung verursachen. Es wäre ganz
überflüssig, wenn wir darüber noch weitläuftig werden wollten.
Aber an einer andern Stelle (§. 320) haben wir auch schon bemerkt,
dafs eben dieser Begriff der Hemmung sich finden lasse, wenn man nur
erfahrungsmäfsig die Vielheit wechselnder Bilder, welche wir in uns an-
treffen, gehörig in Betracht zieht. Es ist nämlich klar, dafs in der Einen
Seele Alles in Eins zusammen-[42 2]fliefsen müfste, wenn sich Alles mit
Allem vertrüge. Nur sofern es sich hemmt, kann Einiges von Anderm
gesondert werden; so dafs hierauf, als auf der ersten wesentlichen Bedingung,
die Mehrheit, der Wechsel, und die Begränzung der Bilder beruhen mufs.
Nun eröffnet sich der Schauplatz des Thuns und Leidens zunächst
so weit, dals man einsieht, das Streben einer Vorstellung äufsere sich nicht
blofs in ihr selbst, zur Wiederherstellung in ihren ursprünglichen Stand vor
der Heimnung, sondern in allen mit ihr verbimdenen andern Vorstellungen,
und zwar nach dem Maafse der Verbindung.
Von allen den weitläuftigen psychologischen Untersuchungen hierüber
braucht die Metaphysik nur den allgemeinen Begriff des Wirkens jeder
Vorstellung auf die mit ihr verbundenen. Diesen Begriff mufs sie an
seinen rechten Ort stellen unter den übrigen, aus der Ontologie und Syne-
chologie bekannten Begriffen.
Der neue Begriff nämlich ist weder der des Seyn, noch des wirk-
lichen, noch des scheinbaren Geschehen. Sondern er ist eine nähere Be-
stimmung des wirklichen Geschehen. Und zwar eine höchst wichtige, denn
in dieser Sphäre liegt das ganze geistige Leben, also der Sitz aller unserer
Interessen und Wer thbest immun gen. Alles Übrige in der Metaphysik ist
eigentlich nur ein Unterbau, um den sich aufser dem Kreise der Wissen-
schaft Niemand bekümmert. Wie viele Formen die Hemmung und die
Reproduction der Vorstellungen annimmt, weifs man aus der Psychologie.
Nun aber zeigen sich hier die psychologischen Lehren als etwas
Specielles, welches unter einem Allgemeinen enthalten seyn mufs. Dafs
von der Empfindung das Vorstellen zurückbleibt , auch nachdem der
äuf-[423]sere Grund sich entfernt, die Störung aufgehört hat; — dafs die
Empfindungen viele verschiedene Ordnungen bilden, und dafs aus einerley
16*
2z,4 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 1829.
Ordnung je zwey Empfindungen unter einander in bestimmtem Grade ent-
gegengesetzt sind; dafs die Reproductionsgesetze sich aufs genaueste nach
der Zeitfolge und dem Grade der Verbindung unter den innern Zuständen
richten, die wir für die Seele Vorstellungen nennen: dies alles würden wir
aus blofser Ontologie höchstens als möglich ahnden; nachdem es aber ein-
mal in Einem grofsen Beyspiel, nämlich in der innern Erfahrung, und
deren psychologischer Erklärung, deutlich vor uns liegt, besitzen wir hierin
einen Schatz von Erklärungsgründen für die gesammte Naturforschung.
Denn wenn auch die menschliche Geistesbildung nur unter Bedingung
solcher Sinnesorgane, wie sie dem menschlichen Leibe eigen sind, und
solcher Vorstellungsreihen, wie dergleichen für uns aus Natur und Gesell-
schaft entstehen, möglich ist: so kann doch nicht geleugnet werden, dafs
die ganz allgemeinen Voraussetzungen einer Mannigfaltigkeit innerer Zu-
stände in einem realen Wesen, und der Hemmung, Verbindung und Re-
production derselben, eben so gut auf jedes andere reale Wesen, welches
mit mehrern in irgend einer Gemeinschaft steht, passen müssen, als auf
die Seele.
Ferner weifs man aus der Ontologie, und noch genauer aus der Lehre
von der Materie, dafs wenn ein Zusammen mehrerer realer Wesen vor-
handen ist, dann auch die innern Zustände der mehrern einander gegen-
seitig entsprechen, und nach diesen wiederum die Bestimmungen der Lage
sich richten müssen. Also wird jenes innere Thun und Leiden, welches
wir vorhin bey verbundenen Vorstellungen bemerkten, nicht blofs in andern
realen Wesen ebenfalls im Kreise ihrer innern Zustände vorkommen, son-
dern es wird sich [424] unter Umständen auch ein äufseres Thun daran
knüpfen, welches theils die innern Zustände mehrerer realer Wesen durch-
läuft, theils sich äufserlich in Bewegungen verrathen mufs.
So viel von der Erweiterung der metaphysischen Begriffe in der
Eidolologie.
[425] Fünfter Abschnitt.
Umrisse der Naturphilosophie.
Erste Abtheilung.
Synthetische Untersuchungen.
Vorerinnerung.
Nachdem wir längst den Begriff der Materie, als einer Masse, deren
wahre Natur in der Ausdehnung liege, — und eben so den Begriff der
bewegenden Kräfte, als ob dieselben die Attribute jener Masse wären,
verworfen hatten : zeigte sich uns beydes zugleich, Materie und ihre Kraft
der Cohäsion, Configuration, Elasticität, u. s. w. als Folge einer blofsen
Relation ungleichartiger Elemente, welche, einzeln genommen, nicht das
geringste Prädicat besitzen würden, das an Materie auch nur erinnern
könnte.
Wir fanden aber gleich Anfangs den starren Körper, weil wir die
vorausgesetzte Relation in ihrer Vollständigkeit annahmen, ohne noch auf
die denkbaren Verminderungen derselben zu achten. Jetzt hingegen wird
es darauf ankommen, jene Relation durch verschiedene mögliche Abstufungen
zu verfolgen, und zu [426] versuchen, ob wir dabey auf der Spur des
erfahrungsmäfsigen Wissens bleiben können.
Man wird nun im Folgenden eine Construction finden, welche von
der für die Bildung der Materie vortheilhaftesten Annahme allmählig ab-
wärts geht; Anfangs ohne Rücksicht auf innere Zustände, dann mit Rück-
sicht auf dieselben, allein dies letztere innerhalb gewisser Gränzen. Die
Folge wird seyn, dafs die Form des Daseyns, welche man körperlich
nennt, sich immer schwankender zeigen, und in einigen Fällen jenen
zweifelhaften Stoffen entsprechen mufs, welche die empirische Physik mit
dem Namen der Inponderabilien zu bezeichnen pflegt, eigentlich aber schon
als jenseits der Gränzen des Materialen liegend betrachtet.
Hiebev wird sich dem Leser die Frage aufdringen, ob eine solche
blofs abwärts gehende Construction nicht einseitig ausfallen müsse? Ob
man sie nicht auch werde aufwärts führen können ? Wobey sie alsdann
gleichfalls nicht im Gebiete des materialen Dasevns (wofür die vortheil-
hafteste Voraussetzung Anfangs gemacht worden) verbleiben, sondern das-
selbe übersteigen werde.
2 i6 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Offenbar können wir eine solche Frage nicht verneinen; denn es ist
klar, dafs diejenigen Elemente, welche wir Seelen nennen, und welche für
den Lauf des Lebens mit Leibern verbunden sind, in der Richtung jener
aufwärts verlängerten Construction liegen müfsten. Es ist schon in der
Psychologie bemerkt worden (dort §. 154), dafs die Seele zwar einen Ort
im Leibe, allein schwerlich einen vest bestimmten Ort, sondern eher eine
für sie bewohnbare Gegend im Gehirne haben möge, wo sie, freylich
gänzlich unbewufst, ihren Standpunkt wechsele, während ihre mittelbare
Gegenwart stets im ganzen Nervensystem bleibt, durch welches sie die
'Gemeinschaft mit fast allen Theilen des Leibes unterhält.
[427] Ferner wird Niemand glauben, dafs menschliche Seelen das
Höchste seyen; denn Jeder kennt die engen Gränzen unseres Erfahrungs-
kreises. Wenn schon unsere Seelen einen solchen Vorzug in ihrer ursprüng-
lichen Qualität besitzen, dafs sie in dem System, welches wir unsern Leib
nennen, nicht eigentlich material gefesselt werden, dennoch aber darin
wohnen, und es grofsentheils beherrschen: so kann der Abstand der Qua-
litäten, worin dieser Vorzug liegt, auch noch gröfser gedacht werden ; und
die Unabhängigkeit vom Leibe, und von seiner Einrichtung, kann wachsen.
Schade nur, dafs uns hier die Erfahrung gänzlich verläfst!
Endlich könnte man auf den Gedanken kommen, ob nicht aur sol-
chem Wege, wenn man alle Abstände unendlich setzte, sich der höchste
Gegenstand des Glaubens würde erreichen, und gewissermaafsen begreif-
lich machen lassen? Dem Mathematiker ist es geläufig, in seinen Formeln
den Werth eines oder einiger Zeichen unendlich grofs anzunehmen; als-
dann pflegen die Formeln sich plötzlich so zusammenzuziehen und zu
verändern, dafs man ihre vorige Gestalt nicht mehr erkennt. Und die
Aussicht, eine Brücke zwischen Wissen und Glauben zu finden, wäre eben
so einladend, als die Hoffnung, dem Pantheismus zu entgehen, welchem
sich heutiges Tages so Manche, selbst wider Willen, in die Hände liefern.
Auch möchten Diejenigen, denen hier sogleich eine Weltseele einfallen
wird, wohl Ursache haben, zu überlegen, was sie bewege, mit diesem
Worte einen Vorwurf auszusprechen. Wenn eine Seele nach der Meinung
einiger Physiologen das Lebensprincip des Leibes wäre (welches gänzlich
falsch ist), alsdann würde eine Weltseele nur Bedeutung haben für die
Veränderungen der Körperwelt. Wofern aber Seele soviel ist als die
eigentliche Substanz des Geistes (und in [428] diesem Sinne nehmen wir
das Wort), so dürfen wir wenigstens erinnern an den ganz unvermeidlichen,
aller Religion inwohnenden, Anthropomorphismus, nach welchem Gott
ein Geist ist! Wir alle nehmen den Weg unserer Gedanken, wann die-
selben sich zu Gott erheben sollen, Anfangs in der Richtung der mensch-
lichen Seele; und wenn wir auch die Gottheit sondern von der Welt, so
dürfen wir doch in der Sonderung selbst die Verbindung nicht ver-
kennen.
Jener Gedanke wäre demnach vielleicht nicht so ganz verwerflich,
wenn er sich nur ausführen liefse. Hoffentlich aber wird einem Jeden
sogleich klar seyn, welcher ungeheuren Unsicherheit des Verfahrens man
sich dabey hingeben würde. Wollten wir in irgend einer Theorie auf
einmal gewisse Abstände unendlich setzen: so würden wir Gefahr laufen,
5.Abschn. Umrisse d. Naturphilosophie. i.Abth. Synthet. Untersuch. Vorerinerung. 2A7
dafs der geringste darin begangene Fehler sich ins Unendliche vergröfsere,
und das Ziel der Untersuchung gänzlich verfehlt werde.
Im vorliegenden Falle aber ist das Ziel aufgestellt durch die bekann-
ten göttlichen Eigenschaften, in denen die ästhetische Auffassung unver-
kennbar ist. Gottes Heiligkeit, Gröfse, Güte, richtende und vergeltende
Gerechtigkeit entspricht so unmittelbar den praktischen Ideen, dafs sie
daraus hätten gefunden werden können. Die eigentlich moralischen Be-
ziehungen, Trost im Unglück, Sanction der Pflicht, und Ermunterung zur
Tugend, vereinigen sich mit jenen Eigenschaften, um die unverletzliche
Grundlage der Religion zu bilden.
Diese ästhetische und moralische Auffassung entbehren, und durch
irgend etwas Anderes ersetzen zu wollen, — wäre ein vollkommen unge-
reimtes Beginnen, welches Niemandem in den Sinn kommen kann. Es
fragt sich blofs, ob ein theoretisches Wissen, oder auch nur ein theore-
tischer Gedanke dargeboten werden könne, welchem die längst vorhandene
ästhetische Auffassung [429] möge abgewonnen werden? Allein wer dar-
nach strebt: der erinnere sich an die Fabel von der Seniele, die sich ihr
Verderben erbat!
Oder wer so weit nicht gehen will, der beobachte nur die Wirkung
des neuern Pantheismus. Ein Theil wenigstens von dem Anstöfsigen,
was er fühlen läfst, liegt in der theoretischen Ansicht, welche er statt
der ästhetischen, oder doch mit derselben verbunden, aufstellt. Keine
Naturlehre wird Dank gewinnen, wenn sie sich dem Religionslehrer auf-
dringt. Für ihn quillt keine Begeisterung aus Magnetismus und Elektrici-
tät, aus Säuren, Alkalien und Metallen; gleichviel ob von der Substanz
dieser Dinge, oder von ihrer gesetzmäfsigen Verknüpfung die Rede sey.
Anders verhält es sich mit der Teleologie. Nicht nur wird sie wohl-
thätig empfunden, sie gehört auch wesentlich zur Auffassung des Gege-
benen. Dafs sie von Kant und Fichte gering geschätzt wurde, lag in
der idealistischen Richtung beyder; und hätte von Realisten nicht nach-
geahmt werden sollen. Aber freylich zeigt sie eine Kunst, die wohl
Manchem überflüssig scheint. Das Auge und das Ohr sind gebaut unter
Voraussetzung des Lichts und der Luft. Wäre es nicht kürzer gewesen,
das Sehen und das Hören unmittelbar zu schaffen? Dann wäre die Augen-
heilkunde mit ihrer Unsicherheit ganz erspart; und nach Mitteln gegen
die Taubheit würde nicht vergeblich gesucht. Die Füfse dienen zur Be-
wegung; die Zähne zum Fangen und Zermalmen der Speisen. Konnte
sich die höchste Kunst auf das Nichtige blofser Raumverhältnisse ein-
lassen? — Wer so fragt: dem antwortet die Natur durch die blofse That.
Und wer die Kunst dieser That gering achtet, weil sie so tief in die
Welt der Erscheinungen eingreift, der bemerke wenigstens, dafs die näm-
liche Kunst ins Innere der Elemente, und ins wahre Gesche-[43o]hen, auf
eine Weise hinabsteigt, wobey unsrer Chemie schwindelt, und unsre Physiologie
wohl schwerlich auch nur die Fragen versteht, die ihr aufgegeben sind.
Wenn diese Betrachtungen sich dem Leser am Ende des nachfolgen-
den Versuchs von einer neuen Seite darbieten : dann werden wir glauben
dürfen, etwas erreicht zu haben. Denn bey solchen Gegenständen sind
die kleinsten Ansprüche die besten.
2a8 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Nur von einer einzigen Seite, und blofs um einigermaafsen die Be-
griffe aufzuklären , mag hier von der Teleologie gesprochen werden.
In der Synechologie ist gezeigt, dafs unter einer Menge von gegen-
seitig unabhängigen Körpern allemal Bewegung als ihr ursprüngliches
Raumverhältnifs zu erwarten, Ruhe dagegen unendlich unwahrscheinlich
ist; weil sie unter den unzähligen Möglichkeiten der gröfsern oder gerin-
gern Geschwindigkeit nur ein einziger Fall, nämlich derjenige Fall ist, in
welchem gerade die Geschwindigkeit gleich Null seyn würde.
Angenommen nun, diejenigen Weltkörper, welche wir Fixsterne nennen,
stünden wirklich, der Bedeutung des Wortes gemäfs, zu einander in stets
gleich bleibenden Raumverhältnissen und Entfernungen : so würden wir,
selbst noch ohne die Zweckmälsigkeit einer solchen Bevestigung gerade
einzusehn, uns dennoch hierüber im allerhöchsten Grade wundern, und
eine Absicht hinzudenken, die aus dem unermefslichen Gebiete der Mög-
lichkeiten diesen Fall herausgehoben und erwählt habe. Es wäre nun
nicht ein von uns vollkommen begriffener Zweck, — denn warum sollten
gerade alle Bewegungen vom Himmel verbannt seyn? -— aber es wäre
das Seltsame und aller Wahrscheinlichkeit ganz Zuwiderlaufende, welches
uns bestimmen würde zu sagen: sehet hier den Finger einer unendlichen
Macht; [431] denn wir kennen nicht glauben, dafs diese Anordnung der
Dinge von selbst da sey.
In der Wirklichkeit ist es nun der Teleologie nicht vergönnt, so positiv
aufzutreten, wenigstens nicht in diesem Puncte. Denn von einigen, wie-
wohl höchst wenigen, Fixsternen ist die Bewegung den Astronomen be-
merkbar.
An unmittelbar schlagender Evidenz hat also die Teleologie etwas
verloren ? Allein man überlege den Verlust nur genauer. Ist denn das-
jenige, was die Erfahrung lehrt, in der That das Nämliche mit dem,
welches man im rohen Zustande einer sich selbst überlassenen Materie
erwarten konnte?
Alle möglichen Geschwindigkeiten waren bey einer so ungeheuren
Menge von Weltkörpern, wie wir erblicken, der Wahrscheinlichkeit ge-
mäfs. Welche Geschiüindigkcit ist denn wohl die gröfstc? Und wie weit
entfernt müssen wir denn wohl von denjenigen Weltkörpern seyn, die sich
mit der gröfsten möglichen Geschwindigkeit (wenn dies nicht Unsinn wäre),
bewegen, damit dieselbe für uns ganz unmerklich werde? — Freylich ist
es die Entfernung, welche uns dahin bringt, sehr viele gegenseitige Be-
wegungen der Fixsterne gar nicht wahrzunehmen. Aber so lange man
nicht eine Gränze bestimmen kann, über welche hinaus die Geschwindig-
keit sich nicht gröfser denken läfst, bleibt immer die natürliche Erwartung
diese: es werde gar manche Bewegung einzelner Sterne wohl grofs genug
seyn, um leicht bemerkt zu werden. Die Entfernung ist und bleibt eine
endliche Gröfse. Warum denn sind die Geschwindigkeiten aller Fixsterne
so gering, dafs unserm unbewaffneten Auge der Himmel mit völlig ruhi-
gen Lichtern zu leuchten scheint, und mit dem Fernrohre noch die ange-
strengteste Beobachtung verbunden werden mufs, damit in seltenen Fäl-[\i2 2]
len eine Spur von Bewegung zum Vorschein komme? — Die Abweichung
des Gesehenen von dem Erwarteten, vom Wahrscheinlichen, bleibt immer
5. Abschn. Umrisse d. Naturphilosophie. i.Abth. Synthet. Untersuch. Vorerinnerung. 249
noch so ungeheuer, dafs der Verlust, den die Teleologie glauben könnte
zu erleiden durch die entdeckten Bewegungen einiger Sterne, viel zu klein
ist, um irgend in Betracht zu kommen. Der Himmel ist für uns immer
noch der alte Kosmos, wenn wir nur nicht die Kosmologie als ein Netz
von bestimmten Begriffen betrachten, womit er sich umstricken liefse.
Nicht mit Unrecht also gebraucht man die Worte Glauben und Ahn-
den im Gegensatze des Wissens in Fällen wie dieser hier. Es fehlt etwas
am Belege einer dogmatischen Behauptung. Gleichwohl, sobald man ver-
sucht, ihr zu widersprechen, und einen andern nur leidlich vernünftigen
Gedanken an die Stelle zu setzen: so stöfst man auf eine so ungeheure
Unwahrscheinlichkeit, oder auf ein so thörichtes Hypothesen -Spiel, dals
selbst der kälteste Verstand sich dagegen erklären mufs.
Die Teleologie wird daher nicht etwan erbeten vom Gefühl, wie so
Manche sich vorzustellen scheinen. Gerade umgekehrt: erst sind die teleo-
logischen Vermuthungen , als höchste Wahrscheinlichkeiten, schon in der
lediglich theoretischen Ansicht vorhanden; alsdann liiefsen sie zusammen
mit dem moralischen Glauben, der in jedem menschlichen Gemüthe seine
unvertilgbaren Wurzeln hat; und dies Zusammenfliefsen kann Niemand
hindern, weil gar kein Grund dazu vorhanden ist.
Es liegt nicht an der Natur, weder in uns noch aufsei uns, wenn
irgendwo die Teleologie ihre Wirkung zu versagen scheint. Es liegt an
den falschen Systemen. Diese sind Schuld, wenn hier Einer fragt: aber
wo ist denn der Zweck der Pflanzen und Blumen, die ungesehen wachsen,
blühen und welken? — Dort ein [433] Andrer: aber welchen Werth hat
denn die Geniefsung, das Vergnügen, welches die Thiere und der Mensch
von so künstlichen Anstalten gewinnt?
Bevden Fragen liegt der Mangel der ästhetischen Ansicht zum Grunde.
Nicht jedes Kunstwerk hat einen Zweck aufser sich ; und so wenig wir
auch uns unterstehen dürfen, die Analogie mit dem menschlichen Künst-
ler überall positiv vesthalten zu wollen, eben so wenig dürfen wir doch
in Ansehung der höchsten Kunst Fragen aufwerfen, die schon den Men-
schen beleidigen würden. Wer Blumen zeichnet, der will nicht gefragt
seyn, warum er sie zeichne? Genug, sie gefallen ihm! Wer darf nun fra-
gen, zu welchem Zwecke Blumen geschaffen wurden ? Das ganze blühende
Pflanzenreich, so weit es vor unsern Augen steht, erfreut uns; aber es
braucht nicht gerade Uns zu erfreuen. —
Nicht ähnlich, sondern ganz entgegengesetzt scheint die andre Frage.
Der Zweck, nämlich Genufs, wird eingeräumt; aber der Genufs wird als
werthlos bezeichnet. Was liegt denn, so lautet die Frage, an diesem
Genüsse, da jede nur leidliche Moral denselben verachten lehrt? Was ist
denn Würdiges, Hohes, Religiöses in der Verehrung des höchsten Wesens,
nachdem die Vorstellung desselben erniedrigt worden zur Fürsorge für
das Flüchtige und Gemeine der Empfindungen von Lust und Schmerz?
Es ist wahrlich schlimm, dafs man zu unserer Zeit noch solche
Reden beantworten mufs! Der Fehler liegt gerade an derselben Stelle
wie zuvor; es fehlt die ästhetische Ansicht: hier aber nicht der Blumen
und Pflanzen, sondern gerade des allerhöchsten Gegenstandes, der sich
ihr darbietet. Es fehlt die Idee des Wohlwollens.
2tQ !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Das Wohlwollen selbst, ohne irgend einen Genufs, den es hervor-
bringen, ohne irgend einen Schaden, den [434] es verhüten möchte, —
ist das Schönste unter dem Schönen; so wie das Übelwollen das Häfs-
lichste unter dem Häfslichen.
Wo nun das Wohlwollen Macht hat zu wirken, da wirkt es. Und
das Schauspiel, welches hier der Contemplation dargeboten ist, zerfällt in
zwey Theile; der eine Theil ist das Wirken, der andere aber ist das
Wohlwollen selbst. Unendlich schöner ist der zweyte als der erste; da-
her wird keine Weisheit, so hoch sie stehe, dem Wohlwollen Einhalt thun
in seinem Wirken, wofern nicht bestimmte Gründe demselben entgegen-
stehen. Man kennt aber das Wohlwollen gar nicht, wenn man es erst
durch seine Zwecke adeln will. Es hat seinen Adel in sich selbst. Die
Anwendung hievon ist leicht zu finden.
Wir wollen nun den Irrthum der Systeme nicht härter anklagen. Er
ist schädlich genug geworden ; aber gleichwohl hat er seine Gründe in
der ganzen Verwickelung philosophischer Probleme. Nur sollten Diejeni-
gen, welche gar sehr der Nachsicht bedürfen, sich auch ihrerseits hüten
vor jenem spinozistischen Übermuthe, nach welchem es eine leichte Sache
seyn soll, alle Fragen, die in Ansehung des göttlichen Verstandes können
vorgelegt werden, zu beantworten.* Die erste aller religiösen Tugenden
ist Demuth; und die Resultate der teleologischen Naturbetrachtung sind
eben deshalb, weil sie nicht gestatten, die Welt als eine geometrische
Figur zu betrachten, ganz geeignet, den Menschen, der sich auf dieser
Erde stets fremd findet, in Demuth zu erhalten.
Entgegengesetzt dem spinozistischen Übermuthe ist derjenige Muth,
welcher sich bereit erklärt, der Erfahrung den Rücken zu kehren, wo von
über-[435]sinnlichen Dingen die Rede sey. ** Wider ihn vermag keine
Metaphysik etwas, die von der Erfahrung ausgeht. Wir müssen ihn mit
ähnlicher Hochachtung betrachten, wie den Muth der Eleaten, die aus
theoretischen Gründen mit der Erfahrung brachen. Allein man darf zwei-
feln, ob es zu einem solchen Extrem gekommen wäre ohne die Laune
der Zeit, müde zu seyn im Bewundern der Natur. Gewifs eine üble
Laune; denn sie führt auf Grübeley und Streit. Grübeley ist jede Frage,
wie die Gottheit wirke. Unsre Causalbegriffe mögen wie immer be-
schaffen seyn: dies ändert die That nicht, die vor Augen steht. Soll eine
menschliche Handlung gewürdigt werden: so fragt man zwar nach dem
Thatbestande, aber nicht nach der Verbindung zwischen dem Willen, den
Nerven und den Muskeln. Das Wie ist gleichgültig für den Werth.
Auf Grübeley führt auch sehr leicht die Frage von der Zulassung des
Gemeinen, des Übels, und des Bösen. Konnte die Gottheit das Böse
ertragen, so kann es auch der Mensch, soweit dasselbe nicht in seiner
Macht steht! Man hüte sich nur, wo vom Ursprünge der Dinge die
Frage ist, Böses und Gutes, so in Einen Punct zu drängen, als wollte
man den Unterschied verwischen. Diese Einheit bleibt gleich gefährlich,
welche Namen man ihr auch beylege.
* Man sehe zurück auf Seite 126 des ersten Theils.
** Bouterwecks Religion der "Vernunft, S. 311 und 316.
5-Abschn. Umrisse d.Naturphil. i.Abth. Synthet.Untersuch. i.Cap. V.Untersch. etc. 25 1
Erstes Capitel.
Vom Unterschiede des synthetischen und analytischen Theils der
philosophischen Naturlehre.
§• 33i.
Reinhold sprach einst: meine Philosophie weifs wenig; aber sie
meint gar Nichts. Allein es zeigte [436] sich, dafs er vom Meinen nicht
so frey gewesen war als er glaubte; und das ist kein Wunder. Denn die
Gegenstände des Meinen liegen vor Augen; und es ist fast so schwer,
sich in Ansehung derselben in die Geduld blofser Unwissenheit zu ergeben,
als ein achtes Wissen an die Stelle der Meinung zu setzen. Denjenigen
Naturforschern nun vollends, welche statt aller andern Meinungen die
einzige haben und behaupten, dafs wo ihre Kenntnifs am Ende ist, da
die natürlichen Gränzen alles menschlichen Wissens bevestigt seyen, —
diesen können wir zeigen, dafs noch Raum genug für menschliches Nach-
denken vorhanden ist; wenn wir gleich uns begnügen müssen, diesen
weiten Raum nur durch Meinungen, in welche unser Wissen sich fast un-
merklich verliert, anzudeuten.
Indessen sollen die nachfolgenden Bogen nicht dem Streite gewidmet
seyn; nicht einmal wider die, welche neuerlich den Namen Naturphilo-
sophie, als ob er ihr ausschliefsendes Eigenthum wäre, ihren spinozistisch-
platonisch - idealistischen Meinungen beygelegt, und ihn dadurch einem
mannigfaltigen Verdachte Preis gegeben haben. Unser Zweck, indem wir
Meinungen über die Natur vortragen, ist blofs Erläuterung der metaphysi-
schen Lehrsätze durch Anwendung auf bekannte Gegenstände. Mit diesem
Zwecke beschäfftigt, scheuen wir zwar nicht die Gefahr, uns in demselben
Augenblicke von der Spur der Wahrheit zu entfernen, wo vvir den streng
geprüften Grundsätzen die minder genau erwogenen Anwendungen abzu-
gewinnen suchen; aber die Besorgnifs zu irren, wird dennoch unsern noch
übrigen Vortrag in die Gränzen des Nothwendigsten einschliefsen. Wir
versprechen nicht Lehrsätze, sondern nur Umrisse; in der Überzeugung,
dafs gemäfs den zuvor bewiesenen Wahrheiten der Metaphysik diese Um-
risse dereinst ausgefüllt werden können, sobald man [437] Übung genug
erlangt haben wird, um sich unter den möglichen Versuchen, sie im weitern
Nachdenken zu benutzen, gehörig zu orientiren.
Je unsicherer aber Anfangs dergleichen Bemühung nothwendig aus-
fallen mufs : desto dringender ists, dafs man die verschiedenen Arten der
Untersuchung, welche bevorsteht, gehörig sondere, um nicht gleich mit
fruchtlosen Verirrungen zu beginnen. Wiewohl nun schon in der Psycho-
logie die Trennung des synthetischen und analytischen Theils deutlich
genug vor Augen liegt : so müssen wir dennoch jetzt eine neue Aufmerk-
samkeit darauf richten.
Synthetisch sind diejenigen Untersuchungen, welche von den meta-
physischen Principien ausgehn, und das Mancherley, was daraus folgen
kann, durch Sonderung der möglichen Fälle vor Augen legen. Analytisch
hingegen heifsen die Betrachtungen, welche von den Thatsachen anheben,
und dieselben auf ihre Erklärungs- Gründe zurückführen. Der Sinn der
2K2 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Benennungen bietet sich leicht dar. Könnten wir alle Folgen aus den
metaphysischen Principien entwickeln, so würden wir hiemit eine Natur in
Gedanken zusammensetzen, in deren Mitte sich derjenige Theil der Natur,
welcher uns als Erscheinung vor Augen liegt, wiederfinden müfste. Könnten
wir andererseits das Gewebe auflösen, welches erscheint, so würden wir
darin zuletzt das Reale, insofern von ihm die Erscheinung ausgeht, wieder-
finden; sammt allen seinen innern und äufsern Zuständen, vermöge deren
es sich uns zu erkennen giebt. Eigentlich also sollte jeder Theil der
Wissenschaft, der synthetische sowohl als der analytische, sie ganz ent-
halten, nur in verschiedener Form, so dafs einer dem andern als Probe
der Richtigkeit diente. Allein man mufs zufrieden seyn, wenn beyde Arten
der [438] Untersuchung in der Mitte zusammentreffen, und sich passend
verbinden lassen.
Wären die sogenannten Deductionen a priori, welche in der Natur-
philosophie so oft schon versucht wurden, von richtigen Gründen aus-
gegangen, und durch richtige Schlüsse gewonnen worden : so hätten sie
den synthetischen Theil der Wissenschaften längst geliefert; und wir
brauchten ihn nicht von vorn an zu suchen. Umgekehrt: wäre eine ge-
naue Analyse der gegebenen Thatsachen angestellt worden, so hätte der
Irrthum sich nicht halten können. Allein man mufs nicht verlangen, dafs
die Analyse zum Ziele komme, wenn nicht die Synthese vorgearbeitet
hat; denn die Verwickelungen in der Erscheinung sind zu grofs, zu täu-
schend, und von den ersten Gründen zu weit entfernt, als dafs Beobach-
tungen und Experimente für sich allein zur Naturlehre genügen sollten.
Wenigstens wäre es ein Irrthum, wenn Jemand die in der Synechologie
gelieferte Deduction des starren Körpers, welche wir allem Nachfolgenden
zum Grunde legen müssen, für eine Frucht der Analyse, oder für einen
Fund des mehr oder weniger glücklichen Rathens halten wollte.
§• 332.
Schon in der grofsen Schwierigkeit des synthetischen Theils liegt ein
Hauptgrund, weshalb man ihn vom analytischen gesondert halten mufs.
Gesetzt, man habe sich in der Synthesis geirrt: so läfst sich durch er-
neuertes Nachdenken der Irrthum finden, so lange man ihn noch nicht
liebgewonnen hat durch eine Deuteley, vermöge deren er als scheinbare
Erklärung irgend eines Naturgegenstandes sich gelten macht. Hingegen
alle Vorliebe für grundlose Hypothesen wurzelt in der Einbildung, die
Natur lasse sich nun besser überschauen und durchschauen, als vorhin.
Daher gehört die Ver-[439]niengung der Analyse und Synthese zu den
wirksamsten Künsten, um sich und Andre zu täuschen.
Noch mehr! Sobald eine trügliche Ähnlichkeit zwischen den That-
sachen und den synthetisch abgeleiteten Folgen hervortrit, läuft man Ge-
fahr, im weitern Folgern vorzeitig gestört zu werden; und schon blofs
darum die Wahrheit zu verfehlen, weil man zu früh aufhört, darnach zu
suchen. Die Theorie mufs sich Zeit nehmen, um sich vollends zu ent-
wickeln; sonst kann sie falsch zu seyn scheinen, blofs weil sie mangelhaft
ist. Wie würde es z. B. den Gesetzen des Falls schwerer Körper er-
5. Absch. Umrisse d.Xaturphil. i.Abth. Synthet.Untersuch. i.Cap. V.Untersch.etc. 253
gehen, wenn man sie mit der Erfahrung vergliche, ohne zugleich die Ver-
zögerung durch den Widerstand der Luft, und deren Verschiedenheit bey
gröfserji und kleinern Dichtigkeiten der Massen, in Rechnung zu nehmen?
Wie ging es dem Copernicanischen Systeme, ehe man die grofse Ent-
fernung der Fixsterne hinreichend darthun konnte ?
Es ist nun zwar nicht immer ein Ruhm für eine Theorie, wenn sie
scheint auf einmal Alles zu erklären; denn so lange nicht die genaueste
Vergleichung angestellt worden, kann man eher erwarten, die Theorie
werde schwerlich die Umstände zugleich umfassen, und daher müsse sie
bey völliger Aufrichtigkeit ihre Abweichung von der Erfahrung an den
Tas legen. Andererseits aber ist doch auch nicht eher die volle Be-
stätigung vorhanden, bis die Abweichung verschwindet. Daher mufs man
solche Bestätigung, so erwünscht sie seyn würde, entbehren lernen, und
desto mehr Sorgfalt anwenden, um dem synthetischen Theile der Unter-
suchung seine eigentümliche Evidenz zu erhalten.
§• 333-
Diese letztere ist um desto nöthiger, da man gar nicht Ursache hat
zu glauben, alle richtige Folgerungen aus [440] den metaphysischen Prin-
cipien würden sich in unserer Sinnen weit bestätigt finden. Nur zu oft
vergifst man die engen Schranken irdischer Erfahrung. Die Metaphysik
aber ist keineswegs ihrer Natur nach eingeschlossen in diesen Schranken.
Sie kann zu sehr richtigen Resultaten führen, die wir nicht zu gebrauchen,
nicht anzuwenden wissen, weil die Gegenstände, worauf sie passen, eher
Platz haben auf dem Jupiter und Saturn, als auf der Erde. Solche Re-
sultate müssen alsdann paradox erscheinen; und Niemand wird im Stande
seyn, dem Übel abzuhelfen.
Man suche sich nun das Verhältnifs zwischen dem synthetischen und
analytischen Theile der Naturphilosophie deutlich vorzustellen. Jener geht
seiner Bestimmung nach ins Weite; dahin kann ihm dieser nicht folgen.
Andererseits braucht dieser ein Detail, was jenem nur selten möglich seyn
wird zu erreichen. Für die Erklärung unserer Erscheinungswelt auf der
Erde wird der Plan im synthetischen Theile viel zu grofs angelegt; aber
es wäre ein wissenschaftlicher Fehler, ihn kleiner zu verzeichnen. Die
Ausführung eines solchen Plans bis zu dem Grade, dafs er unserem Er-
fahrungskreise durch genaue Erklärung entspräche, ist wiederum zu viel
gefordert; keine menschliche Kraft wird hierin je zu Ende kommen.
Ist nun hier ein Misverhältnifs: so darf man sich gleichwohl nicht
darüber beklagen. Menschliches Nachdenken mufs das Seine thun, un-
bekümmert um den Erfolg. Es steht unter sittlichen Gesetzen, denen es
sich nicht durch vorgeschützte Bedenklichkeiten entziehen soll.
Fürs erste jedoch wird dies Misverhältnifs wenig sichtbar werden
können ; denn es wird nur zu sehr bedeckt und verhüllt durch ein anderes,
dessen Grund in unserer mangelhaften Kenntnifs liegt. Es ist nämlich
noch lange nicht zu erwarten, dafs der synthetische [441] Theil der Natur-
philosophie sich mit einiger Ausführlichkeit selbstständig entwickeln könne.
Wir scheiden ihn vom analytischen Theile mehr deshalb, um seine künf-
2 :a I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
tige und gebührende Stellung richtig zu bezeichnen, als wegen des geringen
Vorraths, den wir zur Ausfüllung der Stelle besitzen. Und selbst diesen
Vorrath, gering wie er ist, werden wir noch mit den analytischen Be-
trachtungen hie und da vermischen, weil es gar zu schwer seyn würde,
nur einen verständlichen Ausdruck in der Sprache zu finden, ohne Hülfe
der Beyspiele aus der Erfahrung.
Endlich wird sich Niemand verhehlen, dafs auch der analytische
Theil nur insofern zur Entwicklung gelangen kann, als ihm durch die vor-
handene empirische Physik eine sichere Grundlage dargeboten wird. Aber
Jedermann sieht zugleich, wie veränderlich die noch sehr jungen und un-
vollständigen Kenntnisse und Ansichten sind, welche die heutige Chemie
uns liefert. Von der Physiologie wollen wir in dieser Beziehung nur gar
nicht reden.
Zweytes C a p i t e 1.
Von der möglichen Verschiedenheit der Materie.
§• 334-
Für welche und wie viele verschiedene Bestimmungen jene einfachen
Gründe empfänglich sind, auf denen, wie in der Synechologie gezeigt, die
Möglichkeit der Materie beruht: solche und so viele Verschiedenheiten
bieten sich unserer Betrachtung dar, um in diesem gränzenlosen Gebiete
nach der wirklichen Mannigfaltigkeit [442] der Materien uns umzusehen.
Dies Gebiet ist für einen solchen Zweck viel zu grofs, aber gewils nicht
zu klein.
Nun haben wir im §. 330 eine Erweiterung bemerkt, welche die
Causalbegriffe in der Eidolologie durch den Begriff des Strebens und Wir-
kens in Folge der Hemmungen unter innern Zuständen, nicht blofs zum
Gebrauch der Psychologie, sondern der gesammten Naturbetrachtung
erlangen.
Um einen richtigen Umrifs des synthetischen Theils der Naturphilo-
sophie zu verzeichnen: mufs man also zuerst die nothwendige Gränzlinie
ziehen, welche zwischen solcher Materie läuft, worin das Gleichgewicht der
Attraction und Repulsion ganz, oder doch vorzugsweise, von den ursprüng-
lichen Störungen und Selbsterhaltungen abhängt, — und anderer Materie,
die schon in ihren äufseren Zuständen sich nach dem Streben und Gegen-
streben der innern Zustände richtet. Die letztere ist höher gebildet als
jene; die Grundlage aber, nämlich Selbsterhaltung jedes Elements, ist in
bevden dieselbe; da die Strebungen nur dann erst eintreten, wann schon
•
entgegengesetzte Zustände der Selbsterhaltungen in einerlev Elemente sich
unter einander hemmen, nach den aus der Psychologie bekannten statischen
und mechanischen Gesetzen.
Die höher gebildete Materie kann uns nicht eher beschäfftigen, als
bis wir die rohe näher kennen; auf die letztere also richten wir nun zu-
nächst unsre Aufmerksamkeit.
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. i.Abth. Synth. Unters. 2. Cap. V. d. mögl.Versch.etc. 255
§• 335-
Man gehe zurück bis in die ersten Gründe der materialen Existenz.
Die Attraction (§. 269) setzt die Selbsterhaltung, diese aber (§. 234) hin-
wiederum den Gegensatz der ursprünglichen Qualitäten (§. 207) voraus.
Die mögliche Mannigfaltigkeit der Materie ist dem-[443]nach zum
wenigsten so grofs, als wie vielfach der Gegensatz unter je zwey solchen
Elementen, die überhaupt Materie bilden können.
Um nun die mögliche Verschiedenheit der Gegensätze, welche an
sich unermefslich grofs ist, wenigstens symbolisch zu bezeichnen: können
wir nur an das einzige passende Beyspiel erinnern, welches vorhanden,
obgleich höchst dürftig ist. Passend nämlich wäre keins, das von solchen
Gegenständen hergenommen würde, in welchen eine Vielheit liegt; wir
müssen uns an die einfachsten Begriffe wenden, weil zur Einfacheit der
ursprünglichen Qualitäten ein Symbol gesucht wird. Ein solches bieten
uns nur die einfachen Empfindungen.
Roth, blau, grün, — kurz, die Farben mit ihren gröfsern oder ge-
ringem Gegensätzen; ferner die Töne c, d, e, fis u. s. w. ; dann die Em-
pfindungen des Geschmacks, Geruchs, Gefühls, — dies Alles nehme man
zusammen. Man vergegenwärtige sich die verschiedenen Formen des
Gegensatzes unter diesen einfachen Empfindungen. Die Töne liegen in
der Tonlinie, welche nur Eine Dimension hat; die Vocale aber A, Ä, E,
desgleichen O, Ö, E, und U, Ü, J u. s. w. können nicht in Eine Linie
geordnet werden; eben so wenig die Farben, unter denen schon Roth,
Blau und Gelb ein Dreyeck einschliefsen, worin zwey Dimensionen unter-
schieden werden müssen. Man vergesse auch nicht, dafs zwischen einigen
Empfindungen des Geschmacks und Geruchs eine entfernte Ähnlichkeit ist,
vermöge deren die Nase zuweilen vorkostet, was die Zunge geniefsen solle;
während gleichwohl keineswegs alle Gerüche sich mit den Empfindungen
des Geschmacks, noch diese alle wiederum mit jenen sich vergleichen lassen.
Man erinnere sich hiebey, dafs sogar die ungleichartigsten Empfindungen
noch entfernte Ähnlichkeiten, also auch Gegensätze spüren lassen. So
werden hohe Töne [444] mit hellen Farben, und beyde mit dem Vocal J
verglichen; tiefe Töne, dunkle Farben, der Laut Ü, und alles Dumpfe,
was ein Gefühl der Beklemmung verursacht, — dies läfst sich ebenfalls
zusammenstellen.
Von allen solchen Zusammenstelhmgen nun gehört hieher nur die Form
des Verhältnisses. Zwischen einfachen Elementen können wir zum ivenigstcn
eben so viel Verschiedenheit, wie zwischen den einfachen Empfindungen,
und unter den Verschiedenen mindestens eben solche Verhältnisse des
Gegensatzes annehmen; und dies reicht hin, um uns von der Mannig-
faltigkeit der Materie den ersten vorläufigen Begriff zu schaffen. Das
Dürftige dieses Verfahrens erinnere übrigens daran, wie weit Naturphilo-
sophie entfernt ist, jemals Kosmologie zu werden, oder wohl gar a priori
die Welt zu construiren! Aber es pafst zu unserer Physik.
§• 336.
Kommen Elemente zusammen, die sich verhalten wie roth und blau,
oder wie zwey Töne, die um eine Octave entfeint sind, so müssen sie
2 c6 !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
vollkommen zusammen seyn (§. 269). Aber von dieser Nothwendigkeit
giebt es geringere Grade, welche den geringem Gegensätzen entsprechen.
Verhalten sich die Elemente wie roth und violet: so kommt es darauf an,
in welchem Grade Röthlich oder Bläulich dieses Violet sey. Mit dem
Gegensatze wächst die Nothwendigkeit des vollkommenen Eindringens,
das heilst, die Attraction; mit ihm nimmt sie auch ab, und wird null
bey ganz gleichartigen Elementen.
Eben so wird sie null bey disparaten Elementen. Sie mögen den
Symbolen Grün und Fis entsprechen: so ist zwischen ihnen kein Ver-
hältnifs, folglich kein Gegensatz. Angenommen nun, solche Elemente seyen
[445] in einem und demselben Orte im Räume, so sind sie dennoch für
einander nicht vorhanden; sie können durch einander hindurchgehn, als
ob der Raum völlig leer wäre. Sowohl diesen Satz, als auch das Be-
denkliche seiner Anwendung, wollen wir im Symbol zeigen. Man kann
alle Töne, die höchsten wie die tiefsten, auf den Vocal O und auf den
Vocal I singen ; die Vocale scheinen also völlig durchdringlich für die
Töne. Dennoch haben wir schon erinnert, dafs doch die Behauptung,
Vocale und Musiktöne seyen völlig disparat, nicht ganz sicher seyn würde;
dem O entsprechen die tiefen, dem I die höhern Töne. Wir werden
uns schon deshalb nicht wundern, wenn wir die Durchdringlichkeit der
Elemente für einander insofern, als dieselben disparat seyn sollten, sehr
beschränkt finden; denn die Voraussetzung ist unsicher. Aber auf diesen
Punct werden wir noch zurückkommen.
§• 337-
Je geringer der Gegensatz: desto mehr nähert sich die Lage der
Elemente der Unbestimmtheit und Gleichgültigkeit; desto leichter also
wird sie sich abändern lassen.
Gesetzt aber, irgend etwas Drittes käme hinzu, wodurch die Selbst-
erhallungen, oder die innern Zustände, welche als Folgen des Gegensatzes
in den Elementen entstehen sollten, gehemmt würden: so wäre es soviel,
als ob der Gegensatz ursprünglich geringer gewesen wäre. Ein solches
fremdartiges Drittes müfste also hinweggeschafft werden, wenn der Materie
ihre Fähigkeit, sich in der ihr zukommenden Constitution zu behaupten,
wiederkehren sollte.
Andererseits könnte auch ein hinzukommendes Drittes der Repulsion
(§. 270) einen neuen Grund zur Attraction entgegensetzen; wenn es nämlich
demjenigen, [446] welches der Zurückstofsung unterlag, durch ein neues
Verhältnifs auch eine stärkere Nothwendigkeit auferlegte, beysammen zu
bleiben.
Materien, welche aus je drey, oder je vier entgegengesetzten Elementen
in jedem Puncte, oder welche aus eben so vielen ungleichartigen Stoffen
bestehen, kann man in Gedanken zerlegen in mehrere Verbindungen aus
zweyen, zu welchen ein Drittes gekommen sey, das in jenen eine Ab-
änderung hervorbringe. Am natürlichsten wird man alsdann die Betrach-
tung bey derjenigen Verbindung anfangen, die auf dem stärksten Gegen-
satze beruhet, weil diese als die dauerhafteste und entschiedenste mufs
angesehen werden.
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. i.Abth. Synth. Unters. 5.Cap. V. d. mögl.Versch. etc. 2^7
Aber hierin können wegen gröfserer oder geringerer Masse eines
oder des andern Stoffes Abänderungen vorkommen, von denen sich tiefer
unten deutlicher sprechen läfst.
§• 338.
Nächst dem Unterschiede der stäikern und schivächern Gegensätze
kommt deren Gleichheit oder Ungleichheit in Anschlag. Gleich wollen wir
den Gegensatz alsdann nennen, wann gerade ein Element B genügt, um
eins von anderer Art, A, völlig zu stören (§. 234), das heifst, zu einer
vollständigen Selbsterhaltung zu veranlassen. Ein solches Verhältnifs aber
ist sehr unwahrscheinlich, denn es liegt in der Mitte unendlich vieler
davon abweichender Möglichkeiten. Wahrscheinlich ist jeder Gegensatz
ungleich, das heifst, so beschaffen, dafs mehrere B nöthig seyen, um einem
einzigen A eine vollständige Selbsterhaltung abzugewinnen. Der möglichen
Verhältnisse giebt es hier unendlich viele. Seyen m und n die Anzahlen
der Elemente von der Beschaffenheit des A und des B, welche erst
dann, wann sie einander vollkommen durchdrungen hät-[447]ten, sich
gegenseitig genügen würden, damit in jedem einzelnen volle Selbsterhaltung
statt finde: so wird jede geringere Anzahl der A einen geringern Grad
der Selbsterhaltung in den sämmtlichen B veranlassen, und so rückwärts.
Die Zahlen m und n können jedes rationale oder irrationale Verhältnifs be-
deuten. Denn für die einfachen Qualitäten ist allemal der Gegensatz zu-
fällig; er ist nichts Reales.
§• 339-
Nun verbinde man diesen Unterschied mit dem vorigen : so hat man
vier Fälle :
1. Starker und gleicher (oder doch nahe gleicher) Gegensatz.
2. Starker, aber sehr ungleicher Gegensatz.
3. Schwacher, und nahe gleicher Gegensatz.
4. Schwacher, und sehr ungleicher Gegensatz. *
Der erste von diesen Fällen ist es eigentlich allein, welcher unsern
frühern Betrachtungen über den Ursprung der Materie, in der Synechologie,
zum Grunde lag.
Da wir für die Stärke des Gegensatzes keinen Maafsstab haben, so
versteht sich von selbst, dafs schwacher Gegensatz so viel heifst als ein
solcher, der sich dem Verschwinden nähert. Dieser nun kann für sich
allein auch nur solche Materie erzeugen, die ihrer Auflösung nahe ist, das
heifst, die kaum den Namen der Materie verdient. Daher konnten wir
dort, wo zuerst der Begriff derselben sollte construirt werden, den Fall
des schwachen Gegensatzes noch nicht im Auge haben; seine Wichtigkeit
wird sich erst in der Folge zeigen.
[448] Sehr ungleicher Gegensatz aber ist wenigstens auf Einer Seite
schwach in den einzelnen Elementen. Gesetzt, es müsse eine Million von
'• Tiefer unten werden die Worte Caloricum, Electrtcum und Äther vorkommen.
Die Namen zwar sind bekannt; allein ihre Bedeutung in diesem Buche entspringt hier
aus der angegebenen Unterscheidung.
Herbart's Werke. VIII. 17
I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Elementen der Art B in Einem Puncte beysammen seyn, um ein einziges
Element A, welches sich in dem nämlichen Puncte befindet, in volle Selbst-
erhaltung zu versetzen : so würde ein einzelnes B in dem A nur ein
Milliontheilchen dieser Selbsterhaltung veranlassen. Und alsdann wäre ein
solches Milliontheilchen, der Intensität nach, gleich zu schätzen einer vollen
Selbsterhaltung jedes einzelnen B; damit hievon eine Million entspreche
der Selbsterhaltung in A. Gewifs wird man in solcher Vergleichung nicht
anstehn, jedem der B nur einen schwachen Gegensatz gegen A beyzulegen,
wenn auch derselbe Gegensatz (abgesehen von der Menge der B, die ihn
gegen A realisiren sollen) stark genug könnte genannt werden.
Es ist hieraus klar, dafs der vierte Fall eine Schwäche der zweyten
Potenz darstellt in Ansehung derjenigen Elemente, deren Viele zusammen
in Einem Entgegengesetzten doch nur eine schwache, oder beynahe ver-
schwindende, Selbsterhaltung hervorbringen sollen. Allein auch die kleinsten
Quantitäten werden wichtig, wenn sie grofse Coefficienten bekommen.
§• 340.
Man nehme der Wahrscheinlichkeit gemäfs an, es gebe Elemente der
mannigfaltigsten Art, welche vermöge irgend einer, wenn auch ursprüng-
lichen, Bewegung (§. 280 u. s. f.) Gelegenheit haben, zusammenzustofsen.
Jeder, auch noch so schiefe, Stofs wird eine unvollkommene Durchdringung
zur Folge haben, welche sich, wo der Gegensatz nicht gänzlich fehlt, in
Attraction, also in völlige Durchdringung verwandelt, falls nicht sogleich
irgend eine Repulsion sich entgegensetzt (§. 270).
[44g] Wir dürfen also erwarten, dafs jedes Element, welches mit
irgend einem andern in merklichem Gegensatze steht, ein solches antreffe;
und dafs Materien der mannigfaltigsten Art entstehn, gemäfs den Systemen
der verschiedenen Gattungen der Gegensätze.
Sollen irgend welche Elemente übrig bleiben, die sich nicht mit den
andern zu körperlichen Massen verdichten, so liegt der wahrscheinliche
Grund davon entweder in der grofsen Ungleichheit, oder grofsen Schwäche
ihrer Gegensätze nicht bloß gegen einige, sondern gegen alle andere Arten
von Elementen; oder auch, gemäfs dem vierten vFalle, in jenen beyden
Umständen zusammengenommen.
Dergleichen Elemente von schwachen und ungleichen Gegensätzen
gegen alle übrigen sind alsdann in den Räumen zu suchen, welche leer
bleiben werden, wenn sich in gewissen Gegenden Alles, was Materie bilden
konnte, in verhältnifsmäfsig geringe Volumina zusammengezogen und ver-
dichtet hat. Doch können sie sich unter gewissen Umständen der Materie
anschliefsen, wenn auch mehr auf eine wandelbare als beständige Weise.
Dies wird bald klärer werden.
§• 341-
Nach den bisherigen Vorbereitungen müssen wir nun versuchen, die
Existenz bestimmter materieller Moleculen zu erklären. Um aber hierüber
deutlich sprechen zu können, ist ein Beyspiel nöthig; wir werden dazu
das Wasser wählen. Hieran mufs zuvörderst gezeigt werden, dafs in unserm
5. Abschn. Umrisse d.Naturphil. i. Abth. Synth.Unters. 2.Cap. V.d.mögl.Versch.etc. 25g
frühern Vortrage noch etwas mangelt; damit nicht ein täuschender Schein
entstehe, als ob wir schon weiter vorgeschritten wären, wie es wirklich der
Fall ist.
Von dem Verhältnisse, worin Wasserstoff und Sauerstoff sich im Wasser
verbinden, giebt es bekanntlich [450] verschiedene Angaben. Eine der
neuesten ist, dafs 88,91 Gewichtstheile Sauerstoff darin mit 1 1,09 Wasser-
stoff verbunden seyen. * Da es uns hier nur um ein Beyspiel zu thun
ist : so wollen wir statt dessen der Kürze wegen das Verhältnifs 8 : 1 setzen.
Nach unseren Lehrsätzen (§. 269 u. s. f.) würden demnach 8 Elemente
Sauerstoff und 1 Element Wasserstoff noch keine Materie bilden. Und
warum nicht? Darum, weil sie ganz in einen mathematischen Punct zu-
sammenfallen, folglich gar keine räumliche Existenz haben würden. Denn
zur völligen Selbsterhaltung, welche dem Wasserstoffe gegen das genus
Sauerstoff möglich ist, gehört der Voraussetzung gemäls, dafs mit jenem
achtmal soviel Saueistoß vollkommen zusammen, das heifst, ineinander
eingedrungen sey. Desgleichen, wenn zu den obigen Sätzen keine neue
Bestimmung käme, so würden acht Elemente Sauerstoff nun erst, nachdem
sie sich im Wasserstoffe vereinigt fänden, jedes einzeln genommen die
ganze Selbsterhaltung innerlich ausüben, welche ihnen gegen das genus
Wasserstoff überhaupt zukommt. Hier wäre also noch blofse Attraction,
und durchaus keine Repulsion.
Erst dann, wann das neunte Element Sauerstoff hinzukäme, würde
Repulsion beginnen, und durch sie ein räumliches Volumen entstehen.
Der Wasserstoff nämlich würde sich nicht mehr, nicht in höherm Grade
selbsterhalten können; wenigstens nicht gegen das genus Sauerstoff. Dabey
nun würde er zwar selbst nichts leiden (wie man sich durch ein Mis-
verständnifs unserer Theorie vielleicht einbilden möchte). Aber er könnte
auch nicht durch Erhöhung seines innern Zustandes entsprechen der über-
grofsen Menge des Entgegengesetzten, welches in ihn eingedrungen wäre.
Folglich [451] müfste der äufsere Zustand, das Ineinander, sich nunmehr,
um stets dem inneren, d. h. den Selbsterhaltungen, zu entsprechen (und
aus keinem andern Grunde, am wenigsten um eingebildeter Repulsiv- Kräfte
willen), dergestalt verändern, dafs alle neun Elemente Sauerstoff, ohne Vorzug
des einen vor dem andern, um etwas weniges aus ihrem Kern, dem Wasser-
stoff herauswichen, so dafs sie nunmehr unvollkommen mit ihm und unter
sich zusammenwären. Allen Einwendungen, die man dagegen erheben
möchte, ist durch die Theorie des intelligibeln Raumes sattsam begegnet
worden (man vergleiche zunächst §. 278).
Diese bisherige Theorie nun ist nicht fehlerhaft, aber sie ist noch
mangelhaft ; wie sich durch Vergleichung mit der Erfahrung, — die uns
gerade die beste Bestätigung dafür darbieten wird, sobald der Mangel aus-
gefüllt ist, — sogleich zeigen läfst.
Man lasse in Gedanken das zehnte, elfte, — hunderte und tausende
Element Sauerstoff hinzukommen. Immer unvollkommener wird nun ihr
Zusammen mit dem einzigen Element Wasserstoff, und folglich auch unter
* Berzelius Lehrbuch der Chemie, S. 171.
2ÖO !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
einander; aber noch zeigt sich kein Grund einer solchen Repulsion, wo-
durch irgend eins könnte völlig hinweggetrieben werden.
Man lasse einige Elemente Wasserstoff hinzukommen; mehr oder
weniger, gleichviel ! Immer wird die Folge nur darin bestehn, dafs sich
das Gleichgewicht zwischen Attraction und Repulsion etwas verändert, in-
dem der Sauerstoff nun bequemer als vorhin, sich in und um die dar-
gebotenen entgegengesetzten Elemente hineinziehn und lagern kann.
Bliebe die Theorie auf diesem Puncte stehen : so könnte nach ihr
niemals Wasserstoffgas oder Sauerstoffgas im pneumatischen Apparate nach
gewohnter Art, nämlich über dem sperrenden Wasser, aufgefangen wer-
[452]den. Sondern von dem Wasser würden die Gasblasen verschluckt
werden. * Materie wäre zwar vorhanden, aber keine bestimmte Materie.
Die Stoffe würden sich in allen Verhältnissen mischen; wovon uns die
Chemie das gerade Gegentheil zeigt.
§• 342.
Jetzt wollen wir die Lücke der Theorie ausfüllen. Dazu ist eine sehr
einfache Bemerkung zureichend, die uns aber sogleich zwey neue Lehrsätze,
einen über die Attraction, den andern über die Repulsion, darbietet.
Man gehe zurück in den §. 268. Dort wurde gezeigt, dafs, un-
geachtet der Fiction, durch welche der Punct Theile bekommt, doch kein
Unterschied des innem Zustandes in Hinsicht der durchdrungenen und
nicht durchdrungenen Theile eines Elements Statt findet. Sondern wenn
auch im obigen Beyspiele sogar 10 Theile Sauerstoff mit einem Theile
Wasserstoff dergestalt verbunden wären, dafs dieser letztere einen Kern
bildete, aus welchem jene 10 Elemente zum Theil herausragten, so würden
doch die nicht durchdrungenen nach aufsen gekehrten Theile derselben
sich genau in demselben Zustande der Selbsterhaltungen befinden, wie die
innem, welche in den Wasserstoff eingedrungen wären.
Wir setzen nun das Beyspiel bey Seite. Man nehme an, dafs zwey
entgegengesetzte Elemente a und b aus irgend einem Grunde, welcher es
auch sey, sich unvollkommen durchdrungen haben, und in dieser Lage
beharren. So ist es in den nicht durchdrungenen Theilen genau eben so
viel, als ob darin der Gegensatz auch vorhanden wäre, welcher in den
durchdrun-\j\^~\genen Statt findet, und die Selbsterhaltungen bestimmt.
Hiedur ch können die Folgen des Gegensatzes eine Erweiterung erhalten;
vermöge deren ein Element wirksam wird, in einein Orte, wo es nicht gegen-
wärtig ist.
Denn wenn ein zweytes a, das wir durch a' bezeichnen wollen, ein-
dringt in diejenigen fingirten Theile des ersten a, welche von b nicht
durchdrungen sind : so trifft es daselbst zwar nicht wirklich das Element b,
aber doch den Gegensatz desselben gegen a; und mufs sich mithin da-
wider in Selbsterhaltung versetzen. Folglich bekommt seine äufsere Lage
dadurch eine Bestimmung, die einer Attraction gleich gilt; damit nämlich
* Wenn nämlich nicht in der Gasform selbst entgegenwirkende Gründe liegen ;
was wir um so mehr unentschieden lassen, da es hier blofs um Erläuterungen zu
thun war.
5-Abschn. Umrisse d.Naturphil. i.Abth. Synth. Unters. 2.Cap. V. d.mögl.Versch.etc. 261
nicht in ihm ein Unterschied entstehe zwischen Theilen, worin Selbst-
erhaltung vorgehn und nicht vorgehn sollte, mufs es ganz in das erste a
hineindringen, wofern ihm nicht irgend eine Repulsion entgegen ist.
Dies läfst sich ins Unbestimmte erweitern. So wie a mit b unvoll-
kommen zusammen, und wie a und a' sich in eben solcher Lage befinden,
eben so sey nun ferner a' mit a", und a" mit a'", desgleichen a'" mit a"" u. s. f.
so weit man will, unvollkommen zusammen. Man denke sich dies unter
dem sinnlichen Bilde einer Perlenschnur, wobey aber je zwey nächste Perlen
zum Theil in einander eingeschoben wären ; die Einschiebung mag so
wenig betragen als man will. So folgt, dafs jede in die nächste tiefer ein-
dringen mufs. Und wenn kein Grund der Repulsion einträte, würde dies
so fort gehn, bis die sämmtlichen a in b eingedrungen wären. Hier nun
scheint b in die Ferne zu ivirken ; seine scheinbare Attractionskraft erstreckt
sich mittelbar bis zum äufsersten a. Allein sie würde sogleich verschwin-
den, wenn irgend eine Lücke in der Reihe wäre, folglich die Vermittelwig
aufhörte.
Für diese scheinbare Altraction in die [454] Ferne mufs es irgend ein
Gesetz geben, nach welchem sie mit zunehmender Entfernung abnimmt. Denn
sobald das Zusammen des ersten a mit b nur unvollkommen ist, kann
auch die Selbsterhaltung in jedem von beyden dem Grade nach nur der
partialen Durchdringung entsprechen, von welcher, als ihrer Bedingung,
sie abhängt. Also ist für a' nicht das ganze b mittelbar gegenwärtig; und
wenn es selbst irgendwie gehindert wird, der Attraction nachzugeben, so
bleibt wiederum sein innerer Zustand bey demjenigen Grade stehn, wel-
cher seinem partialen Eindringen in a gemäfs ist. Noch kleiner also ist
die Störung für a", und wiederum geringer für a'", und so fort.
§• 343-
Betrachten wir nun noch einmal jene mehrern, etwan acht Elemente,
beyspielsweise Sauerstoff, als eingedrungen in Ein entgegengesetztes Element,
etwan Wasserstoff: so entdeckt sich, dafs zwischen ihnen nothwendig Re-
pulsion entstehn mufs. Denn jedes Derselben erhält sich selbst nicht blofs
unmittelbar gegen den Wasserstoff, sondern auch gegen den vervielfältigten
Gegensatz, welcher daraus hervorgeht, dafs mehrere gleichartige Elemente
durch ihn innerlich bestimmt sind. Wir wollen dies deutlicher entwickeln.
Die Elemente Sauerstoff seyen bezeichnet durch a, a', a", a'" u. s. f.
Nun ist a im Zustande der Selbsterhaltung gegen den Wasserstoff, welchen
wir b nennen. Also müfste a' sich selbst erhalten erstlich gegen b; zweytens
gegen jenes a, sofern dasselbe in einem Zustande ist, der die Gegenwart
von b voraussetzt, und sie repräsentirt. Das kann es aber nicht. Denn b
selbst ist für mehr als Ein a hinreichend, um darin volle Selbsterhaltung,
die nicht überstiegen werden kann, zu bewirken. Folglich gerathen schon
zwey a in Repul- [455] sion, denn ihre äufsere Lage, so lange sie beyde
völlig eingedrungen in b und in einander gedacht werden, findet nicht das
Entsprechende des innern Zustandes, womit sie bestehen könnte. Daraus
nun entsteht gleichwohl keine völlige Trennung, sondern es genügt, dafs
a und a' nach entgegengesetzten Richtungen ein minder vollkommenes
2&2 I« Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 182g.
Zusammen annehmen. Man glaube nicht etwan, dafs die Bewegung selbst
sie alsdann weiter führen, und völlig trennen müfste, denn diese Bewegung
wird sogleich retardirt durch wachsende Attraction (§. 272).
Was von a und a', das gilt natürlich noch in höherm Grade von
ihnen in Verbindung mit a" und a'" u. s. w. Weit entfernt also, dafs
8 Elemente Sauerstoff und Ein Element Wasserstoff noch keine Materie
bilden sollten (§. 341), treibt vielmehr ein starker Gegensatz, den sie ver-
vielfältigen, indem jedes ihn übet trägt auf die ädrigen, sie auseinander; bis
sie ein Klümpchen darstellen, das eine genau bestimmte Figur annehmen mufs.
§• 344-
Der übertragene Gegensatz wird demnach unter verschiedenen Um-
ständen Attraction oder Repulsion hervorbringen.
Gesetzt, zwey gleichartige Elemente befänden sich in einerley Zustand
der Selbsterhaltung wider ein Entgegengesetztes, von dem sie gleichwohl
jetzt getrennt wären, so würden sie, falls sie einander anträfen, und in
irgend ein unvollkommenes Zusammen geriethen, sich vollends durchdringen.
Denn jedes würde dem andern das Entgegengesetzte repräsentiren.
Aber drey dergleichen Elemente würden im nämlichen Falle einander
zurückstofsen , nachdem die erste Bewegung durch Attraction geschehen
wäre, und die [456] Durchdringung zur Folge gehabt hätte. Denn mehr
als zwey können in einander nicht bleiben, weil in solcher Lage jedem
das Entgegengesetzte zwiefach repräsentirt würde, die Selbsterhaltung aber
nur einfach wäre.
Mit der Anzahl der Elemente würde die Repulsion wachsen; die
Voraussetzung der Attraction ist, dafs sie nur paarweise zusammen, oder
dafs sie nicht vollkommen ineinander seyen.
Kämen aber zwey gleichartige Elemente mit ungleichen, ja entgegen-
gesetzten innern Zuständen zusammen, so würden sie, jedes dem andern,
die Eigenheit desjenigen Elements repräsentiren, wogegen sich jedes einzelne
in Selbsterhaltung befände. Daher müfste jedes in den Zustand des andern
gerathen. Dies würde eine Hemmung des schon vorhandenen innern
Zustandes erfordern, nach den bekannten psychologischen Begriffen. Die
Hemmung würde Zeit brauchen; die Attraction also würde nur zögernd
fortschreiten; der innere Zustand aber würde mit einer Verschmelzung der
Reste nach der Hemmung verbunden seyn. Hievon tiefer unten weiter!
§• 345-
Wir kehren zurück zu der Frage nach der Figur, welche aus der
Repulsion des Gleichartigen entstehn mufs, wenn es sich im Entgegen-
gesetzten verbunden findet. Allein wir wollen hier keine allgemeine Unter-
suchung wagen, sondern uns auf das obige Beyspiel beschränken.
Es kann nicht zweifelhaft seyn, dafs, wenn 8 Elemente im Begriff
stehn, sich aus einem gemeinsamen Mittelpuncte gleichmäfsig von einander
zu entfernen, und nun durch eine überwiegende Attraction, deren Sitz in
eben diesem Mittelpuncte ist, in einer Lage bleiben, worin sie nicht völlig
5. Abschn. Umrisse d.Naturphil. i.Abth. Synth.Unters. 2.Cap. V. d. mögl. Versch. etc. 263
getrennt sind, — alsdann die Fi-[457]gur, die sie um den nämlichen
Mittelpunkt bilden, ein Würfel seyn werde.
Als Würfel also müssen wir uns die Moleculen des Wassers, oder
vielmehr des Eises, denken, wenn wir die obige Angabe eines Verhält-
nisses der beyden Bestandtheile wie 8 zu 1 vesthalten.
Ein Zweifel dagegen kann uns einfallen, wenn wir überlegen, wie
nun zwey und mehrere dergleichen Würfel sich verbinden mögen? Dafs
die herausragenden Ecken, welche vom Sauerstoff gebildet werden, sich in
zwey Würfeln anziehen werden, folgt aus dem obigen (§. 342). Jede
solche Ecke nämlich repräsentirt den Wasserstoff, von welchem die darin
vorhandene Selbsterhaltung herrührt; sie zieht an und wird angezogen, so
als ob Wasserstoff an ihrer Stelle wäre. Aber eben darum scheint es,
dafs die Moleculen des Eises sich nur solchergestalt anziehen müfsten, wie
wenn viele Würfel erst aneinandergelegt wären, und dann in gewissem
Grade mit Beybehaltung ihrer Lage in einander eindrängen. Hieraus
würden gerade Linien entstehn, die sich unter rechten Winkeln schnitten,
nicht aber Eisnadeln, die sich unter einer Neigung von 60 Grad zu-
sammenzulegen, und in den Schneekrystallen Sechsecke zu bilden pflegen.
Man hat eine andere Angabe, nach welcher die Bestandtheile des
Wassers sich verhalten sollen wie 14,33 zu 85,66.* * Dies ist nahe wie
1 zu 6. Hiernach würden aus der Mitte sechs Elemente hervorgedrängt.
Wenn dies auf den körperlichen Raum bezogen wird, so gelangen wir
zum Oktaeder, und hiemit zu einer Vermuthung von Hauy;** doch sollen
seine Oktaeder aus Tetraedern bestehn, welches hieher gar nicht passen
[458] würde. Allein die von ihm verworfene Meinung des Des- Cartes
könnten wir vielleicht besser unterstützen, wenn wir hinzunehmen, dafs
irgend eine Ursache eine flächenförmige Verbindung bestimme, nämlich
so, dafs ein regelmäfsiges Sechseck vom Sauerstoff um den Wasserstoff
gebildet werde. Im Fallen des Schnees, oder auf einer Wasserfläche, die
früher erkaltet, als das innere Wasser, ist offenbar die Krystallbildung
nicht nach allen Seiten gleich frey; und vielleicht ist sie es selten oder
niemals, da der Einflufs der Umgebung schwerlich überall gleich seyn kann.
§• 346.
Das Wesentliche aber, worauf es hier ankommt, ist die Bestimmtheit
der Figur, welche sich die Materie in dem Verhältnisse zueignet, —
wenigstens vorzugsweise, — in dem die Störungen und Selbsterhaltungen
ihrer entgegengesetzten Elemente vollständig geschehen können. Es er-
öffnet sich aber hier ein unermefsliches Feld von Untersuchungen; theils
für die Fälle, wo die Verhältnisse nicht auf die Bildung eines regulären
Körpers hinweisen (alsdann könnten verschiedene Annäherungen an die
bequemste Lage der Elemente Statt finden), theils für die Verschiedenheiten,
* Schmidts Naturlehre, S. 222.
** Hauy, traitc de physiquet I, p. 172.
zu 95,66 SW.
264 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
welche aus dem gröfseren oder kleineren Vorrath an Elementen der einen
oder andern Art entstehn können; theils für Zusammensetzungen, deren
Bestandtheile selbst nicht gleichartig sind, so dafs in Rücksicht auf einen
oder den andern Bestandtheil solche oder andre Configurationen nöthig
werden mögen.
Anhangsweise noch ein paar Worte über das von Thekard entdeckte
Hvperoxvd des Wasserstoffs. Hier verbindet sich Sauerstoff, der aus
Barvt abgeschieden worden, mit demjenigen, welchen das Wasser enthält.
Es ist kein Wunder, wenn dazu gerade noch einmal [459] soviel Sauer-
stoff gehört, als der Wasserstoff schon aufgenommen hatte*. Denn jedes
Element Sauerstoff im Wasser kann, ohne seine Lage zu verändern, durch
den Gegensatz gegen Barvt. der in einem hinzukommenden Element
Sauerstoff vorhanden ist, veranlafst werden, sich mit diesem zu verbinden
(§. 344). So wird der Sauerstoff des Wassers gerade verdoppelt werden.
Hiebey muls einige Hemmung des innern Zustandes eintreten, worein ihn
der Wasserstoff versetzt; nämlich wegen des Unterschiedes zwischen Barium
und Wasserstoff. Und wenn ein neuer Grund solcher Hemmung hinzu-
kommt, so wird die Verbindung desto haltbarer seyn; wenn im Gegen theil
die geringste Steigerung jenes Zustandes eintrit, wird eine plötzliche Ent-
mischung zu erwarten seyn. Nun leisten jenes die Säuren, dieses die
Alkalien; und man weifs, dafs in chemischen Verhältnissen die erstem als
entgegenstehend der Natur des Wasserstoffs, die letztern aber als demselben
analog zu betrachten sind. Diese Überlegung kann, wo nicht zur sichern
Erklärung des Phänomens, so doch zur Erläuterung der vorhin aufgestellten
Begriffe dienen. Die Erhitzung, während das Hyperoxyd sich zersetzt,
läfst sich am leichtesten erklären, aber erst weiterhin, wo vom Feuer die
Rede sevn wird.
Wir haben der Versuchung nicht ganz widerstehen können, Betrach-
tungen über das Wasser, welche eigentlich in den analytischen Theil ge-
hören, hier einzumengen. Das geschah aus Besorgnifs, sonst undeutlich
im Vortrage zu werden. Der Leser suche nun, das Wasser zu vergessen,
die Begriffe aber zu behalten.
[460J Drittes Capitel.
Von der Veränderlichkeit der Materie.
§• 347-
Kann überhaupt die Materie zur Stabilität gelangen? — Diese Frage
wird natürlich genug sevn, wenn man sich erinnert, dafs nach der Mechanik
des Geistes kein System von Vorstellungen zur absoluten Ruhe kommt.
Gleichgewicht der Attraction und Repulsion soll (nach §. 271) der
Grund der Materie seyn. Aber wenn irgend eine Bewegung dieses Gleich-
gewicht erst hervorbringen mufste: so war gerade in dem Augenblicke, als
* Vergleiche Berzelics, Chemie, S. 171 des ersten Bandes.
5. Abschn. Umrisse d.Naturphil. i.Abth. Synth.Unters. 3-Cap. V.d.Veränderlichk.etc. 265
die, dem Gleichgewichte angemessene Lage der Elemente eintrat, die Be-
wegung zur gröfsten Geschwindigkeit gelangt; mit dieser ging sie fort, bis
sie durch eine entgegengesetzte Abweichung von der richtigen Lage er-
schöpft war, und nun rückgängig wurde. Daraus mag wohl eine beständige
Oscillation entstehen ; aber keine Ruhe.
Gesetzt, ein paar entgegengesetzte Elemente A und B seyen un-
vollkommen zusammen. Sie werden völlig in einander eindringen, wie
getrieben von einer beschleunigenden Kraft, welche jedoch abnimmt, und
in dem Augenblicke Null ist, wo das vollkommene Zusammen der Elemente
erreicht wird. Allein jetzt ist die Geschwindigkeit am gröfsten. Daher
bewegen sie sich gleich zwey Kugeln, welche durch einander hindurch-
fahren. Nun wird zwar ihre Geschwindigkeit vermindert, weil wiederum
ihre Lage, je weiter sie abweicht vom vollkommenen Zusammen, um desto
weniger pafst zum innern Zustande. Die Bewegung wird rückgängig werden,
wofern die Geschwindigkeit früher Null wird, als sich die Elemente völlig
getrennt haben. Aber in entgegengesetzter Richtung wird sie nun von
neuem be-[46i]schleunigt; und wenn keine andern Gründe hinzukommen,
so hört die innere Oscillation nimmermehr auf.
In einer gröfsern materiellen Masse mögen nun die vielen wider
einander stofsenden Oscillationen sich bald gegenseitig beschränken. Ob
aber bis zum völligen Stillstande? Das ist eine Frage, die natürlich nur
unter bestimmten Voraussetzungen könnte beantwortet werden. Wir wollen
uns damit nicht beschäfftitren.
\-^v
s
S- MS-
Aber wir müssen bemerken, dafs die Oscillationen nothwendig so
vielemal von neuem beginnen werden, als wie oft die Materie chemisch
verändert wird.
Kommt zu den verbundenen Elementen A und B ein drittes C,
welches dem A mehr als B, oder dem B mehr als A entgegen steht: so
verbinden sich die beyden, deren Gegensatz, folglich deren Attraction die
stärkste ist; und das übrigbleibende scheidet aus, wenn der Zustand, den
es früher in seinem Verbundenen hervorbrachte, jetzt gehemmt wird.
Falls eine solche Hemmung nicht einzutreten braucht, das heifst, falls die
innern Zustände, welche paarweise in jedem der drey Elemente gegen
beyde anderen den Actus der Selbsterhaltung ausmachen, sich hinreichend
mit einander vertragen, so wird eine Verbindung aller drey Elemente
entstehn. Allein auch dabey ist eine veränderte Configuration Derjenigen
zu erwarten, welche zuvor mit einander verbunden waren; und es kann
selbst seyn, dafs blofs die Schwierigkeit einer für alle drey passenden
Anordnung, wenn auch die innern Zustände mit einander bestünden, l doch
eine Ausscheidung des einen oder des andern aus der Mischung erfordere,
(Man wird sich hier unwillkührlich der von Berthollet herrührenden
Bemerkungen über die Fälle erinnern, wo nach seiner Ansicht die Cohäsion
— etwa [462] zwischen Kalk oder Baryt und Schwefelsäure, — eine
Absonderung bewirkt.)
1 beständen S\V.
2 66 !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
In allen diesen Fällen nun, wo veränderte innere Zustände eine neue
Anordnung der Elemente mit sich bringen, müssen die neu entstehenden
Moleculen auch eine Zeitlang innerlich oscilliren; und es ist zu erwarten,
dafs sich dies in irgend einer äufsern Erscheinung verrathen werde.
§• 349-
Wir richten jetzt unsre Blicke auf jene schwachen und ungleichen
Gegensätze, von denen wir oben (§. 340) bemerkten, dafs sie gewissen
Elementen das Eingehn in bestimmte Verbindung mit andern versagen
könnten. Aber hier mufs eins nach dem andern erwogen werden. Wir
machen den Anfang mit dem Falle, wo der Gegensatz gewisser Elemente
gegen alle diejenigen, welche zur Bildung der Materie taugen, sehr ungleich,
aber dabev nicht schwach ist. Wenn also sehr viele dieser Elemente
(man mag an Tausende, oder an Millionen denken, denn wir können hier
keine Zahlen vestsetzen) zugleich in Ein einziges Element, welches Be-
standtheil einer Materie ist, eingedrungen wären: so würden sie, alle ver-
einigt, aber nicht einzeln genommen, dies letztere in einen bedeutenden
Grad der Selbsterhaltung versetzen.
Dafs sie aber in dieser Lage nicht bevsammen bleiben könnten, ist
oben gezeigt (§. 343), denn was dort schon von der Voraussetzung galt,
nach welcher acht Elemente einer Art zusammen seyn sollten in einem
einzigen von entgegengesetzter Art, das gilt um so mehr, je ungleicher
der Gegensatz ist. Jedes würde jedem andern das, ihnen allen entgegen-
gesetzte Element repräsentiren; die Selbsterhaltung eines jeden sollte dem
gemäfs durch die Anzahl der Elemente multiplicirt wer-[4Ö3]den; aber
sie bleibt einfach, und ist keiner Steigerung fähig; daher pafst die Lage
nicht zu den innern Zuständen; die Elemente müssen wie durch eine
Gewalt, die von ihrer Anzahl abhängt, und mit derselben wächst, nach
allen Richtungen zerstreut werden.
Unter diesen Umständen erscheint das entgegengesetzte Element,
von welchem aus die Zerstreuung geschieht, wie ein strahlender Punct.
Aber hiebey sind verschiedene Modifikationen möglich. Es versteht sich
von selbst, dafs zuvörderst der Gegensatz verschiedener Grade fähig, und
doch immer noch sehr ungleich seyn kann; dann ereignet sich die Strah-
lung, aber ihre Heftigkeit ist verschieden. Andre Umstände müssen wir
verweilender betrachten.
§• 350.
Wie ungleich auch der Gegensatz, und wie stark die von dieser Un-
gleichheit herrührende Repulsion auch seyn möge: es wird doch eine
gewisse Zahl von Elementen geben, welche von dem entgegengesetzten,
das wir den Kern nennen wollen, — so stark angezogen werden, dafs sie
dadurch vor der Zerstreuung geschützt, und, nach allen Seiten aus dem
Kern herausragend, genöthigt werden, denselben wie eine Sphäre zu umgeben.
Gesetzt, diese Sphäre habe sich gebildet, und liege nun ruhig: so vermag
sie eine neue Sphäre durch Anziehung um sich zu erhalten (§. 3421,
diese wiederum eine neue, und so fort ins Unendliche. Jede nächste
5- Abschn. Umrisse d. Naturphil. i.Abth.Synth.Unters. 3-Cap. V.d.Veränderlichk. etc. 267
Sphäre strebt einzudringen in die vorhergehende; und sie dringt wirklich
ein, bis Repulsion entsteht, die mit der Attraction ins Gleichgewicht trit.
Aber wo finden wir dieses Gleichgewicht?
Die erste der Sphären wird bestimmt theils von der Nothwendigkeit,
nach welcher jedes Element derselben ganz vollkommen in den Mittelpunct
eindringen sollte; [464] theils von der Repulsion unter den sämmtlichen,
zu dieser Sphäre gehörigen Elementen. Beydes sind Umstände, die man
sich als entfrecenffesetzte Kräfte denken kann. Wenn unter ihnen Gleich-
gewicht ist, also Ruhe in der Sphäre seyn kann, so geschieht der Repulsion
nicht völlig Genüge, da ihr die Attraction entgegenwirkt. Also ist die
Sphäre dichter, und ihre Elemente liegen gedrängter, als sie bleiben könnten,
wenn auf einmal der Kern aus ihrer Mitte verschwände. Je dichter sie
aber ist: desto vielfältiger ist in ihr der Kern repräsentirt; mithin auch
desto gröfser der übertragene Gegensatz (§. 344) und die daher rührende
Anziehung. Die zweyte Sphäre (auf welche nun diese Anziehung wirkt)
ist also auch noch dichter, als sie für sich allein bleiben könnte; und so
geht das fort; aber es kommt irgend eine Sphäre, in welcher die Anziehung
so sehr abgenommen hat (§. 342), dafs jedes Element nur gerade zu so
starker Selbsterhaltung veranlafst wird (durch diejenigen Elemente, mit
denen es unvollkommen zusammen ist), als es vollständig in sich hervor-
bringen kann. In weiterer Entfernung nimmt die Übertragung des Gegen-
satzes, welche vom Kern ausgeht, immer mehr ab. Die Elemente also
sind durch keine Repulsion mehr gehindert, sich tiefer in einander ein-
zusenken; folglich drängen die äufseren Sphären nach innen. Diesem
Drucke nachgebend müssen die innern dichter werden; und das Gleich-
gewicht, welches wir annahmen, ist gestört. Der Kern, oder irgend eine
seiner innern Sphären, werden nun ausstrahlend wirken, und zwar mit
einer Geschwindigkeit, welche dem Drucke von allen Seiten entspricht.
§• 351.
Bisher nahmen wir zum Kern nur ein einzelnes, der Sphäre ent-
gegengesetztes Element. Diese Voraussetzung [465] läfst sich verändern.
Eine materiale Masse bilde den Kern. Es ist zwar nicht gleichgültig,
aus was für Elementen diese Masse bestehe (§. 34g am Ende); aber
wir setzen jedenfalls voraus, dafs die Sphäre gebildet werde von solchen
Bestandteilen , die wegen sehr ungleichen Gegensatzes gegen alles, was
sich zur Materie verknüpfen kann, auch keine Art von Elementen anderer Art
antreffen, womit sie eine veste und beharrliche Verbindung, die nicht durch
Strahlung aufgelöset zu werden Gefahr liefe, einzugehen im Stande wären.
Nach dem Vorhergehenden (§. 350) sollten sich Sphären um jedes
Element des Kerns insbesondere bilden. Da nun der Kern, als materiale
Masse, selbst schon eine Verdichtung vieler, gröfstentheils in einander ein-
gedrungener, Elemente ist: so müfsten die Sphären eben so in einander
verschränkt liegen; woraus eine aufserordentlich vermehrte Dichtigkeit der
Bestandteile derselben hervorginge. Aber dies würde einen hohen Grad
von Repulsion zur Folge haben (§. 349); woraus klar wird, dafs die Vor-
aussetzung einer eignen Sphäre um iedes Element des Kerns nicht bestehn
2ö8 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
kann. Dennoch bringt es die angenommene Ungleichheit des Gegensatzes
so mit sich; und der Kern ist daher einer Gewalt ausgesetzt, welche
strebt, ihn aufzulösen, damit die Sphären sich bilden können.
Der strahlende Stoff also, von dem wir hier reden, mufs, wenn er in
hinreichender Menge vorhanden ist, als ein sehr mächtiges Wesen erscheinen,
welches der Cohäsion stets entgegenwirkt; und wiederum durch sie be-
schränkt wird. Giebt es eine Menge von strahlenden Mittelpuncten, —
also von Körpern, welche den Stoff in die Repnlsioti versetzen, vermöge
deren er sich alsdann strahlend zeigt, wenn er nicht Sphären bilden kann, —
und stehen diese Körper einander dergestalt gegenüber, dafs sie ihn ein-
[4Ö6]ander gegenseitig zusenden: so wird die Repulsion um desto wirk-
samer werden, je gewisser die Geschwindigkeit der Strahlung den Stoff
durch die Oberflächen der Körper hindurch dringen macht, so dafs ihm
stets von neuem Gelegenheit gegeben wird, auf das Innere derselben zu
wirken. Die Cohäsion wird dieser Wirkung stets in gewissem, bald höherm
bald geringerm, Grade nachgeben müssen; und die Körper werden da-
durch innerlich gespannt seyn, äufserlich aber als ausgedehnt zu einem
gröfsern Volumen erscheinen.
§• 352-
Erinnern wir uns nun jener Oscillationen (§. 348), in welchen eine
eben neu gebildete Masse sich befindet : so sehen wir leicht, dafs dieselben
nicht ohne Einflufs auf den strahlenden Stoff seyn können. Hatte er
vorher Sphären um die Elemente gebildet, so weit ihm dieses vergönnt
war: so müssen die nämlichen Sphären in die stärkste Unordnung ge-
rathen, während die Oscillation ihrer Mittelpuncte fortdauert; und beson-
ders mufs in solchen Augenblicken, wo zwey dergleichen Mittelpuncte
völlig in einander sind, die Strahlung einen hohen Grad erreichen.
Etwas Ähnliches wird sich schon dann zutragen, wann die Körper
durch Reibung an einander in der gegenseitigen Lage ihrer Bestandtheile
gestört werden.
Sowohl die Oscillationen als das Reiben könnten aber noch auf ähn-
liche Weise eine unähnliche Folge haben, wenn die Voraussetzung, die
wir zum Grunde legten, abgeändert würde; so, dafs wiederum ein Stoff,
der keine Materie ist und auch keine zu bilden vermag, wohl aber in den
Körpern nach Verschiedenheit der Umstände bald gegenwärtig ist und
bald herausgetrieben wird, — durch die Unruhe, worin die Bestandtheile
des Körpers entweder versetzt sind oder leicht [467] versetzt werden
können, genöthigt seyn möchte, sich durch irgend eine Art von Erschei-
nungen bemerklich zu machen.
Die Frage hiernach wird bestimmt herbeygeführt durch die obige
Unterscheidung der vier Fälle (§. 339), von denen wir erst zwey in Be-
tracht gezogen haben. Der dritte kommt jetzt an die Reihe.
§• 353-
Schwacher, jedoch nahe gleicher Gegensatz ist dieser Fall. Dachten
wir uns also im vorigen Falle etwan eine Million von Elementen einer Art
5.Abschn. Umrisse d.Naturphil. i.Abth. Synth.Unters. 3-Cap. V.d.Veränderlichk.etc. 269
fähig, zusammengenommen eine starke Seibsterhaltung in einem einzigen
Elemente der Materie hervorzubringen: so wollen wir jetzo eine Selbst-
erhaltung in dem nämlichen einzigen Elemente der Materie annehmen, die
zehntausendmal schwächer seyn mag, aber dagegen, um hervorgerufen zu
werden, nur hundert Elemente des neuen Stoffes nöthig hat. Hiebey ver-
steht sich von selbst, dafs wir zugleich voraussetzen, die zehntausendfach
schwächere Selbsterhaltung sey dennoch in ihrer Art vollständig, und
könne als eine solche, wie sie ist, nicht überstiegen, nicht erhöhet, ob-
gleich von andern Selbsterhaltungen gar leicht übertroffen werden. Eben
darin besteht die Schwäche des Gegensatzes, dafs ihm nur eine geringe
Selbsterhaltung entspricht.
Die hundert Elemente aber, die wir beyspielsweise annahmen, befin-
den sich unter einander gegenseitig genau in demselben Falle, worin gleich-
viel Elemente jenes strahlenden Stoffes unter sich seyn würden. Denn
für die letzteren ist die Möglichkeit, dafs ihrer noch viel mehrere könnten
in Selbsterhaltung durch ein einziges Element der Materie versetzt werden,
etwas Fremdes, und so gut als gar nicht vorhanden. Sind sie selbst in
diesem Zustande: so können sie nicht [468] darüber hinaus; und was
anderwärts darüber hinausgeht, ist nichts für sie. Hundert Elemente, von
gleicher Qualität, auf einerley Weise in Selbsterhaltung begriffen, müssen
sich aus einem Puncte, worin wir sie allein, und sonst Nichts, vereinigt
denken, mit eben dem Grade von Repulsion zerstreuen, als hundert andre
Elemente, deren Qualität ebenfalls unter sich von einerley Art ist, in
gleich starker Selbsterhaltung und in der nämlichen Lage, sich gegenseitig
zurückstofsen werden, wenn auch derAnlafs zur Selbsterhaltung verschieden ist.
Ein Umstand jedoch kommt in einem Falle hinzu, der im andern
fehlt, oder doch viel eher verschwindet. Gesetzt, mit einer Million von
Elementen jenes erstem strahlenden Stoffes sey ein einziges, welches gegen
sie alle in Selbsterhaltung begriffen ist, vollkommen zusammen: so wirkt
ihrer Repulsion eine starke Attraction entgegen. Denn das eine Element,
welches den Kern bildet, soll mit allen vollkommen zusammen seyn; und
dies heifst soviel, als ob wir ihm eine Kraft beylegten, sie alle in sich,
folglich auch unter einander, zusammen zu halten. Hingegen in dem
Falle, welcher uns jetzt beschäftigen soll, übt der Kern nur für hundert
ihm entgegengesetzte Elemente die nämliche Wirkung aus; und denken
wir uns deren eine Million in ihm vereint, so ist der Kern nicht ein
Grund von Attraction, sondern nur von Repulsion.
Übrigens wird die Zahl hundert, die wir beyspielsweise annahmen,
noch immer einen sehr ungleichen Gegensatz darzustellen scheinen; allein
wir sehen hier nur auf die Vergleichung mit dem andern, bey weitem
mehr ungleichen Gegensatz; und nehmen auch jetzt noch eine nicht ge-
ringe Zahl, weil die Wirkungen, die wir darzustellen beabsichtigen, sich
nur von einer gleichzeitig zusammen aufgeregten Menge erwarten lassen.
[469] §• 354-
Bevor wir weiter gehn, dürfte es zur Deutlichkeit nöthig seyn, auf
die gewöhnliche Voraussetzung alle Attraction und Repulsion sev gegenseitig,
2~jO I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
einige Rücksicht zu nehmen. Sie ist zuvörderst richtig im mechanischen
Sinne, sofern dem einmal vorhandenen Grunde der Annäherung oder Ent-
fernung zwey Materien Folge leisten, dergestalt, dafs sich jede zu der
andern gemäfs ihrer Masse und Beweglichkeit hin begiebt, oder von ihr
entfernt. So zieht der Magnet das Eisen, oder wird von ihm gezogen,
je nachdem er selbst, oder das Eisen sich leichter bewegen kann. Zwey-
tens ist die nämliche Voraussetzung auch noch im naturphilosophischen
Sinne bey der ursprünglichen Attraction zweyer Elemente richtig (§. 269).
Aber schon bey dem ersten Begriffe von der Repulsion (§. 270) hat es
sich gezeigt, wie man dieselbe Voraussetzung beschränken müsse. Das-
jenige Element, dessen innerer Zustand den in ihm angehäuften anderen
nicht entsprechen kann, enthält den Grund einer nothwendigen Trennung,
oder wirkt repulsiv; während jene anderen Elemente einen Grund des
Eindringens so lange in sich tragen, bis sie in zu grofser Anzahl eindrin-
gend einander dergestalt begegnen, dafs nunmehr ihre eignen innern Zu-
stände dem vervielfältigten übertragenen Gegensatze (§. 343) nicht mehr
entsprechen können. Daher Einstrahlung und Ausstrahlung, wofern nicht
die Sphären (§. 350) eine ruhige Lage erlangen können. Dies mufs aus
den vorgetragenen Gründen vollkommen klar seyn.
jetzt wollen wir die beyden, im vorhergehenden Paragraphen ange-
nommenen Stoffe (welcher Ausdruck begreiflich nicht Materien, sondern
nur Mengen solcher Elemente, die gleichartig sind, oder für gleichartig
gelten können, bezeichnet), der Deutlichkeit wegen, mit ein paar Buch-
staben benennen. Jener erstere, von [470] starkem, aber sehr ungleichem
Gegensatze gegen die Materie, heifse C, der andere, von schwachem,
aber nahe gleichem (wenigstens viel minder ungleichem) Gegensatze, heifse E.
Dem Leser sey anheim gestellt, für jenes Caloricum, für dieses Elec-
tricum zu setzen; jedoch liegt hierin noch keine Zumuthung, welche
erst aus analytischen Betrachtungen hervorgehen wird.
Ist in irgend einer materialen Molecule der Stoff C angehäuft: so
sind drey Begriffe zu sondern. Erstlich, jedes Element C soll vollkommen
eindringen in die Molecule, damit in ihm der äufsere Zustand dem innern
entspreche (§. 269). Zweytens, wegen des starken und ungleichen Gegen-
satzes soll die Molecule in jedes Element C eindringen, so lange, bis in
ihren Elementen die volle Selbsterhaltung, welche denselben gegen C zu-
kommt, vorhanden ist. Dies sind zwey verschiedene Gründe scheinbarer
Attraction. Aber drittens: die Elemente C können dem vervielfachten
Gegensatze (§. 343) nicht alle entsprechen; darin liegt der Grund der
Repulsion.
Beym Stoffe E verhält es sich mit dem ersten und dritten Puncte
eben so; aber anstatt des zweyten entsteht bey gleicher Anhäufung in
den Elementen der materialen Molecule ein Grund der Repulsion; wegen
der vorausgesetzten Schwäche des Gegensatzes, die keine starke Selbster-
haltung gegen das angehäufte E erlaubt. Hiebey aber versteht sich von
selbst, dafs Alles darauf ankommt, wie weit durch die Anhäufung diejenige
Anzahl der Elemente E, wogegen die Materie sich selbsterhalten könnte,
überschritten wurde; denn ist sie nicht überschritten, so verhält es sich
hier, wie im vorigen Falle.
5. Abchn. Umrisse d.Naturphil. i.Abth. Synth.Unters. 3. Cap. V. d.Veränderlichk.etc. 27 I
Beyde Stoffe, C und E, haben nun das mit einander gemein, dafs
sie so viel als möglich um jede Molecule der Materie Sphären zu bilden
suchen, welche [471] Sphären gegen einander drängen, und bey starker
Anhäufung die Materie zerreifsen, so, dafs alle Moleculen getrennt werden.
Denn die Mittelpuncte, von wo die Repulsion ausgeht, sind nach dem
Obigen die Moleculen selbst; und an eine Wanderung durch Poren dürfte
dabey wohl kaum zu denken seyn, am wenigsten aber an eine ursprüng-
liche Repulsion der Elemente C oder E, ohne Zuthun der Materie, von
welcher letztern vielmehr das ganze Verhältnifs abhängt.
Ein grofser Unterschied aber liegt nun darin, dafs die Materie bey
weitem nachgiebiger seyn wird gegen C als gegen E. Von jenem läfst
sie sich ausdehnen (§. 351), weil ihre Moleculen vermöge der von ihnen
herrührenden Attraction den Stoff zusammenhalten; und eben deshalb auch
von ihm gehalten werden. Vom E aber wird sie sich sehr wenig Aus-
dehnung gefallen lassen; und dies nur für einen Augenblick. Denn ge-
setzt, die Ausdehnung sey geschehen, gewinnt der Stoff nun dadurch eine
besser passende Lage? Unstreitig ist dies der Fall bey dem Stoffe C,
dessen Sphären jetzt, da sie minder in einander gedrängt liegen, sich
besser um die Moleculen, von denen sie angezogen werden, ordnen
können; denn die Repulsion ist vermindert, und die Gründe der Attraction
bleiben. Aber beym Stoffe E bleibt derjenige Grund der Repulsion,
welcher in den materialen Moleculen liegt, auch nach geschehener Deh-
nung der nämliche ; die innere Spannung der Materie ist überdies ge-
wachsen; also kann die Ausdehnung nur augenblicklich sevn; die Molecu-
len ziehen sich wieder zusammen; die Materie ist nur erschüttert; wenn
nicht durch gar zu grofse Anhäufung des E zerrissen und zerstreut.
§• 355-
Da die Materie das E nicht, ohne erschüttert zu wer-[472]den, fort-
treiben kann: so entstehn neue Unterschiede. Die innere Configuration
der Materie kann mehr oder weniger vest bestimmt seyn; wie sich schon
aus §. 337 schliefsen läfst. Dem gemäls wird sie sich eine Erschütterung
leichter oder minder leicht gefallen lassen. Ist sie sehr dicht : so ergiebt
auch dies einen Grund der leichtern Fortleitung, weil nämlich die Sphären
des E sich beym Übergange aus einer Molecule in die andere nicht so
sehr erweitern werden, wie sie in sehr dünnen Materien jedesmal vermöge
der Repulsion thun müssen, bevor sie sich zum Eintrit in neue Moleculen
wieder zusammenziehn.
Gemäfs diesen Unterschieden wird nun das E sich in sehr unglei-
chem Grade mehr oder minder frey in den Materien bewegen, worin es
sich befindet, oder durch die es geht.
Fangen wir an bey der Voraussetzung einer körperlichen Masse, wo-
rin das E sich frey bewegt: so sehn wir sogleich, dafs es von innen her-
aus gegen die Oberfläche der Masse drängen wird, aber nicht, um dort
zu bleiben, sondern um hinaus zu fahren. Damit wir es nun nicht aus
den Augen verlieren, werden wir die Masse in Gedanken umgränzen
müssen mit einer Materie, worin es sich nicht frey bewegt; und nun die
Folgen überlegen.
2 72 I« Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
War das E in der erstem Masse nicht zu stärkerer Repulsion ange-
häuft, als in der umgebenden Materie; war die ganze Repulsion in jener
auch nicht schwächer als in dieser : so sind die Drückungen im Gleich-
gewichte ; und die Oberfläche wird nicht williger seyn als das Innere, um
das E zu beherbergen; " die Sphären desselben werden daher überall, im
Innern wie aufsen, sich so gleichförmig als möglich bilden. Allein sobald
in der Masse Überschufs oder Mangel entsteht: mufs die Sphärenbildung
einer andern Gestaltung Platz machen.
[473] Man denke sich elastische Sphären von einer Seite her gedrückt.
Sie werden sich an dieser Seite abplatten; an der andern ausdehnen; hier
verdichten, dort dünner werden; der Kern, um den herum sie sich bil-
deten, wird nicht mehr genau im Mittelpuncte bleiben, wenn er durch
andre Gründe in seiner Lage einmal bestimmt ist. Kommt der Druck
von einer concaven Fläche her : so drängt er die Sphären wider einander,
und sie widerstehen um so mehr; kommt er von einer convexen Fläche,
so divergiren die Richtungen; die Sphären sind nun nachgiebiger, und
das E, welches den Druck verursacht, sammelt sich hieher in gröfserer
Menge, weil es mindern Widerstand findet als auf concaven oder auf
ebenen Flächen. Denn wir haben stillschweigend angenommen, in jener
Masse sey das E angehäuft; es drängt nun nach aufsen besonders an
denjenigen Puncten der Oberfläche, welche convex gegen die Umgebung
sind. Alsdann wird der Druck sich unbestimmt in die umgebende Materie
hinein fortpflanzen. Nicht die Configuration derselben wird sich ändern,
aber die Sphären des E werden ihre Rundung und gleichförmige Dichtig-
keit verlieren; die Gewalt jedoch, welche sie erleiden, werden sie auch zurück-
wirken lassen, und dadurch das E auf der Fläche jener Masse vesthalten.
Die Scene wird sich ändern, sobald eine andre Masse, worin gleich-
falls dem E freye Bewegung gestattet ist, in die Nähe jener erstem kommt.
Der eben beschriebene Druck wird in ihr alles E in eine Spannung setzen,
die sich bis zu den entferntesten Theilen der Oberfläche fortsetzt; so dafs
diese fortgepflanzte Spannung gleichsam die erste Nachgiebigkeit der Sphären
in einer entfernteren Umgebung benutzen kann, um mehr Freyheit an
der Stelle zu schaffen, von wo der Druck ausging. Dies aber war in der
ersten Masse [474] die Stelle, welche der zweyten zunächst gegenüber
steht. Dorthin wird das E sich ziehen, und an andern Stellen der ersten
Masse wird seine Spannung nachlassen. Das letztere wird noch in weit
höherm Grade der Fall seyn, wenn aus der zweyten Masse das in freye
Bewegung versetzte E Gelegenheit findet zu entkommen; indem alsdann
sein Gegendruck wegfällt.
§• 356.
Hier sind wir auf den Punct der Betrachtung gekommen, wo sich
uns ein Nichtleiter zwischen zweven Leitern darbietet, deren einer un-
begränzt, der andre aber mit dem E beladen mag gedacht werden. Um
also nicht ohne Noth unverständlich zu reden, wollen wir auch die Aus-
drücke Ladung und Belegung nicht scheuen, wiewohl hier immer noch
nicht Anspruch gemacht wird, dafs man sich anderer angenommener Mei-
nungen entschlage.
5-Abschn. Umrisse d.Naturphil. i.Abth. Synth.Unters. 3.Cap. V. d.Veränderlichk. etc. 2*]\
Die Sphären des E im Nichtleiter sind von einer Seite, wegen der
Anhäufung desselben in der Belegung, gegen die andere Seite gedrängt.
Wenn nun dort an der Oberfläche ein Theil des herausgetriebenen E ent-
kommen kann: so wird die gegenüber stehende Fläche, und von ihr an
gerechnet jede dazwischen liegende parallele Schicht, das E tiefer in sich
einlassen müssen, weil ein Theil des vorigen Widerstandes fehlt. Aber
dies Einlassen ist noch kein vollständiges Durchdrungen werden. Es gleicht
vielmehr für jede Sphäre, welche früher das E um die einzelnen Mole-
culen mochte gebildet haben, dem tiefern Eindringen einer Halbkugel in
das Centrum, wobey dieselbe fast in die Gestalt eines Kegels übergehen
mufs, in dessen Spitze das Centrum liegt. Denn die andre Halbkugel
wiid abgesprengt, indem die ableitende Bewegung eben so viel hinweg-
führt, als jenseits hineindringt. Eine solche Lage des E in [475] dem
Nichtleiter ist unstreitig gezwungen ; und ganz geeignet zu einer plötzlichen
Veränderung. Sie erhält sich nur so lange, wie lange noch die Repulsion,
die von den Spitzen der Kegel, den ehemaligen Mittelpuncten der Sphären,
ausgeht, kräftig genug wirkt, um vollkommenes Eindringen zu verhindern.
Gesetzt aber, diese Repulsion werde überwunden: so müssen in Einem
Augenblicke die eindringenden Elemente des E einander begegnen in den
Moleculen der Materie, und im nächsten Augenblicke von diesen Moleculen
als Mittelpuncten auseinanderfahrend eine sphärische Form gewaltsam an-
nehmen, wobey die verschiedenen Sphären wider einander stofsend zurück
geschleudert werden, und die ihnen zum Raube gewordene Materie mit
sich zerreifsen und zerstäuben. Der bekannte Erfolg einer zu weit ge-
triebenen Ladung.
§• 357-
Wir kommen auf die Bewegungen, welche das E unter gewissen Um-
ständen den Körpern ertheilen kann. Zunächst den vorigen Betrachtungen
liegt der Fall der seitwärts gedrückten Sphären im Nichtleiter, wenn in
demselben ein Leiter sich bewegen kann. Den letztern bezeichnen wir
mit B, indem wir voraussetzen, ein andrer, ihm in einiger Entfernuno-
gegenüber stehender Leiter A sey derjenige, von welchem wegen des in
ihm angehäuften Stoffes der Druck ausgehe. Beyde Leiter werden in
diesem Falle scheinbar einander anziehn, wofern B unbegränzt ist, und
den durch jenen Druck in ihm aufgeregten und zurückgetriebenen Stoff
entlassen kann. Denn durch dies Entlassen vermindert sich seine Re-
pulsion; und die schon in ihn eindringenden, obwohl von den Moleculen
des Nichtleiters noch nicht gesonderten Elemente des E ziehn ihn zu
sich hin; eben sowohl, als sie bey völliger Freyheit in ihn selbst sich
[476] tiefer hineinbewegt haben würden. Indem er sich nun bewegt,
geräth er in eine Gegend, wo der Druck zu ihm hin noch stärker, die
Anziehung also noch gröfser ist. Kann nicht B, wohl aber A sich be-
wegen, so geschieht dieses, weil es nur auf Annäherung des A und B
ankommt.
Umgekehrt ereignet sich dasselbe, wofern in A sich des Stoffes
weniger befindet, als zum Gleichgewichte des Druckes aller Sphären nöthig
Herbart's Werke. VIII. l8
2 7A ■"■• Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 1829.
ist. Denn alsdann dehnen sich dieselben aus den umgebenden Theilen
des Nichtleiters zu ihm hin; und der unbegränzte Leiter B mufs von der
entgegengesetzten Seite her ein gröfseres Quantum des E in sich auf-
nehmen, weil der Gegenstand sich vermindert. Dennoch vertauschen nur
B und A ihre vorigen Rollen.
Zwey bewegliche Leiter, überfüllt vom E, verbreiten den Druck der
Sphären nach allen Richtungen, also auch wider einander; sie stofsen sich
ab, indem sie gegen die Sphären des Nichtleiters, der etwa zwischen ihnen
ist, sich stemmen. Sind sie minder als die Umgebung erfüllt vom E, so
stofsen sie sich scheinbar zurück, indem sie nach entgegengesetzten Seiten
angezogen werden; weil die Dehnung der Sphären zu ihnen hinwärts aus
den Elementen des umgebenden Nichtleiters gerichtet ist.
Hievon verschieden ist diejenige Repulsion, welche entsteht, wenn das
E sich wirklich von einer Materie losreifst, und in eine andre übergeht.
Man wird sie am leichtesten bey Spitzen solcher Körper bemerken, die
sich um eine Axe drehen lassen. Ob sie das E ausgeben oder empfangen,
gilt gleich. Denn jedenfalls ist Repulsion der verschiedenen Elemente
des E unter einander der Grund ihres Überganges; und sie bilden als-
dann gleichsam eine gespannte und losschnellende Feder zwischen beyden
Materien.
[477] §• 3ö8.
Dem Vorigen liegt überall die Voraussetzung zum Grunde, der Gegen-
satz zwischen dem E und den sämmtlichen Elementen sev schwach ; und
diese Voraussetzung ist wesentlich, weil sonst das E ein bleibendes Ver-
hältnifs der Attraction zu denselben Elementen gewinnen, und folglich (falls
nicht der nämliche Gegensatz höchst ungleich wäre, wodurch wir in die
Annahme des Stoffes C zurückfallen würden) selbst ein Bestandtheil der
Materie werden müfste.
Es wäre aber ein unüberlegter Schlufs, wenn man darum glauben
wollte, ein schwacher Gegensatz sey nicht fähig, in den Zusammenhang
der Materie einzugreifen, oder, wie es in der gewöhnlichen Sprache heifst,
chemisch zu wirken. Was der Stärke fehlt, das kann die Menge und ein
schneller Wechsel ersetzen. Und wenn eine grofse Anzahl von Elementen
des E in Selbsterhaltung trit gegen ein Element A der Materie, so kann
dieses der Grund werden, weshalb es theils selbst andre Elemente A an-
zieht, theils von solchen Elementen B, die im Gegensatze stehen wider A,
angezogen wird, indem es dem B das A repräsentirt.
Ferner ist nöthig zu bemerken, dafs, wenn ungleiche Leiter, deren
einer dem E mehr freye Bewegung gestattet als der andere, sich berühren,
alsdann die Repulsion bcydcr gegen das E nicht mehr im Gleichgewichte
stehen kann. Es wendet sich vielmehr nothwendig dorthin, wo die Be-
wegung freyer ist. Kann es hier entkommen : so fehlt nun ein Gegen-
druck, der zum Gleichgewichte nothwendig war; folglich mufs der andre
Leiter, von welchem es ausging, neues E aufzunehmen sich gefallen lassen,
wofern sich ihm solches darbietet.
Man wird vielleicht einige Mühe haben, dieses auf die bekannten
Verhältnisse zwischen Zink und Kupfer, [478] oder dergleichen, zu deuten;
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. i.Abth. Synth. Unters. 3.Cap. V.d.Veränderlichk.etc. 27^
allein wir müssen voraussagen, dafs nach Verwerfung der Symmerschen
Hypothese zwar die Franklinsche als die wahre zurückbleiben wird, jedoch
mit Umkehrung des in ihr angenommenen Plus und Minus.
Überdies wollen wir voraussagen, dafs bey den chemischen Erschei-
nungen des E zweyerley in Betracht kommt, nämlich Polarisirung eines
flüssigen Leiters, — das heifst, eine Neigung seiner Elemente, nach ent-
gegengesetzten Seiten auseinander zu treten, — und wechselnde innere
Zustände des E selbst, welche von den Stoffen, die es durchwandert, her-
rühren und hervorgerufen werden.
Aufser diesen Vorbegriffen, die wir uns für den analytischen Theil
zurecht legen, ist noch zu bemerken, dafs die Erschütterungen der Materie,
während sie das E leitet, nicht ohne Folgen bleiben können für den Stoff
C, der sich in der Materie findet. Er wird dadurch theils vorwärts ge-
trieben, theils seitwärts gedrängt. Und bey dieser seitwärts gehenden Be-
wegung müfste es ein Wunder seyn, wenn nicht seine Sphären, sofern sie
sich noch halten können, zugleich eine Neigung zur Umdrehung bekämen.
Hierin werden wir im analytischen Theile die wahrscheinliche Ursache
des circularen und vorübergehenden Magnetismus der Leitungsdrähte finden.
Deutlicher läfst sich an diesem Orte noch nicht sprechen.
§• 359-
Wir haben noch den vierten möglichen Fall (§. 339) zu überlegen;
den eines sehr schwachen und sehr ungleichen Gegensatzes. Es sey also
eine Million von Elementen eines gewissen Stoffes nöthig, um in einem
Bestandtheil der Materie eine Selbsterhaltung hervorzubringen, welche, ob-
gleich in ihrer Art vollständig, doch [479] verglichen mit einer solchen,
wie die, welche im ersten oder im zweyten der vier Fälle hervorgeht, an
Stärke nur ein Milliontheil betrage. Dann würde ein einzelnes Ele-
ment des jetzt zu betrachtenden Stoffes nur vermögen, ein Billiontheilchen
Selbsterhaltung nach dem angenommenen Maafse hervorzubringen. Die
Zahlen sollen blofs dienen um anzudeuten, dafs man den innern Zustand,
welcher dadurch in den Elementen der Materie entstehn würde, als eine
verschwindende oder wenigstens neben andern Zuständen nicht zu be-
achtende Gröfse vernachlässigen dürfe. Daraus ist noch nicht zu schliefsen,
dafs aus einem solchen Verhältnisse gar keine Folgen entstehn würden;
denn für den Stoff, von dem wir reden, giebt es keine Vetgleichutig, in
welcher seine innern Zustände verschwinden würden.
Das Nächste, was uns einfallen kann, ist die Repulsion unter den
Elementen dieses Stoffs, falls er sollte angehäuft werden in irgend einem
Theil der Materie. Aber eine bedeutende Anhäufung ist eben deswegen
gar nicht zu erwarten, weil sie im Beginnen schon durch die Repulsion
vereitelt werden würde.
Vielmehr wird ein solcher Stoff die Materie vollkommen durchdringlich
finden, weil er ihre Zustände nicht merklich abändern kann. Er wird
Sphären bilden gemäfs dem Quantum der Materie J, so weit es die in ihm
1 gemäfs dem Quantum in der Materie SW.
18*
2-6 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
selbst entstehenden innern Zustände erlauben; und in dieser Sphären-
Bildung wird er gleichförmiger seyn, als einer der vorigen Stoffe.
Gesetzt, er habe eine grofse Sphäre, oder vielmehr Sphäre um Sphäre,
so weit man will, um einen grofsen Körper gebildet; und es komme ein
anderer, verhältnifsmäfsig kleiner Körper in die Nähe: so durchdringt zwar
der Stoff auch diesen; allein beym Eindringen sollte nun zzvischen beyden
Körpern die Dichtigkeit des Stoffes sich vermindern. Da jedoch die [480]
Sphären um den grofsen Körper unter sich durch Attraction verknüpft
sind (§. 350), so kann hierin ein Grund des Widerstandes gegen die Ver-
dünnung, die sie zu erleiden im Begriff sind, mithin ein Grund der An-
näherung des kleineren Körpers an den grofsen, vermuthet werden, welches
eine Erscheinung von Attraction zur Folge haben wird, als ob der grofse
Körper den kleineren zu sich hinzöge.
Wir wollen hier nichts weiter hinzusetzen, weil die Brauchbarkeit dieser
Vorstellungsart, und die Frage, wie man zur Natur- Erklärung dieselbe aus-
bilden müsse, noch Zweifeln unterliegt, von welchen tiefer unten zu reden seyn
wird.1 Gewifs erforderte die Vollständigkeit unserer Betrachtung, dafs wir
auch dieses Falles erwähnten.
§• 360.
Die Veranlassung, eine Bemerkung auszusprechen, welche sich dem
Leser schon bey den vorigen Fällen aufdringen konnte, wollen wir vor-
zugsweise an diesem Orte benutzen, wo sie am meisten bedeutend zu seyn
scheint. Man konnte fragen, warum wir für den zweyten, dritten und
vierten Fall jedesmal nur Einen bestimmten Stoff annahmen, während im
ersten Falle doch eine Menge von entgegengesetzten Elementen voraus-
gesetzt wurde, die sich zu mancherley Materien verbinden mögen? Die
Antwort ist leicht. Wir orientiren uns mitten unter Möglichkeiten, die wir
nicht begränzen, aber geordnet überschauen wollen. Welche von diesen
Möglichkeiten für wirklich zu halten seyen? das kann erst die Analysis
der physischen Phänomene aufklären. Offenbar kommt es hier nur auf
Verhältnisse an; nämlich auf solche Gegensätze der Elemente, welche in
die Erscheinungen eine merkliche Verschiedenheit hineinbringen können.
[481] Daher behaupten wir nicht etwa, es gebe ein Caloricum, ein
Electricum, und einen die Gravitation bewirkenden Stoff; dergestalt, dafs
alle Elemente, die zu einer dieser Gattungen gehören, unter sich voll-
kommen gleich seyen. Sondern in jeder Gattung können Verschieden-
heiten statt finden, wofern nur diese Unterschiede der Qualitäten klein
o-enug sind, um neben den Bestimmungen, wodurch die vier Fälle ge-
sondert worden, als unbedeutend zu verschwinden.*
* Bekanntlich führt das Prisma auf den Gedanken, das Licht bestehe aus ver-
schiedenen Farbenstrahlen; eben so gut nun, wie das Licht, kann auch Caloricum und
Electricum zusammengesetzt seyn. Dafs aber das Licht einfach wäre, und die Farben
1 tiefer unten die Rede sein wird SW.
5-Abschn. Umrisse d.Naturphil. i.Abth. Synth. Uuters. 4.Cap. V.d. Bildsamkeit etc. 277
In dem vierten Falle nun, wo wir nicht Phänomene der Repulsion,
sondern nur einer vermittelten Attraction erwarten, mufs hierauf um so
mehr gemerkt werden, weil die Sphären, welche der Stoff" um grofse Kör-
per bilden soll, desto sicherer gleichmäfsig und beharrlich zusammen-
hängen werden, wenn ihre Elemente vermöge einer Spur von Ungleichartig-
keit noch fähig sind, einander anzuziehen. Freylich mufs diese Anziehung
nicht so grofs sevn, dafs sie die Sphären in ihrer Abhängigkeit von den
Körpern, welche den Kern ausmachen, stören könnte; aber dagegen spricht
schon die Voraussetzung des vierten Falles an sich selbst.
§• 36i.
Die Veränderlichkeit der Materie beruhet nun im Allgemeinen darauf,
dafs nicht alle Elemente geeignet sind, starre Körper zu bilden. Gäbe
es unter ihnen nur starke Gegensätze ohne Ungleichheit, so würden [482]
sie leicht in vesten Formen sich verbinden, und in den einmal gewonne-
nen innern Zuständen eben sowohl, als in ihrer äufsern Lage, unwandel-
bar verharren. Beym Stofse körperlicher Massen wider einander möchten
sie brechen, aber nur auf mechanische Weise.
Hingegen die strahlenden Stoffe, und was ihnen durch schwache
und dennoch wirksame Verbindung mit den Körpern ähnlich ist, —
dienen zu Mittelgliedern, wodurch ein beständiger Wechsel kann unter-
halten werden. Sie liefern hiemit die allgemeinsten Bedingungen von
Ereignissen höherer Art, die wir jedoch auf einen engen Kreis begränzt
finden werden. Indem wir diesen Kreis betreten, wird es Anfangs scheinen,
als müfsten wir in die gröfste Verlegenheit gerathen, weil man von uns
fordern kann, dafs wir innerhalb desselben Platz anweisen für eine uner-
mefsliche Mannigfaltigkeit von Erscheinungen. Wir können wenigstens die
Gröfse unserer Unwissenheit an den Tag legen, indem wir zeigen, wie
viel Raum noch offen liegt für künftige Nachforschungen; so, dafs man
nur nöthig haben wird, unsere Principien weiter anzuwenden.
Viertes Capitel.
Von der Bildsamkeit der Materie.
§• 302.
Weder diejenigen Körper, welche durch starke, ursprüngliche Gegen-
sätze ihrer Elemente eine bestimmte Configuration besitzen, noch die, von
den Sphären strahlender Stoffe ergriffenen und dadurch isolirten, Elemente
liegen zu höherer Bildung bereit. Ihre innern [483] und äufsern Zu-
nur in gegenseitiger Beziehung aus ihm entstünden ; dies widerlegen die von Brewster
entdeckten monochromatischen Lampen. Siehe Schweiggers Jahrbuch der Chemie,
1826. Heft 12.
278 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
stände sind zu vest geordnet; sie sind dem allmähligen Übergehn aus
einer Lage in die andre fremd geworden, wenn auch nicht ursprünglich
davon ausgeschlossen durch innere Unfähigkeit. Stetige und mannigfaltige
Umwandlung erfordert eine Verbindung von Voraussetzungen, wodurch
einerseits Zugänglichkeit der Elemente zu einander, andererseits ein Hinder-
nifs solcher Zustände, die ein für allemal beharren würden, ohne Künsteley
begründet werden könne.
Die Zugänglichkeit mag durch jenen strahlenden Stoff (§. 349 — 351)
auf irgend eine Weise bewirkt werden, die für jetzt nicht weitere Unter-
suchung braucht, da wir unten, in der analytischen Betrachtung des Flüs-
sigen, hierauf zurückkommen. Das schwerere Problem liegt in der Nach-
weisung der Ursache, welche verhindert, dafs ein beharrlicher Zustand
plötzlich eintrete; und welche doch zuläfst, ja erfordert, dafs ein lang-
samer Wechsel durch viele verschiedene Stufen fortlaufe. Nun haben wir
keinen andern Begriff, der über die ursprünglichen Gegensätze und deren
plötzliche Folgen hinausginge, als nur den des Strebens, welcher der Eido-
lolo°ie angehört, und von der hier als bekannt vorauszusetzenden Psycho-
logie weiter bearbeitet wird. An diesen Begriff also müssen wir uns
wenden; und es entsteht alsdann die wahrhaft unermefsliche Aufgabe,
seine Folgen für die Lehre von der Materie zu entwickeln.
§• 303-
Alle Materie beruhet bekanntlich darauf, dafs sich der äufsere Zu-
stand richten mufs nach dem innern, um demselben so genau als möglich
zu entsprechen. Schon oben (§. 348) wurde bemerkt, dafs, wenn ein
innerer Zustand gehemmt werde, dann auch die Verbindung, welche durch
ihn bestimmt war, in ihrer Auflösung begriffen sey. Die Hemmung eines
innern Zustandes ver-[484]wandelt diesen Zustand selbst in ein Streben,
sich wiederherzustellen; woraus schon die Psychologie mannigfaltige innere
Folgen ableitete. Offenbar nun kommen äußere Folgen hinzu, wenn die
Elemente sich nach ihrem innern Streben auch äufserlich, durch Bewegung,
richten können. Und überdies vervielfältigt sich die Anwendung der aus
der Psychologie bekannten Grundsätze, wenn das Streben in jedem ein-
zelnen der mehrern auf einander wirkenden Elemente soll untersucht
werden. Endlich hängen wiederum die innern Zustände von den Be-
wegungen ab; so dafs die Probleme sich noch mehr verwickeln müssen.
Hauptsächlich aber kommt hier der langsame und stetige Fortgang
der psychologischen Hemmungen und Reproductionen in Betracht. Sobald
etwas Ähnliches in jedem Elemente eines Körpers sich ereignet, haben
wir eine stetige Folge von Übergängen zu erwarten, welche für einen Zu-
schauer nur in den äufsern Formen der Materie bemerkbar werden
können, ohne dafs der innere Lauf des Ereignisses in seine Beobach-
tuno: fiele.
•e
§• 364.
Man setze, zwey gleichartige Elemente befinden sich in ungleicharti-
gen Selbsterhaltungen, zwischen denen ein Gegensatz, und folglich ein
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. i.Abth. Synth. Unters. 4. Cap. V. d. Bildsamkeit etc. 270
bestimmter Hemmungsgrad* vorhanden sey. Können diese beyden Ele-
mente in vollkommener Durchdringung verharren?
Offenbar nicht. Denn jedes repräsentirt dem andern ein drittes
Element, sofern es durch dessen Gegensatz in Selbsterhaltung versetzt ist.
Also sollte in dem andern die nämliche Art von Selbsterhaltung entstehn.
Dann müfste der vorige Zustand gehemmt werden. Dies geschieht zwar
zum Theil; aber nicht ganz, denn [485] von zwey entgegengesetzten
innern Zuständen könnte zwar ein dritter, aber niemals einer vom andern
auf die Schwelle** getrieben werden. Da nun der vollkommenen Durch-
dringung ein völliger Umtausch der beyden ungehemmten innern Zustände,
nebst gänzlicher Hemmung der vorigen, entsprechen würde; dieser Um-
tausch aber nicht möglich ist, vielmehr ein Gleichgewicht (nach den
Regeln der Statik des Geistes) erfolgen mufs : so pafst die vollkommene
Durchdringung nicht zum Ganzen der innern Zustände: fände sie Statt,
so könnte sie nicht bleiben; und entstehen kann sie höchstens als eine
vorübergehende Folge irgend einer Bewegung.
§• 365-
Man setze nun, dieselben Elemente seyen in einem höchst unvoll-
kommenen Zusammen. Werden sie tiefer in einander eindringen ?
Ohne Zweifel. Denn in solcher Lage beginnt jedes in dem andern
die nämliche Selbsterhaltung hervorzurufen, worin es sich selbst befindet.
Der allgemeine Grund der Attraction (§. 26g) ist demnach vorhanden.
Aber wie schreitet nun die Durchdringung fort? Keineswegs mit
jener ungebundenen Notwendigkeit, wie bey ungleichartigen Elementen.
Vielmehr entsteht im Eindringen eine wachsende Hemmungssumme in
jedem der Elemente. Diese mufs zwar sinken, aber dazu gehört Zeit.
Während des Sinkens ist der noch ungehemmte Theil derselben, so weit
er von dem frühern Zustande herrührt, ein Gegengrund, welcher die fer-
nere Durchdringung verzögert; jedoch nicht gleichmäfsig. Denn gesetzt,
sie sey zum Stillstande gebracht, oder selbst rückgängig gemacht: so kann
sie nach hin-[486]länglichem Sinken der Hemmungssumme wieder vor-
schreiten; bis an die Gränze desjenigen Grades von Durchdringung, welcher
dem Gleichgewichte der innern Zustände gebührt. Und auch diese Gränze
kann sie oscillirend überschreiten.
Das Gesetz für diese Bewegung mufs nicht blofs sehr verwickelt,
sondern die Verwickelung selbst mannigfaltig verschieden ausfallen, je nach-
dem der Hemmungsgrad der beyden Selbsterhaltungen verschieden ist.
Man kann diesen Hemmungsgrad sehr klein nehmen; so mufs eine sehr
langsame Bewegung erfolgen, deren Abwechselungen weit auseinander treten,
und keinesweges schnell vorübergehn.
§• 366.
Statt eines jener beyden Elemente nehme man jetzt eine unbestimmte
Menge; alle in einerley Selbsterhaltung schon begriffen. Diese Menge
* Psychologie I. §. 41. u. s. f. (Bd. V vorl. Ausgabe.)
** A. a. O. §. 47.
?8o !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
kann nun entweder das andere Element, welches wir aus der vorigen Vor-
aussetzung unverändert bey behalten, umringen ; dann geschieht ein ähnliches
Eindringen von mehrern Seiten, wie vorhin; nur nicht so tief, und mehr
aufgehalten. Oder die Menge mag fadenförmig zusammenhängen, wie
oben (§. 342); so findet die dortige Attraction statt; aber mit einer Ver-
änderung. Indem nämlich der ganze Faden herangezogen wird, sind
jederzeit die hintern Elemente tauglicher als die vordem, um in jenes
andere, in Ansehung seines innern Zustand es ihnen allen entgegengesetzte,
Element einzudringen; denn sie haben noch weniger Hemmung gelitten.
Es kann also dahin kommen, dafs während der Oscillationen das zweyte
Element des Fadens die Stelle des ersten einnimmt, bis es selbst vom
dritten verdrängt wird u. s. w.
Endlich mögen beyde, zuvor angenommene Ele-[487]mente in Ge-
danken vervielfältigt werden. Sie mögen auch beyde die von ihnen aus-
gehende Attraction durch eine Masse verbreiten, die ihnen ähnlich ist,
und deren Elemente aus irgend einem Grunde in gegenseitiger Durch-
dringung weniger vorgeschritten sind. So können jene beyden Veran-
lassung geben, dafs andere Elemente sich heranziehn,. ihre Stelle ein-
nehmen, sie auseinander drängen, aber sich im Zusammenhange mit ihnen
behaupten; und abermals neuen Elementen aus gleichem Grunde den Platz
abtreten; dergestalt, dafs die Masse stets wachse und sich ordne; aber
nicht durch Zusatz von aufsen, sondern durch Assimilation von innen.
§• 36/.
Man nehme jetzt drey Elemente; wiederum gleichartig an sich; aber
in drey entgegengesetzten Selbsterhaltungen begriffen. Wenn diese zu-
sammenkommen, so empfängt jedes zwey neue innere Zustände aufser
demjenigen, in welchem es sich schon befindet. Hier giebt es in jedem
drey Hemmungsgrade; und überdies zwey wachsende Intensitäten der
neuen innern Zustände. Aus der Psychologie erinnern wir uns hier der
Schwellen, worauf so leicht von drey innern Zuständen einer gebracht
werden kann; desgleichen der Geschwindigkeit, womit das Sinken zur
Schwelle geschieht; also auch des heftigem Gegenstrebens, welches in
unserm Falle eine stärkere Zurückstofsung, und eine lebhaftere Oscillation
zur Folge haben mufs. Besonders aber erwähnen wir hier der grofsen
Mannigfaltigkeit, welche in diese Voraussetzung kann gelegt werden, je
nachdem man sich andere Hemmungsgrade, und andere Intensitäten der
Selbsterhaltungen denkt.
Wir könnten übergehn zu vier und mehr verschiedenen Selbsterhal-
tungen, wobey die Menge der mögli-]488]chen Fälle schon ins Ungeheure
anwächst, ohne dafs wir noch die Annahme gleichartiger Elemente ver-
lassen haben. Wenn allen Fällen eine eigne Art der Assimilation ent-
spricht : so giebt es eben so viele Formen des Wachsthums für die
Materie.
Wenn aber in einigen Elementen die innern Zustände, welche sie
mitbringen, um die Assimilation zu bestimmen, durch etwas Hinzu-
kommendes auf die Schwelle gebracht werden : so ist eine Bedingung
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. i.Abth. Synth. Unters. 4.Cap V.d. Bildsamkeit etc. 28 I
solcher Assimilation aufgehoben; und die ihr entsprechende Form des
Wachsthums unmöglich gemacht. Mit andern Worten, das Wachsende ist
getödtct. Die Annäherung zum Tode, wenn auch nur in einer vorüber-
gehenden Oscillation, und vielleicht nur in einem Theile des Ganzen,
werden wir Krankheit nennen dürfen.
§• 368.
Befinden sich mehrere ungleichartige Elemente in der wachsenden
Materie: so entsteht daraus die Gefahr, dafs sich dieselben nach ihrer
ursprünglichen Eigenthümlichkeit paarweise verbinden, und ein beharrliches
Ganzes für sich allein ausmachen.
Die Gefahr fällt jedoch weg, wenn die Elemente schon als Verbundene
in die Mischung eingingen, und nun als ein Ganzes neue innere Zustände
annehmen, wodurch ihre gegenseitigen Selbsterhaltungen wenig oder gar
nicht gehemmt werden. Dies wird um desto wichtiger seyn, je gröfser
zwischen zweyerley Elementen der ursprüngliche Gegensatz, und je weniger
es zu vermeiden ist, dafs sie dem gemäfs sich vereinigen.
Zugleich aber zeigt sich hier, weshalb wir von gleichartigen Elementen
in ungleichen Zuständen die Betrachtung anfangen mufsten; und man wird
vorzugsweise diesen Gesichtspunct vesthalten, um die bildsame Materie von
der rohen zu unterscheiden.
[489] Man könnte fragen, ob nicht jede Art von Elementen für sich
allein auf besondere Weise eines Wachsthums fähig sey? Vielleicht ist
die zureichende Antwort diese, dafs die Gegensätze der Selbsterhaltungen
zu bald ins Gleichgewicht kommen würden, wenn nicht solche Elemente,
von denen sie veranlafst worden, in der Nähe wären, um sie zu erneuern.
So viel aber leuchtet ein, dafs, wo mehrerley Elemente, da auch mehrere
Systeme des Wachsthums sich gegenseitig modificiren müssen. Und wenn
eine Art von Elementen ein Übergewicht bekommt, so mufs die Ver-
bindung jener Systeme hiedurch eine besondere Eigenthümlichkeit erlangen.
Es dürfte nöthig seyn, sich hieran zu erinnern, wenn man in der Erfahrung
wahrnimmt, dafs ein Organismus sich in verschiedene Organe gleichsam
theilt, deren jedes ein besonderes Geschafft übernimmt. Zwar hat er sich
hier nicht in so viele Systeme zerlegt, als wie viele Urstoffe er enthält,
sondern die letztern sind in jedem Organe gemischt; aber eine Ungleichheit
des Mischungsverhältnisses konnte dennoch ungleiche Arten zu leben, zu
wachsen und zu wirken, herbey führen.
§• 369-
Jeder Körper hat eine Oberfläche; aber für die, welche von innen
heraus wachsen, entsteht hiedurch ein besonderer Unterschied des Innern
und Äufseren. Denn die Theile an der Oberfläche sind den unmittelbaren
Einwirkungen der Umgebung ausgesetzt; die inneren Zustände ihrer Elemente
müssen daher fremdartige Bestimmungen aufnehmen, für welche irgend
ein Äquivalent nöthig ist, wenn nicht das Ganze soll verändert werden.
Entweder die Elemente an der Oberfläche werden untauglich zum
Ganzen; alsdann sondern sie sich ab, [490] wenn der Grund der Attraction
282 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
■wegfällt, und äufsere Umstände die Trennung begünstigen; vielleicht auch
bilden sie eine Art von Hülle, die das Ganze mehr umgiebt als ihm an-
gehört. Oder ihr inneres Widerstreben gegen die äufsere Einwirkung hat
eine andere Folge, die wir genauer betrachten müssen.
Da die verschiedenen Theile der Materie einander gegenseitig die
innern Zustände bestimmen, und zwar um desto mehr, je näher ihre Lage
der völligen Durchdringung kommt: so hat jede Materie, gegen Abänderung
ihrer Zustände durch etwas Fremdes, ein Hülfsmittel darin, dafs sie sich
dichter zusammenzieht. Dies wird sie gebrauchen, wenn ihre Theile be-
weglich genug sind, und wenn die innern Zustände der Abänderung
widerstreben*.
Man erblickt hier den Keim der Irritabilität ; aber von raschen und
wiederkehrenden Zuckungen der besonders dazu gebauten Muskelfasern
ist noch nicht die Rede. Vielmehr gehört hieher das Gerinnen der or-
ganischen Flüssigkeiten.
Genug jedoch, wenn die Theile an der Oberfläche ein dichteres
Gefüge bekommen, indem sich ihre Lage dem innern Streben gemäfs ver-
ändert; so wie stets der äufsere Zustand der Materie dem innern sich
anbequemt, wenn kein Hindernifs vorhanden ist.
Es ist aber für die geforderte Veränderung der gegenseitigen Lage
einerlev, ob die äufsersten Elemente mehr nach innen, oder die innern
mehr nach der Oberfläche hin fortrücken. Indem beydes zugleich geschieht,
umgiebt sich erstlich das Ganze mit einer Membran; und zweytens wird
diese Membran der Sitz eines beständigen Reizes, vermöge dessen sich
die beweglichen Elemente im Innern dorthin ziehn.
[49i] §• 370-
Jede Membran, oder überhaupt jede Verdichtung, wodurch sich die
gebildete Materie einer Hemmung ihrer innern Zustände mehr oder weniger
entzieht, — und eben so der Reiz, welcher von ihr nach innen oder
nach aufsen geht, wird grofsentheils abhängen von der Art des äufsern
Einflusses, dem sie sich entgegensetzt, und auf den sie zurückwirkt.
Es läfst sich denken, dafs die Membran durchdringlich sey für Stoffe,
die von aufsen oder von innen kommen; dann nämlich, wann ihre innern
Zustände wegen der Beschaffenheit des Eindringenden nur eine geringe
und vorübergehende Hemmung erleiden; so, dafs sie sich jeden Augenblick
nach geschehenem Durchgange wieder herstellen kann. In solchem Falle
aber wird das Eindringende selbst in seinen innern Zuständen verändert
werden; und was dieser Veränderung nicht fähig ist, das wird auch
nicht den Durchgang erlangen, oder es müfste die Membran zerstören
können.
Jeder Durchgang durch eine Membran von besonderer Art wird
demnach einen besonderen Schritt zu innerer Bildung darstellen. Man
hat nicht nöthig, hiebey an die viel zu allgemeinen und deshalb nichts-
sagenden Erklärungen aus elektrochemischen Kräften zu denken.
ö
* Ausführlichere Entwickelung hievon unten im §. 432.
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. i.Abth. Synth.Unters. 4. Cap. V.d. Bildsamkeit etc. 283
§• 371.
Das Weitere wird nun vorzugsweise darauf ankommen, welche Con-
figuration die, von der Membran eingeschlossene bewegliche Materie an-
zunehmen strebt. Darnach richtet sich schon der Druck, welchen die
umgebende Membran erleidet, wenn diese auch blofs als eine Hülle be-
trachtet wird; jedoch sie selbst wächst, und trägt ihrerseits dazu bey, die
Gestalt des Ganzen zu bestimmen. Auch ist das Streben zur Configuration
[402] veränderlich, weil es hier nicht, wie bey roher Materie, von den
ersten Gegensätzen der ursprünglichen Qualitäten allein abhängt; sondern
vorzüglich durch die Oscillationen (§. 365) bestimmt wird.
Ein anderer, sehr wichtiger Umstand ist das umgebende Medium.
Entweder das System der innern Zustände in jedem Element des wachsenden
Körpers ist dergestalt zur selbstständigen Bestimmtheit gelangt, dafs es den
neuen Selbsterhaltungen, die von der Umgebung veranlafst werden könnten,
gröfstentheils widerstrebt: oder es ist dafür empfänglich und nachgiebig.
Im letztern Falle wird die Configuration sich nach der Verschiedenheit
der Umgebungen einrichten und abändern; im Ganzen aber ist nun zu
erwarten, der Wachsthum werde eine Ausbreitung nach einer oder zwey
Dimensionen vorzugsweise lieben, um viel Oberfläche, und viel Berührung
mit der Umgebung zu gewinnen. Hingegen im erstem Falle wird die
Materie sich mehr zusammen halten, sich mehr innerlich ausbilden; in
bestimmter Form, die nicht ohne Schaden von der Umgebung könne ver-
ändert werden, deren Haupttheile verhältnifsmäfsig wenig Oberfläche im
Vergleich gegen den Inhalt darbieten, und die nur eine beschränkte Ge-
meinschaft mit der Aufsenwelt zulasse.
§• 372.
Im Falle der Nachgiebigkeit gegen das Äufsere darf man nicht die
ganze Eigenthümlichkeit eines innerlich wachsenden Körpers völlig entwickelt
zu sehn erwarten. Er wird einer grofsen Summe beständig auf ihn wirkender
Reize unterworfen seyn; eben dadurch aber an Empfänglichkeit dafür so
sehr verlieren, * dals in bestimmten Augenblicken wenig oder nichts von Ver-
än-[493]derungen durch neue Reize zu spüren ist. Das Ansehen eines
solchen Körpers wird immer noch das eines todten und starren seyn;
und nur wenn man ihn nach längerer Frist wieder beobachtet, mag er
eine neue Gestalt zeigen.
Hingegen bey Körpern, die gegen die Angriffe der Aufsenwelt ge-
schützt sind, und dieselbe nur bedingungsweise zulassen, kann man erwarten,
deutlicher jene Irritabilität (§. 369) hervortreten zu sehn.
Ihrem Begriffe nach ist aber die Irritabilität dem des Wachsens (§. 366)
entgegengesetzt. Im Wachsen sollen die schon verbundenen Theile etwas
Neues (jedoch in Hinsicht der ursprünglichen Qualität Gleichartiges)
zwischen sich aufnehmen; und dies soll deswegen geschehn, weil die
frühere Verbindung, eben indem sie fortschreitet, an zunehmender Hemmung
schon vorhandener innerer Zustände ein Hindernifs findet; während das
eintretende Neue die nämliche Hemmung noch nicht in gleichem Grade
: Vergl. Psychologie I, §. 94. (Bd. V vorl. Ausgabe).
284 *■ Allgemeine Metaphysik nebst den Anfangen etc. 1829.
erfährt, und eben deswegen für den Augenblick geschickter ist als das
Alte, um dessen Stelle einzunehmen. Die Irritabilität soll gerade umgekehrt
sich darin offenbaren, dafs die Elemente sich inniger durchdringen; und
der Grund soll darin liegen, dafs ein Frei?ides eine Hemmung hervorbringt,
welcher innerlich widerstrebend die Elemente diejenige Lage annehmen,
worin sie sich gegenseitig ihre innern Zustände erhöhn. Also ist jede
Zusammenziehung auf äulsere Reize eine Unterbrechung des Wachsens.
§• 373-
Hieran knüpfen sich zunächst zwey Betrachtungen.
Erstlich: man wird sich nicht wundern, wenn man die Irritabilität
in gewissen Theilen unmerklich findet, auf denen das Wachsen zunächst
beruhet, sofern es von der Assimilation des Neuen abhängt.
[494] Zweytens: es ist zu erwarten, dafs Perioden eintreten müssen,
in welchen die andern Theile, worin sich die Irritabilität vorzugsweise
zeigt, nun auch ihrerseits wachsen, also eben deswegen minder geschickt
sind, auf Reize durch Zusammenziehung zu antworten. Wir wollen es
wagen, solche Perioden durch den bekannten Namen des Schlafs, im
Gegensatze des Wachens, zu benennen. Diejenigen Körper aber werden
nicht eigentlich schlafen, welche der merklichem Irritabilität entbehren.
Giebt es hievon Ausnahmen , so mufs man diese einer besondern
Kunst zuschreiben, durch welche die Möglichkeit des Wachsens von ge-
wissen Seiten her fortdauert, während in andern Richtungen die Zusammen-
ziehungen dennoch regelmäfsig fortdauern. Eine solche Kunst behält immer
ihre Geheimnisse.
§• 374-
Nach der ersten der vorstehenden Bemerkungen können wir ein
System unterscheiden, worin die Assimilation oder Reproduction vorherrscht,
und ein anderes, welches der Irritabilität dient.
Aber die Energie, womit beyde Systeme wirken können, beruhet nach
allem bisherigen gänzlich auf den innern Zuständen der Elemente. Es
ist zu vermuthen, dafs hierin durch unvermeidliche Einwirkungen von aufsen,
durch Aufnahme des Neuen, ja selbst durch den Fortgang der innern
Bewegungen grofse Veränderungen vorgehn, und dafs sehr bald die ver-
schiedenen Theile eines gröfsern Ganzen nicht mehr zur Fortdauer ihres-
vorigen Zusammenbestehns geschickt sevn werden : wofern nicht ein drittes
System vorhanden ist, welches dient, die innern Zustände aller Theile l
auf einander in so weit zu übertragen, dafs ihre vorige Gemeinschaft fort-
dauert.
[495] Giebt es ein solches System, so werden wir ihm die Sensibilität
vorzugsweise zueignen.
Die Möglichkeit der Sensibilität im Allgemeinen ist kein RäthseL
Alle Materie ohne Ausnahme besteht nur durch ihre innern Zustände;
den rohen Erfahrungsbegriff derselben, nach welchem sie eine blofs räum-
liche Masse seyn sollte, haben wir längst als schlechthin ungereimt ver-
1 innern Zustände aller auf . . SW („Theile" fehlt).
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. i.Abth. Synth.Unters. 4. Cap. V. d. Bildsamkeit etc. 285
worfen. Die innern Zustände jedes Elements aber hängen ab von den
andern, mit welchen es unmittelbar (§. 334), 1 oder mittelbar (§. 344) zu-
sammen ist. Daher könnte man sich eher über solche Fälle wundern, in
welchen die Sensibilität nicht deutlich hervortrit, als über andre, in denen
sie sich verräth. Man wird sie betrachten müssen als etwas, das längst
vorhanden, aber gehindert war ; und es kommt darauf an, die Hindernisse,
nebst der Möglichkeit ihrer Entfernung, zu überlegen.
§• 375-
Zuvorderst ist klar, dafs in roher und starrer Materie die Elemente
ein für allemal empfinden ; indem sie sich in ihre rechte Lage begeben.
Diejenige Selbsterhaltung, welche ihrem Zusammen mit andern Elementen
entspricht, bleibt die herrschende, neben welcher andre nicht aufkommen;
bis die Materie aufgelöset oder sonst verändert wird ; in welchem Falle
eine andre Selbsterhaltung eintrit, die nun vorherrschend bleibt.
Weiter sieht man leicht, dafs auch ein gleichförmiges Geschafft der
Assimilation, sofern es gut von Statten geht, einen nahe gleichförmigen,
oder doch in einem eng bagränzten Kreise wiederkehrenden Zustand der
Empfindung begründen wird; nachdem an der ersten Pforte (der allerdings
eine eigentümliche Sensibilität entspricht) die Nahrungsmittel schon einen
Theil ihrer fremdartigen Beschaffenheit abgelegt haben.
[496] Ferner ist die Irritabilität nicht minder der Sensibilität, als
dem Wachsen, entgegengesetzt. Denn indem durch Zusammenziehung sich
die Elemente der Hemmung, und der Abänderung ihrer Zustände ent-
ziehn, können sie unmöglich eben der nämlichen Abänderung, welcher sie
entgehn, unterworfen bleiben.
Nur da kann die Sensibilität für mannigfaltige Eindrücke hervortreten,
wo erstlich keine vorherrschende Selbsterhaltung der Elemente, zweytens
keine Gleichförmigkeit der Affection, drittens kein Mittel vorhanden ist,
durch Veränderung der Lage, der Empfindung zu entgehn.
Dann aber, und insofern, als sich die Systeme der Reproduction und
der Irritabilität abgesondert haben, wird die Sensibilität als Rest des ur-
sprünglich Vorhandenen nunmehr deutlicher werden.
§• 3 76.
Etwas anderes, als die Sensibilität, welche übrig bleibt, nachdem die
Hindernisse entfernt wurden, ist die höher gebildete, und gleichsam in
Kunstfächer getheilte Empfänglichkeit für besondere Classen von Eindrücken.
Allein statt des fruchtlosen Versuchs, in diese Kunstsphäre einzudringen,
wollen wir eine allgemeinere Betrachtung diesem ganzen Capitel hinzufügen.
Niemand kann wissen, wie weit die Analogie mit den psychologisch
bekannten Vorstellungsreihen in der Seele reichen möge in ihrer Anwendung
auf die Elemente gebildeter Materie. So viel aber ist gewifs, dafs die
einfacheren Gesetze der geistigen Reproduction, auf welchen ursprünglich
Gedächtnifs und Phantasie beruhen, sich allenthalben wiederfinden müssen,
1 (§• 234) O.
286 I« Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
wo irgend etwas von den Bedingungen zutrifft, unter welchen wir bestimmte
und geordnete Verknüpfungen der Empfindung erzeugen. Mag es daher
immerhin eine Hyperbel [457] seyn, wenn wir sagen: jedes Element der
gebildeten Materie erinnere sich seiner frühem Geschichte, und suche sie
von neuem sich zu wiederholen, — dennoch können wir keinen kürzern
und passendem Ausdruck finden für das, was wir sagen wollen.
Frühere Vegetation läfst Vegetationskraft zurück, welche in dem
Thiere die Pflanze wiederholt. Und frühere Empfindung verstärkt den
Reiz, den neue Gelegenheiten herbey führen. Darum bauen sich höhere
Bildungen auf niedere; jedoch nicht zufällig; sonst würde das Verzerrte
und Entstellte sich ungleich häufiger finden als das Zweckmäfsige.
§• 377-
Sollte die synthetische Naturbetrachtung genauer ausgeführt werden;
so würde ihr nicht minder, als dem synthetischen Theile der Psychologie,
die Mathematik zu Hülfe kommen müssen.
Dafs dies geschehen könne: ist klar genug. Durch die nothwendige
Fiction, von welcher die ganze Untersuchung über Materie als Erscheinung
ausgeht, nämlich: ihre Elemente seyen Kügelchen, und von dem Grade
ihres unvollkommenen Zusammen hänge sowohl Attraction als Repulsion
ab, dergestalt, dafs dieser Grad sich durch den Unterschied durchdrungener
und nicht durchdrungener Theile der Kügelchen darstellen lasse: — durch
diese Fiction ist Alles auf einmal der Geometrie und der Rechnung
unterworfen.
Allein wir würden eine grofse Thorheit begehn, wenn wir uns hierauf ein-
lassen wollten. Naturwissenschaft ist längst in den Händen der Mathematiker.
Anders verhielt sichs mit der Psychologie, die unsrer Hülfe bedurfte, weil
es in Hinsicht ihrer sogar an dem ersten Begriffe ihrer Zugänglichkeit für
die Rechnung fehlte. Was wir dort unternehmen mufsten, das wird hier
so-[4g8]gleich von geschickten Meistern unternommen werden, sobald man
es der Mühe werth, oder vielmehr der Würde der Wissenschaft einzig
angemessen erachten wird, der schmähligen Ausflucht, als brauche man
sich um die Streitigkeiten der Metaphysiker nicht zu kümmern, ein für
allemal zu entsagen.
5. Abschn.Umnssed. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. i.Cap. V.d. Mittheilung etc. 287
Zweyte Abtheilung.
Analytische Untersuchungen.
Erstes Capitel.
Von der Mittheilung der Bewegung.
§• 378.
Mechanik, Chemie, Physik, Physiologie der Pflanzen und der Thiere,.
das sind die Wissenschaften, welche nun gemäfs ihrem heutigen Stand-
puncte mit dem Vorigen sollten verglichen werden. Nicht um sie der
Metaphysik, als einer Herrschaft, zu unterwerfen; das hiefse vielmehr den
analytischen Theil der Naturlehre gänzlich seines eigenthümlichen Cha-
rakters berauben. Sondern weil erst aus der Verbindung der Analysis mit
der Synthesis ein möglichst sicheres Wissen hervorgehn kann, worin jede
der andern zur Probe und Erläuterung dienen mufs.
Hier könnte nun das heutige Zeitalter seine eigenthümliche Stellung,
an den Tag legen, indem es den Grad und die Ausbildung seines er-
fahrungsmäfsigen Wissens gelten machte, während eigentliche Metaphy-
[499]sik allenfalls das Werk früherer Zeiten hätte seyn können. Aber es
ist zu besorgen, dafs, wie die Vorzeit hinter ihren möglichen Leistungen
zurückgeblieben ist, so auch die Gegenwart das, was sie thun sollte, der
Zukunft anheimstellen wird. Wie die Sachen stehen, kann wenigstens-
Niemand verlangen, der Metaphysiker solle alle zuvor genannten Wissen-
schaften, die sich weit getrennt haben, umfassen; während es sich der
Mechaniker nicht übel nimmt, unwissend zu seyn in der Physiologie, und
so rückwärts. Wenn wir nun gleichwohl die sämmtlichen vorgenannten
Wissenschaften berühren, so geschieht es nicht mit der Anmaafsung, die
Natur vollständig zu erklären ; sondern wir werden froh seyn, wenn wir
jeder von ihnen Etwas abgewinnen können, das uns die Richtigkeit der
vorhergehenden Untersuchungen bestätige; und in dieser ganzen Sphäre,.
nach der Weise der alten Akademiker, nur das Wahrscheinliche zu.
erreichen suchen.
§• 379-
Unter den vorgenannten Wissenschaften ist offenbar die Chemie,,
welche nach den Elementen der Materie sucht, auch ganz natürlich die-
jenige, womit wir die Vergleichung beginnen könnten, wenn sie ein mög-
lichst vortheilhaftes Licht auf unsere Untersuchung werfen sollte. Dafs-
sich das Entgegengesetzte verbindet und verdichtet, dafs es in der Ver-
dichtung bestimmte Gestalten annimmt, dies lehrt die Chemie in den ein-
zelnen Fällen, so wie wir es im Allgemeinen gelehrt haben. Aber die
Chemie weifs nicht, ob sie die letzten Bestandtheile wirklich gefunden hat;
sie weifs nicht einmal, ob sich die Elemente durchdringen oder nur mit
geheimen Kräften anziehen. Sie denkt sich ihre Muleculen oder Atomen
288 !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
immer noch als Körperchen, und [500] ist von den gemeinen Erfahrungs-
begriffen des Mechanikers keineswegs losgekommen.
Indem wir nun Leser voraussetzen, denen die Übereinstimmung der
chemischen Thatsachen mit unserer Lehre längst auffallen mufste, und die
darüber gar keiner Nachweisung bedürfen: wenden wir uns lieber gleich
gegen die falschen Begriffe, wodurch die Chemie verdunkelt wird; diese
aber müssen wir zuerst in der Mechanik aufsuchen, denn sie haben ihren
Sitz in dem Vorurtheil von der Undurchdringlichkeit, die sich zeigen soll,
wenn körperliche Massen wider einander stofsen.
Jedoch müssen wir für jetzt den Satz: alle Körper sind schwer, gänz-
lich bey Seite setzen. Die körperliche Masse läfst sich recht gut blofs
als träge betrachten; die Mechaniker sind hieran gewohnt, und wir haben
nicht nöthig, erst zu zeigen, dafs die Schwere ein ganz zufälliges Merkmal
im Begriffe des Körpers ist.
§• 080.
Vertheilung der Bewegung in die Masse, dies ist der Umstand, wel-
cher die Materie als träge erscheinen läfst. Denn wo die kleinere Masse
gegen die gröfsere anstöfst, da wird sie aufgehalten, weil ihre Bewegung
geringer, oder gar entgegengesetzt, ausfallen mufs, nach den Regeln des
Stofses für harte und für elastische Körper.
Es ist nun hierin von jeher, seitdem die Gesetze des Stofses gefunden
wurden, Manches unbegreiflich erschienen. Zwar ist nichts leichter, als
einzusehn, dafs von zwey vollkotninen harten Körpern der vordere lang-
samere erst so viel Geschwindigkeit zum ive?iigsten annehmen mufs, bis er
dem andern nicht mehr im Wege steht, wofern nämlich dieser sich weiter
bewegen soll. Es ist auch klar, dafs im Falle des geraden An-[50i]
stofses an eine absolut harte und absolut unbewegliche Wand ein absolut
harter Körper nicht allmählig, und nach stetigen Übergängen aus Bewegung
in Ruhe, sondern plötzlich, ganz stille stehen mufs, indem die zunächst
an die Wand anstofsenden Theile nicht im mindesten weiter können, und
von ihnen wiederum die nächsten Theile des Körpers aufgehalten werden,
welches durch alle der Wand parallele Schichten des Körpers bis zur
letzten so fort geht. Aber sind die vorausgesetzten Begriffe auch haltbar?
Eine merkwürdige Stelle hierüber findet sich in Kästners höherer
Mechanik. „Der Widerspruch zwischen dem Gesetze der Stetigkeit, und
vollkommen harten Körpern, den Herr Euler als einen Beweis der un-
endlichen Theilbarkeit der Materie ansieht, liefse sich gleichwohl auf eine
Art heben, die der P. Boscowich angegeben hat. Was wir nämlich einen
Stofs nennen, geschieht nicht vermittelst wirklicher Berührung. Körper, die
sich einander nähern, wirken in einander durch anziehende und zurück-
treibende Kräfte, und so ändern sich ihre Geschwindigkeiten nach dem
Gesetze der Stetigkeit. Hiebey aber die Frage, ob dies Gesetz in aller
Schärfe dargethan sey? Mir ist kein stärkerer Beweis davon bekannt, als
die Erinnerung, dafs es in unzähligen Fällen, in der Natur vermöge der
Erfahrung für richtig befunden wird. — Ist es schlechterdings unmöglich,
dafs ein Punct seinen Weg plötzlich ändert, so kann kein Punct in dem
Umfange eines Vierecks oder Dreyecks herumgehn. Wenn also das Ge-
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. i.Cap. V.d. Mittheilung etc. 280
setz der Stetigkeit in der Geometrie so grofse Ausnahmen leidet, so erregt
dies Zweifel gegen seine Allgemeinheit in der Mechanik. — Ich will jetzo
nicht fragen, ob man ohne das Gesetz der Stetigkeit begreifen könne, wie
ein folgender Zustand aus dem vorhergehenden entsteht; ich will erst
fragen, ob man [502] es dadurch begreift? In einer unendlichen Reihe
mittlerer Geschwindigkeiten sehe ich den Grund der. Folge nicht. Un-
endlich kleine Sprünge sind auch Sprünge. — ■ Erhellet aus der Natur der
Sache, dafs nach dem jetzigen Zustande nicht jeder andre ihm nach Ge-
fallen folgen könne, sondern ein gewisser betimmter folgen müsse, der sich
von jenem auf eine Art, die sich angeben läfst, unterscheidet: so möchte
Mac-Laurin wohl recht haben, wenn er sagt, das Gesetz der Stetigkeit
werde ohne zureichenden Grund für allgemein angenommen. Aus ihm
zu schliefsen, dafs es keine harten Körper geben könne, ist man nicht
mehr berechtigt, als daraus zu folgern, dafs es keine geradlinichten Figuren
geben könne. — Unsre ganze Kenntnifs der Natur ist doch nichts weiter
als eine Kenntnifs von Erscheinungen, die uns ganz was anderes darstellen
würden, wenn wir das Wirkliche in ihnen sähen."
§• 38i.
Wenn man das sogenannte Gesetz der Stetigkeit in seiner Ungesetz-
lichkeit erkennt: so ist doch damit noch nicht der Begriff der absolut-
starren Körper gerechtfertigt. Ide, in seiner Mechanik vester Körper,
vermeidet den Begriff der harten Körper ganz; obgleich ihm ohne Zweifel
Kästners Mechanik vor Augen lag. Statt der harten redet er von un-
elastischen Körpern, und bringt nun zwar die nämlichen Resultate heraus,
welche sonst für jene gelten sollen; aber die Voraussetzung ist völlig ver-
ändert; er nimmt eine Dauer des Stofses während einer gewissen Zeit,
und eine veränderte Form der Körper an, die sich bey unelastischen nicht
wieder herzustellen strebe. Er sagt: „Der eine Körper wird so lange in
den andern eindringen, bis die [503] Kraft, die er dazu anwendet, dem
Widerstände der Cohäsion des andern gleich geworden ist."
Gerade dieses Eindringen ists, was unter der Voraussetzung harter
Körper nicht vorkommen kann; daher auf den ersten Anschein die Lehre
vom plötzlichen Stillstehn zweyer Massen, die einander mit gleichem Quan-
tum der Bewegung entgegenkommen, oder des plötzlichen Verlusts aller
Geschwindigkeit beym Anstofsen an eine veste Wand, sich durch gröfsere
Klarheit empfiehlt.
Bey elastischen Körpern kann jedoch das Eindringen gar nicht um-
gangen werden. Und hier giebt sich wiederum Kästner eine auffallende
Mühe, um zu zeigen, „dafs bey Körpern, die nicht gänzlich hart sind,
einerley Wirkung ihre Gestalt, und ihre Bewegung ändert." Allein er hebt
nicht die Schwierigkeit; er verräth sie nur. Denn sobald die Änderung
der Gestalt von einer neuen Anordnung der Theile begleitet ist, entsteht
die unvermeidliche Frage, ob denn dabey nicht Reibung, oder irgend ein
anderes, unbekanntes Hindernifs eintreten müsse, wodurch Bewegung ver-
mindert und verzehrt werde ? Und dies würde den Hauptsatz der ganzen
Herbart's Werke. VIII. 19
2qo I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Lehre aufheben, dafs nämlich die Summe — oder mit gehöriger Ab-
änderung wegen der entgegengesetzten Richtungen, der Unterschied, der
Producte aus den Massen in die Geschwindigkeiten, vor und nach dem
Stofse gleich sey. Denn dabey ist darauf gerechnet, dafs keine Bewegung,
wenn nicht wegen des Gegensatzes der Richtungen, verloren oder ge-
wonnen werde.
§• 382.
Nachdem wir hiemit vorläufig an bekannte Schwierigkeiten erinnert
haben : ist es nöthig, die Begriffe, auf welche theils die Erfahrung, theils
die früher dar-[504]gelegte Untersuchung führen kann, vollständiger an-
zugeben.
Wir sehen Massen, die sich in wenigen Puncten berühren, und doch
ihrer Gröfse gemäfs bevm Stofse auf einander wirken. Was ist natürlicher,
als die Bewegung: wie ein Fluidum zu betrachten, das durch die Be-
rührungspuncte sich plötzlich ergiefse, und alsdann in den Massen gleich-
förmig vertheile?
Jedermann sieht nun zwar die Nichtigkeit dieses Fluidums deutlich
ein, welches selbst wiederum müfste bewegt werden. Aber welcher Be-
griff trit nun an die Stelle? Man denkt sich die Bewegung wie einen
Zustand, in welchen die Körper gerathen, und den sie einander mittheilen
können. Und warum denn verhält es sich bey dieser Mittheilung anders,
als beym Magnetismus und der Elektricität ? Diese wirken, man möchte
sagen, durch Ansteckung; der Magnet verliert nichts von seinem Zustande,
indem er das Eisen in denselben versetzt.
Oben, in der Synechologie, haben wir gezeigt, dafs die Bewegung
auch nicht als Zustand des Realen, sondern lediglich als ein objectiver
Schein, oder bevm unvollkommnen Zusammen als eine veränderte Be-
stimmung desselben, gemäfs den innern Zuständen, könne gedacht
werden.
Was nun den objectiven Schein anlangt, so bleibt dieser im Wesent-
lichen gleich, ob sich dichtere oder dünnere Massen einander vorüber be-
wegen : und aus der blofsen Form seiner Auffassung würde der Zuschauer
nimmermehr die Gesetze des Stofses errathen. Sieht er die bewegte Masse
an die ruhende stofsen, so kann er eins von bevden erwarten: entweder,
die bewegte werde ihre Geschwindigkeit behalten, folglich die ruhende ihr
eben so schnell, wie jene ankommt, voran gehn müssen; oder, die ruhende
werde, weil sie [505] ruht, jede weitere Bewegung der andern unmöglich
machen, demnach sie plötzlich zum Stillstande bringen. Sucht er zwischen
beyden ein mittleres, so wird er etwa die Unterschiede des Volumens zur
Richtschnur nehmen; wie es im Grunde auch diejenigen thun, die sich
vorstellen, die Dichtigkeit der Materie hinge ab vom Mangel der Poro-
sität; denn sie rechnen das Volumen der Poren ab vom erfüllten
Räume.
Gehen wir aber auf unsre erste Lehre vom gänzlich vollkommenen
Zusammen zurück: so fragt man uns vielleicht gar, warum denn nicht
ein Körper gerade durch den Raum des andern hindurch seinen Weg
fortsetze, als ob ihm kein Hindernifs aufgestofsen wäre?
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters, i. Cap. V. d.Mittheilungetc. 2QI
§• 383-
Sollen wir endlich den Grund aller Täuschungen über die Mittheilung
der Bewegung aufdecken, so ist es folgender:
Bey der Bewegung scheint die Qualität des Bewegten gar nicht in
Betracht zu kommen. Dieses nun ist nur richtig bey der unabhängigen
Bewegung, die auch ursprünglich seyn kann (§. 297); aber es fällt weg
bey jeder Bewegung, die einem Causalverhältnifs unterworfen ist. Wenn
zwey Massen einander stofsen, so ist das Innere derselben nicht gleich-
gültig, sondern es liegt in ihm der bestimmende Grund, weshalb die Be-
wegung nach solchen oder andern Gesetzen sich mittheilt. Härtere,
weichere, biegsamere, zähere, mehr oder weniger flüssige Körper, machen
hier Unterschiede, auf welche in den Abstractionen der Mathematiker, die
nur von vollkommen harten, elastischen, oder flüssigen Körpern zu reden
pflegen, nicht Rücksicht genommnn wird. Von Flüssigkeiten weifs man,
dafs sie den empfangenen Druck auch seitwärts fortpflanzen; an jedem
Haufen Sandes oder Asche sieht man dasselbe. Und [506] wenn man
bey elastischen Körpern den Seitendruck nicht wahrnimmt, wo anders
liegt der Grund, als in Wiederherstellung ihrer Figur?
Durch die schon vorhandenen, aus der ursprünglichen Qualität her-
rührenden, innern Zustände, von welchen nach unserer obigen Lehre der
Zusammenhang der Elemente mit seinen mannigfaltig verschiedenen, näheren
Bestimmungen lediglich abhängt, ist zwar die Möglichkeit, neue innere
Zustände anzunehmen, in so hohem Grade beschränkt, dafs die eieen-
thümliche Natur der Materien, welche einander im Stofse begegnen, gänz-
lich verlarvt zu seyn scheint. Und deshalb mufs die Chemie das Feuer
und mancherley Künste anwenden , wenn sie die Elemente für einander
wieder gleichsam eröffnen will, welches noch überdies in den meisten
Fällen lange Zeit erfordert. Aber dennoch giebt es ein bekanntes, nur
seltener bemerktes Phänomen, welches sich augenblicklich ereignet, sobald
die Körper in Berührung treten. Es ist die Adhäsion, von welcher Munke
(im ersten Bande des neu bearbeiteten Gehlerschen physikalischen Wörter-
buchs) sagt: unter die Erscheinungen derselben dürfe mit Recht gezählt
werden, dafs die kleinen Partikeln aller Körper sich als Staub an loth-
rechte Wände, oder unter den Decken der Zimmer anhängen, ohne ver-
möge ihres Gewichts herab zu fallen. Das Anhängen ist so viel stärker,
je kleiner die Theilchen sind, weshalb der feinste Staub sich am dicksten
und stärksten anlegt. — Diese Staubtheilchen sind nun noch lange nicht
einfache Elemente; es sind schon körperliche Massen; und dennoch reichen
sie hin, zu zeigen, was geschehen würde, wenn anstatt der ganzen Massen
die Moleculen der Körper einander begegneten.
Im Stofse der Massen sehen wir ein Phänomen, welches zwischen
der Adhäsion und der chemischen Ein-[507]wirkung in der Mitte liegt.
Giefst man Wasser auf Glas: so adhäriren die nächsten Theile; alsdann
laufen die entferntem Wassertheilchen über die Wasserfläche hinweg; läfst
man aber Wasser Monate lang in gläsernen Gefäfsen digeriren, so wird
Glas von ihm aufgelöset, nach Lavoisiers Versuchen. *
* Berzelius Chemie I, S. 274.
IQ5
2Q2 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Man wird nun vielleicht glauben, die Adhäsion, welche nach Ver-
schiedenheit der Elemente nothwendig, und auch erfahrungsgemäfs, ver-
schieden ausfällt, würde die Gesetze der Bewegung durch ihren Einflufs,
wenn ein solcher Statt finde, merklich abändern; allein dies kann nicht
eintreten, wie wir sogleich sehn werden.
§• 384-
Wann beginnt der Stofs? Gewifs noch nicht dann, wann die Massen
blofs an einander sind; oder wir müfsten ihnen im Ernste, gleichsam als
Vorläufer, jene eingebildeten anziehenden und zurücktreibenden Kräfte
(§. 380) voranschicken, gegen welche zu reden hier nicht mehr nöthig ist.
Der Stofs kann nicht eher beginnen, als in dem Augenblicke, wo ein
Körper dem andern den Raum schon streitig macht; also wo jener Druck
eintrit, auf welchen Ide (§. 381) sich beruft; das heifst, wann das Ein-
dringen begonnen hat.
Der Anfang des Eindringens nun ist schon ein unvollkommnes Zu-
sammen, und hiemit ein Causalverhältnifs ; aber es ist noch nicht der Stofs,
sondern es ist Anziehung. Denn wenn die unmittelbar in Berührung ge-
tretenen Theile der einen Masse als Staubtheilchen frey schwebten, so
würden sie der andern Masse adhäriren.
Die Adhäsion ist ein Anfang der chemischen Wirkung: welche Wir-
kung jedoch nicht weit fortschreiten [508] kann, weil dadurch die schon
vorhandenen innern Zustände, auf denen die ganze Constitution der Ma-
terien beruht, müfsten abgeändert werden. Die neuen Selbsterhaltungen
der Elemente in der Adhäsion werden gleich im Entstehen von der, aus
der Psychologie bekannten, Hemmung ergriffen; die um so stärker wird,
weil das Innere der Massen (nach §. 342) darauf einfliefst.
Sobald die Gränze der Adhäsion bestimmt ist: ergiebt sich hiemit
die Unmöglichkeit des tiefern Eindringens. Und jetzt erst machen die
Massen einander den Raum streitig. Die von der Adhäsion, — gleich-
viel ob mehr oder weniger ■ — ergriffenen Theile werden nach innen ge-
drängt. Hier widersetzt sich ihnen das vorhandene Gleichgewicht der
Attraction und Repulsion, oder die ursprünglich der Materie, als solcher,
eigene Spannkraft; denn wir wissen schon, dafs alle Materie elastisch ist
(§. 272). Was nun aus dem Widerstreite werde, das ist nach den Um-
ständen verschieden. Die Körper können zerbrechen, sich biegen, sich
erhitzen; der Seitendruck kann sichtbar werden; jede solche Bewegung
aber wird durch ein Causalverhältnifs bestimmt, welches seinen letzten
Grund im Innern, in der ursprünglichen Qualität der Elemente hat; und
niemals kann es dabey blofs auf die Masse, als Masse, ankommen.
§• 385-
Die beyden Hauptgedanken, worauf die mathematische Theorie des
Stofses beruht, sind nun ohne Zweifel ganz richtig. Erstlich mufs die
Differenz der Geschwindigkeiten ausgeglichen werden ; zweytens mufs die
Materie, deren innere Constitution dabey leidet, sich in so weit wieder
herstellen, als dies nicht schon durch völlige Trennung der früher ver-
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt. Unters. i.Cap. V. d.Mittheilungetc. 20\
bundenen, oder durch Einschiebung andrer Theile, unmöglich geworden
[509] ist. Aber die Nothwendigkeit, dafs die Geschwindigkeiten sich
ausgleichen, mufs erst entstehn; und sie entsteht nicht plötzlich, sondern
allmählig, von einem Theile der Masse fortschreitend zum andern.
Käme nichts auf die innern Zustände an, — brauchten sie nicht
erst sich zu bilden, dann sich zu hemmen, so würde jede Materie den
Raum leer, und den Weg offen finden, wieviel andere Massen auch aufser
ihr vorhanden wären. So geht die strahlende Wärme frey durch dieselbe
Luft, welche der Electricität den Raum dergestalt anfüllt, dafs sie nur mit
Gewalt, auf einem engen Passe, durchbrechen kann. Dies Beyspiel scheint
das stärkste und sprechendste zu seyn, was man wünschen mag.
Körper, welche zusammenstofsen, müssen erst einander auf die Probe
stellen, ob, und in wie weit, sie für einanander durchdringlich sind. Die
innern Theile jeder Masse haben diese Proben schon gegenseitig gemacht.
Auch die Gränze der Adhäsion ist augenblicklich gefunden • daher geht
es schnell mit der Probe; doch nicht so schnell, dafs man die allmälige
Fortpflanzung der Bewegung in keinem Falle wahrnehmen könnte. Be-
kanntlich reifst ein Faden, der, von einem fallenden Gewichte gespannt,
ein anderes plötzlich in Bewegung setzen soll, welches mit jenem durch
Hülfe einer Rolle oder eines Wagebalkens verbunden ist; wenn er gleich
die Last des andern recht gut tragen könnte. *
Nach allem bisher Gesagten ist nun Bewegung nicht irgend Etwas,
das mitgetheilt würde, und überginge aus Einem ins Andre. Sondern in-
dem die eine Masse an Geschwindigkeit verliert, weil die zuerst anstofsen-
den Theile sonst zu dicht würden auf die inneren gedrängt werden, er-
zeugt sich dagegen Geschwindigkeit [510] in der andern, weil auch ihre
Elemente sonst entweder verdichtet oder getrennt werden würden. Dies
geht so fort, bis die Geschwindigkeiten aller Theile gleich sind, oder
(wenn der Stofs nicht central ist) einander durch ihre Bewegung nicht
mehr hindern; alsdann folgt Herstellung, soweit sie noch möglich ist, in
Ansehung derjenigen Verdichtung oder Spannung, welche nicht schon war
vermieden worden. Fragt man, wo denn die verlorne Geschwindigkeit
bleibe? oder wo denn die neu erzeugte herkomme? so erinnern wir, dafs
die Geschwindigkeit an sich Nichts ist; dafs alle Gesetzmäfsigkeit ihrer
Erscheinung bey Körpern, die auf einander wirken, nur Ausdruck der
innern Zustände ist, denen die Lage der Theile entsprechen mufs; und
dafs die Materie überhaupt kein anderes Daseyn hat, als nur in Folge
dieser Nothwendigkeit.
§• 386.
Das Gegenstück des Drucks, welchen die Massen beym Stofse leiden,
ist die Spannung eines Fadens, einer Stange, oder jedes Körpers, der auf
mechanische Weise dem Zerreifsen durch Kräfte von entgegengesetzter
Richtung ausgesetzt wird. Nimmt man absolut harte Körper an, so müß-
ten sie die gleiche Vestigkeit, welche der Verdichtung entgegensteht, auch
Kästners höhere Mechanik, S. 557.
2 94 !■ Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
wider Verdünnung und Ausdehnung gelten machen, wenn man nicht den
Begriff des einmal bestimmten Zusammenhangs verlieren will.
Es kommt nun hiebey eine andre Art von scheinbarer Mittheilung
der Bewegung vor; die jedoch aus gleichem Grunde, wie die vorige, zu
erklären ist, und derselben mehr Licht geben kann. Der gespannte Faden
hat bekanntlich nach allgemeinem Geständnifs überall gleiche Spannung, er
sey nun lang oder kurz, gerade oder gekrümmt; wofern er nicht etwa, wie
bey der Ket-[5 1 i]tenlinie, durch sein eignes Gewicht, oder andre ungleich
einwirkende Kräfte besondere Bestimmungen annimmt. Hier scheint die
Länge des Fadens die bewegende Kraft zu multipliciren; wovon beym
Flaschenzuge ein nützlicher Gebrauch gemacht wird, indem man durch
öfteres Umwinden, mit Hülfe mehrerer Rollen, seine Wirksamkeit gegen
die Last wiederholen kann. Woher kommt denn nun die Vervielfältigung
der Kraft? Es ist sehr sichtbar, dafs sie sich nur durch die Cohäsion des
Fadens vervielfacht, welcher in allen seinen Puncten der Gefahr zu zer-
reifsen ausgesetzt wurde. Wiederum also sind es die innern Zustände,
welche mit der Cohäsion zugleich diese ganze Erscheinung von bewegen-
der Kraft begründen.
§• 387.
In dem nämlichen Zusammenhange können wir noch des Hebels
erwähnen. Die bekannte Beweisart in der Lehre vom statischen Momente,
nach welcher man, von gleichen Gewichten an gleichen Armen des Hebels
ausgehend, allmählig durch Substitutionen solcher Gewichte, die sich auf-
heben, zu beliebigen Längen der Arme und zu Gewichten von umgekehr-
tem Verhältnisse fortschreitet, — ist ohne Zweifel genügend, wenn man
nur die Erkenntnifs des Resultats sicher stellen will ; aber sie erklärt nicht,
warum und wie dies Resultat zur Wirklichkeit gelangt. Denn die fingirten,
successiv am Hebel angebrachten und wieder weggenommenen Gewichte
sind nur in Gedanken vorhanden. Der wirkliche Hebel ist im Gleich-
gewichte ohne diese Fictionen.
Als fehlerhaft aber müssen wir den von Fries, in seiner Naturphilo-
sophie, gebrauchten Beweis betrachten. Er läfst nämlich den Hebel schon
in Bewegung gerathen, und beruft sich nun auf die Kreisbogen, welche
nach Verhältnifs der Arme durchlaufen werden. Aber [512] diese Über-
legung hat einen andern Platz, wohin sie gehört, nämlich das Moment det
Trägheit; welches sich bekanntlich gerade darum nach dem Quadrate der
Entfernung jeder Masse von der Umdrehungsaxe richtet, weil zu dem
schon vorausgesetzten statischen Momente noch die, im Verhältnifs jener
Entfernung wachsende, Geschwindigkeit hinzukommt. Woher nun das
Quadrat der Entfernung, wenn das statische Moment selbst keinen andern
Grund hatte, als eben die erwähnte Geschwindigkeit ?
Überdies hängt an dem Hebel, so lange er ruht, jedes Gewicht wie
an einem vesten Puncte. Das Gewicht weifs nichts vom Hebel; es strebt
nur zu sinken.
Aber die Vergleichung mit dem Faden am Flaschenzuge scheint die
Sache aufzuklären. Gerade so wie jeder Punct des Fadens, sofern er
durch seinen materialen Zusammenhang im Stande ist ein Gewicht zu
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt. Unters. 2. Cap. Von der Wärme etc. 205
tragen, sich aus der Gefahr des Zerreifsens selbst die Kraft des Tragens
erzeugt, — eben so mufs auch die unbiegsame Linie am Hebel von Ort
zu Ort den Druck des Gewichts fortpflanzen. Ohne diese Fortpflanzung
und Erneuerung des Drucks, vermöge dessen der Hebel in jedem Puncte
brechen müfste, wenn er zu schwach wäre, würde kein Gewicht auf das
andre wirken, und die Gemeinschaft beyder, welche in ihrem Gleichge-
wichte liegt, könnte gar nicht entstehn. Es ist also geradezu die Summe
der Drückungen, welche mit der Länge der Hebelarme im Verhältnifs
steht, und welche durch das umgekehrte der Gewichte mufs ausgeglichen
werden.
Da die Lehre von der Zerlegung der Kräfte offenbar aus der von
der Zerlegung der Richtungen hervorgehn mufs, wovon in der Synecho-
logie (§. 254) gehandelt worden; da ferner die Grundformeln der höhern
Mechanik, dx = vdt und dv = pdt, von selbst klar [513] sind, sobald
man nur hinter der Kraft p kein metaphysisches Geheimnifs sucht, son-
dern bev dem Begriffe der Intensität augenblicklich erzeugter Geschwindio;-
keit stehen bleibt (über welchen Begriff die Formel ihrer Absicht gemäls
nicht hinausgeht); da überdies das sogenannte Princip der virtuellen Ge-
schwindigkeiten l offenbar kein Princip, sondern gleich dem Pythagoräischen
Satze ein sehr fruchtbarer Lehrsatz ist, welchen die Mathematiker auch
längst bewiesen haben, wie sichs gebührte: so scheint es nicht, dafs wir
Ursache hätten, uns hier, wo es nur auf Umrisse ankommt, länger bey
Gegenständen der mathematischen Physik aufzuhalten. Wir suchen dem-
nach nunmehr die wirkliche Natur, wie sie in der Erfahrung, und nicht
mehr in Abstractionen gegeben ist, genauer ins Auge zu fassen; und
können wohl kaum irgendwo zweckmäfsiger anfangen, als bey der Wärme,
welche man füglich als das wirksamste, wiewohl nicht als das einzige
Mittelglied unter den Naturwesen, betrachten kann.
Zweytes Capitel.
Von der Wärme, und den durch sie bestimmten Formen
der Materie.
§• 388.
In der Physik hat von jeher die Ansicht der Wärme, nach welcher
sie vom wirklichen Wärmestoff herrührt, das Übergewicht behauptet über
die Meinung von innerer Bewegung oder Gährung der Körper,- und sie
wird diesen Vorzug wohl immer behalten. Wie die Oscillations- Theorie
des Lichts an dem Bilde der Nichtigkeit, [514] dem Schatten, einen
Gegner findet: so stufst sich jede Vorstellung der Wärme als einer innern
Bewegung am Schalle, den sie in vielen Fällen weit eher hervorrufen, als
sich selbst mittheilen könnte: wenn es anders überhaupt möglich ist, mit
1 der virtuelleD Geschwindigkeit SW
2o6 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
jener blofs eingebildeten innern Aufregung der Körper einen Begriff zu
verbinden, vermöge dessen sie selbst schon Wärme sey.
Aber die Lehre vom Wärmestoffe hatte auch ihr Unbegreifliches;
und dies ists, was wir suchen müssen hinwegzuräumen.
Man nahm den Wärmestoff für eine Maier ie, was er nicht ist; denn
man kannte nicht den Unterschied zwischen materialen Molecule?i, die
allemal schon zusammengesetzt sind, und Elementen, welche einfach, aber
eben deshalb an sich ganz unräumlich sind.
Man schrieb femer dem Wärmestoffe eine ursprüngliche Expansivkraft
zu, weil man die Ungereimtheit der ursprünglich-bewegenden Kräfte über-
haupt nicht einsah. Was Wunder nun, dafs man einen für material ge-
haltenen Stoff nicht begreifen konnte, der gerade das Widerspiel aller
Materie, nämlich der Gegner der Cohäsion, seyn sollte?
Und dennoch leuchtet uns in dieser Lehre ein Chemiker voran,
der wenn nicht an glücklichen Experimenten, so doch an Scharfsinn,
vielleicht alle andern übertroffen hat, nämlich Berthollet. Er stiefs die
Vorstellung, als ob der Wärmestoff in die leeren Zwischenräume der
Körper gleich dem Wasser in den Schwamm, eindringe, entschieden zu-
rück;* behauptete die Rechte der Affinität; und fand, daß nur darum
der Wärmestoff die Temperatur erhöhet, weil er in dem Streben, dem Körper
neue Dimensionen zu geben, auf Hindernisse stößt. Dieser [515] wichtige
Satz entfernt schon die Einbildung einer ursprünglichen Repulsivkraft, die
man als Grund der erhöhten Temperatur, und hiemit der fühlbaren Wärme,
würde ansehn wollen. Er deutet hin auf den wahren Zusammenhang der
Sachen; nämlich darauf, dafs der Wärmestoff eine andre Configuration der
Materie in ihrem Innern bewirken würde, wenn ihm die vorhandene Con-
stitution derselben nicht entgegen wäre, und dafs die Gewalt der letzteren
den Grund seines Auswanderns und Ausstrahlens enthält. Hierin ist
freylich die Erklärung der Repulsion noch bey weitem nicht vollständig
gegeben; sie konnte auch auf dem Wege blofser Erfahrung unmöglich
gefunden werden. Vergleicht man aber jetzt unsre obigen synthetischen
Untersuchungen (§. 349 — 352): so wird sich bald zeigen, wie Theorie
und Erfahrung in einander greifen.
§• 389-
Kommt es zuvörderst auf einen Erfahrungsbeweis an, dafs die Re-
pulsion, wodurch sich die Wärme verräth, nicht ursprünglich im Wärme-
stoffe als eine eigene Kraft desselben ihren Sitz hat : so bietet sich hiezu
der Umstand dar, dafs die Wärmestrahlen, wenn sie durch ein Brennglas
gehn, einander nicht fliehn, sondern gerade in den Focus hineinfahren,
und erst von dem Körper, den sie daselbst antreffen, nach allen Seiten
gewaltsam zerstreut werden, indem er sich erhitzt und glüht. Davy's
Untersuchung über die Flamme, welche stärker leuchtet, wenn sich in ihr
eine veste Materie erzeugt, scheint eben dahin zu gehören.
Hat man sich nun mit dem Hauptgedanken vertraut gemacht, dafs
der Grad der Repulsion, welche sich als Temperatur- Erhöhung zu erkennen
* Statiqiie ch/miquc, 1. p. 174.
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Anatyt. Unters. 2. Cap. Von der Wärme etc. 207
giebt, nicht von dem Wärmestoff allein , sondern von dem Körper be-
stimmt wird, in welchem er sich anhäuft: so kann man sich [516] auch
nicht wundern über die verschiedenen Capacitäten. Im Allgemeinen wird
der dichtere Körper, schon weil die Anzahl seiner Elemente gröfser ist im
gegebenen Volumen, mehr Puncte besitzen, von denen die Repulsion aus-
geht. Er wird, um mit gleicher Energie die Wärme fortzustofsen — also
auch zu leiten, — weniger Wärmestoff als der dünnere Körper bedürfen.
Um dies mehr ins Licht zu setzen, mag es dienlich seyn, eine
Schwierigkeit offen anzuzeigen, die uns gewisse Versuche in den Weg zu
legen scheinen. Nach Böckmanns Versuchen* soll es einen sehr be-
deutenden Unterschied geben zwischen der Erwärmungs- und Erkältungs-
Fähigkeit der Körper. Sollten wohl die Versuche richtig ausgelegt seyn?
Was heifst denn, ein Körper ist warm? Doch wohl dies: er offenbart
seine Wärme, indem er sie uns, oder dem Thermometer, mittheilt; also,
vermöge des augenblicklichen Verlustes, den er leidet. Was heifst denn:
er wird wärmer? Doch wohl dies: der Grad der augenblicklichen Ab-
kühlung steigt. Wenn nun seine Erwärmung nichts anders ist als die
Steigerung der Notwendigkeit, sich abzukühlen, so ist schwer einzusehn,
wie er mehr Fähigkeit haben könne zur Erwärmung als zur Abkühlung.
Gesetzt, ein System von Körpern, z. B. im geheizten Zimmer, sey und
bleibe eine Zeitlang gleich warm: so ist der Drang, die Wärme von sich
zu lassen, in allen gleich grols; und aus dem innern Druck entsteht eine
gleich starke Strahlung durch die Luft, welche den Wärmestoff frey durch-
läfst; so dafs die Auswechselung, welche hieraus hervorgeht, Abkühlung
und Wieder - Erwärmung in der nämlichen Zeit in sich schliefst. Die
Körper bleiben alsdann gleich waim, wie ein Gefäfs mit Wasser stets voll
bleibt, während unten Abflufs [517] und oben eben so grofser Zuflufs
Statt findet. Wie aber, wenn das Gefäfs mehr geneigt wäre, sich zu
füllen, oder mehr, sich zu leeren? Dann könnte es ohne Zweifel nicht
gleich voll bleiben. — Wenn aber verschiedene Gefäfse auch verschiedene
Gröfse des Abflusses und des, ihm gleichen, Zuflusses hätten, dann würden
alle diese Gefäfse voll bleiben; obgleich die Geschwindigkeit des Wechsels
in ihnen verschieden wäre. So nun denken wir uns auch das System
der Körper von gleichei Temperatur bey ungleicher Capacität. Gute
Wärmeleiter nehmen viel Wärmestoff an, aber nur, um ihn schnell wieder
auszugeben; die Körper von gröfserer Capacität leiden keinen so grofsen
Wechsel; während sie mehr Wärmestoff enthalten.
§• 390.
Jetzt wollen wir versuchen, in wie weit wir die Gründe der ver-
schiedenen Capacitäten werden begreifen können. Als Prinzip stellen wir
nach §. 350 und 351 den Satz auf: Je dichtere und freyere Sphären der
Wärmestoff um die Elemente eines Körpers bilden kann, desto gröjser ist die
Capacität.
1. Die Dichtigkeit hängt ab vom Grade und der Ungleichheit des
Gegensatzes, welcher statt findet zwischen der Qualität des Wärmestoffes
* Schmidts Naturlehre, §. 146.
2g8 !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
des Elements. Als Beyspiel eines vorzüglich hohen Grades wird wohl
der Wasserstoff gelten können, der überhaupt gröfsere Quantitäten andrer
Elemente, und diese sehr wirksam, mit sich zu vereinigen pflegt.
2. Die Freyheit der Sphärenbildung hängt ab von der Dichtigkeit
des Körpers; und zwar mit folgendem Unterschiede:
a) Je mehr Elemente in einem gegebenen Volumen, [518] desto
mehr Vereinigungs- und Mittelpuncte giebt es, um welche sich die Sphären
bilden könnten; aber
b) je dichter die Elemente liegen, desto weniger Freyheit haben die
äußern Sphären (§. 350), in welchen die Repulsion kleiner ist, oder sich
in Anziehung verwandelt, sich den innern Sphären anzuschliefsen.
Aus dem ersten Grunde sollte bey dichtem Körpern die Capacität
gröfser seyn; aber aus dem zwevten wird sie nicht blofs kleiner, sondern
sie vermindert sich mit der besondern Bestimmung, dafs bey dichten
Körpern mehr Wärmestoff in deren Elementen, hingegen bey dünneren
weit mehr um dieselben angehäuft wird.
3. Das Vorige wird ohne Zweifel näher bestimmt durch jede be-
sondere Configuration der Materie. Je gleichförmiger ein Körper den
Raum ausfüllt, desto weniger Freyheit läfst er den äulsern Sphären, und
insofern mufs seine Capacität sich verringern; z. B. bev gehämmerten
Metallen.
Dafs nun hieraus sehr zusammengesetzte Verhältnisse entspringen
können, ist klar; und es wird wohl noch lange schwierig bleiben, die
Erscheinungen, welche hieher gehören, mit Genauigkeit zu sondern ; zudem
da bekanntlich auch die Verschiedenheit der Oberflächen darauf einfliefst.
§• 39i-
Es scheint nicht nöthig, über so leicht zu erklärende Gegenstände,
wie die Wärme -Entbindung bey Verminderung des Volumen, oder die
Erkältung bey plötzlicher Vergrölersung desselben, noch etwas hinzuzufügen.
Auch die Ausdehnung aller Körper durch die Wärme ist im Allgemeinen
aus den aufgestellten Grundsätzen klar (§. 351); aber dabey kommt ein
merkwürdiger Umstand vor, den man auf den ersten Blick nicht erwarten
würde. Einen starren Körper auszudehnen, erfor- [5 1 ordert ohne Zweifel
desto mehr Gewalt, je mehr die Spannung desselben zunimmt. Dem
gemäfs sollte der Wärmestoff bey höhern Temperaturen mehr Schwierigkeit
finden, die Ausdehnung noch weiter zu treiben. Das Gegentheil zeigt die
Erfahrung. Der schon erhitzte Körper ist nachgiebiger im Innern , und
weniger fähig, nach aufsen hin den Wärmestoff zu treiben, welches letztere
sich durch gröfsere Temperatur - Erhöhung bey geringerer Ausdehnung
verrathen würde. Die Gasarten aber machen davon eine Ausnahme, indem
sie Temperatur und Volumen in gleichen Schritten fortgehn lassen. Woher
dieser Unterschied?
Die innern Zustände, auf welchen die Verbindung der Elemente in
den Moleculen beruht, müssen eine Hemmung erleiden von den neuen
Zuständen, worein die nämlichen Elemente durch den Wärmestoff versetzt
werden; wenn nicht etwan aller Gegensatz fehlt zwischen diesen und jenen
5. Abschn. Umrisse d.Naturphii. 2. Abth. Analyt. Unters. 2. Cap. Von der Wärme etc. 299
Zuständen. Diese Hemmung mufs gröfser werden mit Vermehrung des
Wärmestoffs. Die P'olge ist, dafs die Verbindung der Elemente, welche
man, mit dem gewohnten Namen, der chemischen Verwandtschaft zu-
schreibt, loser wird. Und hieraus ergiebt sich weiter, dafs der Wärmestoff
es leichter findet, sich jener eigenthümlichen Sphärenbildung zu nähern,
die ihm zukommt; während die Cohäsion, das Werk der chemischen, oder
innern Zustände, im Abnehmen begriffen ist.
Dieser Umstand wird wegfallen, wo schon die Sphären gebildet sind,
und nur noch neue Sphären, als Umhüllungen, von aufsen annehmen.
Folglich, wenn er wirklich wegfällt, so ist die starke Vermuthung begründet,
hier seyen die Elemente schon isolirt, oder doch die Moleculen, welche
sich aus ihnen zuerst bilden, gesondert; und die Materie bestehe nur noch
aus den eingehüllten Moleculen. Alsdann wird Repulsion aller [520]
Theile, welche man in der Materie unterscheiden kann, die Stelle der vorigen
Attraction oder Cohäsion eingenommen haben; weil sich noch immer Sphäre
um Sphäre bilden soll, so lange es an freyem Wärmestoffe nicht fehlt. Und
•dieses nun ist die bekannte Eigenthümlichkeit der Gasarten und Dämpfe.
Doch vor weiterer Betrachtung der Formen, welche die Körper durch
den Wärmestoff erlangen , müssen zwey wichtige Phänomene erwähnt
werden, nämlich die Hitze und das Feuer beym Reiben und beym Ver-
brennen, welche noch neuerlich grofse Schwierigkeit gemacht haben.
§• 392-
Vom Reiben bemerkt Berzelius mit Beziehung auf Rumfords Ver-
suche, es könne nicht durch Zusammenpressung der Theile so viel Wärme
hergeben, als sich in der Erfahrung vorfindet. Und das läfst sich wohl
einsehen, sofern man blofs an ähnliche Wirkungen denkt, wie jene, wo
•die Compression im pneumatischen Feuerzeuge den Wärmestoff aus den
Sphären losreifst, die er bildete um die einzelnen Lufttheilchen.
Derselbe Chemiker erinnert bey Gelegenheit des Sauerstoffgases, man
könne nicht die aus ihm sich entbindende Wärme als das Princip des
Feuers beym Verbrennen ansehen, weil auch dann Feuer entstehe, wann
das Sauerstoffgas nicht condensirt werde ; daher scheint ihm nichts übrig
zu bleiben, als das Feuer für eine elekt?-ische Erscheinung zu halten.
Konnte ein so grofser Chemiker einen solchen Schlufs machen?
Wir haben oben (§. 348) von einer innern Oscillation gesprochen,
welche nothwendig unter Elementen Statt finden müsse, wenn sie so eben
plötzlich zu materialen Moleculen zusammentreten. Es liegt vor Augen,
dafs alsdann der Wärmestoff keine bleibende Stätte [521] bei den
oscillirenden Elementen finden kann, sondern an der Sphärenbildung, die
ihm eine ruhige Lage sichern, und ihn unfühlbar machen würde, ge-
hindert ist. Was ist nun natürlicher, als dafs er in allen solchen Fällen
mehr oder weniger heftig fortgestofsen wird; was also ist natürlicher, als
Hitze beym Reiben, beym Ursprünge der Producte des Verbrennens, bey
Explosionen' die auf plötzlicher Scheidung und Zusammensetzung der
Materie beruhen (wie beym Knallgolde und was dem ähnlich ist); endlich
bey jenem merkwürdigen Wasserstoff - Hyperoxyd , worauf schon oben
tqo I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 182g.
(§. 346) aufmerksam gemacht worden? Ja wir können hierher auch die
mäfsige thierische Wärme rechnen, welche mit der beständigen Umwandlung
und neuen Zusammensetzung der lebenden Materie verbunden ist; so wie
manche Phänomene der Erhitzung gährender Substanzen.
Demnach ist zwar etwas Wahres an der Meinung, Wärme bestehe
in der innern Aufregung der Körper. Hier ist jedoch die zuweilen vor-
kommende Veranlassung für die Sache selbst genommen. Die innere
Aufregung erlaubt dem Wärmestoffe nicht, sich der Moleculen nach Ge-
wohnheit zu bemächtigen; indem er es versucht, wird er in diejenige
Repulsion versetzt, in welcher allein er unserm Gefühle und dem Thermo-
meter sich offenbart. Es scheint wirklich, man hätte durch Überlegungen
dieser Art, die von chemischen Begriffen füglich ausgehn konnten, in die
Naturphilosophie auf dem Wege der Analysis hineinkommen können;
wenn man nur nicht die eingebildeten ursprünglichen Kräfte, als Zugaben
zum Realen, stets vor den Augen zu sehen geglaubt hätte. Aber freylich
können alle Betrachtungen solcher Gegenstände nicht eher einen Ruhe-
punct finden, als bis sie auf die ursprüngliche Construction der Materie
aus ihren unräumlichen Elementen zurück-[52 2]geführt werden, die wir
in der Synechologie entwickelt haben.
§• 393-
Schon vorhin (J. 391) haben wir des Unterschiedes der Gase von
den übrigen Körpern erwähnt. Dies erinnerte ohne Zweifel an die be-
kannte Form -Änderung der Körper, vermöge der Schmelzung und Ver-
dampfung. Im Allgemeinen kann unsere Theorie nur das bestätigen und
vollständiger begreiflich machen, was hierüber schon längst richtig gelehrt
worden; wiewohl nicht ohne Anfechtung und Verkünstelung. Unmittelbar
und ungezwungen ergiebt es sich aus dem Vorigen, dafs, wenn der Wärme-
stoff sich anhäuft, er irgend einmal die ihm entgegengesetzten innern Zu-
stände der Materie durch andre, die er selbst hervorruft, weit genug;
hemmen könne, um das körperliche Band zu lösen, und in manchen
Fällen die Elemente, in andern die Moleculen, wie sie waren, in noch andern
Fällen (wie bey Destillationen gewöhnlich) einige aus der Menge der vor-
handenen Elemente herausgehoben und zu neuen Moleculen vereinigt, mit
seinen Sphären einzuhüllen, welche, wofern kein äufseres Hindernis vorhanden
ist, davon fliegen werden, getrieben durch die Repulsion in der freyen Wärme.
Und wir wissen erfahrungsmäfsig, dafs in der That der starre Körper
sich sogleich in seinen Dampf aufzulösen anfängt; jedoch freylich meistens-
sich selbst am weitem Fortschreiten dieser Entwickelung dergestalt hin-
dernd, dafs der Druck des Dampfes dem Reste des Körpers nur die
Form des tropfbar Flüssigen erlaubt, wobey wiederum der Druck der At-
mosphäre, oder der Gefäfse, als Hindernifs in Anschlag kommt, indem er
sich der Dampfbildung widersetzt.
[523] §• 394-
Tropfbare Flüssigkeit ist bekanntlich keine selbstständige Form der
Körper; sie hält sich nicht ohne äufsern Druck; und man hat hinreichenden
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 2. Cap. Von der Wärme etc. 301
Grund, sie in allen Körpern als abhängig von der Temperatur anzusehen.
Ihre merkwürdige Eigenschaft, den Druck nach allen Seiten gleichmäfsig
fortzupflanzen, mufs also wenigstens zum Theil auf den Wärmestoff zurück-
geführt werden.
Wollte zuvörderst Jemand die Frage aufwerfen, ob wohl die Mole-
culen der Körper als starr, oder als flüssig zu betrachten seyen? So
würden wir bemerken können, dafs zwar jede Molecule einzeln genommen
ihre völlig bestimmte Gestalt haben mufs, sobald in ihr völliges Gleich-
gewicht der Attraction und Repulsion eingetreten ist (§. 274); dafs aber
um jedes Element, wie um eine Kugel (§. 267), sich die ganze Molecule
drehen kann, ohne Verlust ihrer Gestalt, so lange nicht von aufsen her,
durch Verbindung einer Molecule mit der andern (wie im §. 345), die
Lage bestimmt wird, in der sie bleiben soll. Demnach braucht nur, um
die Beweglichkeit wieder herzustellen, die Verbindung der einzelnen Mole-
culen wandelbar zu werden. Nun wird sie wandelbar, sobald der Wärme-
stoff, der im unaufhörlichen Wechsel des Einströmens und Ausströmens
begriffen ist, dahin gelangt, den starren Körper auch nur zu enoeichen;
wobey freylich auffällt, dafs der Mittelzustand der Weichheit, der zwischen
Starrheit und Tropfbarkeit steht, wohl schwerlich bisher von den Physikern
so genau, als er es verdiente, ist beachtet worden. Man wird nicht ver-
langen, dafs wir eine so schlüpfrige Stelle hier mehr als berühren sollen;
welches nur einer vollständigen Naturphilosophie könnte angemuthet werden.
Giebt es nun eine körperliche Masse, in welcher je-[524]des Ele-
ment als Mittelpunct einer möglichen Drehung, die gänzlich unbeschränkt
ist in Hinsicht ihrer Richtung, darf angesehen werden: so scheint es, dafs
an dieser Masse die Eigenschaften der tropfbaren Flüssigkeit nachzuweisen,
füglich den Mathematikern könne überlassen bleiben. Der aufgestellte Be-
griff aber folgt, wie man sieht, unmittelbar aus unsern Principien.
§• 395-
Fragt man weiter, wie denn die Moleculen des Flüssigen unter sich
zusammenhängen mögen (welches bekanntlich die Bedingung der Tropfen-
bildung ist): so ist zu bedenken, dafs der äufsere Druck, unter welchem
das Liquidum steht, dem Wärmestoffe noch nicht erlaubt, Sphäre um
Sphäre zu bilden, und hiemit die einzelnen Moleculen vollständig ein-
zuhüllen. Sondern einerley Element des Wärmestoffs befindet sich jetzt
noch im unvollkommenen Zusammen mit mehr als Einer Molecule; er
vermittelt dadurch einen Zusammenhang, den man künstlich nennen möchte,
weil er eine Art von Surrogat des ursprünglichen, den Moleculen zu-
kommenden, ausmacht; und weil er sich beym beständigen Aus- und Ein-
gehn des Wärmestoffes nur schwebend erhalten kann; wie denn die ganze
Form des Tropfbaren lediglich schwebt; und stets im Begriff steht, über-
zugehn in die Form des Dampfs.
Fragt man endlich, weshalb dem tropfbaren Körper die besondere
Gewalt zukommen möge, womit er sich jeder Compression widersetzt: so
sind wir erstlich nicht gewifs, ob man diese Eigenschaft schon bey höheren
Temperaturen des Liquidum untersucht habe? und bitten zweytens zu
■JQ2 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
überlegen, was wohl geschehen müfste, wenn dasselbe sollte zusammen-
gedrückt werden. Der Wärmestoff müfste dann auf ähnliche Weise heraus-
geprefst werden, wie bey Gasarten, aber im Tropfbaren [525] hat er die
loser verbundenen äufsern Sphären noch nicht gebildet, wohl aber übt er
seine grüfste chemische Gewalt, indem soviel als möglich von ihm inner-
lich, in die Elemente des Körpers, ist aufgenommen worden. Ferner
müfste nun bald die starre Form des Körpers zurückkehren; alsdann aber
würde das Wasser wenigstens (auf welches die bisherigen Versuche wohl
dürften beschränkt gewesen seyn) sich der Form des Eises nähern, mithin
(falls es unter 4 Grad abgekühlt wäre) sich wieder ausdehnen. Also Com-
pression hätte Ausdehnung zur nothwendigen Folge, welches sich aufhebt.
Ob nun dies der vollständige Grund der Erscheinung sey, mufs dahin-
gestellt bleiben, so lange nicht Versuche mit verschiedenen Arten des Tropf-
baren, bey verschiedenen Temperaturen, vor Augen liegen.
§• 396.
Will man nach allem Vorstehenden noch zweifeln, ob der Dampf,
in welchen das Tropfbare wirklich übergeht, sobald die äufsern Schranken
weggenommen werden, — und ob die Gase, welche sich vom Dampfe
nur durch gröfsere Haltbarkeit unterscheiden, durch den mit ihnen ver-
bundenen Wärmestoff ihre Elasticität erlangen; oder auch, will man dem
letztern allein, ohne Rücksicht auf die von ihm rings umher vielfach ein-
gehüllten Elemente, die Spannkraft beylegen : so mag man sich nun noch
einmal Rechenschaft zu geben suchen über die Grundbegriffe von der
Materie überhaupt. Dazu ist hier, wir möchten fast sagen, die letzte Ge-
legenheit. Denn im Gebiete der Erfahrung fällt Alles, was man mit Ent-
schiedenheit Materie nennt, zwischen die beyden Extreme des starren und
des gasförmigen Körpers; so dafs jener durch Cohäsion, also Attraction,
dieser durch Repulsion aller seiner unterscheidbaren Theile, ausgezeichnet
ist. Insbesondere liegt alles Be- [5 2 6] lebte, sofern es Materie darstellt,
zwischen diesen beyden Extremen; es ist weich, oder aus dem Weichen,
halb Flüssigen entstanden; und die Natur desselben begreifen zu wollen,
bevor man über Starrheit und Spannkraft mit sich selbst einig ist, gehört
offenbar zu den ganz vergeblichen Bemühungen.
Der Gang unsrer Untersuchungen führte uns so, dafs wir weit früher
das Starre, als die Gasform, begreifen konnten. Allmählig zeigte sich auch
von dieser die Erklärung. Aber eben darum, weil fast unvermerkt der
Begriff vom Dampfe und Gase herbeygekommen ist, erinnere sich der
Leser, dafs wir keine übereilte Vestsetzung von ihm begehren. Er rufe
sich aus der Ontologie und Synechologie die Gründe zurück, um derent-
willen wir überhaupt den Dingen keine ursprünglichen Kräfte, am wenigsten
räumliche Kräfte, beylegen können; wobey das Seyn und das Geschehen
und der Schein, welches wir sorgfältig sonderten, wieder durch einander-
fallen würde. Er gehe dann zurück zum Entstehen der ursprünglichen
Moleculen; hier aber findet er sogleich Cohäsion, und erst dann kommt
Repulsion, wann die Attraction an ihr eigenes Übermaafs anstöfst. Dort
also zeigt sich noch keine Aussicht, das Gas zu begreifen.
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 2.Cap. Von der Wärme etc. 303
§• 397-
Am kenntlichsten macht sich die Natur der Gase durch das Mariottesche
Gesetz, in Verbindung der durch Compression sich entwickelnden Wärme,
und mit Voraussetzung der Begriffe vom Wärmestoff. Man drückt ein
Gas zusammen; es verliert Wärme, aber es behält seine Spannkraft. Also
ist erstlich allerdings in dem Gase viel Wärmestoff, aber zweytens: es kann
einen grofsen Verlust an demselben ertragen, ohne darum das Princip der
Elasticität zu entbehren.
[527] Will man nun den Wärmestoff als eine zufällige Beymischung
betrachten? Ohne ihn wird man weder bey den einfachen Elementen,
noch bey den aus ihnen vielleicht zusammengesetzten Moleculen, irgend
einen denkbaren Grund entdecken, warum sie einander fliehen sollten.
Auch haben die höchst bekannten Versuche vom Verschwinden der Wärme
bey der Verdampfung, und umgekehrt, längst dahin geführt, dafs man im
Wärmestoffe die unentbehrliche Bedingung der Elasticität sucht. Also
durch ihn, aber nicht durch ihn allein, mufs die Gasform begriffen werden,
sondern so, dafs immer das Quantum der Bestandtheile, wodurch ein jedes
Gas sich von andern Gasen unterscheidet, auch das Quantum der Spann-
kraft bestimme, welche bey mehr oder weniger Wärmestoff dem Gase
eigen ist.
Wenn nun viele Elemente, z. B. des Wasserstoffs oder des Sauer-
stoffs, sich in einem gegebenen Räume beysammen finden; wenn jedes
von ihnen umhüllt ist von vielen Sphären des Wärmestoffs; «wenn man
jetzt durch Zusammendrückung das Volumen vermindert: so werden die
Sphären des Wärmestoffs in einander gedrängt; dadurch wächst die Re-
pulsion; die Temperatur steigt; und von den äufsern Hüllen, in welchen
die mittelbare Attraction (§. 342) schon schwächer ist, wird sich etwas ab-
lösen und entweichen, damit das Gas sich abkühle. Alsdann aber besitzt
es noch immer die sämmtlichen, wesentlichen Elemente, durch welche
eigentlich erst Repulsion in den Wärmestoff kommt. Und diese Elemente
besitzen noch immer ihre nähern, dichtem Hüllen. Was Wunder also,
wenn die Repulsion immer noch die nämliche Summe aller Spannkräfte
zeigt, wie Anfangs; nur in einem engern Räume vereinigt?
§• 398.
Dafs die wesentlichen Elemente des Gases oder des [528] Dampfs
durch ihre Wärmestoff- Hüllen isolirt, und von einander gesondert sind,
verräth sich durch einen andern Umstand fast unverkennbar, nämlich
durch den Mangel an chemischer Wirksamkeit in Mischungen verschiedener
Gase; und durch die Freyheit, womit sich der Wasserdampf in allen Gasen
ausbreitet, als ob sie nicht da wären.
Bekanntlich glaubte man lange, die Luft sey das Auflösungsmittel der
Wasserdämpfe; man hielt ferner die gemeine Luft der Atmosphäre für ein
Oxyd des Stickstoffs; man erwartete, dafs aufserdem ihre Bestandtheile
durch den Unterschied der Schwere würden getrennt werden; man dachte
in Rindsblasen ein Gas einschliefsen zu können; man hielt wenigstens
irdene Gefäfse, welchen die Luftpumpe ihre Luft wegnehmen konnte, für
:>04 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
fähig, Gasarten vest und abgesondert zu erhalten. Nichts von dem x\llen!
Die Gase dringen durch ; jedes, und eben so der Dampf, geht seinen
Weg, folgt seiner eignen Spannung, und breitet sich aus im Räume, un-
geachtet des Unterschiedes der Schwere. Diese Verbreitung wird von
andern Gasen nur verzögert, nicht verhindert; und es scheint am Ende,
als wäre der Raum, welchen schon ein Gas einnahm, noch frey gewesen
für jedes andere.
Fehlt es etwan hiebey an der chemischen Affinität? Warum ver-
wandeln sich nicht Sauerstoffgas und Wasserstoffgas sogleich bey der Be-
rührung in Wasser? Warum treibt nicht der Druck selbst, den die elasti-
schen und wider einander gespannten Moleculen gegenseitig ausüben, den
Sauerstoff in den Wasserstoff hinein? Und wie kann der blofse elektrische
Funke, der in dies Gemenge der Gase hineinschlägt, es mit so ungeheurer
Gewalt plötzlich in Wasser verwandeln; als ob er den Elementen ihren
Gegensatz erst ins Gedächt-[52 9]nifs gerufen hätte, und sie nun sogleich
zur Besinnung kämen, um ihre Schuldigkeit zu thun?
Die Antwort liegt vor Augen. Jedes Element des Wasserstoffs war
verhüllt, jedes Element des Sauerstoffs eben so; sie konnten nicht zu-
sammen kommen. Der Druck, welchen die Moleculen der Gase wegen
ihrer Elasticität ausübten, brachte nicht Sauerstoff und Wasserstoff in Be-
rührung, sondern die Hüllen des Wärmestoffs drängten sich neben ein-
ander vorbev. Denn sie waren gröfstentheils undurchdringlich für einander,
weil jede die innere Constitution der andern beym Eindringen hätte ver-
ändern müssen; und jede durch ihre eignen innern Zustände zu vest be-
stimmt war. Die Repulsion fand nur statt zwischen Moleculen von einerley
Art, weil sie nicht ursprünglich im Wärmestoff liegt, sondern herrührt von
den gleichartigen Selbsterhaltungen gegen einerley Elemente. Die Hüllen
verschiedener Elemente könnten einander anziehn, aber die Attraction ist
schwach, denn sie ist sehr mittelbar; und bedarf der Erfahrung zufolge,
um wirksam zu werden, einer Unterstützung durch höhere Temperatur.
Denn allerdings sollen sich nach Davy jene Gase ohne Explosion ver-
binden können, durch gehörige Hitze. Das heifst doch wohl nichts anders,
als durch Strahlung des Wärmestoffes, wobey seine Hüllen aus ihrer Lage
kommen. Und dasselbe leistet der elektrische Funke plötzlich mit Ex-
plosion, wenn er sich seinen Weg durch die Luft bricht, das heifst, die
Wärmestoff- Hüllen zertrümmert, und die Elemente einander nackt gegen-
überstellt, so dals sie sich erreichen können.
§• 399-
Noch eines merkwürdigen Phänomens können wir hier erwähnen;
nämlich der Absorption, worin besonders die Kohle sich auszeichnet.
Diese ist bekanntlich [530] ein poröser Körper; worauf hiebey viel an-
kommt, denn zu grofse oder zu kleine Poren verhindern die Absorption
der Gase.* Hiemit hängt sehr nahe der Umstand zusammen, dafs Kohle
die Wärme schlecht leitet, wie natürlich bey Körpern, die in sich schwach
* Berzelius Chemie, I. S. 219.
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 3. Cap. V. d. Elektricität etc. 305
zusammenhängen. Wenn nun die Kohle l gebrannt ist, so mufs schon
wegen des Drucks der Atmosphäre, oder eines unter diesem Drucke con-
densirten Gases, neue Luft allmählig in sie eindringen. Die Moleculen
des Gases oder der Luft sind aber nicht bestimmt begränzt, wie die der
starren Körper; denn sie sind mit Wärmestoff mehr oder weniger um-
hüllt, je nachdem das Gas dünner oder dichter ist. (Dies erhellet sehr
leicht aus §. 350.) Man kann sie daher, wenn man die Hüllen mit zu
ihnen rechnet, füglich für so grofs annehmen, dafs sie in den feinern
Poren nicht Platz haben, sondern etwas von den äufsersten Hüllen ab-
gestreift wird, welches sich nun als freve Wärme offenbaren mufs, sobald
es von der Kohle selbst nicht mehr aufgenommen wird. Die freye Wärme
zeigt sich der Erfahrung zufolge wirklich;* und eben so die Erkältung,
wenn mit Hülfe der Luftpumpe das Gas wieder herausgezogen wird. Die
Verdichtung der Luft in der Kohle ist also der umgekehrte Procefs zu
jenem andern, da man erst durch mechanische Gewalt beym Verdichten
anfängt, woraus die Entbindung des Wärmestoffs folgt. Denn bey der
Absorption wird im Gegentheil erst die Gröfse der Umhüllung vermindert,
mithin ganz eigentlich Wärmestoff abgestreift, woraus alsdann die Ver-
dichtung des Gases von selbst folgt.
Damit stimmt zusammen der Umstand, dafs in einer dünneren At-
mosphäre, — in welcher die Hüllen [531] zahlreicher über einander liegen,
— mehr von ihnen abgestreift, oder dem Volumen nach mehr Luft ein-
gesogen wird; während doch nach dem Geivichte gerechnet weniger ein-
dringt, weil der Druck schwächer ist.
Drittes Capitel.
Von der Elektricität und dem Magnetismus.
§• 400.
Die Lehre von der Elektricität ist wegen der Vielförmigkeit der Er-
scheinungen, die sie in Zusammenhang bringen soll, ganz besonders geeignet,
der Naturphilosophie zur Rechnungsprobe zu dienen ; und wir wollen
suchen, sie zu diesem Zwecke zu benutzen. Einige wenige Versuche, von
denen der Verfasser (vielleicht aus Mangel an Belesenheit) glaubt, dafs
sie ihm eigen seyen, und welchen in diesem Falle Wiederholung durch
Andre zu wünschen ist, sollen zuerst als blofse Erfahrungen erzählt werden.
Versuch 1. Eine Siegellackstange von gewöhnlicher Länge stehe vertical
auf einem kleinen Fufsbrette ; sie trage oben ein kleines Quadranten-
Elektrometer. Dies Werkzeug stelle man auf ein isolirendes Stativ, und
gebe demselben einen Funken aus einer geladenen Flasche. Noch zeigt
sich nichts am Elektrometer. Allein jetzt berühre man es mit einem Leiter.
* A. a. O. S. 218.
1 Wenn die Kohle . . SW („nun" fehlt).
Hkrbart'b Werke. VIII. 20
r>o6 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Sogleich divergirt es, und steigt plötzlich etwan auf 60 bis 70 Grad. Man
versuche, ihm wie gewöhnlich die Elektricität durch Berührung mit einem
Leiter zu entziehn ; diese Absicht wird man nicht erreichen, dagegen aber
wird die sonderbare Erscheinung zu bemerken seyn, [532] dafs, bey An-
näherung des Leiters, die Kugel des Elektrometers ihm auszuweichen sucht,
anstatt ihm entgegen zu kommen. Jetzt entziehe man dem Stativ die
mitgetheilte Elektricität. Noch divergirt das Elektrometer wie zuvor. Aber
nun sucht die Kugel desselben den angenäherten Leiter; die Elektricität
läfst sich herausziehn ; und bey gehöriger Prüfung findet sie sich derjenigen
entgegengesetzt, welche dem Fufsbrette war mitgetheilt worden. '
Versuch 2. Um zu erfahren, ob nicht der Erdboden einige freye
Elektricität besitze, stecke man eine, zwey oder mehrere Metallstangen etwan
anderthalb Fufs tief in die Erde. Es mag auch ein langer Drath, an der Ober-
fläche des Bodens liegend, mit einer solchen Stange verbunden seyn. Man
sammle durch Hülfe eines grofsen und eines kleinen Condensators die
Elektricität, und falls sie nicht von selbst am Elektrometer merklich wird
(welches nach öfterer Wiederholung in sehr geringem Grade, jedoch kennt-
lich, zu geschehn pflegt), bediene man sich des bekannten Multiplicators.
Diese Werkzeuge werden zeigen, dafs der Erdboden eine schwache negative
Elektricität hergiebt ; welche man eben so auch aus der Mauer eines
Hauses, und fast aus jedem beliebigen Gegenstande erhalten kann, der
mit dem Erdboden in Verbindung steht. — Da die Condensatoren von
Messing gemacht zu sevn pflegen, so kann man, um Berührung verschie-
dener Metalle zu vermeiden, auch eine Messingstange in den Boden stecken;
sie wird nichts anders ergeben, als was statt ihrer eine Eisenstange leistet.
Vielleicht ist hier eine kurze Beschreibung der zum Versuche ge-
brauchten Werkzeuge nicht überflüssig.
Die Condensatoren bestehn jeder aus drey parallelen, durch Luft-
schichten getrennten Messingplatten, von welchen die mittlere isolirt ist,
und zum Auffangen [533] dient. Die beyden andern lassen sich von
jener durch Drehung um eine Axe, an der sie bevestigt sind, entfernen ;
und dies reicht gewöhnlich hin; allein man kann sie auch an dieser Axe
verschieben, ohne sie zu drehen; indem sie daran nur durch kleine Schrauben
gehalten werden, die leicht zu lüften und wieder anzuziehen sind.
Den Multiplicator wolle man nicht verwechseln mit dem jetzt beym
Elektromagnetismus üblich gewordenen. Es ist dasselbe Werkzeug, welches
beyläufig im §. 177 erwähnt wurde; nur bequemer und sicherer ein-
gerichtet. Statt einer einzigen multiplicirenden Platte drehen sich deren
acht zugleich im Kreise; dicht vorüber an derjenigen, welche die zu
prüfende Elektricität aufgenommen hat; während sie zugleich hinten eine
ableitende Metallfeder berühren. Sie sind bevestigt an der Peripherie einer
starken und überfirnifsten Glasscheibe, welche um eine durch ihren Mittel-
punct gehende isolirte Axe gedreht wird. Der Condensator, welchem die
vervielfachte Elektricität abgegeben wird, hat beynahe den dreifachen
Durchmesser der Messingplatten; mit Hülfe einer Schraube läfst er sich
behutsam schliefsen und offnen ; neben ihm steht ein kleiner Condensator,
1 welche dem Fufsbrette mitgetheilt worden SW („war" fehlt).
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 3. Cap. V.d. Elektricität etc. ^07
verbunden mit einem Elektrometer; und beydes kann vermöge einer leichten
Drehung dem gröfsern Condensator genähert oder von ihm entfernt werden.
Endlich läfst sich ein zweytes, kleineres und möglichst empfindliches Elektro-
meter mit jenem verbinden, oder auch davon trennen ; es darf nämlich
den stärkern Vervielfältigungen, welche das Instrument häufig bewirkt, nicht
Preis gegeben werden, damit nicht die Goldstreifen zerreifsen. Natür-
lich zeigt der Multiplicator allemal das Entgegengesetzte des ihm dar-
gebotenen E.
Den Werkzeugen dieser Art pflegt man Untreue vorzuwerfen. Die
Wahrheit ist, dafs man sie vor und [534] nach jedem ernstlichen Versuch
prüfen mufs, ob sie auch vielleicht für sich allein Elektricität erzeugen,*
und dafs man sie durchaus keiner unnützen und gewaltsamen Berührung
aussetzen darf. Eigentlich aber ist bedeutende Gefahr lediglich an der
isolirenden Glassäule vorhanden, welche die erste Messingplatte trägt, die
zur Aufnahme der zu prüfenden Elektricität dient. Diesen Theil des In-
struments mufs man in mehrern Exemplaren vorräthig haben, welche sich
einschrauben, und wieder herausnehmen lassen, sobald sie eigne Elektricität
verrathen. Das höchst empfindliche Werkzeug zeigt übrigens seine Fehler
sogleich selbst an, wenn man es nur fragt; daher kann der Experimentator
nur durch eigne Nachlässigkeit getäuscht werden. Die gewöhnlichen Multi-
plicatoren mit einer einzigen vervielfältigenden Platte sind freylich langweilig
zu gebrauchen; und wenn man, um geschwind fertig zu werden, rasch und
gewaltsam dreht, so ists kein Wunder, wenn das Werkzeug gleichsam un-
willig wird, und mit eigner Elektricität in die Versuche eingreift.
Dafs mehrere Metallstangen in die Erde gesteckt wurden, geschah
blofs zur Abkürzung, weil es bequem ist, diesen Stangen gleich nach ein-
ander die Elektricität abzunehmen, welche sie darbieten. Sonst kann man
auch den grofsen Condensator mit einer Stange verbunden stehn lassen,
und ihm, nachdem er eine Weile ge-[535]standen hat, mittelst des kleinen
den gesammelten Vorrath entziehn, welchen der Multiplicator sogleich un-
zweydeutig anzeigen wird.
Versuch 3. Auf einem starken Brette seyen drey grofse, kreisrunde,
isolirte Messingplatten vertical und parallel dergestalt aufgestellt, dafs die
mittlere ganz vest stehe, die beyden äufsern aber sich wenigstens um
anderthalb Zoll von der mittlem abwärts schieben lassen. Zwischen den
drey Scheiben müssen zwey andre, die sich um eine horizontale Axe
drehen lassen, eingeschoben werden können, so dafs nur möglichst dünne
Luftschichten zwischen den fünf Platten (die alle von gleicher Gröfse sind)
übrig bleiben. An der Axe müssen die beyden von ihr getragenen Scheiben
sich verschieben lassen ; auch ist wegen der Schwere der Scheiben, und
da ihr Mittelpunct weiter als um ihren Halbmesser von der Axe entfernt
liegt, an der entgegengesetzten Seite ein Gegengewicht angebracht; so dafs
* Wer nicht daran gewöhnt ist, mit schwachen Elektricitäten umzugehn, der kann
leicht noch in einen andern Irrthum gerathen. Er wird nämlich glauben, das "Werkzeug
habe eigne Elektricität, während blofs die mitgetheilte demselben noch anhängt. Denn
die schwachen Elektricitäten, zu deren Prüfung der Multiplicator nöthig ist, bewegen
sich langsam ; und um sie zu entfernen, mufs man den ableitenden Körper in längere
Berührung und an verschiedenen Puncten mit dem elektrisirten setzen.
20*
308 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 182g.
die beyden Scheiben sich sanft und ohne Anstofs zwischen jene drey
niederlassen, und auch wieder gehoben werden können. Endlich sey durch
Drähte eine Verbindung der drey isolirten Scheiben gemacht. Man lasse
jetzt mit Hülfe eines langen Glasstabes (denn die Hand, wenn sie warm
ist, darf das Werkzeug nicht berühren, eben so wenig als irgend ein andrer
elektrischer Einfiufs zuzulassen ist) die Axe sich drehen, so dafs die zwey
daran bevestigten Scheiben zwischen die andern niedersinken, und unten
die Verbindungsdräthe berühren. In dieser Lage mufs das Instrument,
wenn es mit Hülfe des kleinen Condensators und des Multiplicators geprüft
wird, gar keine, oder höchstens jene äufserst schwache negative Elektricität
zeigen, die man nach Versuch 2 in allen Körpern zu finden pflegt. Als-
dann drehe man rückwärts; zuerst nur so weit als nöthig ist, um die Be-
rührung der niedergelassenen Scheiben mit [536] den Verbindungsdrähten
aufzuheben. Nachdem dies geschehen, halte man die Auffange - Spitze
eines kleinen Condensators an die Verbindungsdräthe ; und öffne nun
vollends das Werkzeug, indem die Axe so lange gedreht wird (jedoch mit
der sanftesten Bewegung), bis die an ihr bevestigten Scheiben völlig aus
dem Cylinder, welchen die drey isolirten einschliefsen, werden hervor-
getreten seyn. Jetzt trage man den Condensator zum Multiplicator. Dieser
wird positive Elektricität anzeigen; welche bey öfterer Wiederholung sich
bald aufs deutlichste verstärken wird, falls sie nicht gleich Anfangs kennt-
lich genug gewesen wäre.
Versuch 4. An dem vorigen Werkzeuge verändere man weiter nichts,
als nur dies, dafs man die Verbindungsdrähte von den äufsern Scheiben
entfernt, und alsdann von der mittleren isolirten Scheibe die beyden andern,
ebenfalls isolirten, so weit als möglich abwärts schiebt. Die vorige Be-
wegung der Axe werde wiederholt, genau, wie zuvor, und mit denselben
Werkzeugen fortgefahren. Der Multiplicator wird nicht positive, sondern
eine höchst schwache negative Elektricität anzeigen.
Die beyden vorigen Versuche lassen sich nun wegen der Beweglich-
keit der Scheiben auf verschiedene Weise abändern; man wird endlich
finden, dafs, so oft die isolirten Scheiben ein enges Behältnifs bilden, aus
welchem die Leiter, von denen es beynahe ausgefüllt war, hinweggehen,
alsdann das Behältnifs in dem Zustande der sogenannten positiven Elek-
tricität zurückbleibt; dafs aber eher das Gegentheil statt findet, wann eine
isolirte Scheibe nackt stehen bleibt, nachdem ihre leitende Umhüllung weg-
genommen ist. —
Dürfte man von Versuchen reden, die kein Resultat gegeben haben,
so wäre hier noch von einer Vorrichtung zu sprechen, vermöge deren ein
Magnet, der über [537] zehn Pfunde trägt, in isolirter Lage einer Scheibe
von weichem Eisen, die ebenfalls isolirt mit einem Condensator verbunden
ist, auf mannigfaltig abgeänderte Weise dargeboten wurde (die Scheibe läfst
sich noch überdies um ihre Axe drehen); um zu erfahren, ob vielleicht
der Magnetismus irgend einige, für den erwähnten Multiplicator merkliche,
Elektricität während seiner Einwirkung auf das dafür so empfängliche weiche
Eisen hervorbringe. Alles war vergeblich; einige frühere Versuche mit
Feilspänen wurden als ganz unsicher aufgegeben; und dies Bemühen endigte
mit dem Glauben, dafs zwischen Magnetismus und Elektricität keine un-
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 3-Cap. V. d. Elektricität etc. 30Q
mittelbare Verbindung, sondern nur eine durch ein sehr bekanntes Mittel-
glied statt findet, wovon weiterhin zu reden seyn wird.
Was über die hier erzählten Versuche weiter zu sagen ist, das wird
in dem nachfolgenden Vortrage gelegentlich seinen Platz finden.
§. 401.
Es ist nun zuerst nöthig, der beyden bekannten Hypothesen zu er-
wähnen, die unter den Naturforschern Beyfall gefunden haben. Die
Symmersche, von zweyen Flüssigkeiten, deren Qualität lediglich in einer
gegenseitigen Relation bestehn würde, bedarf eigentlich hier keiner Wider-
legung; die Franklinsche hat Vertheidigung und nähere Bestimmung zu
erwarten, denn auch sie konnte für sich allein nicht genügen.
Da jedoch hier die Elektricitäts-Lehre nicht blofs aufgehellt, sondern
die Bestätigung, welche unserm ganzen Vortrage durch die Erfahrung zu
Theil wird, soll ins Licht gesetzt werden: so ist es nicht überflüssig,
fürs erste der Symmerschen Hypothese durch empirische Gründe entgegen-
zutreten.
Ein Elektrometer divergire; und man nähere ihm [538] einen Kör-
per mit entgegengesetztem E; es fällt zusammen. Sind nun zwey Fluida
chemisch gebunden und neutralisirt im Electrometer vorhanden? Nach
aller Erfahrung und Theorie müssen sie alsdann in gegenseitiger Anziehung
verharren; oder wenigstens irgend eine Kraft, irgend ein Streben dazu
verrathen. Aber nun werde der angenäherte elektrische Körper entfernt;
sogleich divergirt das Elektrometer wie zuvor, wenn nur die Luft gehörig
trocken war. Wo ist nun die geringste Spur einer Anziehung, die mit
chemischer Verwandtschaft könnte verglichen werden ? Warum wurde das
neutral isirende E nicht vestgehalten, da es doch den Körpern, von denen
es aufgeregt wurde, z. B. dem Knopf einer geladenen Flasche, zu ent-
fliehen sucht, und ihnen daher sehr leicht kann entzogen werden?
Einen andern Gegengrund giebt uns der oben angeführte erste Ver-
such, dessen Erfolg nicht im mindesten zu den unsichern und zweydeuti-
gen gehört. Wenn ein Elektrometer divergirt, so mufs sein E nach der
Symmerschen Lehre durchaus das entgegengesetzte anziehn und das gleich-
artige zurückstofsen. Warum denn flieht das auf 70 Grad gespannte
Elektrometer den angenäherten Leiter? Ohne Zweifel darum, weil von
dem bis oben hinauf polarisirten Siegellack eine entgegengesetzte Ver-
theilung bewirkt, und hiedurch der angenäherte Leiter in einen dem Elek-
trometer gleichartigen Zustand versetzt wird. Aber eben dies ist nach
der Symmerschen Theorie nicht zu begreifen.
Nach ihr sollten die beyden E, — eine, vermöge welcher das Elektro-
meter, die andre, vermöge welcher der obere Theil des Siegellacks eine
entgegengesetzte Verkeilung bewirkte, — sich sogleich vereinigen, da sie
in Einem Puncte, dem Fufse des Elektrometers, welcher zugleich der
oberste des Siegellacks ist, beysammen sind. Noch mehr! Da das Elektro-
meter, be-[539]vor es berührt wurde, ohne alle Divergenz in Ruhe war,
so enthielt es damals beyde E zugleich, und sie neutralisirten sich in ihm.
Hätten sie nun einander angezogen, so hätte unmöglich das Elektrometer,
3IO !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
als es berührt wurde, das eine E hergeben können, um alsdann mit dem
andern zu divergiren.
Um dies noch mehr zu entwickeln, wollen wir annehmen, man gebe
dem Stativ, worauf das Werkzeug steht, -f- E. Nach der Symmerschen
Lehre wird nun — E angezogen, und sein Gegentheil zurückgestofsen.
Oben im Elektrometer müfste -f~ E frey werden, und es müfste damit
divergiren. Aber es liegt ruhig ; vielleicht weil die Siegellackstange zu lang
ist, um die Vertheilung so hoch hinauf fortzusetzen. Jetzt berührt man
es, und entzieht ihm -f- E. Nun divergirt es mit — E. Dies war das
Erste, was nach der Theorie gewils nicht geschehn sollte, denn wofern
im Elektrometer von der vorgeblichen Flüssigkeit, die man — E nennt,
noch genug vorhanden war, um damit zu divergiren, so müfste das abge-
stofsene -)- E nicht frey genug seyn, um durch blofse Berührung mit dem
Finger herausgezogen zu werden; und doch geschieht es so. Ferner,
nachdem einmal wirklich, gleichviel ob mit oder ohne Zustimmung der
Hypothese, -j- E dem Elektrometer entzogen wurde, kann nun wenigstens
oben nichts anderes vorhanden seyn als — E. Dies ist auch vorhanden,
und bewirkt Divergenz. Aber warum will es sich keinem Leiter mittheilen?
Vielleicht, weil es gebunden wird durch das im Stativ vorhandene -(- E?
Warum flieht es denn sogar vor dem angenäherten Leiter? Dies Fliehen
ist nach allen unsem Kenntnissen nur möglich, wofern der Leiter, der
übrigens gar nicht isolirt ist, sich in einem dem Elektrometer gleichartigen
Zustande befindet. Also mufs irgend eine Vertheilung im Leiter vorgehn;
diese aber ist derjenigen, welche von dem di-[540]vergirenden Elektro-
meter berühren könnte, gerade entgegengesetzt; und übertrifft dieselbe an
Stärke ; wofern das Elektrometer selbst irgend einen Einflufs auf den ange-
näherten Leiter ausübt; und das thut es gewifs, da es vor ihm flieht,
obgleich diese Wirkung gerade das Gegentheil der erwarteten ist. Woher
denn kommt die übermächtige Vertheilung? Sie kann nur aus dem obem
Theile des Siegellacks kommen; und dort mufs -f- E vorhanden seyn,
um das — E des Leiters herbeyzuziehn. Noch mehr! dies -f- E mufs
vermöge des -f- E, welches dem Stativ ist mitgetheilt worden, oben wirk-
sam seyn, denn sobald man letzteres berührt, hört alles Paradoxe der Er-
scheinung auf, und das Elektrometer bietet von selbst dem Leiter sein
— E an ; zum Zeichen, dafs der Leiter sich nun allerdings von ihm nach
gewohnter Weise beherrschen läfst. Die Symmersche Hypothese wird
aber nimmermehr begreiflich machen, woher oben noch -\- E komme,
nachdem schon die erste Berührung es hinwegnahm.
Jetzt wollen wir das Phänomen nach der Franklinschen Theorie er-
klären. Allerdings ist oben -\- E frey geworden, und hinweggenommen.
Nun divergirt das Elektrometer, weil es von der umgebenden Luft ange-
zogen wird. Zugleich geht der Druck des -f- E, durch welchen jenes im
Elektrometer frey wurde, noch weiter fort in die Luft hinaus, welche hier
als eine Verlängerung der Siegellackstange anzusehn ist; und dadurch wird
dieselbe Vertheilung (wie man es nennt), bis in den angenäherten Leiter
hinein fortgesetzt ; daher nun kein Wunder ist, dafs er, weit entfernt, das
Elektrometer entladen zu können, es vielmehr zurücktreibt.
Hätte man umgekehrt dem Stativ Elektricität entzogen, oder es negativ
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 3-Cap. V.d.Elektricitätetc. 3 1 1
elektrisirt : so würde die Polarisirung der Siegellackstange nunmehr unter-
wärts gerichtet worden seyn. Oben im Elektrometer hätte Elektri-[54i]
cität gemangelt; die Berührung hätte sie herbeygeschafft, und Divergenz
bewirkt; durch die Luft aber würde sich dennoch der Druck nach unten
hin fortgepflanzt haben ; der angenäherte Leiter mufste demnach Elektricität
herbeyführen, und das schon divergirende Elektrometer zurückstofsen.
So leicht ist hier die Erklärung; blofs darum, weil nicht eine zweyte
Flüssigkeit im Wege steht, die nach der vorigen Ansicht alles verdarb,
weil, wenn sie sich einmischte, die ganze Erfahrung unmöglich wurde.
Wer die vorgetragenen ontologischen Grundsätze gefafst hat, wird ohnehin
an die Symmersche Hypothese nicht weiter denken.
&. 402.
Der Franklinschen Hypothese fehlt bekanntlich zuvörderst eine An-
gabe des Grundes und eine genaue Bestimmung in Ansehung der Repul-
sion und Attraction; zweytens eine Entscheidung, welche von beyden
Elektricitäten eigentlich die wahre positive sey. Über den ersten Punct
mag man die bekannten Thatsachen mit den Begriffen im §. 353 und 354
vergleichen; über den zweyten haben wir die Gründe anzugeben, derent-
wegen nicht die Glas-Elektricität, sondern die des Harzes als die positive
anzusehen ist.
Das Vorurtheil, alle Attraction und Repulsion sey gegenseitig, war sehr
natürlich, da es sich ursprünglich in der That so verhält; aber eben so
schädlich und verwirrend, sobald man es auf die bekannten elektrischen
Erscheinungen anwandte. Dafs hier zu allererst auf die Anhäufung zu
sehen ist, zeigen schon die einfachsten Thatsachen. Mit grofser Gewalt
entladet sich eine Flasche; aber mit grofser Mühe bringt man es dahin,
sie ganz von merklicher Elektricität zu befreyen. Im ersten Falle wirkt
die heftigste Repul-[542]sion; hingegen wenn es darauf ankommt, durch
Mittheilung an den Condensator den letzten Rest aus der Flasche zu
ziehn, dann schleicht die Elektricität so langsam, dafs es scheint, sie habe
kaum Grund von der Stelle zu gehn. Die Verwirrung, welche angerichtet
wurde, indem Einige gar keine Repulsion, sondern lediglich Anziehung des
Electricums gegen die Körper sehen wollten,* Andre die letztre ganz
leugneten, * : hätte vermieden werden können , wenn man sich nur einge-
stehn wollte, dafs beynahe alle elektrische Ereignisse mit Attraction be-
ginnen, auf welcher aber sogleich Repulsion folgt. Ohne Anziehung käme
kein Electricum in die Körper hinein, noch aus einem in den andern;
ohne Repulsion gäbe es keine Verbreitung auf die Oberflächen, und keinen
Schlag, keine Ausdehnung und Zerstreuung der Moleculen ; lauter höchst
bekannte Gegenstände, worüber zu reden nicht nöthig ist, da die Gründe,
weshalb es so seyn mufs, im §. 354 und dem dortigen Zusammenhange
deutlich genug entwickelt sind. Man mufs nur nicht an dem Vorurtheil
kleben, als wären repulsive und attractive Kräfte Grund-Eigenschaften der
* Z. B. Singer in seinen Elementen der Elektricität, S. 44.
" * Bi< IT in seinem bekannten Werke.
t 12 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Materie oder der Stoffe; man mufs begreifen, dafs dies allemal Resultate
der innern und äufsern Zustände derselben sind, die sich nach den Um-
ständen oftmals augenblicklich verändern.
Sollten wohl Diejenigen, welche zwey mit heftiger Anziehung sich
verbindende elektrische Fluida annehmen, sich über die gewaltsamen Aus-
dehnungen, welche bey Funken unter Wasser, und in ähnlichen Versuchen
vorkommen, jemals ernstlich Rechenschaft gegeben haben? Anziehung ist
Verdichtung, aber nicht Ausdehnung. Dafs bey Explosionen, wo sich
etwa Wasser- [543]s'Loff und Sauerstoff verbinden, Ausdehnung vorkommt,
kann uns nicht wundern, wenn wir den Wärmestoff (nach §. 392) als
eesenwärtig- voiaussetzen. Aber wollen wir denn auch das Elektricum als
umhüllt vom Wärmestoff betrachten? Kann hier eine Analogie mit explo-
direnden Gasen statt finden? Vielmehr das Electricum selbst dehnt sich
aus, in dem Augenblick, wo es den Leiter verläfst, wegen der nämlichen
Repulsion, um derentwillen es ihn verläfst. Findet es Wasser oder ähn-
liche Materien, so dringt es mit der Attraction, deren Grund in ihm selbst
liegt (§. 354), hinein, an die Stelle derselben trit wiederum sogleich ein
zwiefacher Grund der Repulsion (ebenfalls §. 354), und mit dieser zer-
streut es die Moleculen, in welche es so eben eindrang.
Weit länger, als bey solchen Dingen, die unmittelbar aus den aufge-
stellten Principien folgen, müssen wir bey den verschiedenen erfahrungs-
mäfsigen Beweisen verweilen, dafs die Harzelektricität die wahre positive
ist. Bevm Bekanntesten wollen wir anfangen.
"O*
§• 403.
1) Den Unterschied des elektrischen Lichts kennt Jedermann. Ge-
setzt, die leuchtenden Büschel oder Puncte wären Körper, welche vom
fremden Lichte bestrahlt werden müfsten, um sichtbar zu werden, so hätte
man doch noch keinen hinreichenden Grund, die Büschel als kommend
von dem Orte, wo sie schmal sind, anzusehn ; sie können auch sehr wohl
einem Strome gleichen, der viele Quellen und nur eine Mündung hat.
Nun sind aber diese Büschel nicht durch fremdes Licht sichtbar;
sondern jeder sichtbare Punct in ihnen strahlt selbst nach allen Seiten.
Wenn also viele sichtbare, das heifst, viele strahlende Puncte vor-
handen sind, so wird die Elektricität [544] aus eben so vielen Puncten
entlassen und fortgetiieben. Wenn hingegen viele unsichtbare Puncte,
aber nur ein einziger sichtbarer Punct, statt finden, dann wird von dem
Einen die Elektricität ausgesendet, und von vielen angenommen, bey
welchen letztern die Strahlung einwärts geht, und daher nicht in unsere
Augen kommt.
Diejenigen Spitzen, welche nur einen leuchtenden Punct zu zeigen
pflegen, müssen für die aussendenden gelten; das heifst, diejenigen, welche
gewöhnlich als die negativen bezeichnet werden, sind die wahren positiven.
Etwas Ähnliches gilt von den Lichtenbergischen Figuren auf dem
Harzkuchen. Die wahre Elektricität kann sich auf dem Harze nicht
strahlenförmig verbreiten; denn das Harz ist einer der besten Isolatoren.
Wenn aber irgendwo einem Puncte das Elektricum entzogen worden, dann
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt. Unters. 3.Cap. V.d.Elektricitätetc. ? 1 ?
giebt es nicht blofs einen bestimmten andern Punct, von wo der Ersatz
des Mangels kommen könnte, sondern die zufälligsten Umstände können
nun in gewissen Radien um den ersten Punct mehr Ersatz aus der Um-
gebung, von andern Richtungen her weniger, herbey führen.
2) Auf Kartenblättern, mit Zinnober gefärbt, soll der elektrische Funke
seinen Weg zeichnen, indem er vom sogenannten positiven Drahte an,
erst eine Strecke auf dem Blatte zurücklegt, und alsdann in den, um einen
Zoll entfernt, darunter gehaltenen Draht durch die Karte hindurchschlägt;
und dort einen ausgebreiteten Fleck hervorbringt. — Aber gerade umge-
kehrt! Der Funke breitet sich aus, wo er hervorbricht, nicht wo er sich
zusammenzieht; er schlägt ein Loch, wo er am stärksten ist, nicht wo er
durch vorhergegangene Ausstrahlung schon geschwächt ist; und es ent-
steht durch den Druck auf die in der Luft schon zuvor befindliche Elek-
tricität, welche letztere in den empfangenden Draht [545] zuerst hinein-
geht, ein Weg, auf welchem der jenseits hervorgebrochene Funke nach-
folgt, weil derselbe ihm vorgezeichnet und geöffnet wurde. In verdünnter
Luft rückt das Loch mehr gegen die Mitte vor, weil der Funke beym
Hervorbrechen weniger Widerstand findet. *
3. Ein Flugrad zwischen zwey entgegengesetzt elektrischen Drähten
soll sich nach dem negativen Drahte hin bewegen, weil der Strom aus
dem positiven kommt.** Aber wieder umgekehrt! Die Absicht des Ver-
suchs mit zwey Drähten war eben, die Strömung zu vermeiden. Die
Anziehung also bleibt allein übrig; und diese erfordert, dafs das Flugrad
dem Electricum entgegenkomme. Die Elektricität ist kein Wind, der die
Körper mechanisch fortführt; auch gehn ihre Repulsionen nicht nach Einer
Richtung, sondern nach allen; aber so lange sie attractiv wirkt, zieht sie
die Körper dorthin, woher sie selbst kommt.
4. Bey den chemischen Wirkungen, welche vorzugsweise an der
Voltaischen Säule beobachtet werden, gehen die besten Leiter, die Metalle,
und was ihnen ähnlich ist, zu dem sogenannten negativen Pole. Denn
dorthin treibt sie die Anziehung. Von der Wanderung der Säuren u. s. w.
kann erst weiterhin gesprochen werden.
5. Wo Kupfer und Zink zu Voltaischen Wirkungen zusammengestellt
werden, braucht man mehr Kupfer, und weniger Zink. Marianini will
gefunden haben, dafs man mit Vortheil die Kupferfläche zehnmal so grofs
nehme, als die Zinkfiache.*** Ginge nun die Elektricität vom Kupfer zum
Zink: so müfste sie sich verdichten, also würde ihre Repulsion wachsen,
und [546] davor hütet sie sich. Vielmehr geht sie vom schlechtem Leiter
zum besseren, und in diesem desto leichter und reichlicher, je mehr Fläche
er ihr darbietet.
6. Jetzt wird von dem oben (§. 400) angeführten dritten Versuche
gesprochen werden können.
Jeder veste Körper ohne Ausnahme wird, der Wahrscheinlichkeit nach
irgend einmal vom Electricum ergriffen worden seyn. Er hat es allmählig
* Singer a. a. O. S. 109. verglichen mit S. 361.
** A. a. O. S. 110.
*** Schweiggeks Journal, Heft 3, von 1827.
3M
I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
wieder ausgesendet; aber dieses Aussenden ist immer langsamer geworden;
gerade so wie nach psychologischen Gesetzen eine Hemmungssumme
immer langsamer sinkt, eine von der Hemmung freygewordene Vorstellung
nicht plötzlich, sondern immer langsamer steigt, indem der Grund, weshalb
der Zustand verändert wird, immer abnimmt. Der Körper behält daher
in jeder endlichen Zeit noch ein geringes Residuum solcher Elektricität,
die er einem Condensator abzutreten geneigt ist; auch findet man, wie
oben angeführt worden, wirklich ein Residuum vor; und dafs sich dasselbe
als Harz -Elektricität zu erkennen giebt, kann jetzt nicht mehr befremden.
Wenn nun, wie im dritten der obigen Versuche, eine Reihe von
Metallscheiben in einem cylindrischen Räume dicht beysammen steht, so
ist jede solche Scheibe, falls das ganze Werkzeug mit der Umgebung ins
elektrische Gleichgewicht gesetzt wurde, ein Ursprung von Repulsion des
Electricums; und diese Repulsion wird durch die dünnen Luftschichten,
welche zwischen den Scheiben sind, ihren Druck auf das darin befindliche
Electricum fortpflanzen. Alle Drückungen aller Scheiben zusammen-
genommen sind demnach nothwendig, und es darf keine fehlen, wofern
das Gleichgewicht des elektrischen Drucks mit der Umgebung bestehen
soll. Nun wurde aber in dem Versuch ein Theil dieser Drückungen
hinweggenommen, indem die zwischen ge-[547]schobenen Scheiben aus
dem cylindrischen Räume heraustreten. Also fehlt in demselben Räume
ein geringer Grad von Repulsion; das Electricum verliert in den übrig
bleibenden isolirten Scheiben an Spannung; der daran gehaltene kleine
Condensator bekommt dadurch Gelegenheit, etwas von dem ihm eignen
Electricum abzutreten, und verräth nun bey der Prüfung am Multiplicator
in der That einen Mangel an Electricum; welcher Mangel jedoch nach
den gewöhnlichen Meinungen und Redensarten positive Elektricität genannt
wird. Und so wurde es durch den Versuch gefunden.
Der vierte Versuch kann nichts Ähnliches zeigen. Denn hier wird
eine isolirte Scheibe enthüllt, nachdem sie zuvor den von ihr ausgehenden
Druck durch die Luftschicht auf die ableitenden Scheiben hatte fortpflanzen,
und eben deshalb als Condensator etwas weniges mehr vom Electricum
aufnehmen können (wiewohl ihr dieses selbst nur durch die ableitenden
Scheiben zugeführt werden konnte): so steht sie nunmehr nackt; und
wendet ihre Repulsion gegen den dargebotenen Leiter, der, wenn er selbst
ein Condensator ist, eine höchst geringe Quantität des wahren Electricum
empfangen wird. Daher dient der vierte Versuch eigentlich nur, um die
Richtigkeit des dritten, in Ansehung der Werkzeuge, womit er angestellt
wurde, und die so leicht einer unerlaubten Mitwirkung verdächtig werden,
zu bezeugen und zu bekräftigen; und um deutlicher auf den Punct hin-
zuweisen, worauf es beym dritten Versuche eigentlich ankommt.
7. Endlich dürfen hier wohl noch ein paar Versuche von Gerboin
und von Erman angeführt werden,* deren Erklärung sehr schwer scheint.
Zuvor ist zu bemerken, dafs allemal das Ausströmen des Electri-\_^^\ums
leichter von Statten gehen mufs als das Zusammenziehen desselben in einen
Leitungsdraht. Denn im letzten Falle entsteht nothivendig Oscillation.
* Singer, S. 404.
5. Abschn. Umrisse d.Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 3-Cap. V.d.Elektricitätetc. 315
Indem sich das Electricum anfängt zu sammeln, erzeugt die Anhäufung
zuerst Repulsion; diese wirkt der fernem Sammlung auf einen Augenblick
entgegen, bis die Ableitung weit genug vorgeschritten ist; alsdann gelingt
wiederum die Ansammlung an der Drahtspitze schneller, aber die Ver-
dichtung hat erneuerte Repulsion zur Folge u. s. f. Was wird man nun
erwarten müssen in Fällen, wo die Vorrichtung so getroffen ist, dafs an
den Endpuncten der Leitungsdrähte einer Voltaischen Säule sich leicht
bewegliche Materien befinden, die den entweder gleichförmigen oder
tumultarischen Durchgang des Electricums verrathen können? — Von
dieser Art nämlich sind Gerboins und Ermans Vorrichtungen. Jener
brachte Quecksilber in den Biegungswinkel einer doppelschenklichten Glas-
röhre, darüber Wasser, und leichte Körperchen verschiedener Art, dann
wurden leitende Voltaische Golddrähte ins Wasser geführt. Der positive
Golddraht (so lautet die Erzählung) regte die leichten Körperchen zu
Bewegungen auf, aber nicht der negative. Verwechseln wir nun die
Worte positiv und negativ, so ist die Sache begreiflich. Denn das Elec-
tricum ging aus den sogenannten negativen, das heifst, dem wahren
positiven Drahte gleichförmig sich ausbreitend ins Wasser, ohne dasselbe
in unruhige Bewegung zu versetzen; und von da ins Quecksilber; hingegen
es kam aus dem Quecksilber nicht wieder so gleichförmig in den so-
genannten positiven, das heifst, in den ableitenden Draht hinein, sondern
hier entstanden wechselnde Attractionen und Repulsionen des Wassers
gegen den Draht, folglich mitgetheilte Bewegungen der leichten Körper.
[549] Noch sprechender ist Ermans Versuch, mit einer Adhäsions-
Platte an einer Wage, welche im Begriff, durch das Gegengewicht los-
gerissen zu werden, einen Wasser -Cylinder von einer Quecksilber- Fläche
emporgehoben hielt. Die Platte zog sich herunter, wenn von der Säule
ein Draht mit ihr, der andre mit dem Quecksilber in Verbindung trat;
der Wasser -Cylinder mufste sich demnach ausbreiten. Diese Attraction
der Platte und des Quecksilbers war jedenfalls zu erwarten, und sie blieb
ziemlich gleich, wenn man auch die Drähte verwechselte. Aber ein Hin-
und Herströmen des Wassers in der Richtung der Halbmesser der
Adhäsions- Platte — also Oscillation, — wurde nur dann bemerkt, wann
der sogenannte negative Draht ins Quecksilber, der sogenannte positive
zur Adhäsions -Platte reichte. Das heifst, wann aus der breiteren Fläche
des Quecksilbers das Electricum sich zusammenziehen mufste, um durch
die schmalere Adhäsions -Platte den Ausweg zu suchen, den es sich noth-
wendig selbst versperrte und dann wieder frey liefs in beständiger Ab-
wechselung. Im entgegengesetzten Falle konnte es gleichförmig ausströmen,
und dann (sagt die Erzählung) „liegt das Wasser wie erstarrt auf dem
Quecksilber."
Wo nun so viele ganz verschiedenartige Versuche in dem nämlichen
theoretischen Resultate zusammentreffen: da wird man wohl glauben dürfen,
einen Beweis geführt zu haben, sofern es überhaupt zu erwarten ist, dafs
ein solcher aus Erfahrungen könne geführt werden.
Sehr natürlich war es übrigens, dafs Franklins richtige Auffassung
von einem Plus und Minus sich nur mühsam behaupten konnte, so lange
man die Anwendung dieser Begriffe auf verkehrte Weise versuchte. Diesem
316 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Irrthum wurde das Hirngespinnst eines neutralen Products aus zweyen
entgegengesetzten Flüssigkei-[55o]ten vorgezogen; in der Wirklichkeit konnte
Niemand es nachweisen.
§• 404-
Nachdem schon bemerkt worden, dafs in jedem Körper ein schwaches
Residuum der wahren, oder Harz-Elektricität zu erwarten ist, weil die
Repulsion abnimmt, und unendlich gering wird, wenn der Zustand des
Körpers dem elektrischen Gleichgewichte mit der Umgebung unendlich
nahe kommt: kann der zweyte der oben angegebenen Versuche, welchem
zufolge der Erdboden mit Hülfe der Condensation jene Harz-Elektricität
wirklich verräth , nicht mehr auffallen. Aber er giebt eine interessante
Zusammenstellung mit der, nach gewohnter Sprache positiven, Elektricität
der trockenen Atmosphäre an die Hand.
Wenn wir eine spitzige isolirte Metallstange hoch aufrichten, so zieht
sie nicht Elektricität aus der Luft an sich , sondern sie entläfst einen
Theil derjenigen, die sie enthielt. Und das ist ganz natürlich. Oben in
der Atmosphäre ist es kalt, weil die Sphären des Caloricums sich dort
freyer bilden als unten, folglich dasselbe weniger zurückgestofsen wird.
Aus dem nämlichen Grunde ist oben das Electricum ebenfalls mehr ge-
bunden; und es kann auch noch mehr desselben sich den Sphären, die
es schon bildete, anschliefsen; daher findet unsre isolirte Metallstange nach
oben hin weniger Widerstand gegen die Repulsion, womit sie sich von
dem in ihr enthaltenen Electricum zu befreyen sucht. Prüfen wir sie
nun mit den Werkzeugen, die sich in unserer Umgebung befinden, so
zeigen diese den entstandenen relativen Mangel, welchen wir unrichtig
positive Elektricität nennen. Steigen wir selbst auf einen Berg: so befreyt
sich fortwährend unser Leib von dem ihm inwohnenden Electricum, und
wir fühlen uns erfrischt, indem diesem Streben Genüge geschieht.
[551] Enthielte wirklich die Atmophäre einen elektrischen Überschufs:
was würde folgen? Sie würde ihn dem Erdboden, als dem bereit-
stehenden Leiter, allmählig aufdringen; das wäre längst geschehen, und
wir fänden den Boden damit mehr beladen als die Atmosphäre.
Aber wirklich wird das Electricum, welches um die völlig zerstreuten
Moleculen des Wassers in der Atmosphäre eben so wohl als um die der
Luft, seine Sphären gebildet hat, frey, und merklich, sobald jene Moleculen
sich zu Dünsten verdichten. Gerade wie beym Caloricum im ähnlichen
Falle. Der Regen, welcher herabfällt, zeigt daher oft genug starke negative
Elektricität. Jedoch nicht immer, da mehrere Wolkenschichten nach den
Gesetzen der sogenannten Vertheilung, das heifst, des Drucks der elek-
trischen Sphären (§. 355 und 356) gegen einander wirken. Der Regen
mufs Glas-Elektricität zeigen, wenn er bey seinem Ursprünge in ähnlicher
Lage gegen eine benachbarte Wolke ist, wie die multiplicirenden Platten
des Multiplicators gegen diejenige Platte, deren Elektricität man prüfen
will. Ursprünglich aber geht in der Atmosphäre keine Zersetzung der
Elektricität vor, denn es ist an ihr nichts zu zersetzen, und man würde
auch keine begreifliche Ursache anführen können, weder wie die Zer-
setzung entstehe, noch wie sie Fortdauer in einer durchaus feuchten Luft
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 3.Cap. V. d. Elektricität etc. 317
gewinnen könne; sondern der ganz natürliche Anfang der elektrischen
Meteore ist die Verdichtung der Elemente oder Moleculen, um welche,
so lange sie zerstreut umherschwebten, das Electricum seine Sphären
bildete, die bey der Verdichtung nicht bestehen können.
Hier beyläufig ein Wort über die Wirkung unserer gewöhnlichen
Elektrisirmaschine. Schwerlich läfst sich eine einfachere Erklärung denken
als folgende : Das Glas, zur Schwingung gereizt und doch daran gehindert
[552] durchs Reiben, geräth in eine gezwungene Lage seiner Moleculen.
In dieser Lage, die fortdauernd im Wechsel begriffen ist, verliert das
Electricum an der geriebenen Stelle seinen Zusammenhang mit dem Glase;
entweicht also ins reibende Kissen; desto leichter, wenn letzteres mit dem
leitenden Amalgama bedeckt, und mit gehöriger Ableitung verbunden ist.
Nähert sich nun die geriebene Stelle des Glases dem Conductor, nachdem
man ihr bis dahin durch die Hülle von Wachstaffent die Gemeinschaft
mit der Umgebung versagte, so giebt ihr der Conductor den Ersatz ihres
Mangels; wobey die ihn umschliefsende Luft sogleich die Sphären des in
ihr enthaltenen Electricums gegen ihn hin ausdehnt, ohne doch sich von
denselben zu trennen. Die Begriffe, welche hier vorausgesetzt werden,
liegen in den §§. 355 — 357. Die Gröfse des Conductors ist hier wesent-
lich, wegen der Leichtigkeit, womit die Luft den elektrischen Druck aus-
üben soll, ohne welchen das Metall nicht hinlänglich bereit zum schnellen
Ersatz des Mangels im Glase seyn würde.
§• 405-
Bey weitem schwerer, als Alles, was vorhergeht, ist die Frage nach
dem Unterschiede der Leiter und Nicht -Leiter. Dafs man den Grund
dieses Unterschiedes in chemischen Verhältnissen am wenigsten suchen
dürfe, lehren die bekanntesten Beyspiele; als von der Kohle und dem
Diamanten, vom Kali und den andern Metalloxyden u. s. w. Möge nur
dieser Umstand nicht über der neuern Elektrochemie vergessen werden.
Um unsrer Betrachtung eine erfahrungsmäfsige Grundlage zu geben,
erinnern wir uns zuerst der ausdehnenden Gewalt, welche alle Körper
zu leiden haben, wann sie im hohen Grade vom Electricum ergriffen
werden; einer Gewalt, welche offenbar nicht blofs hie und da, [553] son-
dern in allen Moleculen gegenwärtig ist, da sie dieselben gänzlich zerstäuben
und neuen chemischen Einwirkungen Preis geben kann. Dasselbe nun,
was die stärkern Angriffe des Electricums deutlich an den Tag legen, mufs
bey schwächerer Einwirkung in geringerm Grade geschehen. Die Mole-
culen des Leiters also erleiden eine Dehnung, und ziehen sich wieder
zusammen; die des Nichtleiters widersetzen sich, wenn sie nicht gesprengt
werden.
Dem gemäfs werden wir als Grundsatz annehmen müssen, dafs jeder
Körper, den das Electricum ergreift, es auch leitet, wenn nicht entweder
seine Configuration , oder die innern Zustände seiner Elemente, jener
Dehnung ein Hindernifs entgegenstellen. Soll es noch einen dritten Fall
geben, so ist es dieser, dafs der Körper vom Electricum nicht wirklich
ergriffen wird.
-.rg I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
O "_
Hiemit kann nun zuerst ein allgemeiner Erfahrungssatz verglichen
werden. Erwärmte, erhitzte Körper leiten allemal (wofern nicht die Luft
eine Ausnahme macht, nach Singers Behauptung). Dagegen wird Eis
bey 13 Grad F. ein Nicht-Leiter. Die Kälte ist ohne Zweifel ein Grund,
die Configuration starr zu machen; die Wärme erweicht das Starre; seine
Moleculen sind beweglich; daher wird auch das Elektricum leicht diejenige
Erschütterung oder Bebung der Moleculen erreichen, welche die Leitung
erfordert. Die geschmeidigen Metalle gehören ebenfalls hieher; und bey
dieser Classe von Körpern ist noch überdies die grofse Dichtigkeit ein
Grund der stärkern Repulsion und zugleich des leichtern Übergangs, wie
schon im §. 355 bemerkt wurde.
Beym Glase hingegen, dessen Durchsichtigkeit auf eine sehr homogene
Verbindung der Elemente deutet, und dessen Elasticität nahe an Härte
sränzt, wird wohl Niemand eine leichte Veränderlichkeit seiner innern
[554] Configuration voraussetzen; wir dürfen uns also nicht wundern, es
beynahe an der Spitze der Nichtleiter zu erblicken.
Dasselbe mag vom Schwefel gelten ; desgleichen von allen durch starkes
Austrocknen zusammengeschrumpften Substanzen.
Was aber sollen wir nun einerseits von der Kohle, als einem Leiter,
andererseits vom Harze und seinen Verwandten sagen?
Vielleicht hilft uns bey der Kohle der Umstand, dafs sie nicht blols
zusarnmengetrocknet, sondern eine wahre Ruine eines organischen Körpers
ist, worin gar kein System von zusammenpassenden innern Zuständen der
Elemente mehr anzutreffen ist, nachdem wesentliche Bestandtheile des-
selben durchs Feuer gewaltsam hinweggenommen wurden. Beherbergt sie
nun vollends irgend etwas von jenen fremden Stoffen, die sie so begierig
zu absorbiren pflegt, oder hat sie Wasserstoff und Kali und Erde in sich,
so bildet dies Alles in ihr ein Aggregat, worin Nichts genau zum Andern
sehört ; daher bev solcher Unbestimmtheit wohl auch trotz dem äufsern
Schein von Starrheit eine innere Veränderlichkeit und Nachgiebigkeit der
Elemente statt finden mag, wie zur Leitung des so leicht in Repulsion
versetzten Electricums nöthig ist.
Dies gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn wir an das Gegenstück
denken, was die Harze aufstellen. Harz, Öl, Wachs, vermuthlich auch
Bernstein, sind organische Producte von grofser Beharrlichkeit und Be-
stimmtheit in dem System ihrer Elemente. Man sieht dies schon bey der
Vergleichung mit Wasser, welches leichter siedet, während dagegen die
Hitze das Öl nicht so leicht in Dampf verwandelt, und bey der Destilla-
tion erst allmählig einen Bestandtheil nach dem andern daraus losmacht.
Vermuthlich würde das Electricum, [555] wenn es sich der Elemente
jener Körper bemächtigen sollte, eben so dieselben erst chemisch trennen
müssen, wogegen sich das System aller innern Zustände, die dabey müfsten
gehemmt werden, noch mehr als die Configuration sträubt. Kurz, es ist
wahrscheinlich ein Analogon oder ein Rest von organischer Gesundheit,
wodurch jene Nicht -Leiter das Electricum eben so abwehren, wie der
lebende Leib sich gegen eine Menge von äufsern Einflüssen stemmt, die das
Leblose unfehlbar überwältigen würden. So räthselhaft dies klingen mag,
so kann es doch Denjenigen durchaus nicht unerwartet seyn, welche dem
J.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt.Unters 3. Cap. V.d.Elektricitätetc. 319
Ganzen unseres Vortrags gefolgt sind. Harze und Öl sind nun einmal
zuverlässig nicht blolse Aggregate ihrer chemischen Bestandtheile, sondern
ihre Elemente besitzen noch eine innere Bildung, die ihnen in den leben-
den Körpern zu Theil wurde, welchen sie einst angehönen. Und des-
halb ist auch Harz nur als Harz, nicht aber vermöge seines Kohlenstoffs,
Wasserstoffs u. s. w. ein Nicht -Leiter der Electricität. Haare, Federn
u. dergl. befinden sich im gleichen Falle. —
Eben so grofs scheint endlich das Räthsel, was uns die Luft als
Nicht -Leiter aufgiebt. Hier ist keine bestimmte Configuration, hier ist
kein Svstem bestimmter innerer Zustände zu überwinden. Aber eine Er-
J
innerung an die Entzündung explodirender Gasmischungen möchte uns
wohl der Auflösung des Räthsels schnell genug nahe bringen. Sauerstoff-
gas und Wasserstoffgas sind lange Zeit einander unzugänglich, obgleich
gemischt; demnach wahrscheinlich verhüllt durch ihre Wärmestoff- Sphären.
Ferner weifs man, dafs eine Luftschicht geladen wird, ehe der Funke
durchbricht; man kennt auch die Bedingungen der Ladungen, nämlich
Entweichen eines der Ladung gleichen Quantums von Elektricität auf der
entgegengesetzten Seite; und der oben angeführte Versuch [556] vom
Elektrometer oben auf der Siegellackstange hat gezeigt, wie selbst die
besten Nicht- Leiter in beträchtliche Entfernung hinaus ein solches Ent-
weichen oder wenigstens Frey -Werden begünstigen. Endlich ist früherhin
(§. 356) die Veränderung der Sphären des Electricums in kegelähnliche
Formen bey der Ladung, und die plötzliche Herstellung der Sphären im
Augenblicke des Durchbrechens, in Betracht gezogen. Dies zusammen-
genommen macht denn wohl begreiflich, was da geschieht, wo ein Funken
die Luft durchbricht. Das Elektricum dringt von einer Seite in Kegel-
form in die Elemente der Luft; und dehnt sich im nächsten Augenblicke
aus den Elementen hervortretend sphärisch aus; — kein Wunder, wenn
dadurch die Wärmestoff - Hüllen abgesprengt, und die Elemente zweyer
Gasarten (etwa Sauerstoff und Wasserstoff) für einander entblöfst, und
erreichbar gemacht werden. Aber eben darum ist es dann auch klar,
worin der Widerstand besteht, den die Luft dem Elektricum nicht leitend
entgegensetzt. Es sind die Wärmestoff- Hüllen, welche lange zusammen-
haltend das Electricum, so lange es nicht gewaltsam den Durchgang er-
zwingt, abhalten, dafs es jene Umwandlungen seiner Form in Beziehung
auf die Elemente der Luft gar nicht zu Stande bringen kann. Es erreicht
also dieselben nicht vollständig genug, um geleitet zu werden: aufser bey
verdünnter Luft, wo die Menge des Electricums gegen die Luft verhältnifs-
mäfsig gröfser, und seine Wirkung stärker ist.
§. 406.
Ohne Vergleich bestimmter und sicherer, als über den so eben be-
rührten schwierigen Gegenstand, kann über die Voltaischen Erscheinungen
gesprochen werden. Volta selbst hat den Anfang des Weges unserer
Betrachtung richtig gebahnt. Man mufs sich in der [557] Naturphilosophie
eben so sehr vor überkünstlichen Erklärungen hüten, als vor Oberfläch-
lichkeit bey dem, was wirklich tiefer liegende Gründe hat.
t2o I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Es versteht sich ganz von selbst, dafs, wenn zwey Körper zusammen-
kommen, die beyde das Elektricum, was sie enthalten, zurückstofsen, aber
sich darin unterscheiden, dafs einer ihm freyere Bewegung in seinem
Innern gestattet als der andere, alsdann das Electricum dahin, wo es diese
Freyheit findet, sich vorzugsweise wendet; nicht aber als ob es hier ge-
bunden wäre, sondern so, dafs es hier einen Ausweg sucht, und sich jeder
etwa dargebotenen Ableitung bedient, um zu entkommen.
Dies ist der Fall bey der Berührung von Zink und Kupfer; oder
jeder andern, die den gleichen Unterschied in sich trägt. Sowohl Kupfer
als Zink stofsen, wenn sie können, das Electricum zurück. Aber wenn
man einem oder dem andern den Condensator darbietet, so findet dieser
das Electricum nicht im Zink, aus welchem es in den bessern Leiter,
nämlich ins Kupfer, hinübertrat; sondern in dem letztern, worin es jedoch
keinesweges angezogen wird, sondern wegen der gröfsern Anhäufung nun
vielmehr noch stärkere Zurückstofsung erleidet. Trennt man den Zink
vom Kupfer, um ihn allein durch einen Condensator zu prüfen, so findet
das Electricum des Condensators mehr Freyheit im Zink, der eine kleine
Menge desselben ans Kupfer abgegeben hatte; also verliert nun der Con-
densator, und in der gewöhnlichen, nach §. 403 unrichtigen Sprache, heifst
alsdann der Zustand desselben positiv, während er in der That negativ
ist. Läfst man dagegen Zink und Kupfer in Berührung, entzieht aber
dem Kupfer seinen angenommenen Überschufs: so wird der Zink em-
pfänglich für neues Electricum, welches er jedoch sogleich wieder zum
Kupfer hin fortschickt; und dies [558] kann sich wiederholen, so lange
die Umstände die nämlichen bleiben. Häuft man die Plattenpaare, mit
zwischen gelegten Leitern, nach Voltas Anleitung: so sammelt sich das
Electricum im Kupferpole ; und zwar immer von neuem, wofern der Zink-
pol ohne Isolirung hingestellt, dem Kupfer aber fortwährend sein Vorrath
entzogen wird. Der Anfang des Processes ist also im Zink; und wenn
beyde Pole verbunden werden, so giebt es nicht blofs dem Namen nach,
sondern wirklich einen elektrischen Strom und Kreislauf, indem aus dem
Kupferpole das Electricum wieder in den Zink eintrit, und so fort. Dies
setzt jedoch voraus, dafs der Andrang des im Kupferpole angehäuften
Electricums grols genug sey, um die Rückwirkung der ersten Zinkplatte zu
überwinden. Nach einiger Zeit mufs daher bey fortdauernder Schliefsung
der Kette der Strom zur Ruhe kommen. Die Zambonischen Säulen, welche
rein elektrisch wirken, zeigen dies am deutlichsten.
Anmerkung.
Es dürfte nöthig seyn, hier über den Begriff' der Polarität etwas All-
gemeines einzuschalten; oder vielmehr über das Wort; denn der Begriff
ist im Vorigen schon längst entwickelt worden. Wenn ein Paar ungleiche
Elemente A und B unvollkommen zusammen sind, so sollen sie voll-
kommen in einander eindringen (§. 269). Gesetzt aber, irgend eine Ur-
sache halte sie in der Lage des unvollkommnen Zusammen vest, so ist
jedes Ende der geraden Linie, die sie bilden, ein Pol; und beyde Pole
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt. Unters. ß.Cap. V. d.Elektricitätetc. -i*>i
sind entgegengesetzt. Denn die innem Zustände erfordern, dafs die Linie
verlängert werden sollte. Geht man in Gedanken von A nach B, so sollte
dort ein neues A folgen; geht man von B nach A, so fehlt ein neues B.
Die Begriffe hievon sind schon im §. 342 entwickelt und vollständig er-
klärt. Will man das Beyspiel von Kupfer und Zink hier unter der Vor-
[559]aussetzung gebrauchen, dafs wirklich beyde in der Berührungsfläche
anfingen in einander einzudringen (welches bev Voltaischen Säulen, die
lange gestanden haben, nach Biot zuweilen wirklich vorkommt), so ergiebt
sich, dafs nun in der vom Kupfer abgekehrten Zinkfläche eine Forderung
nach neuem Kupfer, und eben so in der von dem Zink abgewendeten
Kupferfläche eine Forderung nach neuem Zink, vorhanden ist: das Wort
Forderung aber heifst hier nichts anderes als dies: wenn dort, wo Kupfer
gefordert wird, Kupfer wirklich einträte, so wäre dies demjenigen innern
Zustande, welcher ohnehin schon im Zink vorhanden ist, angemessen;
und wenn dort, wo Zink gefordert wird, Zink wirklich einträte, so wäre
dies dem innem Zustande, worin das Kupfer sich schon befindet, an-
gemessen.
Dem allgemeinen Begriffe der Polarität sind also die Elemente A und
B, welche wir voraussetzten, gleichgültig; es kommt nur auf ihren Gegen-
satz, und darauf an, dafs sie in der gezwungenen Lage des unvollkommnen
Zusammen, worin sie sich befinden, aus was immer für einem Grunde
verharren müssen. Polarität kann daher oft genug vorhanden seyn, ohne
merklich zu werden.
In dem Falle der Voltaischen Säule, so lange man sie blofs als
Electromotor betrachtet, ist eigentlich der wahre Begriff der Polarität noch
nicht dadurch allein begründet, dafs überhaupt an einem Ende Elektricität
ausgestofsen, und alsdann wieder an der andern Seite zugelassen wird.
Allein wir werden sogleich die genaueste Anwendung desselben Begriffes
zu machen Gelegenheit haben, indem wir zu den chemischen Wirkungen
der Säule übergehn.
§■ 407.
Die elektrochemischen Erscheinungen bedürfen be-[56o]kanntlich nicht
immer der Säule, sondern sie zeigen sich in ihrer einfachen Gestalt schon
alsdann, wann ein Paar verschiedenartige Metalldrähte in einerley Flüssig-
keit nahe beysammen stehn, und aufserhalb derselben sich berühren.
Am bequemsten zur Darstellung ist uns der Versuch, in welchem ein
Eisendraht und ein Silberdraht in eine Kupfer -Auflösung gestellt werden.
Berühren sich die Drähte aufserhalb des Flüssigen: so legt sich metal-
lisches Kupfer an das Silber. Und warum?
Zuvörderst geht hier aus dem Eisen das Electricum an der Be-
rührungsstelle über ins Silber. An dem andern Ende des Silbers sey es
nun so eben im Begriff wieder hervorzutreten: alsdann befindet es sich im
unvollkommenen Zusammen mit dem Silber. Gerade im Heraustreten be-
griffen, bedarf es dort, wo es anfängt hervorzuragen, neuen Silbers. Es
findet ein ähnliches Metall, nämlich Kupfer. Dies erfüllt im Allgemeinen
Hi-khart's Werke. VIIL 2I
•3 2 2 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfangen etc. 1829.
die Forderung nach Metall; daher ist hier ein Grund der Attraction vor-
handen. Der Grund wird verstärkt, indem immer neues Electricum her-
vordringt, also die Forderung unterhält und vervielfältigt. In diesem Augen-
blicke des Hervordringens also ist erstlich Polarität zwischen dem Electricum
und dem Metall vorhanden; zweytens aber wird nun die Flüssigkeit auf
allen den Wegen polarisirt, die zwischen den Spitzen der beyden Drähte
können durch sie hindurch genommen werden.
Denn indem ein Element, oder einige, des Kupfers sich der An-
ziehung des aus dem Metall hervordringenden Electricums hingeben: wird
das chemische Gleichgewicht in der Flüssigkeit dergestalt gestört, dafs die
Elemente der Säure, aus welchen das Kupfer zu scheiden im Begriff
steht, eine stärkere Anziehung für das an der entgegengesetzten Seite
liegende Kupfer gewin-[5Öi]nen. Dieser Zug setzt sich nothwendig fort
bis zur entgegengesetzten Drahtspitze, von der sich nun etwas ablösen
sollte, um den Mangel des Metalls in dem Puncte, wo sie die Flüssigkeit
berührt, zu ersetzen. Umgekehrt also zieht sie das nächste Element der
Säure zu sich heran, da sie selbst unbeweglich ist. Die Verschiedenheit
des Erfolgs, wenn mehr oder weniger oxydirbare Metalle zu ähnlichen
Versuchen genommen werden, indem entweder Sauerstoffgas hervortrit oder
die Drahtspitze oxydirt wird, ist bekannt, und bedarf keiner Erläuterung.
Eben so wenig das entwickelte Wasserstoffgas, in Fällen, wo das her-
vordringende Electricum sich am Kupferpole mit Wasserstoff anstatt Metall
behelfen mufs; oder ähnliche leicht begreifliche Abänderungen des näm-
lichen Versuchs. Eigentlich fordert das Electricum gerade das Metall,
aus welchem es so eben hervordringt; und dies wird ihm zu Theil, wo es
angefangene Metall -Vegetationen fortwachsen macht. Darum setzen sich
die neu reducirten Metalltheilchen nirgends sonst hin, als nur an das
gleichartige Metall.
Der Hauptpunct der Erklärung liegt darin, dafs die chemische Wirkung
ihren Anfang an dem Kupferpole nimmt, indem hier das Electricum un-
mittelbar im Heraustreten diejenige Gewalt ausübt; die es eben darum be-
sitzt, weil es aus dem Metall hervorgeht, ohne dafs eine Kraft dieser Art
ihm selbst als bleibende Eigenschaft inwohnte.
Wer nicht an die Anziehung des Kupferpols glaubt, den mögen die-
jenigen Versuche überzeugen, in welchen durch eine Scheidewand von
Blase in einer Glasröhre das Wasser dergestalt hindurchdringt, dafs es zu-
letzt in demjenigen Schenkel der Röhre, worin der Kupferpol sich befindet,
höher steht als im andern.*
[562] Wer aber noch nicht einsieht, dafs er in seinen Gedanken
den Begriff von eigenthümlichen Kräften der Dinge rein aufgeben, und
dagegen den Begriff von inneren Zuständen aufnehmen mufs, welche die
Dinge eben insofern erlangen, als sie mit einander zusammen sind, der
findet vielleicht Anlafs zu besserem Nachdenken in dem Umstände: dafs
die Flüssigkeit, womit die Zwischenräume der Plattenpaare in der Volta-
ischen Säule ausgefüllt werden, von der gröfsten Wichtigkeit ist für die
chemische Wirkung der Säule. Wir haben nämlich noch zu reden von
* Singer a. a. O. S. 41;
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 3-Cap. V. d. Elektricität etc. 323
den inneren Zuständen, in welche das Electricum bey seinem Durchgänge
durch die Säule abwechselnd versetzt wird.
§• 408.
Allgemein ist anerkannt, dafs in dem feuchten Leiter der Säule, also
am deutlichsten in den Zellen des Trogapparats, ohne Zweifel ähnliche
Veränderungen vorgehen, wie in der Flüssigkeit, wodurch die Kette ge-
schlossen wird. Das heifst zuvörderst: wenn das Electricum aus einer
Kupferplatte in die Zelle übergeht, so zieht es, im Augenblicke des Her-
vortretens aus dem Kupfer, denjenigen Bestandteil des Flüssigen an sich,
welcher dem Sauerstoff entgegengesetzt ist.
Nach dieser Ansicht ist also eigentlich der Sauerstoff etwas Über-
flüssiges, welches beseitigt wird, indem es sich mit der nächsten Zinkplatte
anfängt zu verbinden. Demnach wäre gar kein Grund vorhanden, noch
mehr Sauerstoff heranzuziehn. Man könnte zwar sagen: der Zink, indem
er das ihm inwohnende Electricum an das Kupfer abgebe, mache sich da-
durch freyer, und seine Verwandtschaft mit dem Sauerstoff könne desto
deutlicher hervortreten. Allein das circulirende Electricum in geschlossener
Kette dringt sich ihm stets [563] wieder auf, und der Zink wird davon
im Grunde nie freyer als er Anfangs war.
Aber die Erfahrung lehrt, dafs die Säule, besonders wenn ihre Pole
verbunden sind, Sauerstoff aus der Atmosphäre rasch verschluckt. Es
mufs also in den Zellen an Sauerstoff fehlen; obgleich er ursprünglich
nicht das herangezogene, sondern das zurückgestofsene Element war. Eben
dahin gehört der bekannte Umstand, dafs die Säule am besten chemisch
wirkt, wenn ihre Zellen mit saurer Flüssigkeit gefüllt sind.
Wenn nun durch den Anfang des Processes eher Überflufs als Mangel
an Sauerstoff entstand; wenn ferner die Verwandtschaft des Zinks zu ihm
nicht erhöht wird; wenn er endlich an Platindrähten, wo doch etwas
Ahnliches vorgehn mufs wie an den empfangenden Zinkflächen der Säule,
wirklich wie ein überschüssiges Wesen in Gasgestalt fortgeschickt wird: so
bleibt wohl schwerlich ein andrer Gedanke zu fassen übrig als dieser:
das Electricum selbst trägt den Sauerstoff dorthin, wo er sich absetzt oder
abscheidet.
Diese aus der Erfahrung geschöpfte Annahme aber würde sich mit
unserer frühern Behauptung gar schlecht vertragen, wenn wir jene An-
ziehung, wodurch das Metall oder jede Basis zum Kupferpole getrieben wird,
einer eigenthümlichen und zur Natur des Electricums gehörigen Kraft des-
selben zugeschrieben hätten. Dann wäre der Widerspruch vorhanden : das
Electricum sey von solcher Natur, dals es den Sauerstoff abstofse und auch
anziehe, um ihn mit sich zu tragen. In der That werden alle Diejenigen,
welche sich ohne ursprüngliche Kräfte der Dinge nicht zu helfen wissen,
die Last des Widerspruchs fühlen. Basis und Sauerstoff gehen nach ent-
gegengesetzten Seiten ; beydes in Folge eines einzigen elektrischen Stromes!
Mag nun in diesem Strome [564] An: iehung oder Abstofsung das herr-
schende seyn, immer giebts entgegengesetzte Bewegung in einerley Strom !
Wirklich ist zu besorgen, man werde wieder zwey Stöme in Gang setzen,
21*
3 24 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
ohne Scheu vor der engen Mündung, womit sie sich behelfen müfsten;
daher es wohl nöthig seyn könnte, an §. 401 — 403 zu erinnern, wo die
Einheit des Elektricums nachgewiesen, und die Zweyheit widerlegt ist.
Die Auflösung des Räthsels scheint nicht gar schwer zu seyn. Das
Elektricum nämlich hat zwar beym Ausgange aus dem Metall in sich die
Forderung, ganz von Metall erfüllt zu seyn, also überall auf seinem Wege
dergleichen zu finden, oder, wenn man diesen Ausdruck erlauben will,
sich einen metallenen Weg zu bauen. Und das thut es wirklich, so lange
es kann; wie die Metall -Vegetationen sehr schön zeigen. Aber endlich
mufs es aus dem Metall, oder was dem ähnlich ist, hervor. Nun stöfst
es auf den Sauerstoff; diesem repräsentirt es eben jetzt dasselbe Metall,
gegen welches es in Selbsterhaltung begriffen ist. Und was ist die Folge
davon? Zwar nicht die, dafs etwa in dem Electricum selbst nunmehr ein
Grund von Attraction zum Sauerstoff läge. Gerade umgekehrt; wenn beyde
in Verbindung treten, so mufs jenes seinen innern Zustand abändern; dazu
gehört eine Hemmung des vorhandenen Zustandes; und ihr widersetzt
sich demnach das Electricum. Aber die Erfahrungen sagen auch nicht,
dafs mit der unbegreiflich schnellen Bewegung des letzteren eine eben so
schnelle Reise des Sauerstoffs zum Zinkpole, oder zu den Zinkflächen im
Innern der Säule verbunden wäre, wie es geschehn müfste, wenn wirklich
das Electricum seinerseits den Sauerstoff ergriffe, und ihn so mit sich
fortführte, wie etwan in dem Falle eines verflüchtigten Drahts oder Wasser-
strahls durch den Schlag vieler geladenen Flaschen. [565] Das Phänomen
der Forttragung des Sauerstoffs durch die Wirkung Voltaischer Säulen
macht bekanntlich sehr wenig Geräusch, und es ereignet sich ohne besondere
Eile. Denn der Sauerstoff ist es, welcher das Electricum aufsucht, in
dem Augenblick, wo es aus Metall, oder was dem ähnlich, hervortrit.
Für ihn ists in diesem Augenblick so viel, als verbände er sich mit
dem Metall, dessen Spur er in dem Electricum noch findet. Die Begriffe
hievon, nämlich vom übertragenen oder repräsentirten Gegensatze, wurden
entwickelt im §. 343 und dem folgenden.
Der Sauerstoff wird demnach von demjenigen Electricum, welches so
eben aus dem Metall oder der Basis hervortrit, so viele Elemente in sich
sammeln, als er erreichen kann. Er wird durch sie in eine Bewegung
gerathen, die zum Zinkpol hin ihre Richtung hat. Die innern Zustände
der von ihm angezogenen Elemente werden nun durch ihn selbst gehemmt;
hiemit verschwindet der Grund der Anziehung; und das Electricum folgt
seinem Strome ohne den Sauerstoff. Aber der Strom ist nicht abgelaufen;
es kommt neues Electricum in den nämlichen Zuständen heran, und auch
von diesem läfst der nämliche Sauerstoff sich eine Weile führen, und eine
Strecke fördern. So kommt er, langsam in einem höchst raschen Strome,
bis zu dem Metall hin, von welchem er entweder in Gasform abgestofsen
oder zur Bildung einer Oxyd-Schicht angenommen wird. Und das Elec-
tricum war gleichsam wider Willen sein Führer. Indem es aber von ihm
sich wieder scheidet, trägt es nunmehr eine Selbsterhaltung gegen Sauer-
stoff in sich; dadurch repräsentirt es ihn dem Metall, in welches sein
Lauf es trägt, hiedurch erlangt es einen gesteigerten Reiz fürs Metall, und
es ist kein Wunder, wenn letzteres ihm entgegenkommt, ja wenn allmählig
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt. Unters. 3. Cap. V.d.Elektriciüitelc. 325
das Metall eine dem elektrischen [566] Strome entgegengesetzte Bewegung
wirklich verräth, wie man dies in Biots Beschreibung derjenigen Säulen
finden wird , deren Platten nach lang anhaltend geschlossener Kette sich
schwer trennen liefsen, indem theilweise das Kupfer an beyden Seiten mit
Zink bedeckt gefunden wurde, theilweise sogar Messing entstanden war.
Hätte ein Naturphilosoph das Glück gehabt, diese Erfolge im Vor-
aus zu vermuthen : man würde seine Behauptungen nicht von gemeinen
Träumereyen unterschieden haben. In der Wirklichkeit aber sind die
Thatsachen nun einmal gegeben. Wir benutzen sie als Beläge zu der
Lehre von den Selbsterhaltungen, den aus ihnen entstehenden Attractionen,
und jenen nähern Bestimmungen, welche aus der Übertragung des Gegen-
satzes hervorgehn. Und schwerlich wird man verlangen können, dafs
Theorie und Erfahrung genauer zusammenstimmen sollen, als es hier
geschieht.
Wozu dient nun die Säure in der Flüssigkeit der Säule? Ohne Zweifel
um die Polarisirung des Flüssigen zu erleichtern, und um dem Metall
mehr Anziehung für das Electricum, welches eben den Sauerstoff verläfst,
zu geben. Wozu aber dienen, im geringem Grade, alkalische oder mittel-
salzige Zusätze zum Flüssigen? Ebenfalls um dessen Polarisirung zu er-
leichtern, und vielleicht um die Absorption des Sauerstoffs aus der Atmo-
sphäre zu befördern. In der Säule selbst wird solchergestalt schon das
Electricum in diejenigen innem Zustände versetzt, welche während der
chemischen Wirkung in ihm abwechselnd hervortreten und gehemmt wer-
den sollen.
Am Ende wollen wir hier noch des interessanten Versuchs gedenken,
in welchem vier gebogene Glasröhren, gefüllt mit einem blauen Pflanzen-
safte, in die Kette gebracht werden. Verbindet man die Röhren durch
Metalldrähte, so werden die Schenkel abwech-[5ö7]selnd eine grüne und
rothe Färbung zeigen; verbindet man sie aber mit angefeuchteter Baum-
wolle, so werden zwey Glasröhren die grüne Farbe, zwey andre die rothe
annehmen. Im letztern Falle hängt das Flüssige zusammen, und bekommt
durchgehends einerley Polarisirung; im ersten Falle polarisirt jeder Metall-
draht das ihm zunächst erreichbare Flüssige. ' Denn so oft das Electricum
aus dem Metall hervortrit, sucht es Metall, oder Ähnliches; so oft es
dem Sauerstoff" zugänglich wurde, führte es ihn bis ans nächste Metall, wo
er seine Gränze findet. Eben daher die wiederholte Wasserzersetzung
durch mehrere Metalldrähte in einer Linie.
§• 409-
Es hiefse aufser Acht lassen, was sich von selbst aufdringt, wenn
man hier dem Wärmestoffe, der in den Körpern enthalten ist, keine Auf-
merksamkeit gönnen wollte. Die Erfahrung selbst nöthigt uns, zu be-
kennen, dafs es zweifelhaft ist, ob die bekannten Säulen mit mehrerem
Rechte Calorimotoren oder Electromotoren heifsen. Der blofse Empiriker
wird nicht entscheiden können, ob Voltas oder Childrens Batterie die Ab-
1 ihm zunächst Flüssige SW („erreichbare" fehlt).
ot6 !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
änderung der andern sey, wenn er von der Priorität und der Wichtigkeit
der Entdeckung hinwegsieht. Aber auch dem Theoretiker möchte leicht
der Calorimotor ein unbegreifliches Geheimnifs bleiben, wenn nicht durch
die Kenntnifs des Electromotors vorgearbeitet, und der Weg der Betrach-
tung bezeichnet wäre.
Was mufs wohl da geschehn, wo eine grofse Menge Electricum (auf-
geregt durch wenige, aber grofse Platten) durch einen sehr dünnen Draht,
also gleichsam durch eine enge Röhre, in welcher jeder Punct einigen
Widerstand leistet, hindurchgehn soll ? Je langsamer die Bewegung anfing,
um desto bedeutender ist die nachfolgende Beschleunigung ; daher wird
um desto gewis-[.5Ö8]ser ein Augenblick eintreten, in welchem die vordem
Elemente den Widerstand, den sie im Fortgehn antreffen, noch nicht über-
wunden haben, während die hintern mit gröfserer Geschwindigkeit nach-
drängen. Die Repulsion wird also rückwärts wirkend diese Geschwindig-
keit vermindern, bis der Widerstand vorn zum Weichen gebracht ist. Es
scheint demnach, dafs hier keine gleichförmige Geschwindigkeit möglich
sey, sondern vielmehr eine Art von Pulsschlag entstehn müsse, dessen
Gewalt der Draht auszuhalten hat. Diese Gewalt ist eine Repulsion nach
allen Seiten, also auch nach der Oberfläche des Drahts von innen heraus.
Die Ungleichförmigkeit der Bewegung wird an beyden Enden des Drahts
am gröfsten seyn; denn auch beym Ausgange des Electricums findet ein
ähnlicher Grund statt wie am Eingange ; indem die Nachgiebigkeit einer
gröfsem Fläche, vvorauf das Electricum sich verbreitet, die Geschwindigkeit
in den Augenblicken vermehrt, wo der Pulsschlag, der am Eingange sich
erzeugt, eine Beschleunigung am Ende fordert; während gleich darauf eine
Art von Pause eintrit, in welcher die Materie vermöge ihrer Spannung
die vorige Lage zu gewinnen sucht.
Xun hat das Caloricum in der Materie eine solche Verbindung ge-
wonnen, dass es sich so viel möglich einer Sphären -Bildung um die Ele-
mente, oder wenigstens um die Moleculen, nähert (§. 350). Wenn aber
die ruhige Lage der letztern gestört wird, so können jene Sphären, oder
was ihnen nahe kommt, nicht bestehn ; sondern das Caloricum erleidet
Pressungen, vermöge deren es theils in der Materie selbst sich weiter zu
verbreiten sucht, theils aus ihr hervorstrahlt. Mit andern Worten, der
Draht wird sich erhitzen, indem ihm theils von den Platten, zwischen
denen er die Verbindung stiftet, Wärmestoff zugeführt wird, theils eben
dieser [56g] Stoff, sammt dem, welchen er schon enthielt, als fühlbare
Wärme nach aufsen getrieben wird. Diese Erhitzung wird an beyden
Enden anfangen, und sich nach der Mitte hin verbreiten.
Childrex beobachtete, dafs die Erhitzung der Drähte allgemein von
den Polen der Batterie anfange; aber übrigens gleich sey, von welchem
Pole man auch ausgehe,* und dies scheint mit der eben versuchten Erklärung
zusammen zu treffen.
§• 410.
Wiewohl nun die Aufregung des Caloricums, blofs in Ansehung der
Erwärmung betrachtet, einen gleichen Druck desselben gegen die Mitte
* Singer a. a. O. S. 45;, 459.
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt.Unters. 3. Cap. V.d.Elektricitätetc. 327
sowohl als nach der Oberfläche hin, von den beyden Polen her, zur Folge
haben mag: so liegt doch ein auffallender Unterschied darin, dafs es vom
Kupferpole ausgehend , einerlev Weg mit dem elektrischen Strome zu
nehmen veranlafst ist; während, vom Zinkpole herkommend, es wider
diesen Strom laufen soll. Gleichgültig kann dieser Unterschied nicht seyn,
wenn wir voraussetzen dürfen, dafs stets das Electricum, indem es sich
der Moleculen der Materie bemächtigt, die Verbindung des Caloricums
mit derselben schwächt, welches anzunehmen wir Grund fanden (§. 405
am Ende).
Hier läfst nun zwar der Verfasser den Faden seiner theoretischen
Betrachtungen fallen, um nicht unbehutsame Behauptungen zu wagen.
Dafs aber dieser Faden dennoch wieder aufgenommen werden könne,
scheint eine ganze Classe der merkwürdigsten Versuche zu beweisen. Es
sind die Versuche über den Thermomagnetismiis.
Soweit dem Verfasser die Seebeckschen Versuche [570] bekannt
geworden sind, kommen sie sämmtlich in dem Hauptpuncte zusammen,
dafs zwey Strömungen der Wärme unter verschiedenen Umständen zu-
sammenstofsen. Solche zwey Strömungen, und ein Unterschied derselben,
sind so eben nachgewiesen.
Erinnern wir uns überdies an die Neigung des Caloricums zur Sphären-
bildung um die Moleculen der Materie ; und nehmen wir den Umstand
hinzu, dafs wegen jenes elektrischen Pulsschlages im Leitungsdrahte das
aufgeregte Caloricum nicht gleichförmig ausstrahlen kann, sondern immer
aufs neue solche Pausen eintreten , in welchen es sich einer wieder zu
gewinnenden Anschliefsung an die Materie nähern mufs: so geht die
Sphärenbildung nie ganz verloren; sie ist immer wieder im Entstehen be-
griffen. Werden denn nun diese Sphären (wir wollen sie uns für einen
Augenblick als vorhanden denken) genau einen centralen Druck und
Gegendruck empfangen und ausüben? Oder ist nicht vielmehr zu erwarten,
dafs bey so grofser innerer Aufregung, wie beschrieben worden, ein seit-
wärts gehender Druck entstehen werde, vermöge dessen die Sphären sich
um die Moleculen der Materie herumzudrehen anfangen? Wenn aber alle
Sphären einen Antrieb dieser Art empfangen: so mufs es eine Gesammt-
bewegung, oder wenigstens einen Gesammtdruck aller Sphären zur Um-
drehung nach einerlev Richtung geben; und wenn überhaupt Magnetismus
aus entgegengesetzter Strömung der Wärme entspringt, so ist die trans-
versale oder vielmehr circulare Polarität um den Leitungsdraht herum
wenigstens insofern erklärt, als der elektrische Strom die Axe dieser mag-
netischen Kreisung ausmacht.
Man wird nämlich von selbst bemerken, dafs die Aufregung des
Caloricums, wovon wir sprachen, in jedem Puncte, und nicht blofs an den
Enden des Leitungsdrahtes vir sich geht. Überall wird die Materie [571]
erschüttert und in Bebung versetzt, indem sie das Electricum fortleitet;
überall schwankt also auch das Caloricum, und drängt von zwey Seiten
her wider sich selbst. Dies Drängen ist kein Fortschreiten nach der
Richtung der Axe; wohl aber findet sich dabey der Unterschied, den
wir bemerkten, in Ansehung der Richtung des elektrischen Stromes, und
die Frage ist, ob nicht der gegenseitige Druck eben deshalb, weil er
-J2 8 !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
schwerlich für die Sphären genau central seyn kann, zu einer Umdrehung
antreiben werde?
§. 411.
Jedenfalls hat uns Seebeck auf die Spur geleitet, den Grund des
Magnetismus im Caloricum zu suchen ; und es wird sich zeigen, dafs diese
Spur sich zu den gewöhnlichen Erscheinungen des Magneten verfolgen
läfst; wenn man nur die Analogie mit der Elektricität, als dem weit klarem
Gegenstande, weder vernachlässigt noch übertreibt. Es mufs sich nämlich
einem Jeden von selbst die Frage aufdringen: ob denn das Caloricum,
da es doch mit dem Electricum eine offenbare Ähnlichkeit hat, schlechter-
dings unfähig sev, in der Materie einem polarischen Verhältnisse unter-
worfen zu werden ? Und welches wohl hiezu die Bedingungen seyn
mögen ?
Wir stellen uns nochmals jene polarisirte Siegellackstange vor Augen,
welche ein Elektrometer trägt (§. 400 und 401). Nachdem aus dem
letztern durch Berührung die oben frey gewordene Elektricität herausge-
zogen ist, bietet die Stange uns das Bild eines Magneten dar; welches
vollends ähnlich seyn würde, wenn es möglich wäre, dasjenige Electricum,
welches dem Fufsbrette mitgetheilt wurde, in ihr zu fixiren. Nun mag
zwar ein so flüchtiges Wesen wie das Electricum, — welchem von Seiten
der Materie keine Attraction, wenig-[572]stens nicht in den gewöhnlichen
Fällen seiner Anhäufung entgegenkommt (§. 354), — keiner Fixirung
fähig sevn: aber mit dem Caloricum verhält es sich anders; es pafst voll-
kommen zur Tenacität des Magnetismus. Daher mag es der Mühe werth
seyn zu überlegen, wie wohl eine Materie beschaffen seyn müfste, worin
das Caloricum sich in solcher Lage bleibend befinden sollte, wie das Elec-
tricum vorübergehend in der Siegellackstange.
Diese Lage ist keine andre, als in jedem geladenen Nichtleiter.
Statt der natürlichen Sphärenbildung ist das Electricum von einer Seite
näher daran, in die Moleculen der Materie einzudringen, von der andern
mehr zurückgetrieben. Dafs eine solche Lage vorübergehend entstehe,
setzt einen Druck durch Anhäufung vermittelst einer Belegung voraus;
sollte sie aber bleibend werden, so müfsten die Moleculen der Materie
selbst so beschaffen seyn, dafs sie von einer Seite her den Stoff mehr
verdichteten, und nach der andern hin ihn mehr der Repulsion überliefsen,
die aus der Verdichtung entspringt.
Moleculen von gleichartiger Bildung nach allen Richtungen von ihrem
Mittelpuncte aus können so etwas nicht leisten. Sie müssen nicht blofs
aus sehr ungleichartigen Elementen bestehn, sondern diese Elemente selbst
müssen entweder von Natur, oder durch einen Zwang, der ihnen angethan
worden, nach einer Richtung gleichsam auseinander zu treten im Begriff
stehn. Es mufs in ihrer Anordnung eine Folge wie a, b, a, b, u. s. w.
vorkommen, dergestalt, dafs a und b nicht vollkommen in einander seyen.
Wenn nun der Gegensatz, also die Anziehung des a gegen das Caloricum,
stärker ist, als des b; oder, wenn b wenigstens demselben eine frevere
Bewegung gestattet (ähnlich dem Zink und Kupfer für das Electricum, nur
dafs dort Repulsion un-[573]gleich war, so wie hier Attraction): alsdann
5.Abschn. Umrisse d.Naturphil. 2. Abth. Analyt.Unters. 3-Cap. V. d.Elektricitätetc. 32Q
mufs das Caloricum um die ganze Molecule ab eine ungleiche, oder ver-
schobene Sphäre zu bilden geneigt seyn.
Jetzt benutzen wir eine Bemerkung von Berzelius, nämlich dafs
stets das Eisen, um Magnetismus vest zu halten, mit einem geringen An-
theile eines fremdartigen Stoffes vereinigt seyn mufs ; mit Kohle, oder mit
Sauerstoff, oder mit Schwefel, oder mit Phosphor. Gewifs sind diese Frem-
den unter sich sehr verschieden; die Fremdartigkeit also ist die Haupt-
sache.
Wir erinnern uns ferner, dafs Wärme (das heilst, bewegtes Caloricum)
den Magnetismus schwächt; Glühen ihn zerstört; Bohren, Schlagen, Häm-
mern ihn manchmal hervorbringt. Das alles sind Gelegenheiten für die
Elemente der Moleculen, eine besondere Stellung entweder anzunehmen
oder zu verlieren. Insbesondre wird Erweichung durch die Wärme jeder-
zeit veranlassen, dafs die Elemente aus einer ihnen minder angemessenen
Lage in die natürliche zurückstreben. Wenn sie nun eben hiemit den
Magnetismus schwächt, ja zerstört, so dürfen wir seinen ersten Grund in
einer gezwungenen Lage der Elemente suchen; und dies war eben die Be-
dingung verschobener Sphären des gebundenen Caloricums.
Es kommt nun darauf an, die Folge dieser Voraussetzung zu unter-
suchen. Das Caloricum erhält sich selbst sowohl gegen die Bestandteile a,
als gegen b. Es überträgt auch seine innern Zustände auf das benach-
barte Caloricum, wenn es gleich demselben keine Bewegung ertheilt, weil
dieses in der bem chbarten Materie seine bestimmten Stellen schon be-
sitzt. Die Übertragung geht in doppelter Reihe fort; denn sowohl von a
als von b geht eine Folge von Übertragungen aus, die stets mit einander
fortlaufen. Dieses kann nun für andere Materien keine Wirkung haben,
wofern ihr Ge- [574] gensatz gegen das Caloricum keine hinreichende
Ähnlichkeit hat mit dem des Eisens. Findet sich aber irgendwo Eisen
in der Nähe : so gelangt die doppelte Reihe der übertragenen Gegensätze
im Caloricum dorthin. Nun enthält dieses Eisen schon das ihm zukom-
mende Caloricum, es hat auch schon in demselben, und in der ganzen
Umgebung, die ihm entsprechenden innern Zustände hervorgerufen; es ist
gleichmäfsig mit einer Sphäre desselben umgeben. Sowohl in dieser Sphäre,
als im Innern des Eisens, pflanzt sich jene Verschiebung fort (oder er-
zeugt sich von neuem), die wir im Magneten als die Folge seiner ungleich-
artigen Elemente, und der Lage derselben, voraussetzten. Wird nun das
Caloricum von einer Seite gegen die andre gedrängt: so fehlt den Sphären
desselben von jener Seite eine Ergänzung; und an der entgegengesetzten
bietet es eine solche dar; wodurch denn ein ähnlicher Grund der schein-
baren Attraction entstehen mufs, wie schon oben beym Electricum bemerkt
wurde.
Hierüber bestimmter zu sprechen, verbietet uns zum Theil schon der
Mangel an Erfahrungen. Die Kenntnifs des Thermomagnetismus bleibt
einseitig, so lange man nur Magnetismus durch Wärme, und noch nicht
umgekehrt Wärme durch Magneten zu erregen weifs. Vielleicht fehlt es
auch noch an Versuchen über diejenige Schwächung, welche ein Magnet
erleidet, wenn entweder sein Nordpol, oder sein Südpol allein, erwärmt
wird. Keine Spur will sich zeigen, woraus man so, wie oben bey der
330 !• Allgemeine Metaphysik Debst den Anfängen etc. 1829.
Elektricität (§. 403), den wahren Unterschied des positiven und des nega-
tiven Pols auch nur vermuthen könnte. Nicht einmal darüber läfst sich
etwas bestimmen, ob in dem reinen Eisen die Elemente der Moleculen
eine Verschiebung erleiden, wenn der Magnet auf sie wirkt, oder ob blofs
dem gebundenen Caloricum eine Verschiebung seiner Sphären müsse [575] zu-
geschrieben werden. Fast möchte man glauben, dafs nicht blofs das Zweyte,
sondern auch das Erste wirklich statt finde. Denn sonst ist schwer zu
begreifen, warum auf den Unterschied der Weichheit oder Härte, nicht
blofs des Eisens, sondern auch des Stahls, so sehr viel ankomme, um die
Empfänglichkeit für den Magnetismus zu bestimmen.
Noch mehr! Bey der Mittheilung, wodurch künstliche Magneten
gebildet werden, müssen wir nothwendig eine Veränderung in der Lage
der Elemente des Stahls selbst annehmen; vermöge welcher die ver-
schobenen Sphären des Caloricums gehindert sind, ihre natürliche Gestalt
wieder zu gewinnen. Kann nun in dem harten Stahl eine so gewaltsame
Veränderung vorgehn, so erwarten wir nicht zu viel, wenn wir annehmen,
dals schon in dem reinen Eisen die Moleculen eine innere Spannung
ihrer ungleichartigen Elemente erleiden, gemäfs der Richtung, nach welcher
ein Magnet auf sie wirkt; welche Spannung sich jedoch augenblicklich
verliert, oder verändert, sobald der magnetische Einfiufs aufhört, oder auch
indem etwa die Eisenstange umgekehrt wird, in welchem Falle sie be-
kanntlich sogleich die Pole wechselt.
Gemäfs dieser Ansicht nun würden die fremdartigen Bestandteile,
welche vorhanden seyn müssen, wofern der Magnetismus sich im Eisen
vestsetzen soll, eigentlich nur dazu dienen, um die Rückkehr in den
vorigen Stand zu erschweren; und die Polarisirung läge demnach in der
That ganz in den wesentlichen Bestandtheilen des Eisens selbst. Hiemit
wird auch begreiflicher, dafs nur so wenige Metalle (Eisen, Nickel, Kobalt)
des Magnetismus fähig sind. Denn unsre vorigen Betrachtungen waren
so allgemein, dafs man erwarten könnte, sie in einer gröfsern Menge von
Fällen passend zu finden.
[576] Es ist hier der Ort, der Versuche Coulombs zu erwähnen, nach
welchen kleine Cylinder von Körpern aller Art, an einfachen Seidenfäden
aufgehängt, sich von zweyen Magneten, zwischen denen sie schweben,
in deren Richtung versetzen. Daraus folgt noch nicht, dafs Magnetismus,
wenn auch in geringem Grade, ihnen zukomme. Sondern wenn einmal
eine doppelte Reihe innerer Zustände des Caloricums vom Magneten aus
fortgepflanzt wird, so mufs man in der Richtung, worin die Fortpflanzung
statt findet, beständige Oscillation, wenn auch nur schwach, zwischen den
verschieden1 afficirten Elementen des Caloricums erwarten (§. 365); und
es ist natürlich, dafs die Körper, in deren gebundenem Caloricum eine
solche Oscillation entweder zu Stande kommt, oder doch hervorgerufen
wird, hiedurch einen mechanischen Antrieb erhalten, sich in die Richtung
der Oscillation zu begeben. Hätte Coulomb nicht so vielerley Körper
auf einmal des Magnetismus empfänglich erachtet, so wäre diese Em-
pfänglichkeit annehmlicher; nachdem wir aber einmal wissen, dafs hiebey
1 von den verschiedenen afficirten . . . SW.
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt.Unters. 3.Cap. V. d. Elektricitätetc. 33 1
auf die eigentümliche Natur des Eisens, Nickels, Kobalts, sehr viel, ja
beynahe Alles ankommt, so ist es sehr unerwartet, den geringern Grad
des Magnetismus ohne besondere Abstufung nun auf einmal Allem zu-
schreiben zu huren, was in Form von kleinen Cylindern an Seidenfäden
hängen kann. Weit wahrscheinlicher ist eine allgemeine mechanische
Ursache, welcher diese verschiedenen Körper ohne Rücksicht auf das
Eigne ihrer Natur nachgeben können.
§. 412.
Zu dem Klarsten, was die Erfahrung über den Magnetismus darbietet,
gehört der Unterschied desselben von der Bildung bestimmter und wahr-
nehmbarer Pole.
Polarität müssen wir in jeder Molecule des Magne-[577]ten annehmen;
bleibt man aber bey diesem Begriffe stehen, so scheint die Reihe solcher
polarisirten Moleculen einer unbestimmten Verlängerung fähig. Und
während überall in der Reihe die zusammenstofsenden freundschaftlichen
Pole sich binden: bleibt nur an den Extremen eine kaum wahrnehmbare
Polarität. So könnte jeder Magnet eine beliebige Länge, aber nur zwey
sichtbare Pole haben.
Nach der Erfahrung aber hat ein zerbrochener Magnet nicht nur
die gehörige Polarität in jedem Stück: sondern diese Polarität bildet sich
allmählig bestimmer aus. Der magnetische Mittelpunct liegt Anfangs der
Bruchfläche näher; mit der Zeit rückt er mehr gegen die Mitte hin.*
Und überdies sieht Jedermann, dafs die magnetische Wirksamkeit zwar von
den Polen gegen die Mitte hin schnell abnimmt, doch aber nicht auf
einen Punct beschränkt ist; ein Gegenstand, den die Physiker durch ihre
Wirkungen in die Ferne erklären,** und dann doch noch zwey magnetische
Flüssigkeiten nöthig haben !
Wir werden bey der Bildung zweyer oder mehrerer Pole soviel mit
Wahrscheinlichkeit annehmen können, dafs die gleichmäfsige Polarisirung
der Moleculen im Magnete, wovon schon gesprochen worden, nicht blofs
eine verschobene und gleichsam von einer Seite zur andern gedrückte
Gestalt der Sphären des Caloricums um die einzelnen Moleculen, sondern
eben deshalb auch ferner noch eine wirkliche, wenn auch nur geringe,
Verdrängung des Caloricums von einem Pole zum andern hin, zur Folge
habe. Dem Druck von einer Seite her entspricht alsdann der Widerstand
von der andern; und [578] das hieiaus entstehende Gleichgewicht mufs sich
ändern, sobald der Magnet zerbrochen wird; anfangs schnell, dann langsamer.
Mehrere entgegengesetzte Pole in Einer Reihe (Folgepuncte) innerhalb
des Wirkungskreises eines Magneten entstehen zu sehen, ist auffallend; es
geschieht bekanntlich bey langen Stäben; und es ist offenbar, dafs der
Magnet diese Stäbe nicht ganz, oder wenigstens nicht auf einmal beherrscht;
allein Biots Erklärung, wornach der entstandene Magnetismus dicht neben
sich den entgegengesetzten hervorrufen soll , * möchte doch den Erzeuger
zu gering, und dessen Kinder zu hoch schätzen. Ohne dabey zu ver-
* Abhandlung der Lehre vom Magnet, von Tiberius Cavatxo. S. 134.
** Z. B. Haüy, traue de physique, II, 561.
332 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
weilen, bemerken wir kurz, dafs die magnetische Wirkung Zeit braucht;**
dafs also der erzeugende Magnet seine erste und stärkste Wirkung durch
einen langen Stab nicht augenblicklich fortpflanzt, sondern mit einem
zurückwirkenden Widerstände; dafs, nachdem dieser Widerstand sich ver-
loren hat, eine zweyte schwächere Wirkung erfolgen wird, die gleichsam
eine zweyte kürzere Welle in dem Stabe hervorbringt; wiederum nicht
ohne Rückwirkung; und dafs alsdann eben so eine dritte, vierte Welle
u. s. w., jede kürzer als die vorige, auch einen nähern Pol bestimmen
wird; daher denn die Pole sich nicht in der Ordnung erzeugen werden,
wie man vom Magneten ausgehend den Stab durchlaufen kann, sondern
in umgekehrter Richtung. Diese Pole werden gleichnamig seyn; und ihre
entgegengesetzten zwischen sich bilden. Das beschriebene Ereignifs kann
kaum ausbleiben, wenn es gewifs ist, dafs erstlich die magnetische Wirk-
samkeit sich nur successiv, und mit Überwindung eines Widerstandes,
fortpflanzt; zweytens, dafs sie auch nicht [579] im ersten Augenblicke
ganz ausgeübt wird, sondern mit abnehmender Energie fortdauert.***
Den vorstehenden Betrachtungen über einen noch immer sehr dunkeln
Gegenstand mögen folgende Umstände nachträglich zur Bestätigung dienen.
Es ist allgemein bekannt, dafs ein Magnet an Kraft verliert, wiewohl
nur langsam, wenn er ungebraucht liegt. Aber das Liegen wirkt auf keinen
Gegenstand, der mit sich selbst im völligen Gleichgewichte ist. Irgend
eine innere Abweichung vom regelmäfsigen Zustande wird da vorausgesetzt,
wo die blofse Ruhe eine Veränderung hervorbringen soll. Dennoch mufs
die Anomalie im Magneten sehr stark an der Construction aller Theile
in ihm bevestigt seyn, und man kann sie nicht in Demjenigen suchen,
was leicht kommt und geht. Dieser Umstand trifft zusammen mit der
Voraussetzung einer besondern Lage der Elemente in den Moleculen, die
sich beym Erweichen durch Wärme nicht würde halten können, und schon
in der gewöhnlichen Temperatur sich allmählig einer mehr angemessenen
Configuration annähert.
Umgekehrt wächst die Kraft eines Magneten, wenn er ein Gewicht
trägt, und wenn dies täglich verstärkt wird. Plötzliches Abreifsen aber
des Gewichts bringt plötzlich einigen Verlust der schon gewonnenen Kraft.
Wie kann denn der Magnet dadurch gewinnen, dafs er wider die Schwere
kämpft und von ihr Gewalt leidet? Denn die Vermehrung eines an-
gehängten Bleygewichts ist nicht in dieselbe Classe zu setzen mit der
Bewahrung des Magnetismus durch angelegtes Eisen, welches sich mit ihm
in einerley Polarisirung versetzt; sondern die blofse Gewichtsvermehrung
ist nur eine Gewalt, welche der innern Neigung des Magneten, seine
Ano-[58o]malie zu heilen, entgegenwirkt. Aber das Gewicht, indem es
beständig herabfallen will, zieht an den Elementen des polarisirten Calori-
cums, wodurch es gehalten, und selbst aus der Ferne schon zum Magneten
hingetrieben wird. Dies Caloricum seinerseits ist in Attraction mit den
Elementen sämmtlicher Moleculen, und pflanzt auf diese die Gewalt fort,
* Biot a. a. O. Zw. Bd. S. 42.
** CaVAIXO a. a. O. S. 165.
*** Cavallo a a. O. S. 50.
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt.Unters. 3.Cap. V. d. Elektricitätetc. 3^3
die es selbst leidet, indem seine Sphären noch mehr in die Länge gezogen
werden. Dadurch steigt die Anomalie, welche schon vorhanden war in
der Lage der Elemente in den Moleculen. Folglich steigt der Magnetismus
selbst. Reifst man das Gewicht los, so wirkt dies wie das Loslassen einer
gespannten Feder; die Elemente der Moleculen ziehn sich zurecht, und
der Magnetismus nimmt ab.
Überlegt man ferner die Stärke der magnetischen Anziehung: so
dient ihr zwar die Schwere zum Maafse, doch ist jene dieser letztem
weit überlegen. Denn zum Gewicht eines Schlüssels, der schon einem
schwachen Magnet nur eine geringe Last ist, giebt die ganze Erdkugel
ihren Beytrag; da auf einem kleinern Planeten das Gewicht desselben
Körpers geringer seyn würde. Zur ungefähren Schätzung der magnetischen
Kraft und der Gravitation dient also das Verhältnifs der Masse des Mag-
neten und der Masse der Erde. Andererseits ist die magnetische Kraft
sehr schwach in Vergleich gegen die Gewalt der elektrischen Repulsion,
wenn sie die Moleculen zerreifst und zerstreut, oder gar des strahlenden
Caloricums, wenn es trotz aller Anziehung der Materie sie dennoch ver-
flüchtigt; oder auch, wenn man will, des Eises, wenn es sich krystallisirend
alle Gefäfse sprengt, um einen geringen Zuwachs an Volumen zu gewinnen.
Die gröfste Gewalt ist die, womit die veste Materie sich selbst aus ihren
Elementen configurirt ; Caloricum aber, und Electricum müssen in grofsen
Quantitäten, und in eigner Bewegung wirken, um [581] bedeutende Ge-
walt zu äufsern; und dann kommt ihnen diese scheinbare Kraft dennoch
von den Elementen der Materie, mit denen sie in Verbindung stehn. Die
ruhige Wirkung des Magnetismus, wobey das Caloricum dient, um über-
tragene Gegensätze in die Ferne zu verbreiten, ist einerseits nur ein
Zeichen von der Gewalt, womit die Elemente in den Moleculen eine
bestimmte Lage des Caloricums, das sie umhüllt, vorschreiben; anderer-
seits verräth sie durch ihr Bleiben und Haften an der körperlichen Masse
des Magneten immer noch die ursprüngliche Stärke des Gegensatzes
zwischen der Materie und dem Caloricum. Man wolle sich also nicht
wundern, wenn wir der Gravitation einen Grund anweisen, der ursprüng-
lich schwächer ist als der Grund des Magnetismus.
Auch darüber sollte vielleicht kaum Verwunderung statt finden, dafs
nur das Eisen, und allenfalls noch ein Paar andre Metalle für Magnetismus
empfänglich sind. Denn Magnetismus ist Anomalie; und Anomalien sind
Seltenheiten. Doch ist die Voraussetzung des Magnetismus nicht so streng
an bestimmte Qualitäten gebunden, dafs schlechterdings keine Spur davon
anderwärts, als beym Eisen, vorkommen könnte; sondern hier, wie überall
im Gebiete unserer Erkenntnifs, kommt es auf Verhältnisse an.
334 I. Allgemeine Metaphysik nebsl den Anfängen etc. 1829.
Viertes Capitel.
Von der Schwere und dem Lichte.
§• 413-
Anziehung in die Ferne, als Princip der Schwere, war bey dem
grofsen Newton eine blofse Redensart, [582] um etwas Unbekanntes
einstweilen zu beseitigen. Sie war bey Kant eine Kraft; jedoch mit
dem Vorbehalt des Idealisten, diese Kraft sey dennoch nur unser Begriff,
und nichts an sich. Sie ist bey den Nachsprechern, die weder Newtons
noch Kants Vorsicht begreifen, ein Vorurtheil, worauf die Gemächlichkeit
ungern verzichtet. Das Vorurtheil steht uns im Wege; und die empirische
Naturlehre gewährt uns hier, oberflächlich angesehen, keine andere Er-
leichterung, als etwa durch die Schweife der Kometen, welchen zu gefallen
man der Sonne aufser der anziehenden auch noch ganz unerwartet eine
abstofsende Kraft beylegt, weil die Richtung der Schweife von der Sonne
abwärts geht. Da schwächt denn wenigstens eine Hypothese die andre.
Nicht besser steht die Lehre vom Lichte. Vor wenigen Jahren hielt
Biot das Emanations- System für beynahe entschieden; jetzt hingegen
meldet sich eine Stimme nach der andern zu Gunsten der Vibration; und
es wird behauptet, dafs die Rechnung mit den bekannten Einwürfen vom
Schatten u. s. w. vollkommen wohl fertig werden könne.
Unter solchen Umständen werden wir bey aller Vorsicht dennoch
zu gewagten Schritten genöthigt seyn, um nur einen vorläufigen Ausdruck
für diejenige Überlegung zu finden, welche von den aufgestellten allgemeinen
Grundsätzen ausgeht, und deren kurze Angabe hier des Zusammenhangs
wegen nicht fehlen darf. —
Ei st lieh: die Schwere ist der Erfahrung zufolge eine ungleich schwächere
Kraft als die bisher betrachteten. Leicht hebt ein Magnet den dargebotenen
Schlüssel, welchen herabzuziehn die Schwere, das heifst, der ganze Erd-
körper, sich vergebens bemüht. Ungeheuer stark erscheinen uns die
Kräfte des Blitzes, des Feuers, des heifsen Dampfs, der chemischen Ver-
bindung, der Krystallisation u. s. w., weil wir gewohnt sind, Ge-[583]wichte
zum Maafsstabe in der Vergleichung zu nehmen; und dabey wird im ge-
meinen Leben noch obenein vergessen, dafs ein Pfund auf der Erde, auf
dem Monde, auf der Sonne verschieden, und dafs es gar nichts ist ohne
die Masse eines ganzen Weltkörpers.
Diese Geringfügigkeit der Schwere in Vergleich mit den Wirkungen
des Caloricums und Electricums giebt uns den ersten Fingerzeig, wohin
wir unsre Gedanken wenden sollen. Was jene stark macht, das mufs
hier schwach seyn. Also von schwachem und zugleich ungleichem Gegen-
satze werden wir ausgehn, nach §. 339.
Ztveytens: Erfahrungsmäfsig hängt die Schwere ab von der Masse;
ohne merklichen Unterschied wegen der eignen Natur des Körpers, und
wegen seiner chemischen Verhältnisse. Dieselbe Masse, welche sich als
träge in der Bewegung zeigt, und deren Quantum eigentlich beym hori-
zontalen Stofse erkannt wird, soll nach der allgemeinen Aussage der
5.Abschn. Umrisse d.Naturphil. 2.Abth. Analyt.Unters. 3. Cap. V.d.Elektricität etc. -i -i e
Physiker auch durchs Gewicht sich offenbaren.* Wir dürfen hier keinen
Zweifel wagen; sondern müssen annehmen, dafs, wenn es sich anders,
und zwar merklich anders verhielte, dieses den Physikern bev ihren zahl-
losen Versuchen schon längst müfste aufgefallen seyn.
Glücklicherweise ist nun schon hier ein Zusammentreffen des zweyten
Fingerzeigs der Erfahrung mit dem ersten. Die Forderung, auf die eigne
Qualität der Elemente solle nichts ankommen, sondern nur auf deren
Menge, würde uns bey unsrer Gewohnheit, Alles überall auf die Ver-
hältnisse der Qualitäten zu gründen, in die gröfste Verlegenheit setzen,
wenn nicht schon von [584] selbst wenigstens die Hälfte der Schwierigkeit
hinweggefallen wäre, indem wir jene Voraussetzung des schwachen und
überdies ungleichen Gegensatzes in Betracht zogen. Wir fanden nämlich
(§• 359)' dafs ein solcher Stoff die Materie vollkommen leicht durchdringen
werde, weil er ihre innern Zustände nicht merklich abändern könne. Es
bleibt nun noch die zweyte Hälfte der Schwierigkeit; denn die eignen
innern Zustände des Stoffes werden unter sich verschieden seyn, wenn
er sich mit verschiedenen Elementen verbindet. Und vielleicht ist es
gut, dafs diese Hälfte einstweilen bleibt; was hier schwierig scheint, kann
in der Lehre vom Lichte sehr nöthig seyn.
§• 4M-
Hätte uns auch die Erfahrung nichts von den eben erwähnten
Fingerzeigen gegeben: so müfsten wir dennoch, der Consequenz gemäfs,
den bezeichneten Stoff aufsuchen; und zwar in dem weiten Räume zwischen
den Weltkörpern. Denn als ein Mögliches, nach dessen Wirklichkeit zu
fragen ist, kennen wir ihn schon; und auf ihn pafst ganz besonders das,
was oben (§. 340) von den übrig bleibenden Elementen zu sagen war,
die sich nicht mit andern zu körperlichen Massen verdichten können.
Zuerst nun müssen wir suchen, uns den Begriff von dem angezeigten
Stoffe, und von dem, was er leisten mag, genauer zu entwickeln. Da er
in den himmlischen Räumen vermuthet wird, wollen wir ihn, der leichtern
Rede wegen, Äther nennen. Und da die Astronomen an dessen Existenz
nicht glauben, so erinnern wir nochmals, aber jetzt in anderer Beziehung,
an die zurückgezogenen Schweife der Kometen; jedoch lediglich deshalb,
weil dieser Umstand selbst Astronomen (z. B. Brandes) veranlafst hat,
eine feine Mate- [585] rie in den Himmelsräumen nicht ganz verwerflich
zu finden.
Oben (§. 354) wurden Caloricum und Electricum mit einander ver-
glichen ; und zwar nach drey Momenten. Das zweyte dieser Momente
war Attraction von Seiten der Materie gegen das Caloricum. An dessen
Stelle trat Repulsion von Seiten der Materie beym Electricum. Eben
dieses zweyte Moment nun ist Null beym Äther ; oder mit andern Worten,
die Materie bekümmert sich ihrerseits, in Ansehung ihrer innern Zustände,
*: Man vergleiche z. B. Biot, in der Erfahrungs - Naturlehre, übet setzt von Wot.ff,
im ersten Bande S. 42, wo er bekennt: „es läfst sich keineswegs a priori aussagen,
ob die Antheile verschiedener Körper, welche gleichviel wiegen, wirklich dieselbe Menge
träger Materie in sich schliefsen."
236 I< Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 1829.
um ihn soviel wie gar nicht; sie ist schon in solchen innern Zuständen,
neben welchen diejenigen verschwindende Gröfsen sind, die unmittelbar
von ihm bestimmt werden könnten.
Dennoch entstehn mittelbar sehr wichtige Folgen für die Materie
daraus, dafs der Äther seinerseits durch sie in seinen innern Zuständen
Bestimmungen empfängt. Das erste und dritte Moment jener Vergleichung
passen auch hier; nur weit minder als beym Caloricum und Electricum.
Jedes Element des Äthers soll vollkommen eindringen, wo von seiner
Seite die Durchdringung eines Elements der Materie einmal begonnen hat.
Und treffen mehrere Elemente des Äthers in einerley Element der Materie
zusammen : so entsteht unter ihnen die bekannte Repulsion. Jedoch die
Attraction ist gelinde wegen der Schwäche und Ungleichheit des Gegen-
satzes (§. 330), folglich auch die Repulsion, da sie gleich beginnt, indem
sie nöthig wird, und ein heftiger Zusammenstofs vieler Elemente des Äthers
nicht zu erwarten ist , so lange nur ein einziges der Materie voraus-
gesetzt wird.
Denkt man sich also Materie umgeben vom Äther : so mag er sanft
einströmen in ihre Elemente, um sogleich wieder nach allen Seiten wie
ein Hauch aus ihr hervorgehend sich zu zerstreuen. Von gewaltsamer
Aus- [586] dehnung wie beym Caloricum, von heftigem Zerreifsen und Zer-
stäuben der Materie wie beym Electricum, ist hier nichts zu besorgen.
Eine gröfsere Masse der Materie wird sich demnach vom Äther durch-
wandern und durchfliefsen lassen, indem er unaufhörlich mit der Bewegung,
die er so eben durch Repulsion in einem Puncte erlangte, eindringt in
andre, um auch hier von neuem bey der geringsten Anhäufung zu ent-
fliehen.
Die Elemente des Äthers werden einander in allen möglichen innern
Zuständen, die sie von jedem Elemente der Materie davontrugen, begegnen;
sie werden einander alles Entgegengesetzte, in welchem sie umherwanderten,
repräsentiren. Nun kennt man die Folge des repräsentirten Gegensatzes;
es ist bald Zusammenhang, bald Abstofsung, nach den Umständen (§. 344).
Jedoch erfolgt die letztere erst beim Übermaafse der Durchdringung, und
je seltener dieses Übermaafs bey einer so nachgiebigen Natur, wie des
Äthers, zu erwarten ist, desto eher können wir einen leichten Zusammen-
hang als das Vorherrschende ansehen.
Der Äther ist demzufolge nicht blofs in poetischen Bildern, sondern
wirklich, als ein höchst feines Flüssiges zu betrachten, welches in der
Materie ungehindert aus und eingeht.
Allein wer beschreibt uns nun genauer seine Bewegungen ? Hier,
wo sich ohne Rechnung kein vester Schritt thun läfst, müssen wir dennoch
eine Vermuthung wagen ; gestützt auf eine bekannte Analogie.
Man weifs. dafs mehrere Pendeluhren, die einander nahe auf einem
Brette aufgestellt sind, ihre Schwingungen allmählig gleichzeitig machen.
Beym Äther nun dringt sich fast von selbst der Gedanke auf, dafs, wenn
seine Elemente auch nur den mindesten Zusammenhang haben, jenes
beständige Aus- und Eingehn nicht lange [587] ungeordnet bleiben könne;
dafs vielmehr die widerstrebenden Bewegungen sich aufheben, die verein-
1 'arten sich zusammensetzen müssen ; dafs also diese zusammengesetzten
5.Abschn. Umrisse d.Na'turphil. 2. Abth. Analyt Unters. 4. Cap. Von der Schwere etc. 337
Bewegungen sich sehr verstärken können ; in dem Maafse, wie der Zu-
sammenhang des Äthers es erlaubt.
Nun ist zur Repulsion nur die Oberfläche der Materie frey für eine
fortgehende Bewegung, während im Innern unaufhörlich neue Gründe der
Repulsion und Attfaction mit einander wechseln, je nachdem die Elemente
des Äthers in die der Materie eindringen und wieder herausfahren. Hat
also der Äther außerhalb der Materie, welcher sich freyer und anhaltender
bewegen kann, einigen Zusammenhang mit dem in derselben, so wird be-
sonders dieser Umstand die Bestimmung herbeyführen, welche Regelmäfsig-
keit der Bewegung endlich eintreten müsse. Und da wir hier an die
Kugelform der Weltkörper denken: so mag uns auch der Versuch gestattet
sevn, ob eine Beziehung auf Schwere und Licht denkbar werde, wenn wir
für die Oscillation des Äthers die Regel annehmen, dafs er sich in Kugel-
schichten ausdehne und zusammenziehe. Zuvörderst aber einige nach-
trägliche Bemerkungen, damit das Bisherige nicht willkührlich zu seyn
scheine.
§■ 415-
1. Warum haben wir den Äther nicht als ein ruhig Liegendes, als
eine Art von unermefslicher Atmosphäre für die Weltkörper, beschrieben ?
Die mittelbare Attraction (§. 342) konnte auch dann zwischen den Welt-
körpern Verbindung stiften; und diese Voraussetzung wäre einfacher, als
jene von kugelförmigen Wallungen. Antwort:
a) Oscillation ist keine gesuchte, sondern die natürlichste Voraussetzung;
deren Gegentheil einen Beweis [588] erfordern würde (§. 347). Sie ist
hier um desto unvermeidlicher, da die Repulsion, sofern sie ursprünglich
nur vom Eindringen des umgebenden Äthers in einerlev Element der
Materie herrührt, schwerlich so heftig werden kann, dafs sie bis zur Zer-
streuung gehen sollte. Wechselnde Expansion und Contraction des Äthers
ist Alles, was sich erwarten läfst, so lange man bey einzelnen Moleculen
der Materie stehen bleibt. Und in grofsen Massen ist theils ein Resultat
aller einzelnen Oscillationen, theils ein Erfolg des Umstandes zu erwarten,
dafs der von aufsen umhüllende Äther sich in die Bewegung mit ein-
mischen werde.
b) Ein ruhig liegender Äther würde wohl kaum taugen, um zu er-
klären, was erklärt werden soll. Zwar die mittelbare Attraction könnte
auch bey ihm ins Unendliche gehn: indem auch die geringsten Grade von
Selbsterhaltung sich noch vermindern und abgestuft fortpflanzen lassen.
Allein hiebey trit ein sehr abschreckender Umstand ein: es ist nämlich
zwar wohl denkbar, dafs von der Oberfläche einer körperlichen Masse die
Attraction, die sie ausübt, sich in weite Entfernung fortpflanzen könne ;
aber es ist nicht abzusehen, wie das Innere der Masse, falls die Voraus-
setzung eines ruhig liegenden Äthers angenommen würde, auf die Ver-
stärkung der nämlichen Attraction einen bestimmenden Einfluls gewinnen
könne. Denn wie stark die Selbsterhaltung des Äthers gegen die Materie
werden kann, so stark wird sie schon durch die Elemente an der Ober-
fläche, da wir in den Grundbegriff des Äthers das Merkmal hineinlegen
mufsten, er stehe in sehr schwachem und ungleichem Gegensatze gegen
Hbrbart's Werke. VIII. 2 2
7^8 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
alle Materie. Was sollten denn wohl die innem Theile des Körpers noch
hinzuthun ? Derjenige Äther, welcher sich an der Oberfläche befindet,
kann keine Erhöhung seiner innem Zustände mehr annehmen. Er wird
also auch nicht fä-[58g]hig seyn, diejenige Attraction, welche vom Innern
der Masse herrühren könnte, fortzupflanzen. Für sie wäre ein neues
Medium nöthig, welches wir nicht zu finden wissen. Also würde der ersten
Forderung, welche die Erfahrung an uns macht, dafs nämlich die Gravi-
tation sich nach der Masse richten soll, nicht Genüge geleistet. Daher
wird man sich nicht wundern, dafs wir an der ohnehin kaum zu erwartenden
ruhigen Lage des Äthers, als an einer aus doppeltem Grunde unzulässigen
Annahme, gleich Anfangs vorübergingen.
2. Warum aber ist nicht eine fortgehende Bewegung des Äthers, zu-
erst einströmend, dann ausstrahlend, ohne Oscillation, angenommen wor-
den ? Es war oben die Rede von einem Drucke, den die äufsem Sphären
gegen die innern ausüben müfsten (§. 350). Dieser Druck könnte vielleicht
Schwere und Licht der Himmelskörper zugleich erklären.
Wir wollen über diesen Punct Niemandem widersprechen. Die
Emissionstheorie des Lichts möchte sich damit vielleicht am besten in
Verbindung setzen lassen. Und was die Schwere anlangt: so würde nun
etwas eher begreiflich werden, wie das Innere der Massen dazu beytrage.
Denn das Einströmen würde alsdann, wofern man den Äther als ein zu-
sammenhängendes Flüssiges betrachtet, allerdings von den Attractionen im
Innern mit bestimmt werden. Allein jetzt möchte die Ausstrahlung Schwierig-
keit machen ; eben weil der Äther Zusammenhang haben sollte. Wie kämen
nun die ausstrahlenden Theile desselben frey, und mit gleichförmiger Ge-
schwindigkeit, durch die einströmenden Elemente hindurch ? Da möchte
sich Jemand auf die Erfahrung berufen, und uns erinnern an glühende
Körper, die im Feuer liegend ihre Gluth noch fortdauernd erhöhen. In
der That nehmen sie neues Caloricum von allen Seiten auf (z. B. wenn
rothglühendes Eisen noch ferner bis [590] zum Weifsglühen erhitzt wird),
während zugleich die Repulsion des schon vorhandenen Wärmestoffs unsern
Augen durchs Leuchten, und dem Gefühl durch die Hitze kund gethan
wird. So nun möchte auch die Ausstrahlung des Äthers möglich seyn,
mitten hindurch gehend durch dessen Einströmung. — Wir können hier
nichts entscheiden; allein auch nichts erklären. Die Annahme der Oscilla-
tionen ist an sich, wie schon gezeigt, natürlicher. Und müssen wir einmal
auf den Zusammenhang des Äthers, als auf einen bestimmenden Grund
der Energie, womit er einströmt, etwas rechnen, so kommt uns in Ansehung
des Leuchtens der Weltkörper die Vibrationshypothese gelegener, weil sie
erlaubt, Verdichtungen und Verdünnungen der Lichtstrahlen, ähnlich den
Schallwellen, anzunehmen.
Bleiben wir also, bis auf bessere Belehrung, bey der Ansicht, dafs
der Äther durch den Wechsel t/er Attraction, die er gegen die Masse der
Weltkörper in allen Elementen derselben ausübt, und der Repulsion, in
welche ihn sein eignes Zusammentreffen in diesen Elementen versetzt, in
eine oscillirende Bewegung geräth, die sich bis in unermefsliche Entfernung
verbreitet ; und suchen wir nun wenigstens eine Vermuthung zu gewinnen,
wie dadurch zuvörderst die Gravitation denkbar werde !
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2,Abth. Analyt.Unters. 4. Cap. Von der Schwere etc. 33O
§. 416.
• Die Vermuthung ist kurz folgende :
Jeder Körper veranlaist den Äther zu einem besonderen System
von Schwingungen. Aber mehrere Körper zusammengenommen ver-
anlassen in weiterer Ferne mehr und mehr ein solches System von
Schwingungen, als ob dasselbe von ihrem gemeinschaftlichen Schwei-
puncte ausginge. Daher treibt die Rückwirkung des schwingenden
Äthers [591] sie wirklich gegen ihren Schweipiuut hin: und je näher
sie demselben kommen, desto vollkommner passen die Schwingungen
zu ihrer Lage.
Die mathematische Zulässigkeit dieser Vermuthung, desgleichen die
Zusätze oder Abänderungen, deren sie bedürfen möchte, können nur
durch Rechnung bestimmt werden. Zunächst ist klar, dafs nach dieser
Ansicht eigentlich nicht unmittelbar die Weltkörper auf einander, oder
jeder auf seine Bestandtheile, sondern die ganzen Systeme von Äther-
schwingungen, die von jedem ausgehen, gegenseitig auf einander wirken.
Hiedurch wird so viel erreicht, dafs die Mechanik des Himmels nicht
durch fremdartige Zusätze verunreinigt scheinen kann. Denn es kommt
nun nicht auf die Qualitäten der einzelnen Körper an, sondern nur darauf,
wie die Schwingungen des Äthers in einander eingreifen ; und zwar im
weiten Welträume, so dafs dagegen die besondem Bestimmungen einzelner
Elemente des Äthers, gemäfs den einzelnen Materien, die sie durch-
wanderten, als unbedeutend verschwinden. Hiemit hebt sich die obige
Schwierigkeit vollends (§. 413 am Ende).
Ferner, wenn der Äther in Kugelschichten schwingt, so werden diese
fast unfehlbar an Dichtigkeit umgekehrt wie das Quadrat der Entfernung
abnehmen; daher die Frage wegen der Intensität der Schwere nach ver-
schiedenen Entfernungen wohl nicht mehr schwierig scheinen kann.
Wie nothwendig es aber ist, dafs man von diesem Gegenstande eine
rein mechanische Theorie zu gewinnen suche, das verräth wohl am deut-
lichsten die Beobachtungen der Sonnenflecken und des Sonnen- Durch-
messers. Dieser Durchmesser soll sich, nach astronomischen Angaben,
um 700 Meilen verändern können ! Und doch hört man nichts von ent-
sprechenden Veränderungen in den Bahnen und Geschwindigkeiten der
[592] Planeten. Die Masse der Sonne war allein das, worauf es ankam;
die gröfsten Veränderungen der Oberfläche sind ohne Bedeutung, nämlich
in Hinsicht der Gravitation. Aber die Oberfläche bestimmt die Aus-
strahlung; und jeder Punct derselben strahlt einzeln nach allen Seiten;
sonst könnten wir die Sonnenflecken nicht sehen. Hiemit hängt das
Nächstfolgende zusammen.
§• 417-
Allen bisherigen Untersuchungen über die Materie liegt, vom ersten
Anbeginn derselben (§. 269), der Hauptsatz zum Grunde:
Attraciion ist das Erste, Repulsion das Zweyte.
Daher kann im Übergange von jener zu dieser noch manche nähere
Bestimmung hinzukommen ; und so werden die Phänomene der Repulsion
22*
-.iq I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
leicht bunter und verwickelter, als die der Attraction. Räumt man nun
die Wahrscheinlichkeit ein, dafs Gravitation und Licht bey den gröfsten
Himmelskörpern im Zusammenhange stehen (und dies wird wohl nöthig
seyn, wofern man nicht auf jede Vermuthung über den Ursprung des
Sonnenlichts Verzicht leisten will), so wird damit der eben angeführte Satz
zusammenstimmen.
Nicht alle Himmelskörper leuchten; obgleich alle scheinbar einander
anziehn. Es braucht aber auch bey weitem nicht die ganze Ausstrahlung
des Äthers von den einzelnen Puncten der Oberfläche auszugehn; und es
braucht nicht jede Ausstrahlung die Geschwindigkeit zu haben, welche
nöthie wäre, um uns als Licht sichtbar zu werden. Erinnert man sich
der Partialschwingungen der Saiten, wodurch eine und dieselbe Saite
mehrere Töne zugleich hören läfst, so darf man fragen, ob nicht das
Licht, welches in unsre Wahrnehmung fällt, vielleicht blofs eine Neben-
bestimmung für [593] andre langsamere Schwingungen des Äthers seyn
möge? Endlich giebt es Licht ohne Schwere, wie bey unsern Lampen,
oder bey der Elektricität ; und es wird auch nicht wunderbar scheinen,
wenn die leuchtenden Ausstrahlungen aus ganz verschiedenen Ursachen
entstehn.
Hier möchte man wünschen zu erfahren, ob die Eigenheiten der
chemischen Anziehung, welche sich in dem verschiedenen Brechungsver-
mögen zeigt, auch dem Lichte des brennenden Phosphors, oder dem
Flammenbogen grofser Voltaischer Säulen angehören? Für jetzt können
wir nur in Ansehung des Sonnenlichts die folgende Vermuthung den vorigen
beyfügen.
Während die Gravitation zunächst nur aus den gegenseitigen
Anziehungen des Äthers entspringt, dessen Schwingungen sich zu
einem, dem Schwerpuncte der Massen angehörigen, Systeme zu ver-
einigen streben : trifft dagegen der Lichtstrahl, welchen ein bestimmter
Punct der leuchtenden Oberfläche aussendet, unmittelbar die Materie
des beleuchteten Körpers; und verräth dies, falls der Körper durch-
sichtig ist, durch die besondere Brechung, die ihm widerfährt.
Es ist nicht schicklich, über blofse Vermuthungen weitläuftig zu wer-
den. An die Thatsache, dafs brennbare Körper das Licht besonders stark
anziehen, und dafs sogar bey chemischen Verbindungen das Brechungs-
vermögen sich aus den Bestandtheilen ergiebt, erinnert sich gewifs jeder
Liebhaber der Physik.*
§. 418.
Aber mit welchem Rechte (wird man fragen) ist denn überhaupt das
Licht mit der Schwere in Verbindung gebracht worden? Die Thatsachen
stehen selten [594] so verknüpft; viel öfter findet sich Licht ohne
Schwere. Darum hätten auch die Untersuchungen hierüber einzeln auf-
treten sollen.
Hierauf läfst sich antworten mit Berufung auf die so eben erwähnten
Erfahrungen, und auf beynahe Alles, was vom Lichte bekannt ist. Überall
* Man vergleiche z. B. BlOT a. a. O. 2. Bd. S. 235.
.Abschn Umrisse d. Naturph. 2. Abth. Analyt. Unters. 4. Cap. Von der Schwere etc. 34 1
zeigt sich das Licht bey weitem mehr leidend als thätig. Unterworfen
ist es der Brechung, Zurückstrahlung, Zerstreuung, Beugung, Polarisirung.
Wirksam ist es fast nur in Verbindung mit der Wärme, die es entweder
herbeyführt oder hervorlockt. Wie oben von der Schwere bemerkt wurde,
sie sey eine höchst schwache Kraft, wenn sie nicht durch die Masse eines
ganzen Weltkörpers multiplicirt werde, eben so ist auch vom Lichte zu
sagen, dafs es ohne die Reizbarkeit unserer Augen, und ohne die der
• Vegetabilien, nur wenig bemerkbar seyn würde. Sollen wir ihm nun einen
Platz neben dem Caloricum und Electricum anweisen, welches beydes wir
aus dem Vorigen mit einiger Bestimmtheit zu kennen glauben, so bleibt
der Fingerzeig, dem wir hier folgen müssen, der nämliche, wie bey der
Gravitation. Schwacher und sehr ungleicher Gegensatz gegen alle Elemente
der Materie, — das ist es, woran wir denken müssen, wenn irgendwo
Etwas vorkommt, gegen welches die Materie mit ihren innern Zuständen
beynahe ganz gleichgültig scheint, während doch nicht umgekehrt die
Gleichgültigkeit ihr vergolten wird. Deshalb würde eine sehr drückende
Verlegenheit entstanden seyn, wenn zwey heterogene Gegenstände, wie
Schwere und Licht, ohne Spur von Zusammenhang unter sich, aus dem
nämlichen Princip hätten erklärt werden sollen. Sehr willkommen war es
dagegen, dafs uns schon das Sonnenlicht auf den Gedanken brachte, der
Äther möge durch Bewegungen in Masse, die Phänomene der Gravitation,
— hingegen durch gesonderte Strahlung, wobey er in [,595] manchen
Fällen sein chemisches Verhältnifs zur Materie verathen könne, die Phä-
nomene des Lichts herbeybringen.
Aber, wird weiter gefragt werden, wozu denn immer ein eigner Stoff?
Warum nicht zur Abwechselung einmal Kräfte, oder Thätigkeiten , oder
wenigstens Bewegungen?
Nur der letzte Theil dieser Frage kann im gegenwärtigen Zusammen-
hange ernsthaft genommen werden. In der That möchte man elektrisches
Licht, und leuchtende Hitze, am liebsten als blofse Geschwindigkeit des
strahlenden Electricums und Caloricums betrachten. Das wäre einfacher,
als jenen Äther zu Hülfe zu rufen, damit er durch sie sich erst in Be-
wegung setzen lasse. Und wer mag denn auch versichern, ob alles Licht
gleichartig ist? Im Gegentheil, wenn wirklich das Sonnenlicht zum gröfsten-
theile jener schwingende, Gravitation bewirkende Äther ist, so kann er
dennoch mit vielem Caloricum gemischt von der Sonne kommen, und von
demselben gesondert aus dem Monde zu uns wiederkehren; dies wird
wohl noch lange wenigstens die leichteste Erklärung bleiben, weshalb sich
dem so hellen Lichte des Mondes gar keine Wärme abgewinnen läfst, ob-
gleich es sogut wie der Sonnenstrahl die Atmosphäre durchdringt und in
ihr gebrochen wird. Rückwärts also auch mag in andern Fällen das
Strahlende, was unsern Augen leuchtet, Electricum oder Caloricum ge-
mischt mit Äther seyn; — wobey der Unterschied der Mischungen viel-
leicht nur in einem Mehr oder Weniger besteht. Allein diese Ungewifsheit
wird wohl irgend einmal durch Experimente verschwinden. Es kommt
darauf an, zu erfahren, ob alle Lichtquellen gerade solches Licht ergeben,
das sich in den mancherlei Versuchen stets eben so wie das Sonnenlicht
verhalte ?
-
342 *• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Von diesem letztern aber sagen uns die Physiker so bestimmt, und
prägen uns so vest ein, die Farben, in [596] welche es gebrochen wird,
seyen durchaus eigenthümlich, und durch keine fernere Brechung und
Zurückstrahlung veränderlich: dafs viel Dreistigkeit dazu gehört, um es
ihnen nicht zu glauben.
Will man nun dennoch das Licht selbst als blofse Modification von
irgend etwas Anderem ansehn, so mag man überlegen, wie man mit allen
den Phänomenen, nicht blofs der Farben, sondern ihrer von der Brechung
noch verschiedenen Zerstreuung, und nicht blofs der wunderbaren Neigungen
leichter Zurückwerfung und leichter Durchstiahlung, sondern auch mit den
verschiedenen Polarisirungen, fertig werden wolle und könne. Der Idealis-
mus hat hier, wie anderwärts, üble Gewohnheiten genug verschuldet, die
er nicht verantworten kann; denn er kann sich selbst nicht verantworten.
§• 419-
Nur sehr wenig kann hier von den mannigfaltigen Phänomenen,
welche die Naturforscher in Ansehung des Lichts aufstellen, gesagt werden,
so gewifs es auch ist, dafs eine vollständige Naturphilosophie darin den
schönsten Stoff ihrer Betrachtungen finden sollte.
Zuvörderst ist klar, dafs wir die Meinung von abstofsenden und an-
ziehenden Kräften der brechenden und zurückstrahlenden Flächen, die
wir nicht annehmen können, durch eine andre Betrachtung ersetzen
müssen.
Schon bey der Zurückstrahlung will man, dafs diese Kräfte in die
Feme wirken sollen, damit nicht die für das Licht viel zu grofsen Un-
ebenheiten auch der am besten polirten Flächen Zerstreuung nach allen
Richtungen herbeyführen. Aber was gewinnt man durch die Voraus-
setzung der Wirkung in die Ferne? Wenn die Flächen uneben sind, so
wird jede Parallele mit denselben ebenfalls uneben. Wie soll denn eine
Ebene erlangt werden, von welcher die Zurückwerfung gleich-[597]mäfsig
geschehen könnte? Diesen Zweifel würden uns jedoch die Geometer ver-
geblich lösen. Wir würden weiter fragen, wie denn die ganz entgegen-
gesetzten Kräfte der Attraction und Repulsion in der nämlichejj Fläche
beysammen seyn könnten. Und wenn sie sich hierüber lediglich auf die
Neigungen des Lichts, leicht durchzustrahlen und leicht zurück zu gehn,
berufen wollten, so würden wir erinnern, dafs die chemischen Anziehungen,
welche sich in der Verschiedenheit des Brechungsvermögens verrathen, gar
nicht geleugnet werden können, daher auf jene Neigungen offenbar das
Wenigste ankommt.
Im Zusammenhange unserer Untersuchung bietet sich von selbst der
Gedanke dar, dafs, sobald das Licht angezogen wird (oder, genauer ge-
sprochen, sobald es sich in die Elemente des brechenden oder zurück-
strahlenden Körpers hineinzieht), es wenigstens für einen Augenblick im
Innern der Materie sich verdichten, folglich wider sich selbst in Repulsion
gerathen mufs. Diese Verdichtung dürfte es denn auch wohl seyn, welche
die Unebenheiten zuerst ausfüllt, und alsdann eine Theilung des Lichts
in refiectirtes und eingelassenes veranlafst. Und da die Repulsion auf
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt Unters. 4. Cap. Von der Schwere etc. 343
den inner n Zuständen beruht: so wird es nun auf diese ankommen, wie-
fern die Farbenzerstreuung jener Anomalien empfänglich werden solle, die
man für achromatische Linsen zu benutzen pflegt.
Hiebey haben wir schon stillschweigend eingeräumt, dafs die ver-
schiedenen Farbenstrahlen von einer wirklichen Verschiedenheit der Licht-
theilchen herrühren mögen. Zwar ist der Gedanke einladend, dafs alle
Farben des Prisma ursprünglich ein System bilden, welches nach einem
gemeinsamen Theilungsgrunde zerfalle. So möchte man zum Beyspiel eine
Verschiedenheit der [598] Geschwindigkeiten annehmen, damit die lang-
samem Lichttheilchen stärker gebrochen würden. Allein die Erfahrung,
dafs von den Trabanten des Jupiter nicht eine Farbe nach der andern,
sondern weifses Licht auf einmal ankommt, scheint das Gegentheil zu ver-
sichern. Und genau besehn, darf auch überhaupt die Einheit des all-
gemeinen Begriffs vom Lichte gar nicht den Platz eines Erkenntnifsgrundes
einnehmen, noch uns verleiten zu irgend einem Vorurtheil für die wirk-
liche Gleichartigkeit. Schon längst haben wir bemerkt, dafs vielmehr die
Annahme einer völligen Gleichartigkeit solcher Stoffe, welche uns in ge-
wissen Verhältnissen gleiche Erscheinungen darbieten, ein Vorurtheil seyn
würde. Wir müssen es für wahrscheinlich halten, dafs viele Verschieden-
heiten uns entgehn; und können daher nichts entgegensetzen, wenn die
Versuche uns Verschiedenheiten andeuten. Nun finden wir Körper, welche
selbstleuchtend schon ursprünglich verschiedene Farben zeigen. Man be-
merkt dies sogar an den Fixsternen. Also dürfen wir nicht behaupten,
dafs die sämmtlichen Farben, worin das weifse Licht kann zerlegt werden,
ein geschlossenes System bilden, worin jede Farbe die nothwendige Be-
dingung der andern wäre. Denn unter dieser Voraussetzung könnte kein
Überschufs vorkommen, wodurch mehr von einer als von der andern Art
der Strahlen angezeigt wird.
§. 4^0.
Von den Neigungen leichterer Brechung oder Zurückwerf ung, die bey
den so berühmten farbigen Ringen an zusammengedrückten Gläsern oder
an Seifenblasen vorkommen, und periodisch wiederkehren, wird man die
Erklärung entweder in den innern Zuständen der Lichttheilchen, oder in
einer Oscillation derselben suchen können; beydes aber ist sehr dunkel.
Was die innern [5Q9] Zustände anlangt, so dürfte wohl eine periodische
Abwechselung derselben nicht als ganz unmöglich verworfen werden; denn
sie ist der Psychologie nicht fremd, vielmehr hat schon die Mechanik des
Geistes auf eine solche geführt.* Und man weifs, dafs die dortigen
Untersuchungen eigentlich ganz allgemein auf innere Zustände einfacher
Wesen passen; während sie zur Erklärung geistiger Zustände nur die erste
Grundlage liefern. Daher wäre die Anwendung auf das Licht nicht un-
gereimt; und sie könnte hier insofern willkommen seyn, als dabey die An-
nahme von Moleculen des Lichts, die schon aus Elementen zusammen-
gesetzt wären, erspart würde. Ob hiedurch etwas gewonnen wäre, ist eine
andere Fiage.
Psychologie I, §. 92. (Bd. V vorl. Ausgabe.)
■jaa I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Die Polarisation des Lichts scheint sich aus blofsen innern Zuständen
gar nicht erklären zu lassen. Sie ist so sehr an Raumverhältnisse ge-
bunden, dafs man sich der Analogie, wodurch Malus zu der von ihm
gewählten Benennung bewogen wurde, — nämlich mit Reihen von Magnet-
nadeln, die von einem Magneten in einerley Richtung gedreht werden, —
wohl nicht wird versagen können. Dies setzt aber schon vorhandene
Moleculen des Lichts voraus, da man den einfachen Elementen, selbst in
der Fiction, wodurch sie als ausgedehnt angesehen werden (§. 267), keine
andre als nur die Kugelgestalt beylegen darf. Allein wie lange wird es
noch dauern, bevor wir über so verwickelte Gegenstände eine genauere
Belehrung empfangen !
Genug für, jetzt, wenn der Vortrag dieses Capitels wenigstens soviel
dargethan hat, dafs die Erfahrungen über Schwere und Licht den Ver-
such, sie nach den aufgestellten Grundsätzen zu überdenken, nicht zurück-
stofsen. Und dieser Versuch steht nicht allein; sondern [000] er ist nur
die Foitsetzung jener Betrachtungen über Wärme und Elektricität, denen
wir eine gröfsere Wahrscheinlichkeit glaubten beylegen zu dürfen. Eine
Naturphilosophie, welche in allen Puncten gleich starke Gewifsheit vorgäbe,
würde eben hiedurch dem Kundigen verdächtig werden. Eins mufs das
Andre tragen und ergänzen. Man mag nun prüfen, ob der Zusammen-
hang und die Einfachheit der Grundsätze, von welchen wir im §. 339
ausgingen, sich an den höchst mannigfaltigen und scheinbar ganz ge-
trennten Erscheinungen, worauf sie angewendet sind, hinreichend bewährt
hat; und ob man auf andern Wegen zu einer gröfsern Klarheit und Be-
stimmtheit der Begriffe von den nämlichen Gegenständen gelangen könne.
Fünftes Capitel.
Bemerkungen zur Chemie.
§• 4^1.
Das bisher Vorgetragene könnte für unsern Hauptzweck, die allge-
meine Lehre von der Materie zu erläutern, völlig zureichen. Allein es
ist der Mühe werth, nachzusehn, wie viele Hoffnung wir wohl haben, aus
den empirischen Naturwissenschaften, insbesondere aus Chemie und Phy-
siologie, in ihrem heutigen Zustande, eine wahre Erkenntnifs zu schöpfen,
oder wie grofs die Kluft zwischen blofser Erscheinung und dem Verstehen
derselben noch zu schätzen sey ; mit andern Worten, ob der Weg zu
einer ausführlichen Naturphilosophie offen stehe oder nicht. Wenn wir
nun auch diesen Weg für uns noch zu lang finden: so können doch die
Bestäti-[6oi]gungen, welche die allgemeine Theorie von der Materie hier
gewinnen wird, uns willkommen seyn.
Um nicht unbillig gegen die grofsen Verdienste der neuen Chemiker
zu erscheinen, zugleich aber um mit Einem Hauptzuge den Zustand ihrer
5-Abchn. Umrisse d. Naturphil. a.Abth. Analyt. Unters. 5-Cap. Bemerkungen z. Chemie. ? i e
Wissenschaft zu bezeichnen , werfen wir zuvörderst einen Blick auf die
Umwandlung, welcher ihre Begriffe unterworfen sind.
Säuren und Alkalien waren vor noch nicht langer Zeit * die Gegen-
stände, von denen sie den Begriff des chemischen Gegensatzes, der Ver-
wandtschaft und Neutralisirung, vorzugsweise abzogen. Als nun der Sauer-
stoff entdeckt wurde, glaubten sie zu wissen, was eine Säure sey; der
Begriff der Neutralisirung aber rückte zugleich auf eine andre Stufe; erst
mufste ein säurefähiger Körper mit Sauerstoff gesättigt seyn, damit als-
dann wiederum die Säure, das neutrale Product aus beyden, zum Element
für eine neue Verbindung dienen konnte, wann das davon völlig ver-
schiedene Alkali hinzukam. Aber was ist geschehn ? Kali und Natron
sind selbst schon neutrale Verbindungen geworden, deren einen Theil der
Sauerstoff ausmacht. Und was eine Säure sey, weifs man das noch anzu-
geben? Sie schmeckt sauer! Aber wer wird ernstlich die Blausäure, oder
die Arseniksäure kosten wollen, um seine Zunge genau zu fragen, obwohl
beyde eben so schmecken wie Essig, oder wie verdünnte Schwefelsäure?
Sie röthet das Lackmuspapier! Also eine unbedeutende Veränderung der
Farbe, bemerkbar an einigen Pflanzensäften, soll zur Gränzbestimmung
eines so wichtigen Begriffs dienen ! Der Sauerstoff, das Wesentlichste nach
der frühern Ansicht, ist seiner Würde entsetzt. Man redet von Wasser-
stoffsäuren; der Chlor ist in die Reihe der chemischen Elemente getreten;
ja das Knallgold hat sich in goldsaures Ammoniak verwandelt; und es
fehlt nicht viel, dafs auch die Kieselerde zu den Säuren ge-[6o2]rechnet
werde, während ihre Auflösungen nicht mehr für neutral gelten.*
Geht es dem Begriffe des Metalls besser als dem der Säure ? Vor
nicht langer Zeit waren alle Metalle schwerer als Wasser; jetzt schwimmt
das Kalium; und das Ammonium schwebt vielleicht in der Luft. Über-
dies, wenn das Selenium seinen Platz bey den Metallen behält, so giebt
es ein Metall, welches zu den schlechten Leitern der Wärme und der
Elektricität gehört: und bald wird der Schwefel auch ein Metall werden.
Die Erden sind verschwunden. Die Gasarten verwandeln sich in
Dämpfe. Und worin verwandelt sich eine Naturphilosophie, welche zu
den vorgefundenen chemischen Begriffen, als seyen sie durch veststehende
Thatsachen gegeben, Vertrauen fafst? —
§. 422.
Sollte die Chemie, da sie doch die Lehre von der Zusammensetzuno;
der Körper seyn will, uns solche empirische Data überliefern, die wir einer
Theorie zum Grunde legen könnten, so müfste sie uns, wo sie von ihren
Stoffen redet, bestimmt anzeigen, welche Stoffe einfach, und welcher Grad des
Gegensatzes in jedem Paare, desgleichen, ob dieser Gegensatz gleich oder
ungleich, und in welchem Verhältnisse ungleich sey. Statt darüber deutliche
Auskunft zu geben, verwickelt sie sich mit der Physiologie in solchem
* Man vergl. die hieher gehörigen Artikel bey Berzelus.
1 vor nicht langer Zeit SW („noch" fehlt).
346 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Maafse, dafs sie uns beynahe erlaubt, an Wunder zu glauben. Es ist
noch das Wenigste, dafs in der Kohle sich die Salze und Erden nicht
finden wollen, welche sich in der Asche zeigen. Man läfst ja Alles Mög-
liche in den Pflanzen wachsen, ohne dafs [603] sich die Stoffe in dem
Boden, im Wasser und in der Luft vorfinden! Kein Wunder, dafs manche
Naturphilosophen die lebende Natur wie eine Zauberin betrachten, und
mit ihr spielen wie mit einer Fabel! Wen daran die Philosophie nicht
hindert, den wird die empirische Chemie nicht hüten.
Die erste Frage, nämlich die nach der Einfachheit der bis jetzt un-
zerlegten Stoffe, nöthigt uns zu einer doppelten Unterscheidung. Theils
kann sie auf gasförmige, theils auf solche Körper gerichtet werden, in
welchen Cohäsion vorherrscht. Die Repulsion setzt nun zwar eben so
wohl als die Attraction ein Causalverhältnifs voraus, welches ohne Gegen-
satz verschiedenartiger Elemente nicht möglich ist. Allein bey den gas-
förmigen Körpern erlauben wir uns nun schon, die Repulsion auf Rech-
nung des in ihnen liegenden Caloricums zu setzen (in Folge unserer
obigen Untersuchung), und die Frage nur auf den wesentlichen Grund-
stoff des Gas zu richten. Hier weifs der Leser unsre Antwort; es ist
möglich, dafs ein Gas einfach sey; und wir halten insbesondere den Sauer-
stoff und den Wasserstoff, mit den Chemikern, so lange für einfach, bis
das Gegentheil, welches bis jetzt keine Gründe für sich zu haben scheint,
etwa möchte bewiesen werden. Mit dem Stickgase und der Kohlensäure
verhält es sich bekanntlich anders.
Die Frage beschränkt sich also auf die starren und tropfbaren Körper.
Sollen wir nun die Metalle, den Schwefel, den Phosphor, den Diamanten
für einfach halten? Dann müssen wir den Grund der Cohäsion angeben!
Unsre ursprüngliche Deduction der Materie ging aber aus der Voraus-
setzung entgegengesetzter Elemente hervor; und wir fanden, dafs ohne
die Voraussetzung irgend eines Gegensatzes sich gar kein Causalverhältnifs,
also auch keine Cohäsion, denken liefs. Soll es dennoch einfache starre
und tropfbare Körper geben [604] können, so müssen deren Elemente
aus einem früheren Zusammen mit anderen bestimmte innere Zustände
übrig behalten haben ; und nach diesen mufs ihre jetzige Verbindung sich
richten.
Also eine neue Unterscheidung knüpft sich an die vorige; wir kennen
dieselbe aus §. 344. Die gleichen Elemente befinden sich entweder in
gleichartigen, oder in entgegengesetzten innern Zuständen. Im §. 364
haben wir den letzten Fall den synthetischen Untersuchungen über die
Bildsamkeit der Materie zum Grunde gelegt; wir fanden nämlich wegen
der allmählig fortschreitenden Hemmung hier eine Quelle solcher schweben-
den Verbindungen, die entweder wachsen oder abnehmen. Je geschickter
nun diese Voraussetzung für die lebenden Wesen und deren Producte ist,
desto weniger pafst sie hier, wo zunächst von der starren und rohen
Materie die Rede ist. Also bleibt nur übrig, gleichartige Elemente in
gleichartigen Zuständen anzunehmen.
Gesetzt nun, diese- Voraussetzung sey richtig: so folgt, dafs der Kör-
per, dessen Beschaffenheit von ihr abhängt, zerstört werde, sobald die
Zustände seiner Elemente eine Veränderung erleiden. Es ist alsdann
5.AbschD.Umrissed.Naturphil. 2.Abth. Analyt.Unters. 5. Cap. Bemerkungen z. Chemie. 347
nicht möglich, ihn aus allerley Verbindungen, in denen er neue, den
vorigen entgegengesetzte Zustände erlangt, ohne nachbleibende Spur der-
selben zu reduciren; sondern er mufs auf bestimmte Weise entstehn, und
was ihm neues begegnet, das verdirbt ihn.
Dafür giebt es sehr bekannte Beyspiele; aber nicht bei einfach
scheinenden, und nicht bey rohen Körpern; sondern bey organischen Pro-
ducten. Z. B. Wein, oder Öl, werden durch Destillation verdorben; sie
werden nicht wiederhergestellt, wenn man gleich das Getrennte aufs neue
zusammengiefst.
Unter den nicht organischen, für einfach geltenden Körpern befindet
sich in dem nämlichen Falle vielleicht [605] der einzige Diamant. Es
mag also erlaubt seyn, anzunehmen, dafs der in ihm vorhandene, reine
Kohlenstoff früher in irgend einer Verbindung gewesen ist, aus welcher
ihm innere Zustände geblieben sind, die er in sich aufrecht hält; indem
die Elemente einander gegenseitig als Ausgeschiedene repräsentiren. Dies
bleibt erlaubt so lange, bis Diamanten, gleich Metallen, aus allerley neuen
Verbindungen reducirt werden. Oder, würde jemals durch irgend einen
Procefs Kohle in Diamanten verwandelt (wie man es vor einigen Jahren
erreicht zu haben glaubte), so müfste man die vorige Annahme daran aus-
dehnen, dafs ein im Wesentlichen ähnlicher Procefs auch ursprünglich die
Diamanten zur Wirklichkeit gebracht habe. Wenn aber einmal aus ganz
verschiedenen Processen Diamanten hervorgehn, dann wird man die ganze
Annahme verwerfen müssen. Auch jetzt möchten wir Demjenigen nicht
widersprechen, der etwa vorzöge sich eine Verbindung des Kohlenstoffs
mit einem unwägbaren, oder sonst irgendwie der bisherigen chemischen
Analyse entschlüpften Stoffe, im Diamanten zu denken.
Metalle aber, nebst Schwefel, Phosphor u. dergl., wie sollten diese
Dinge, die man in tausendfachen Verbindungen herumtreibt und stets
unverändert wieder gewinnt, durch bestimmte innere Zustände und ihrer
Eigentümlichkeit bestehn ? Also können wir keinen einzigen solchen Kör-
per für einfach halten. Das Princip seiner Cohäsion mufs in den Gegen-
sätzen seiner ungleichen Elemente liegen; welche trotz allem Wechsel der
Verbindungen bleiben, was sie sind.
Hiebey entsteht eine Schwierigkeit, die sich jedoch leicht genug heben
läfst. Wenn Gold aus ungleichen Elementen zusammengesetzt ist, warum
glückt der Chemie kein Kunstgriff unter so vielen, um dieselben zu trennen ?
Und wenn ja das Gold, oder sonst irgend [606] ein einzelnes Metall,
eine unüberwindliche Verknüpfung von Elementen in sich schliefst, warum
denn gilt dasselbe, was an sich schon schwer zu glauben ist, von so vielen
verschiedenen Metallen ? Was sichert deren Bestandteile vor gegen-
seitigen Zersetzungen, dergleichen sonst so häufig in der Chemie vor-
kommen ?
Ja in der That! Was sichert uns vor neuen Entdeckungen? Wenn
Einer heute die Untrennbarkeit des Goldes erklärte, und bewiese: wer
steht ihm dafür, dafs nicht morgen ein Chemiker das Gold wirklich zerlege ?
Allein mit dieser Ausflucht wollen wir uns nicht begnügen. Wir
hüten uns zwar, die Unzerlegbarkeit des Goldes positiv zu behaupten;
allein wir können uns wohl die Möglichkeit erklären, dafs ein System von
> a.8 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Elementen zugleich ein System von Gegensätzen in sich schliefse, die für
andre Systeme nicht zugänglich seyen.
Was ist denn die Bedingung der chemischen Zerlegung? Gewisse
innere Zustände müssen gehemmt werden durch andre entgegengesetzte.
Aber nicht durch disparate; diese würden nichts vermögen.
Die Vergleichungen des §. 335 zeigen deutlich, dafs es besondere
Sphären geben kann, worin Gegensätze liegen, die für Alles Übrige fremd-
artig sind. So bilden die Vocaltöne eine eigene, geschlossene Sphäre;
die Musiktöne eine andre. Wenn nun die Elemente des Goldes zusammen-
genommen in der einen, die des Silbers in einer andern Sphäre des
Gegensatzes liegen: so können sie einander nicht zersetzen; obgleich den-
noch nach einer, von jenen beyden Sphären verschiedenen , zufälligen An-
sicht (§. 252) zu erklären seyn wird, dafs Gold und Silber sich zusammen-
schmelzen lassen, und folglich in gegenseitige Attration eintreten können.
Will man übrigens in der Erfahrung einen Umstand aufsuchen, der
es wahrscheinlich macht, dafs jedes Me-[öO/]tall zusammengesetzt ist: so
findet sich ein solcher in der ihnen allen gemeinsamen Undurchsichtigkeit.
Es ist bekannt, dafs überall den vollkommenen chemischen Auflösungen
die Durchsichtigkeit zu entsprechen pflegt; und der Grund, nämlich gleich-
mäfsige Anziehung des Lichtstrahls von allen Seiten, liegt am Tage. Was
hindert nun das Licht, in die Metalle, wie in den Diamanten einzudringen ?
Wir dürfen glauben, dafs Ungleiches in unvollkommener, und nicht einmal
genau bestimmter Durchdringung sowohl die Undurchsichtigkeit als die
Dehnbarkeit verursacht; wogegen der Diamant den stärksten Contrast
bildet; daher in Hinsicht seiner die obige Hypothese wirklicher chemischer
Einfachheit desto annehmlicher zu seyn scheint.
Warum aber die Durchdringung der verschiedenen Elemente des
Metalls, besonders des vorzüglich dehnbaren, nicht genau bestimmt, warum
die Confioriration durch mechanische Gewalt so leicht veränderlich sev:
darauf möchten wir durch die Muthmaafsung antworten, dafs vielleicht die
Menge der verschiedenen Elemente in jedem Metall bedeutend grofs seyn
möge ; denn es scheint, dafs alsdann die Configuration, welche ihnen ent-
spricht, nicht leicht geometrisch könne angegeben werden. Doch dies wäre
genauer zu untersuchen.
§• 423-
Eine zwevte Frage, welche die Chemie uns in Hinsicht ihrer Stoffe
beantworten sollte, wäre nun die nach dem Grade des Gegensatzes in
jedem Paare, und nach der Gleichheit oder Ungleichheit desselben, in
dem oben (§. 33^) bestimmten Sinne dieses Ausdrucks.
In der That sagt sie uns hierüber Manches, das sehr merkwürdig
ist. Und wir wollen hier vor Allem ihre Aussage benutzen, um den
wichtigen Unterschied zwi-[6o8]schen der Stärke, und der Gleichheit oder
Ungleichheit, des Gegensatzes durch die Erfahrung zu erläutern.
„Die Berechnung, die man einst für gegründet ansah, dafs, wenn
eine gröfsere Quantität eines Körpers nöthig sev, um einen andern zu
sättigen, dieser gegen den erstem einen desto grüfsern Verwandtschafts-
grad besitze, trifft gar nicht zu; weil z. B. eine beynahe gleiche Menge
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt. Unters. 5. Cap. Bemerkungen z. Chemie. 340,
Sauerstoff nöthig ist, um 100 Theile Eisen in Eisenoxydul zu verwandeln,
als 100 Theile Natrium zum Alkali zu machen; und doch hat der Sauer-
stoff eine unendlich vielemal gröfsere Verwandtschaft zum letztern als
zum ersteren.*"
Worin lag das Unbegründete, was Berzelius hier tadelt, und worin
liegt die Berichtigung? Man hatte die Ungleichheit des Gegensatzes, ver-
möge deren z. B. bevnahe dreymal soviel metallisches Natrium in die
Zusammensetzung des Natron eingeht, als wieviel Sauerstoff darin ist, —
verwechselt mit der Stärke des Gegensatzes, die zwischen Eisen und
Sauerstoff sehr viel geringer ist, obgleich nur wenig mehr als dreymal
soviel Eisen, verglichen mit der Menge des Sauerstoffs, im Oxydul steckt;
so dafs die Verhältnisse der Bestandtheile im Natron und im Eisenoxydul
beynahe die nämlichen sind. Oder kurz, der Grad der Ungleichheit ist
in dem Beyspiele fast einer und derselbe; hingegen der Grad der Stärke
ist für diese Gegensätze höchst verschieden.
Offenbar nun fällt es der Chemie sehr viel leichter, den Grad der
Ungleichheit, als den der Stärke zu bestimmen. Jenes thut sie durch
die Zahlen für die Verhältnisse in den Verbindungen; aber die Stärke
kann sie eigentlich nicht messen; sie erkennt dieselbe nur ungefähr;
und Berzelius sagt in der angeführten Stelle geradezu : [009] „ Wir
haben keine Mittel zu einer sichern Vergleich/eng zwischen den Affinitäts-
stufen."
Obgleich die Chemie durch ihre Verhältnifszahlen den Grad der
Ungleichheit des Gegensatzes anzeigt: so ist es doch nicht leicht, ihre
Angaben richtig zu verstehen. Denn sie redet von mehrern Verhältnissen,
worin sich ein Stoff mit dem andern verbinden könne. Welches unter
den mehrern ist nun der wahre Grad der Ungleichheit? Hierüber ein
Beyspiel. Die bekannteste Verbindung des Schwefels mit dem Sauerstoffe
ist die Schwefelsäure. Als eine Modification derselben erschien die schweflichte
Säure; späterhin kam noch die unterschweflichte Säure zum Vorschein.
Von der sogenannten Unterschwefelsäure, einer Mischung aus der schwef-
lichten und der Schwefel -Säure, brauchen wir hier nicht zureden. Unter
jenen dreyen aber ist die schwerlich te Säure, worin Sauerstoff und Schwefel
sich zu gleichen Theilen verbinden (wenn wir einen, schwerlich genauen,
Decimalbruch vernachlässigen dürfen), diejenige, welche dem Gegensatze
entspricht, der also hier ein gleicher Gegensatz ist. Das läfst sich im
vorliegenden Falle aus den Versuchen erkennen. Nämlich die wasserfreye
Schwefelsäure wird vom Schwefel, den man ihr zusetzt, zerlegt; der letztere
oxydirt sich, und es bildet sich schweflichte Säure. Die unterschweflichte
Säure aber läfst sich gar nicht isolirt darstellen; sie läfst, wenn es unter-
nommen wird, ihr Übermafs an Schwefel fahren. Aber früherhin, ehe
man die wasserfreye Schwefelsäure kannte, war diese Zusammenstellung
nicht deutlich. Denn die gemeine Schwefelsäure enthält Wasser, welches
ihr so vest, in so entschiedener chemischer Verbindung angehört, dafs
davon noch das Krystallisations -Wasser, mit welchem sie bey 40 erstarrt,
zu unterscheiden ist. Aus der gemeinen Schwefelsäure also konnte man
* Berzelius Chemie, 2. Theil, S. 703.
icq I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
den wahren Gegensatz des [610] Schwefels und Sauerstoffs nicht be-
urtheilen, weil ihr Zusammenhang nicht blofs von diesen beyden Bestand-
teilen, sondern auch vom Wasserstoffe abhängt.
Wenn nun in andern Fällen die Thatsachen nicht so vollständig, wie
hier (bey Berzelius) vor Augen liegen, wie leicht kann ein Naturphilosoph,
auch wenn er von richtigen Grundsätzen ausgeht, zu irrigen Deutungen
des Gegebenen verleitet werden !
Was ferner die übrigen Verhältnisse anlangt, aufser dem einen gesetz-
mäfsigen, welches dem Grade der Ungleichheit entspricht: so können die-
selben, falls sie bestimmte Verhältnisse seyn sollen, wohl kaum von etwas
anderem so entscheidend abhängen, als von der mittelbaren Attraction.
Denn der Begriff, dafs mit einem Elemente A sich mehr von B, oder
umgekehrt, mit B mehr von jenem, als gemäfs dem Grade der Ungleichheit,
verbunden hat, — dieser Begriff findet, sowiel wir sehen, keine Gränze,
wobey seine Anwendbarkeit stehen bleiben müfste. Ein Mehr oder
Weniger kann ins Unbestimmte wachsen oder abnehmen. Dagegen läfst
es sich begreifen, dafs jedes Element der Art A oder B vermöge der
mittelbaren Attraction (§. 342) sich noch ein neues, ihm gleichartiges, bey
dargebotener Gelegenheit aneigne; und alsdann wird die Anzahl der
Elemente multiplicirt werden.
Wenden wir dies auf das vorhergehende Beyspiel an: so hat in der
unter schweflichten Säure jedes Element Schwefel, welches schon vorhin in
der schweflichten enthalten war, sich noch ein Element Schwefel heran-
gezogen, welches jedoch mit dem Ganzen nur mittelbar, und folglich
schwach, vereinigt ist. Die Schwefelsäure zeigt nicht genau das Umgekehrte
hievon. Wir würden in ihr doppelt soviel Sauerstoff, als in der schwef-
lichten, vermuthet haben; aber die Erfah-[6l ijrung lehrt, dafs zwey Ele-
mente des schon vorhandenen, nur zusammengenommen eins vom hinzu-
kommenden Sauerstoffe vesthalten konnten. Wir müssen also glauben,
dafs, indem jedes vorhandene Element Sauerstoff im Begriff war, ein neues
heranzuziehn, eine zu starke Repulsion entstand, die von zweyen nur einem
erlaubte, in der Verbindung zu bleiben.
Auch so noch sind die rationalen und dabey sehr einfachen Ver-
hältnisse begreiflich. Denn sollte das Verhältnifs gröfsere Primzahlen er-
fordern, oder gar irrational seyn: so müfste die erwähnte Repulsion von
sehr vielen Elementen zugleich bestimmt werden; und dann entstünde die
Frage, wie deren so viele auf Einem Pnncte hätten beysammen seyn können,
als ihre Zusammenwirkung ivihde erfordert haben ? Dies scheint eine un-
beantwortliche Frage zu seyn; und dann sind die bestimmten Proportionen
nothwendig, wie die Erfahrung es lehrt.
§• 424-
Die bestimmten Proportionen, welche sich auch in den Sättigungs-
Capacitäten der Säuren u. s. w. zeigen, veranlassen sehr allgemeine Be-
trachtungen, welche in das Ganze der Lehre von der Materie zurück-
greifen, und wobey unsre ersten Principien von neuem können geprüft
werden.
5-Abschn.Umrissed.Naturphil. 2.Abth. Analyt.Unters. 5. Cap. Bemerkungen z. Chemie. 351
Noch in frischem Andenken ist Berthollet's chemische Statik; ein
Werk, das sich Jedem empfohlen haben wird, der philosophischen Geist
auch ohne System anerkennt und schätzt. Darin wird der Begriff der
chemischen Masse zum Grunde gelegt; ein zusammengesetztes Verhältnifs
der Quantität und der Sättigungs - Capacität. Je gröfser die Energie einer1
Verwandtschaft, desto mehr wirkt eine Säure oder ein Alkali; aber auch
je Mehr davon vorhanden ist, desto [612] gröfser soll die Wirkung aus-
fallen. Mit dieser Behauptung widerstritt Berthollet nicht blofs die
frühere Lehre von der Wahlverwandtschaft, nach welcher eine Säure
durch eine andre geradezu ausgestofsen , und aufser alle Wirksamkeit ge-
setzt werden sollte, selbst wenn sie noch zugegen war: sondern er gerieth
auch in Streit mit Hauy, dem Mineralogen, der seine Aufmerksamkeit
vorzugsweise auf Krystallisation richtete, und sich bewogen fand, solche
Bestandteile der Körper, welche auf dieselbe keinen Einflufs verriethen,
als zufällig bevgemischt anzusehen.* Nach dieser Lehre, sagt Berthollet,
würde es nur chemische Verbindungen in bestimmten Proportionen geben.
Und nun führt er eine Menge von Beyspielen und Zeichen an, welche
das Gegentheil bezeugen sollen; unter andern die Verglasungen und die
durchsichtigen Mineralien, welche Oxyde enthalten; aber auch Legirungen
von Metallen, und Salze.
Es ist nicht die Sache eines Layen in der Chemie, zu beurtheilen, wie
weit die Wiederlegung reicht, durch welche die später ausgebildete Chemie
die Behauptungen Berthollet's wenigstens eingeschränkt hat. Aber vom
Standpuncte allgemeiner Untersuchungen angesehen , mufs Berthollet
Denjenigen die einzig natürliche und richtige Auffassung darzubieten
scheinen, welche die Materie ursprünglich als ein Conti?tuum betrachten.
Es liegt nämlich bey ihm überall der Gedanke zum Grunde: man
könne die Materie beliebig verdichten und verdünnen; daher auch beliebig
Mehr oder Weniger davon gegen ein bestimmtes Quantum einer andern
Substanz in chemische Wirklichkeit versetzen; und dem gemäfs würden
gar keine Absonderungen und Ausschei-[6i3]dungen erfolgen, wenn nicht
besondere, und gewissen Verbindungen eigentümliche Neigungen dazu
kämen, ihrer Cohäsionskraft nachgehend sich zu verdichten (wie etwan
Schwefelsäure und Barytj, oder sich zu verflüchtigen. Wo diese Umstände
nicht hinzu kommen, da sollen nach ihm die sämmtlichen, einander gegen-
wärtigen, Substanzen nach der Stärke und Menge auf einander wirken.
Und hiebey ist die Voraussetzung diese: es sey keine Schwierigkeit in der
Frage, wie viele Elemente einander gegenzvärtig seyn können .J Eine Säure,
ein Alkali, kann ja mehr oder weniger concentrirt angewendet werden!
Je concentrirter, desto mehr befindet sich davon in jeder Stelle, und wirkt
an dieser Stelle. Was werden nun Diejenigen hiegegen einwenden, welche
die Materie als ein Continuum betrachten, welches, wie sehr auch ver-
dichtet oder verdünnt, doch überall seinen Raum gleichmäfsig ausfüllt?
Sie können, wie es scheint, nichts einwenden. Sie müssen also auch er-
* Stattque chimique, I. p. 438.
1 die Energie seiner SW.
t.z.2 !■ Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
warten, dafs, wenn irgendwo mehr oder weniger Sauerstoff mit irgend einer
Basis zusammentrifft, hieraus eine bleibende Verbindung entstehn werde,
in welcher die Sauerstoffmenge von dem Zufalle abhängt, dafs derselbe
im Augenblicke der Verbindung mehr oder weniger concentrirt war.
Dasselbe gilt vom Schwefel, und von andern Substanzen in Hinsicht
deren gleichwohl die Lehre von den bestimmten Proportionen einen hohen
Grad von Ausbildung erlangt hat.
Auffallend konnte jedoch, selbst unabhängig von neuern Entdeckungen,
dieses gefunden werden, dafs Berthollet die Kraft der Cohäsion als
etwas der chemischen Verwandtschaft ganz Fremdartiges dazwischen treten
läfst. Wer den Wärmestoff verschmäht, der wird eben so auch die Elasti-
cität, welche in andern Fällen die Ausscheidungen bewirken soll, als etwas
Fremdes betrachten müssen. Und auch hiegegen werden Jene, [614]
welchen die Materie ein Continuum ist, nichts einwenden, noch etwas
Besseres in Vorschlag bringen können.
Ihnen erscheint ganz natürlich die chemische Affinität als eine innere,
qualitative Kraft; weil sie von der besondern Natur jeder Substanz, z. B.
des Sauerstoffs, oder des Kaliums, oder was man will, auf eigene Weise
abhängt. Hingegen die Cohäsion scheint die Wirkung einer auf blofse
Raum - Erfüllung gerichteten Kraft, demnach allgemein der Materie schon
als solcher zugehörig;. Dergleichen Ansichten sind die Folgen logischer
Abstractionen, wo gründliche Untersuchung fehlt. Berthollet sagt aus-
drücklich, man habe die Wirkungen der Affinität, wodurch Neutralisirung
entstehe, verwechselt, mit jenen Absonderungen durch Cohäsionen und Ex-
pansionen. Freylich hatten Die, welchen er Verwechselung vorwirft, keine
genauere Kenntnifs vom Zusammenhange der innern Zustände, worin die
Neutralisirung liegt, und der äufseren, welche Ausscheidung oder Cohäsion
mit sich bringen. Es war immer ein Fortschritt im Denken, fürs erste
einmal die Begriffe zu sondern; aber dieser Fortschritt führte eben nicht
viel weiter, als die logische Trennung der Seelenvermögen in der Psycho-
logie. Berthollet dachte scharfsinniger als seine Vorgänger, und viel-
leicht auch als seine Nachfolger; aber es gehört viel Nachdenken und
viel Erfahrung dazu, bevor man es dahin bringt, dafs beydes gehörig zu-
sammentrifft.
Viel Wahres scheint immer an seiner Lehre zu bleiben. Eine Säure
oder ein Alkali, wenn die Verdünnung nicht gar zu weit getrieben wird,
können ohne grofsen Fehler angesehen werden als überall gegenwärtig in
dem Wasser, womit man sie verdünnt, weil das Wasser den Gegensatz
gegen jene auch in diejenigen Orte überträgt, wo kein Theil der Säure
oder des Alkali gegenwärtig ist (§. 342 — 344)- So lange nun [615] nicht
eine veste Gestalt sich bildet, mögen in der That alle Säuren und alle
Alkalien, die in einer Flüssigkeit zugleich sich befinden, auf einander
wirken; demnach ihre innern Zustände durchaus gegenseitig bestimmen.
Von bestimmten Proportionen kann wohl kaum eher die Rede seyn, bevor
die Absonderuno; und Gestaltung wirklich eintrit. Bev Vergasungen durchs
Feuer sind ohne Zweifel alle Stoffe einer gröfsten möglichen Expansion
gewaltsam ausgesetzt; zugleich sind die innern Zustände, worin sie sich
gegenseitig versetzen könnten, möglichst gehemmt durch den Wärmestoff;
5. Abschn. Umrisse d.Naturphil. 2. Abth. Analyt.Unters. 5. Cap. Bemerkungen z. Chemie. 353
hier können sich aus gewissen Arten von Elementen schwerlich abgeson-
derte Moleculen bilden; daher das Ganze beym Erkalten, wo die Cohäsion
der Kieselerde vorherrscht, eine gleichartige Masse darstellt. Dies scheint
ein ganz besonderer Fall zu seyn, den man mit den andern Fällen
schwerlich wird vermischen dürfen, obgleich Berthollet sich auch hierauf
beruft.
Wie vielen Antheil der eben erwähnte übertragene Gegensatz an
einigen von den Thatsachen, welche gewöhnlich auf Rechnung der grofsen
Theilbarkeit der Materie kommen , vielleicht haben möge : dies ist un-
bekannt ; daher läfst sich über die mögliche Verdünnung der Materie
nichts anderes sagen, als dafs sie desto weiter reichen werde, je weiter
vorher die Verdichtung ging. Unter diesen Umständen hätte man auch
kaum wagen können, gegen Berthollet Einwendungen aus allgemeinen
Grundsätzen herzuleiten. Innerhalb der Gränzen unserer Erfahrung würde
man immer nur solche Erscheinungen erwartet haben, welche aus un-
bestimmter und wandelbarer Dichtigkeit der Stoffe hervorgehn konnten.
Wenigstens wenn soviel veststeht : der Sauerstoff könne sich in mehr als
Einem Verhältnifs mit Schwefel, oder mit Stickstoff, oder mit Phosphor,
oder mit Kohle u. dergl. verbinden: — wer würde dann die [616] Mittel-
stufen zwischen diesen Verhältnissen a priori auszuschliefsen wagen? Wenn
der Sauerstoff dichter liegt als nöthig (würde man denken), um den Schwefel
zu sättigen, so kann sich mehr mit dem letzteren verbinden; wobey nur
die Wirkung des Schwefels auf jene um desto schwächer ausfallen, die
chemische Anziehung um desto geringer seyn mufs, je mehr sie sich auf
die Menge des Sauerstoffs vertheilt. Die Gestaltung der Moleculen aber
(möchte man hinzufügen) wird sich jedesmal darnach einrichten, mehr
oder weniger Sauerstoff mit dem Schwefel zu vereinigen, je nachdem das
vorhandene Quantum es erfordert.
Allein bey näherer Betrachtung, wenn man den Lehrsatz schon er-
fahrungsmäfsig kennt, dafs die Sauerstoffmengen als Vielfache nach ganzen
Zahlen fortzuschreiten pflegen, gelangt man leicht zu der Frage: ob denn
wohl jede Gestaltung mit viel oder wenig Sauerstoff gleich vest seyn könne?
Und nun scheint es allerdings, dafs wohl nur eine, welche genau dem Grade
des Gegensatzes zwischen den verbundenen Elementen entspreche, und die
gröfste mögliche Attraction derselben ; herbey führe, als vest betrachtet wer-
den könne. Gesetzt aber, es komme' mehr Sauerstoff hinzu: so wird1 der-
selbe zwar einzudringen suchen in die Elemente der Basis: allein das
schon gebildete Ganze wird dadurch aus doppeltem Grunde in Repulsion
seiner Bestandtheile versetzt: theils weil die Basis, — vorausgesetzt, sie
habe das Maximum ihrer Selbsterhaltung entweder ganz oder doch bey-
nahe erreicht, — nicht mehr aufnimmt; theils wegen der Repulsion unter
den Elementen des Sauerstoffs selbst. Demnach hat die vorige Vesturkeit
gelitten; und es mufs ein'; Bestreben vorhanden sein, sie wieder zu ge-
winnen, da sie dem ursprünglichen Verhältnisse der Qualitäten am meisten
angemessen ist. Dies Bestreben treibt die neuen, eingedrungenen Ele-
[bi/Jmente hinweg, sobald irgend eine dazu günstige Bewegung in der
ganzen Masse entstehen kann. Allein von den schon vorhandenen, mit
der Basis aufs Beste verbundenen Elementen überträgt sich doch die An-
Herbart's Werke. VIII. 23
•> ca I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Ziehung auf neu hinzukommenden Sauerstoff. Wie viel mufs nun hinzu-
treten, damit wiederum eine wenigstens gleichmäfsigc Verbindung entstehe?
Offenbar mufs jedes Element des schon vorhandenen Sauerstoffs gleichviel
wie die übrigen mit sich vereinigen. Das heifst, — wie die Erfahrung
bestätigt, — die ursprüngliche Sauerstoffmenge mufs nach einer ganzen
Zahl multiplicirt werden. So bleibt nun die erste, möglichst veste Ge-
staltung beybehalten; nur vervielfacht sich in ihr jedes Element des ge-
nannten Stoffs. Angenommen dagegen, es sey die Basis, die sich ver-
vielfache: so wird dies soviel seyn, als wäre die Zahl für den Sauerstoff
dividirt worden, welches seltener vorzukommen scheint.
So sind die Sprünge, oder die discreten Gröfsen, wodurch die Sauer-
stoffmengen bestimmt werden, begreiflich, weil wir die Materie nicht für
ein Continuum halten, sondern sie als bestehend aus Elementen in be-
stimmter Anzahl betrachten. Und hier, wo eine bekannte Misdeutung der
Geometrie uns den Weg versperren wollte, ist es sehr unerwartet die Er-
fahrung, die uns Hülfe anbietet. Aber freylich könnten wir die Hülfe uns
nicht zueignen, wenn nicht schon längst die Lehre vom Räume sich jener
Misdeutung entgegengesetzt hätte.
Im Grunde läuft diese ganze Betrachtung in die ersten Sätze von
der Configuration der Materie zurück. Diejenigen, welchen Materie ein
Continuum seyn soll, können überhaupt den starren Körper nicht be-
greifen; es siebt für sie gar keinen Grund weder für bestimmte Ver-
bindung, noch für bestimmte Gestaltung. Das heifst, [618] es giebt für
sie überhaupt keine Naturphilosophie. Wo Alles fliefst, da gelangt Nichts
zum Stehen.
Ein Punct bleibt auch nach dem Vorstehenden noch unaufgeklärt *
zurück. Es ist die Bestimmtheit derjenigen Proportionen, welche sich auf
die Volumina der Gasarten beziehen. Gemäfs der gewöhnlichen Meinung,
und gestützt auf eigene Gründe (§. 391) haben wir angenommen, dafs die
Gasform von der Einhüllung und Isolirung der Elemente durch die Sphären
des Caloricums herrühre. Die Verhältnisse des Volumens können demnach
zunächst nur darin ihren Grund haben, dafs eine Gasart mehr als eine
andre geeignet ist, sich mit vielem Caloricum zu umhüllen, bevor sich
zwischen ihr und den andern das Gleichgewicht herstellt, was alle Gase
eingehn müssen, um dem Drucke der Atmosphäre den gleichen Wider-
stand zu leisten. Wenn nun etwa bey der Verbindung des Wasserstoff-
gases mit dem Sauerstoffgase eine höchst einfache Proportion des Volumens
vorkommt, die aber von den Gewichtsmengen, welche wir als das Maafs
der Massen betrachten, weit abweicht: so scheint hier eine Bestimmung
einzutreten, welche der Verbindung beyder Stoffe ganz zufällig ist. Dies
führt auf die Frage: ob vielleicht die Proportion des Volumens beyder
Gasarten noch bleiben würde, wenn man durch Condensation das Ca-
loricum mehr und mehr herausprefste ? Und ob endlich beyde Stoffe,
ohne ganz und gar vom Caloricum entblöfst zu seyn, Wasser bilden wür-
den, indem sie noch immer jene Proportion beybehielten ? Dann wäre
Caloricum ein nothwendiger Bestandtheil des Wassers; so etwan wie Wasser
1 nach dem Vorstehenden unaufgeklärt SW („noch" fehlt).
5. Abschn. Umrisse d.Naturphil. 2. Abth.Analyt. Unters. 5. Cap. Bemerkungen z. Chemie. 355
bekanntlich die erste Basis jeder flüssigen Säure ist, da man keine Säure
wasserfrey darstellen kann. Die Attraction zwischen Wasserstoff und Sauer-
stoff, und die Configuration der Moleculen des Wassers hinge dann zum
Theil vom gebundenen Caloricum ab. Doch wir [6 ig] müssen hier eine
Dunkelheit anerkennen; und können sehr zufrieden seyn , wenn unsre
vorigen Bemerkungen die Prüfung aushalten.
8- 425-
Im Begriff, unsre Blicke auf die Physiologie zu richten, erwähnen
wir nochmals der andern Dunkelheit, in welcher die Chemie die Frage
vom Ursprünge mancher Stoffe gelassen hat, die sich in organischen Pro-
ducten vorfinden, nachdem sie chemisch behandelt wurden. Natürlich
kann Niemand diese Dunkelheit erleuchten, wenn nicht die Chemie es
selbst thut. Und ihre jetzige rege Thätigkeit hat auch schon den Punct
ergriffen, wo man zunächst den Schlüssel des Geheimnisses suchen kann;
nämlich den Stickstoff der Atmosphäre, in welchem die Organismen gar
Manches finden mögen, das wir darin nicht vermuthen.
Gerade wie das Wasser uns im gemeinen Leben das Mildeste, am
wenigsten scharf Gezeichnete aller Dinge zu seyn scheint, — nur ge-
schickt, um stärkere Stoffe zu verdünnen und ihre Wirkungen zu mäfsigen,
— so erscheint uns unter den Gasarten das Stickgas nur begabt mit nega-
tiven Eigenschaften. Freylich verräth dem Chemiker auf der einen Seite
die Salpetersäure, auf der andern das Ammoniak, und neuerlich noch das
aus dem letztern entstehende Amalgama, dafs er hier mit einem Stoffe
von ganz besondern Eigenthümlichkeiten zu thun hat. Aber unsre Ver-
gleichung mit dem Wasser soll noch etwas mehr andeuten. Dieses näm-
lich besteht nicht blofs aus zwey sehr mächtigen Stoffen, sondern es mischt
sich mit Allem, verunreinigt sich durch Unzähliges, was nur die feinste
Scheidekunst darin wieder findet. Die Neigung nun, das Verschiedenste
in sich aufzunehmen, und für die gewöhnliche Beobachtung völlig un-
kenntlich zu machen, kann [620] in einer höhern Potenz dem Stickgase
eigen seyn, sobald wir uns die Vermuthung erlauben, dafs es aus stark
entgegengesetzten Bestandteilen zusammengesetzt sey, die nur unmerklich
aus dem Zustande der Neutralität herauszugehn brauchen, um das Mannig-
faltigste in sich zu verlarven, und es eben so l unmerklich bey Gelegen-
heit an die Organismen wieder abzusetzen. Wie wollte auch sonst die
Atmosphäre sich so gleich bleiben!
Zwey Dinge müfsten wir kennen, um Zusammenhang in unser em-
pirisches Wissen zu bringen : die Atmosphäre, und die Sonne !
1 in sich zu entlarven, und es so eben so . . SW.
= 3 *
ir5 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Sechstes Capite 1.
Philosophische Beleuchtung der physiologischen Grundbegriffe.
§• 426.
Der schwerste Theil unseres Geschäffts ist noch übrig. Allein wir
dürfen nur den Faden der vorigen Betrachtungen vesthalten und benutzen.
Haben wir den starren Körper richtig begriffen, so erklärt sich auch der
lebende, sobald die Voraussetzung des ersteren gehörig abgeändert wird.
Und dies ist im §. 364 schon geschehen. Im Gebiete der Erfahrung ver-
setzen wir uns hier zuerst auf den niedrigsten Punct, wo das Thierleben
sich vom Pflanzenleben noch nicht scheidet. Die Untersuchung wird uns
von dort allmählig weiter führen.
Wenn reines Wasser verdunstet: so kann niemals etwas anderes als
Wasser übrig bleiben. Enthält aber das Wasser irgend welche fremdartige
Theile: so werden diese beym Verdunsten, falls sie zurückbleiben, all-
mählig einander näher rücken. Sind sie ungleichartig: [621] so treten
sie bey der Berührung (das heifst hier, beym Eintrit ins unvollkommene
Zusammen) vollends zusammen, und vereinigen sich auf chemische Weise
(§. 2Ö9). So der Kalk, welchen das Wasser beym Kochen fallen läfst.
Sind sie gleichartig, und ohne alle Bestimmung innerer Zustände: so er-
folgt gar nichts. Sind sie aber gleichartig, und aus früheren Verbindungen
in irgend welchen unter sich ungleichartigen Zuständen der Selbsterhaltimg:
so treten sie bev der Berührung zwar zusammen, allein ihre begimiende
Durchdringung ist mit einer gegenseitigen Hemmung ihrer innern Zustände
verbunden; daher wird sie verzögert, aufgehalten, und es erfolgen Oscillationen,
wie im §. 365 schon gezeigt worden.
Sind nun in dem umgebenden Wasser (wie zu vermuthen) nicht blofs
zwey solche Elemente, sondern deren viele; und diese einander nahe ge-
nug': so erfolgt nach §. 366 ein Herbeyziehen durch mittelbare Attraction.
Gesetzt, die Elemente a, b, c, d seyen in einerley innerem Zustande,
hingegen «, ß, y, d in einem entgegengesetzten; auch seyen a und a
zuerst in beginnende Durchdringung versetzt, während b mit a und ß
mit « in Berührung sich befinden; desgleichen c mit b, und -/ mit ß u. s. w. :
so entsteht allmählig in « ein ähnlicher innerer Zustand wie in a, mit ab-
nehmender Stärke fortgepflanzt auf ß und die folgenden berührenden; des-
gleichen rückwärts in a ein ähnlicher innerer Zustand wie in «, und auch
dieser pflanzt sich fort auf b und die folgenden; daher werden b und ß
angetrieben, in a und u tiefer einzudringen; sie nehmen alsdann Theil
an den Oscillationen des a und «. ' Allein hiebey bleibt es nicht. Son-
dern (nach §. 366) die Elemente b und ß treten bald an die Stelle von
a und a. Denn sie sind von der Hemmung des älteren durch den [622]
neuen innern Zustand noch minder ergriffen, so lange der letztere auf sie
blofs mittelbar übertragen wurde; ihre Annäherung ist daher lebhafter, bis
sie unmittelbar in Berührung kommen; dagegen entsteht einige Repulsion
: des a und a S"\V.
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt.Unters. 6. Cap. Phil. Beleuchtung etc. 357
zwischen a, b, c u. s. w., desgleichen zwischen u, ß, y u. s. w., sobald ihrer
zu viele irn Fortgange dieses Processes herbeygezogen und angehäuft wer-
den (nach §. 344).
An der Stelle in dem Wasser, wo sich das Beschriebene ereignet,
ist demnach beständige Bewegung. Wie weit wird dieselbe um sich grei-
fen? Giebt es nicht irgend eine Gränze, bey der sie stehen bleibt? Irgend
eine bestimmte Form, die aus ihr hervorgeht?
Angenommen, rings um die Elemente a und a seyen, wie natürlich,
überall solche vorhanden, die ihnen gleichen, so werden in einem sphäri-
schen Räume aus den angegebenen Gründen die andern zuerst in den-
selben Ort, worin a und a den Procefs begannen, hineingezogen; dann
aber auch, eben so wie diese ersten, allmählig nach allen Radien aus dem-
selben hinausbewegt. Allein diese letztere Bewegung entfernt die Elemente
nie so ganz, dafs eins derselben sich losreifsen sollte. Erstlich sind hier
keine Gründe einer irgend bedeutenden Geschwindigkeit, sondern die Os-
cillationen richten sich nach den allmähligen Hemmungen der innern Zu-
stände in einem jeden Elemente; ferner bleibt immer ein Grund des Zu-
sammenhangs, weil jedes Element dem andern, gemäfs der ersten Voraus-
setzung, etwas Entgegengesetztes repräsentirt. Während nun in der Mitte
des sphärischen Raums noch lebhafte Oscillation ist, wird es ringsum
ruhiger. Diejenigen Elemente, welche schon von innen nach aufsen gingen,
sind mehr im Gleichgewichte ihres älteren und neueren inneren Zustandes.
Sie haben demnach nicht blofs Anziehung für einander, sondern das Re-
sultat derselben, eine be- [62 3] stimmte gegenseitige Lage, wird minder ge-
stört durch Oscillation; sie nähert sich der Vestigkeit. Und das um desto
sicherer, je mehr das Wasser fortfährt zu verdunsten. Dazu kommt, dafs
nun die in der Mitte befindlichen Elemente allmählig aus unmittelbarer
Gemeinschaft mit dem andern Wasser heraus versetzt werden; weil sie
von jenen andern umgeben sind. Schliefst sich aber die Umgebung nicht
ganz genau gleichförmig (und wie sollte sie, wenn nicht die ursprünglich
gegebene Lage der Elemente eine geometrische Gleichförmigkeit besafs?),
so bleibt hie und da die Gemeinschaft mit dem äufsern Wasser offen;
folglich geht dorthin von der Mitte aus der vorige Procefs des Herbey-
ziehens neuer Elemente noch fort; daher erneuert sich auch die Repulsion
nach allen Richtungen ; und weil dieser schon durch eine Art von vester
Umgebung eine Gränze gesetzt wurde, so mufs nun die Hülle immer
dichter und bestimmter werden, indem das Ganze von innen her wächst,
so lange es von aufsen durch die Öffnungen Nahrung einzieht.
Mag man nun untersuchen, ob diese Beschreibung gut genug ist für
ein sogenanntes Infusions-Thier. Dafs es ein Thier sey, können wir nicht
versichern; dafs aber jene mikroskopischen Gegenstände, welche der grünen
Materie vorangehn, besser den Namen von Thieren verdienen, wird wohl
Niemand unternehmen uns zu beweisen. So viel ist klar, dafs die min-
deste Reizung durch etwas Äufseres — durch Licht, Wärme, durch fremde
Bestandteile, die sich aufser jenen noch in dem nämlichen Wasser be-
finden mögen — sowohl die Bewegung als die Gestaltung abändern könne
und müsse. Beliebt sich eine Menge solcher Processe, wie beschrieben
worden, nahe der Oberfläche des Wassers, und schreitet die Verdunstung
358 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
des letztern so weit fort, dafs aus jenen Gebilden sich eine Deckung zu-
sammen-[62_i]setzen kann, die sich der Trockenheit nähert: so hören
natürlich oberwärts die freyen Oscillationen auf; die untern aber führen
aus dem Wasser immer mehr von jenen Elementen herbey; es giebt auch
jetzt noch ein Wachsen, aber von unten nach oben, welches anfängt sich
dem Pflanzen -Wachsthum zu nähern, weil die Bedingungen desselben,
nämlich Einwirkung eines feuchten Grundes von unten und der Atmo-
sphäre von oben, hier eintreten. Dabev bemerke man Folgendes:
Erstlich, der biasenförmige Körper, dessen Bildung wir beschrieben,
kann sehr leicht in eine Röhrenform übergehen, wofern die unter sich
oscillirenden und alsdann zu einer Umhüllung zusammentretenden Ele-
mente zugleich aus neuen Gründen eine gemeinschaftliche Bewegung auf-
wärts bekommen. Denn in diesem Falle kann die Ablagerung und Ver-
dichtung derer, welche den stärker oscillirenden den mittleren Platz räumen,
nur seitwärts geschehn. Doch wird die Röhre nicht nothwendig unten
offen seyn, da man keine Gründe hat, die Umhüllung für einen durch-
aus starren, nichts Neues durchlassenden Körper zu halten ; worüber bald
ein Mehreres. Dafs aber eine Bewegung aufwärts entstehe, dazu reicht
unter den zuvor angenommenen Umständen schon der Reiz hin, welchen
die Atmosphäre auf die Theile an der Oberfläche ausübt. Denn der
Gegensatz zwischen eben diesen Theilen und der Luft überträgt sich nach
unten sowohl durch die Röhre, als durch das in ihr enthaltene und
oscillirende Flüssige ; letzteres wird daher, nach den bekannten allgemeinen
Grundsätzen, herangezogen, während es in sich selbst seine Oscillation
zugleich fortsetzt, eben so, als ob es an einerley Stelle im Ganzen ge-
nommen verweilte.
Zweytens : der Unterschied zwischen der Umhüllung und dem Flüssi-
gen, was sie enthält, entsteht nicht plötz-[62,5]lich, sondern allmählig.
Die KüDe (gleichviel ob Blase oder Röhre) ist Anfangs nichts anderes als
ein Minder- Bewegtes; indem die Elemente sich einem Gleichgewichte
unter den innern Zuständen eines Jeden von ihnen schon etwas mehr
genähert haben, als jene andern, die in der Mitte schweben. Nur da-
durch, dafs immer neue Elemente durch Öffnungen oder Poren herbey-
kommen, und eben deshalb auch immer mehrere seitwärts getrieben wer-
den, nimmt der Unterschied zwischen der sich verdichtenden Hülle und
dem Flüssigen zu. Dennoch würde er hiedurch allein nie so bestimmt
und schneidend werden, wie etwan in deutlichen Adern thierischer Kör-
per; daher mufs man die Anfänge der Gefäfsbildung nicht verwechseln
mit den höhern Stufen derselben.
Es wird von selbst einleuchten, dafs die Absicht der vorstehenden
Auseinandersetzung nicht sowohl darauf gerichtet war, Infusionsthiere zu
erklären (deren Beschaffenheit immer vorzugsweise von den zur Infusion
gebrauchten, schon organischen Stoffen abhängen wird), als vielmehr da-
hin, über die Ernährung der Pflanzen und Thiere, welche im Zellgewebe
vor sich geht, die einfachsten Begriffe darzubieten.
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt. Unters. 6.Cap. Phil. Beleuchtung etc. 35 g
Dafs sich Pflanzen und Thiere aus Röhren zusammengesetzt zeigen,
deren Wände wiederum kleinere Röhren enthalten, ist bekannt genug.
Aber so lange das Flüssige, was darin umläuft, blofs an den innern
Wänden vorüberstreicht, ist gar keine organische Verbindung vorhanden.
Überhaupt kann das Flüssige, wenn es ganz und gar flüssig, das heilst,
gestaltlos ist, und das Veste, wenn es völlig starr ist, und sich gar keiner
innern Bewegung und Veränderung darbietet, dem organischen Leben nur
fremdartig seyn. Auch kann [626] dadurch kein Wachsen und Gedeihen
bewirkt werden. Wenn die Nahrungssäfte blofs umherlaufen in den
Röhren, so ernähren sie nichts. Irgendwo mufs die Röhre aufhören,
blofser Canal zu seyn;* ihr Flüssiges erreicht erst da seinen Zweck, wo
es anfängt, in das Veste überzugehn. Und wenn jeder Theil im Organis-
mus Nahrung braucht, so ist nirgends eine Stelle, wo nicht in der That
Flüssiges aufgenommen würde zwischen das Veste. Und wenn aus den
kleinsten Keimen durch allmählige Ernährung die gröfsten organischen
Körper entstehen, so ist alles Veste an ihnen irgend einmal flüssig gewesen.
Dafs aber auch ohne eine gegebene veste Grundlage, ohne irgend
welche vorläufige Haltungspuncte, aus dem, zvas gänzlich flüssig schien, sich
allmählig das Veste einer Blase, Röhre, Zelle bilden kann: dies ist wohl
nirgends auffallender als bey den sogenannten Infusionsthieren ; und des-
halb haben wir an sie zuerst erinnert. Übrigens wird nicht leicht Jemand
glauben, alle Zellen ausgewachsener Pflanzen und Thiere seyen vollständig
in den Keimen präformirt gewesen; was anderes aber folgt daraus, als
dafs die Bildung des Zellgewebes eben sowohl eine neue Bildung aus
dem Flüssigen sey, wie sich in dem Fleische, wodurch Wunden ausheilen,
neue Gefäfse erzeugen.
In dem Vorstehenden liegt nun ein Vorschlag zur Erklärung dieser
Umbildungen, welche im Zellgewebe bey der Ernährung vor sich gehen.
Dafs darin noch nichts von den besondern Bestimmungen enthalten seyn
konnte, wodurch sich in einzelnen Thieren, Pflanzen, oder Theilen der-
selben die Ernährung auszeichnet und [627] unterscheidet, dies versteht
sich von selbst, da es blofs um die allgemeinsten Begriffe zu thun war.
Man wird hieraus die Erweiterung und Vergröfserung der organischen
Gebilde begreifen, da in ihnen alles oscillirt, und selbst die vesten Theile
nur eine relative Vestigkeit, aber keine vollkommene Starrheit (wenn nicht
vielleicht in den hornartigen und völlig verknöcherten Theilen) besitzen.
Man wird sich nicht mehr wundern über die grofse Gewalt, welche die
Wurzeln der Pflanzen ausüben, indem sie den Boden durchgraben und
bedeutende Hindernisse beseitigen. Wo alle Elemente eines Körpers in
Bewegung sind, und zwar nach einem Gesetze, das in jedem einzelnen
Elemente auf eigene Weise bestimmt ist, da wird leicht auch das Ganze
in der Erscheinung sich in einem hohen Grade wirksam zeigen. Man
wird einsehen, weshalb die Pflanze aufwärts strebt; wir sehn ja an welken-
den Pflanzen, dafs sie sich aufrichten, wenn sie nach langer Dürre be-
* Vielleicht auch dient der ohne Unterbrechung fortgehende Canal, wenn es
einen solchen giebt, nur für den Kreislauf dessen, was zur Ernährung überflüssig ist.
Der berühmte Streit über die Verbindung der Arterien und Venen gehört nicht hieher.
^5o I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 1829.
gössen werden; offenbar haben sie aus dem Boden die Feuchtigkeit an-
gezogen, und dieser Zug der Säfte von unten her gab von Anfang an
dem Gewächs die Neigung, sich nach oben hin auszudehnen. * Wir wer-
den ferner nicht mehr zweifeln , dafs in warmblütigen Thieren die grofse
Gewalt, welche nöthig ist, um das Blut, — eine zähe Flüssigkeit, — durch
unzählige höchst enge und krumme Canäle zu treiben, — nicht als blofs
mechanischer Druck des Herzens, sondern gröfstentheils als Anziehung
betrachtet werden mufs, die gerade so vom Zellgewebe ausgeht, wie
vom Stamm der Pflanze die Attraction der Säfte sich bis in die Wurzel
fortpflanzt. Deshalb und mit Rücksicht auf [628] das Herbeyziehn solcher
Säfte, die in gröfseren Röhren darauf warten, in die engsten Zellen ein-
geführt zu werden, ist schon im §. 366 von einer fadenförmigen Art des
Zusammenhangs gesprochen, wobey die Attraction durchs Flüssige selbst
wie an einer Schnur fortläuft. In Ansehung des Herzens und des Blut-
umlaufs kommt es hier nicht so sehr darauf an, die Frage nach der
Gröfse der Kraft zu entscheiden, welche wohl möglicherweise oder wahr-
scheinlich das Herz besitzen möge : sondern darauf, dafs die Attraction,
welche im Zellgewebe beginnt, gar nicht ausbleiben kann, wofern unsre
obigen Voraussetzungen hier zutreffen.
- §. 428.
Das Bisherige bezieht sich nur noch auf Austausch innerer Zustände
der Elemente, und daher rührende äufsere Gestaltung. Eigentliche Assi-
milation erfordert mehr; sie setzt voraus, dafs die herangezogenen, zur
Nahrung dienenden Elemente veredelt werden durch neue innere Zustände,
die sie noch nicht besafsen.
Zum blofsen Wachsthum ist, wie wir gesehen haben, diese Verede-
lung nicht durchaus nothwendig; und bey Pilzen und Schwämmen mag
sie wohl auch schwerlich statt finden. Allein vorausgesetzt, das Wach:en
sey im Gange, schon durch diejenigen innern Zustände, welche der dar-
gebotenen ernährenden Flüssigkeit gemein sind mit dem wachsenden Organis-
mus: so kann es nicht fehlen, dafs nähere Bestimmungen hinzukommen,
sobald der rohere Nahrungsstoff in Berührung trit mit den Elementen des
schon gebildeten lebenden Körpers.
Jede freye Configuration der Materie erfolgt, wie wir längst wissen,
gemäfs den innern Zuständen der Elemente. Jeder Form einer Pflanze
oder eines Thiers gehört demnach ein System innerer Zustände verbunde-
[Ö29]ner Elemente; und jede Knospe, woraus die Form des ganzen Ge-
wächses sich entwickeln kann, mufs dies System innerer Zustände schon
in sich tragen.
Trit nun der Nahrungssaft in die Knospe: so dehnt sie sich aus,
und zugleich überträgt sie die ihr eigenthümlichen Zustände, vermöge des
repräsentirten Gegensatzes ('§. 344), in die Elemente des Saftes, so weit
dies möglich ist.
* Der Gegensatz des Würzelchens und des Knöspchens in keimenden Saamen
mag auf die innern Zustände, die nach einer passenden Gestaltung unter äufsern Be-
dingungen streben , sich gründen ; dies ist eine andre Frage.
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt. Unters. ö.Cap. Phil. Beleuchtung etc. ^6l
So weit es möglich ist! Aber hier entstehn zwey Bedenken zugleich.
Erstlich : diese Elemente des Nahrungssaftes , in welchen Verbindungen
sind sie denn früher gewesen, bevor sie hier anlangten ; und welche innere
Zustände bringen sie mit aus ihren vorigen Verhältnissen ? Wie passen
dieselben zu der neuen Bildung, die sie jetzt empfangen sollen ? — Um
darauf zu antworten, müfste jedes Element, das wir Kohlenstoff, oder
Wasserstoff, oder Sauerstoff, oder Stickstoff nennen, seine ganze Geschichte
erzählen, so lange es für dasselbe eine Geschichte gab.
Zweytens : sind denn alle Elemente, die wir mit einerley chemischen
Namen belegen, auch wirklich gleich in ihrer ursprünglichen Qualität? —
Wir erkennen Alles nur nach Verhältnissen; was wir Sauerstoff oder
Wasserstoff nennen, das zeigt sich so in den Experimenten; allein wenn
diese uns gewisse Merkmale für einen Gattungsbegriff dargeboten haben,
so folgt noch gar nicht, dafs nicht specifische Unterschiede hinzukommen
könnten, die sich in den bekannten chemischen Verhältnissen nur nicht
verriethen. Angenommen, wie die Chemie befiehlt, der Diamant sey reiner
Kohlenstoff: so folgt noch nicht, dafs aller Kohlenstoff dazu tauge, um
als Diamant zu glänzen. Angenommen, in allen ätherischen Ölen stecke
Wasserstoff: so ist noch immer zweifelhaft, ob derjenige Wasserstoff, welcher
[030] sich im Terpentinöl befindet, auch geschickt seyn wird, einen Be-
standtheil des Rosenöls abzugeben.
Nur soviel ist klar, dafs zwischen Pflanzen und Thieren sich in
diesem Puncte ein grofser Unterschied hervorthut. Als Nahrung nimmt
die Pflanze, was der Boden und die Atmosphäre ihr bieten; aber das
Thier ist nicht so leicht befriedigt. Es wählt unter Pflanzen, während
es die rohen Stoffe beynahe gänzlich, wenigstens als Nahrungsstoffe, ver-
schmäht. Feinere Unterschiede finden sich ebenfalls. Gar manche edlere
Pflanze fordert einen Boden, welchen untergeordnete Pflanzen verwesend
bereiteten; und Thiere verzehren auch Thiere, weil ihnen Pflanzen nicht
genügen.
Also haben die niedrigem Pflanzen vorher theils die inneren Zustände
vorbilden, theils unter den rohen Elementen eine vorläufige Auswahl treffen
müssen, damit höhere Geschlechter gedeihen konnten.
§■ 429-
Wir beschränken unsre nächste Betrachtung auf die Pflanzen, welche
für die Physiologie unstreitig den minder verwickelten Gegenstand, und
zugleich eine Grundlage darbieten, die nicht vernachlässigt seyn will.
Die Pflanze wuchert; sie drängt nach aufsen ins Unbestimmte; sie
hat keine geschlossene Gestalt. Sollte dieser Umstand mit der Unbe-
stimmtheit ihrer Nahrung in keinem Zusammenhange stehn ?
Zuvörderst erinnern wir uns an die Bedingung der Assimilation.
Wenn der neu hinzutretende Nahrungsstoff ähnlich werden soll den schon
vorhandenen Bestandtheilen : so mufs er theils deren Qualität ursprünglich
besitzen, theils in die nämlichen innern Zustände versetzt werden. Fehlt
jene Qualität, und stehn diesen geforderten Zuständen die früher erworbe-
nen im Wege: so bleibt die Assimilation insofern unvollkommen. Und
0
6 2 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
[631] indem die Pflanze wächst, wird eben hiedurch eine Entfernung
von demjenigen System aller innern Zustände entstehen, auf welchem die
Eigenthümlichkeit dieser Pflanze beruht, — wofern sich nicht aus der
Gefahr selbst ein natürliches Hülfsmittel dagegen ergiebt.
Schon in den ersten Gründen des Wachsens liegt ein Drängen nach
Erweiterung, und nach aufsen. Diejenigen Elemente aber, welche zu der
gesammten Verbindung am wenigsten passen, können bey der allgemeinen
innern Bewegung wohl schwerlich anders als sich entfernen aus der Mitte;
und wenn ihrer viele sind, so scheint das Ganze schon deswegen eine
Gestalt annehmen zu müssen, die viel Oberfläche darbiete, viel Aus-
sonderung begünstige, und einen beständigen Stoffwechsel mit Hülfe der
Atmosphäre möglich mache.
Hiemit stimmt die Erfahrung zusammen, indem sie uns das grüne
Laub in mancherlev Formen als zur Vegetation gehörig: vor Augen stellt.
Durch die Blätter mögen die am wenigsten zum Ganzen tauglichen Ele-
mente vermöge der Ausdünstung davon gehn; die minder unpassenden
zwar bleiben, aber so weit als möglich aus der Mitte hinweggetrieben ;
damit im Innern die Auswahl immer strenger seyn könne zum Behuf
einer vollkommenen Assimilation. Diese Vermuthung gewinnt an Wahr-
scheinlichkeit, wenn wir bedenken, dafs bey den Thieren ein mannigfaltiger
Auswurf vorkommt, welcher das Bessere zurückläfst; während bey den
Pflanzen nichts deutliches der Art bemerklich wird, und doch auch hier
nicht fehlen darf.
Das Leben der Pflanze ist demnach Anfangs Entfernung von dem
System ihrer innern Zustände; späterhin, durch die Vegetation selbst,
wiedergewonnene Annäherung an dasselbe. Sie kommt gleichsam wieder
zu sich selbst, indem sie verbannt, was ihr nicht gemäfs war. Die Form
des Ganzen, je größer es [632] wird, bestimmt desto mächtiger sowohl die
Stoffe als deren Zustände; denn nach unsern allgemeinsten Grundsätzen
führen die äufsern und innern Zustände einander gegenseitig herbey.
Und wie die Erfahrung uns in der Ausbreitung, in dem Streben
nach Oberfläche, das Hinaustreiben des Fremdartigen versinnlichte : so
zeigt sie uns in dem Blühen der ausgewachsenen, gehörig durch Vegetation
zur Reife gelangten Pflanzen nun auch die Rückkehr in sich selbst; und
in dem Saamen die Wiedererzeugung und Concentration des ganzen Systems
innerer Zustände, welches dem Pflanzenleben sein Gesetz vorschreibt.
§• 430-
Hier stofsen wir auf einen viel bestrittenen Punct; auf die Sexualität
der Pflanzen. Ohne Zweifel ist der Begriff nicht einheimisch im Gebiet
der blofsen Vegetation; man kannte ihn aus der Thierwelt, und übertrug
ihn später auf die Blume. In der Periode des Kantischen Idealismus
aber entstand Abneigung gegen die Teleologie; man meinte, die Vernunft
erblicke nur sich selbst im Spiegel der Natur, indem sie ihr eignes Bild
hineinlege. Nun gab es Viele, die, ohne besonders mit dem Idealismus
vertraut zu seyn, doch mit der Zeit fortgehn wollten; sie suchten dem-
nach eine so kunstreiche, planvolle Einrichtung der Natur, wie das Ge-
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 6.Cap. Phil. Beleuchtung etc. 363
schlechtliche in der willenlosen und bewufstlosen Blume, hinwegzuläugnen ;
und fanden allerley Incongruenzen, welche darzuthun schienen, dafs nicht
allemal die Einrichtung dem Zwecke genau entspreche.
Die Anfechtung der Teleologie mufs mit dem Idealismus von selbst
wegfallen. Hier aber bekümmern wir uns darum nicht; sondern deuten
kurz die Begriffe an, welche die Untersuchung uns von selbst darbietet;
und zwar in solcher Allgemeinheit, dafs es kein Räthsel [633] ist, wenn
der Unterschied zweyer Geschlechter in beyden organischen Reichen, schon
auf sehr niedrigen Bildungsstufen, vorkommt.
Dafs die Pflanze während ihres Wachsthums sich durch die Auf-
nahme so vieler fremder Nahrungsstoffe Anfangs von der Reinheit des
Systems ihrer innern Zustände entfernen mufs, ist im Vorigen erwähnt;
und dieses ist bey ihr Weit deutlicher als beym Thier, welches seine
Nahrung wählt, bevor es sie einnimmt. Aber beyde besitzen, wie eben-
falls schon bemerkt, in der Ausbildung ihrer Gestalt ein Princip der Rück-
kehr zu ihrer ursprünglichen Natur. Diese Rückkehr nun ist es, welche
zwey Formen annimmt. Das System der innern Zustände wieder her-
zustellen, so dafs diese Zustände bloß innerlich seyen, ohne entsprechende
Gestaltung, ist die eine Form. Das nämliche System aber, inwiefern es
eine bestimmte Gestaltung mit sich bringt, wiederherzustellen, und zwar in
dem kleinsten möglichen Raum, ist die andre Form. Jene Form ist
männlich; diese weiblich.
Soll ein neues Individuum von gegebener Art wieder geboren werden :
so ist offenbar die weibliche Form diejenige, welche dazu unmittelbar am
nöthigsten seyn wird. Denn um wachsen zu können, mufs es Nahrung
zu sich nehmen; hat nun diese Nahrung nicht etwan (wie wir bey den
Infusionsthieren annahmen) schon selbst solche innere Zustände, woraus
die gesuchte Gestalt folgt; mufs vielmehr erst eigentliche Assimilation dem
Wachsthum den Weg bahnen: so ist klar, dafs es einer vorgeschriebenen,
und schon vorhandenen Gestalt bedarf, wohinein der assimilirte Stoft ge-
nöthigt wird, sich zu fügen. Der Keim braucht zwar nicht die ganze
Gestalt des künftigen Individuums wie ein Modell im Voraus darzustellen;
aber ein Anfang von Gestaltung mufs da seyn, um dem Nahrungsstoffe
die Stellen an-[Ö34]zuweisen, die er einnehmen soll. Diese räumliche,
materiale Vorbildung nun ist das Eigentümliche des weiblichen Keims.
Aber eben darum, weil der Keim ein Räumliches seyn soll, besteht
er aus mehreren Elementen, die nur zusammen genommen das ganze System
der innern Zustände enthalten. Keins von diesen Elementen, einzeln
genommen, würde das System in sich tragen. Wofern nun die Confi-
guration der Materie den sämmtlichen innern Zuständen gerade entspricht:
so ist der ganze Keim in Ruhe; er braucht nicht zu wachsen, und wächst
nicht von selbst.
Andererseits kann der zur Reife gelangte Organismus auch einigen
Elementen das System der ihm wesentlichen innern Zustände so intensiv
und so vollständig mittheilen, dafs diese Elemente für die gehörige Con-
figuration überbildet sind. Dann taugen sie für sich allein nicht, um ein
neues Individuum hervorzubringen; wohl aber können sie jenem Keim
den Anstofs zum Wachsen ertheilen, sobald ihnen Gelegenheit wird, die
,^4 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
innern Zustände des Keims zu erhöhn. Hiemit ist denn das Gleichgewicht,
worin der Keim mit sich selbst war, aufgehoben; seine Materie beginnt,
neue Stoffe heranzuziehn, sobald die Gelegenheit dazu sich darbietet.
So einfach lautet der Text, welchen die Natur auf die mannigfaltigste
Weise commendirt, von den kunstlosesten bis zu den künstlichsten Gebilden.
Wir haben hiemit nicht etwan eine absolute Notwendigkeit zweyer
Geschlechter deducirt; welches nicht geschehn kann, weil der Beweis fehlt,
dafs der weibliche Keim durchaus gerade nur solche und so starke innere
Zustände, und dergestalt vertheilt unter seinen Elementen, in sich tragen
müsse, als die Configuration erfordert. Aber zu erwarten ist es, dafs der
[635] Organismus, indem er sich aus der jugendlichen Unreife erhebt,
hier mehr die Gestaltung, dort mehr die innern Zustände erreiche, und
alsdann beydes durch einander ergänze. Die Trennung der Geschlechter
in zwey Individuen mufs man von der Pflanze nicht verlangen; denn ihre
wuchernde Natur hat keine begränzte Individualität. Anders verhält es
sich bey dem Thiere, wo zu jeder Hervorbringung das Ganze zusammen-
wirkt; je genauer diese Zusammenwirkung, desto weniger ists möglich, dafs
Eins zweverlev vollbringe.
§• 43i-
Auf den eben berührten Gegensatz der Geschlechter wird bald noch
ein neues Licht fallen, wenn wir jetzt von den Pflanzen übergehn zu den
Thieren. Aber hier laufen wir Gefahr, uns in eine unermefsliche Weite
der Betrachtung zu verlieren. Damit dies nicht geschehe, ist es nöthig,
erst das Minder -Wichtige bey Seite zu setzen.
Wie wichtig auch zum wirklichen Leben solche edle Organe, wie
Leber und Lunge, ohne Zweifel sind: sie geben uns doch, soweit ihre
Function bekannt ist, zunächst nur den Begriff der Absonderung dessen,
was fortdauernd ausgeschieden werden mufs, damit das thierische Leben
sich nicht selbst aufhebe, nicht gleichsam in sich ersticke.* An den Be-
standtheilen der Galle, an dem Übermaafse des (wahrscheinlich schon
überbildeten) Kohlenstoffs, würde das vollkommene Thier sterben, wenn
nicht dafür gesorgt wäre, dies Überschüssige der Aufsenwelt zurückzugeben.
Wie wenig aber das Leben des Organismus sich selbst genüge, wie un-
möglich dasselbe mit der Beybehaltung der nämlichen Ele-[636]mente
bestehn könne, daran erinnert noch deutlicher die Ausscheidung als die
Ernährung.
Wenn wir nun von der Ernährung, deren allgemeiner Begriff schon
bey den Pflanzen vorkam, eben sowohl als von der Absonderung hinweg-
sehen; wenn wir überdies das Skelet als eine blofse Stütze betrachten,
worin das Wesentliche des Lebens nicht kann gesucht werden, indem es
nur ein Hülfsmittel ist, welches der Organismus sich zu seinem Bestehen
selber schafft: so bleibt uns nichts anderes zur nächsten Untersuchung
übrig, als Muskeln und Nerven; die eigentlichen Mittelpunkte der Irri-
tabilität und Sensibilität. Diese aber zusammengenommen ergeben unstreitig
* Von dem durch die Lunge eingesogenen Sauerstoff soll weiterhin die Rede seyn.
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt. Unters. 6.Cap. Phil. Beleuchtung etc. 365
den Begriff des thierischen Daseyns, oder der Beweglichkeit aus innerm
Streben auf zufällige Anlässe, sofern dieselbe ein Ganzes char akter isirt.
Die Vergleichung der drey angenommenen Seelenvermögen, des Vor-
stellens, Fühlens, Begehrens, mit den drey physiologischen Grundbegriffen,
Reproduction, Irritabilität und Sensibilität, wird hoffentlich jetzt Niemand
mehr ernstlich von uns erwarten. Jene und diese sind zwar ursprünglich
logische Abstractionen ; aber mit dem grofsen Unterschiede, dafs die Er-
fahrung im erstem Falle gar keine wirkliche Trennung verantwortet; in
dem zweyten Falle hingegen die Trennung ganz bestimmt gebietet, indem
die Reproduction auch den Pflanzen im hohen Grade zukommt, die
Irritabilität aber (abgerechnet von einigen sehr seltenen und dunkeln Aus-
nahmen) gar nicht; überdies hat die letztere ihren Sitz beym Thiere in
eignen Organen, und die Sensibilität hat ebenfalls ihr eignes System, dem
sie vorzugsweise angehört.
Freylich könnte man den Begriff der Sensibilität in solcher Weite
auffassen, dafs er keines Nervensystems mehr bedürfte. Soll jede Fort-
pflanzung eines innern [637] Zustandes durch eine Reihe von Elementen
der Sensibilität zugeschrieben werden: so gehört hieher aller übertragene
Gegensatz, und alle scheinbare actio in distans bis zur Gravitation.
Damit eine solche Verwirrung der Begriffe vermieden werde, müssen wir
suchen, uns das thierische Leben deutlicher zu machen; indem sogleich
an den Gegensatz zwischen Irritabilität und Sensibilität zu erinnern ist,
welcher schon oben (§. 375) vorläufig angemerkt wurde.
§• 432.
Wir suchten (§. 369) den Keim der Irritabilität darin, dafs die
Materie gegen Abänderung ihrer Zustände durch etwas Fremdes ein
Hülfsmittel in ihrer dichteren Zusammenziehung habe. Dies bedarf einer
genauem Auseinandersetzung, welche hier, in Verbindung mit bekannten
Thatsachen, sich wird deutlicher ausführen lassen, als es in blofsen Be-
griffen möchte geschehn seyn.
Erstlich: man nehme an, dafs ein Element A mit mehrern andern,
B, C, D u. s. w. in unvollkommner Durchdringung sich befinde; wie es
zum Daseyn der Materie nöthig ist. Wenn nun aus was immer für einem
Grunde derjenige innere Zustand des A, welcher seiner Verbindung mit
B entspricht, mehr hervortrit: so wird A, falls es frey genug ist, um sich
zu bewegen, tiefer in B eindringen. Denn das Wesen der Materie beruht
überhaupt darauf, dafs den innern Zuständen die äufsere Lage entspreche;
und man weifs längst, dafs wir keine andern Begriffe von bewegenden
Kräften gelten lassen können, als nur diesen. Würde dagegen der Zustand
der Selbsterhaltung gegen C mehr in A hervortreten, so erfolgte daraus
eine innigere Durchdringung des A und C u. s. w.
Zweytens: Alles sey wie zuvor; nur trete jetzt nicht der innere Zu-
stand des A, welcher dem B entspricht, [638] mehr hervor, sondern statt
dessen sey dieser Zustand, insofern er eben jetzt wirklich vorhanden ist,
im Begriff, sich in ein Streben wider eine nun eben eintretende Hemmung^
die einen zufälligen, äufsern Grund hat, zu verwandeln: so mufs der Erfolg
:>66 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
der nämliche seyn, wie vorhin.* Denn das Streben, den vorhandenen
Zustand zu behaupten, ist gleichartig dem, ihn zu erhöhen; nämlich es ist
Erhöhung über den Pu?ict, auf welchen der Zustand sonst ivürde herabgesetzt
werden. Also auch jetzt wird die Durchdringung des A und B vermehrt;
oder mit andern Worten, die Materie, sofern sie aus beyden besteht,
verdichtet sich.
Drittens: Eine Ausnahme hievon entsteht, wenn das tiefere Eindringen
des A und B die Hemmung vermehren, oder wenigstens nicht vermindern
würde. Und dieser Fall wird eintreten, sobald B dem A den nämlichen
Gegensatz repräsentirt, welcher die Hemmung verursacht. Also auch
wenn B dem A dergestalt gleichartig ist, dafs es eben jetzt die nämliche
Hemmung erleidet.
Demnach viertens: soll wirklich die vermehrte Durchdringung zu
Stande kommen, so müssen A und B dergestalt ungleichartig seyn, dafs
sie sich nicht in einerley Hemmung befangen finden; sondern dafs in der
That A sich in seinem Zustande entweder ganz oder doch zum Theil
behaupte, indem es in B gleichsam einen Zufluchtsort findet.
Gesetzt nun, mehrere Elemente von der Art des A seyen mit Einem
B in der beschriebenen Lage: so werden sie sämmtlich zugleich tiefer
eindringen in B; woraus unter ihnen selbst nach bekannten Gründen eine
[63g] Repulsion zu erwarten ist; so dafs die Verdichtung der Materie,
falls sie dennoch wegen der aus äufsern Gründen entstandenen Hemmung
fortdauert, ein gewaltsamer Zustand derselben seyn wird. Hieraus mufs
Oscillation entstehn, da die Elemente sich erst verdichten, dann wieder
abstofsen, darauf wegen der Hemmung aufs neue in einander eindringen
u. s. f. Und wenn das lange dauert: so leiden die innern Zustände, die
sich behaupten sollten, selbst eine merkliche Veränderung wegen der ver-
änderten Lage der Elemente, und wegen der wirklich in den Momenten
der Zurückstofsung eintretenden Hemmung, die, wenn sie auch nur augen-
blicklich ist, sich dennoch allmählig vermehrt.
§• 433-
Die Anwendung dieser Grundsätze auf Muskeln und Nerven, und
auf deren Gegensatz, wird nun nicht schwer seyn. Nur müssen zuerst
diejenigen Angaben der Physiologen, welche wir von ihnen als gegeben
anzunehmen haben ; in Erinnerung gebracht werden.
Der Muskel, wenn er sich zusammenzieht, vermehrt nicht sein Volumen,
sondern vermindert es eher. So sagt Rudolphi: „die Veränderungen,
welche in den Fasern der Muskeln bey ihren Zusammenziehungen statt
finden, können wir wohl allein in einem solchen Zustande derselben
suchen, wobey sich ihre Substanz von allen Seiten in sich zusammendrängt;
so dafs die Fasern kürzer werden, und der Bauch der ortsbewegenden
Muskeln, indem er sich auf einen kleinern Raum zusammenzieht, hart und
angeschwollen erscheint."
* Es versteht sich von selbst, dafs die Worte Streben und Hemmung hier genau
in dem Sinne zu nehmen sind, den man aus der Psychologie kennt.
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt. Unters. 6.Cap. Phil. Beleuchtung etc. 367
„Derselbe Schriftsteller misbilligt gleich darauf die Meinung, dafs die
Muskeln aus Leim und Erde bestünden, und, während jener sich zusammen-
ziehe, diese unverändert bleibe.
[(340] Zwar nicht von Leim und Erde wollen wir reden; dafs aber die
Muskelfaser aus ungleichartigen Theilen bestehe , werden wir dennoch
wahrscheinlich machen können.
Sprengel bemerkte sehr feine Querstreifen an den dünnsten Fasern.
Meckel sah zwar den Faden der menschlichen Muskelfaser eben, und
überall von gleichem Durchmesser; allein die Substanz derselben erschien
nie ganz homogen, sondern immer aus dunklern, in einem hellem Medium
enthaltenen Kügelchen oder Pünctchen gebildet.*
Vielleicht sind diese Beobachtungen an mikroskopischen Gegenständen
unsicher. Allein nur Eine Stimme, soviel wir wissen, ist unter den Physio-
logen darüber, dafs sich das Muskelsystem mit dem Athmen der Thiere
zugleich ausbilde. Das Athmen nun führt stets einen neuen, frischen Zu-
stand des Bluts herbe}-; ja, das Blut giebt nicht blofs seine Kohlensäure,
mit darin schon enthaltenem Sauerstoff" ab, sondern es nimmt neuen Sauer-
stoff an.** Ferner, im Cruor des Bluts ist Eisen; aber so verlarvt, dafs
man es früherhin nur nach dem Verbrennen desselben auffand; während
die Chemie sich, hierin wenigstens, jetzt eines Besseren besonnen hat, wie
es ihr vielleicht in ähnlichen Dingen noch oft gehen wird, *** nämlich in
den Fällen, wo sie etwas für neu erzeugt hält, 1 weil es ihr noch nicht
gelungen ist, es in den Nahrungsmitteln zu finden. Das Eisen des Cruors
möge nun in den Faserstoff" der Muskeln übergehn oder nicht: so ist es
im lebenden, gerötheten Muskel wenigstens insofern gegenwärtig, als der-
[6-Li]selbe stets vom Arterienblute durchströmt wird. Endlich, der Faser-
stoff ist besonders reich an Stickstoff;'*' das Geheimnifs aber, welches dieser
Stoff verbirgt, müssen wir wenigstens so lange, als die Chemie uns gewisse
Wunder nicht besser erklären kann, in der Zusammensetzung desselben
aus ungleichartigen Elementen suchen (nach §. 425).
Alles hier Zusammengestellte soll nur zeigen, dafs wir nicht, ohne
Erkundigung bey der Erfahrung eingezogen zu haben, die Vermuthung
aufstellen, die Muskelsubstanz müsse irgend etwas ausgezeichnet Ungleich-
artiges in ihrer Zusammensetzung enthalten. Der Punct aber, auf welchen
es eigentlich ankommt, soll nunmehr angegeben werden.
§• 434-
Fragen wir die Physiologen, welche Art von Reiz eigentlich erfordert
werde, um Zuckung eines Muskels zu erregen: so antworten sie uns
* Anatomisch -Physiologisches Realwörterbuch von Pierer und Choulant,
fünfter Band, S. 470.
** Baers Anthropologie, erster Band, S. 445.
*** Vergleiche Ruüolphi's Physiologie, zweyten Bandes, zweyte Abth., S. 257.
t Baer a. a. O. S. 18.
1 für erzeugt hält SW („neu" fehlt).
^58 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
alles Mögliche, Wille und Elektricität und chemische Reizmittel und ein
spitzes Messer, — alles thut hier den Dienst, Bewegung hervorzurufen.
Dafs aber doch dies Alles nicht einen bestimmten innern Zustand in den
Elementen des Muskels erzeugen könne, sieht man sogleich aus der grofsen
Verschiedenheit der genannten Reize. Sie können nur darin übereinkommen,
dafs sie dasjenige System der innern Zustände, worin jedes Element des
belebten Muskels sich schon befindet, störend abzuändern im Begriff stehn ;
und es abändern würden, falls der Muskel sich nicht zusammenzöge.
Ohne Rücksicht auf die innern Zustände der Elemente wird aber
wohl Niemand mehr unternehmen, eine Erklärung der Irritabilität zu geben,
falls das bisher Vor- [642] getragene ist verstanden und überlegt worden.
Wenigstens können wir uns hier auf eingebildete besondere Kräfte nicht
weiter einlassen.
Die Hemmung nun, welche die vorhandenen innern Zustände durch
den sogenannten Reiz erleiden, darf gleichwohl, wenn die Zusammenziehung
ihre Folge werden soll, nicht alle Theile des Muskels auf gleiche Weise
treffen. Das Streben, der Hemmung zu entgehen, mufs unmittelbar im
Zusammenziehen eine Befriedigung erfahren ; sonst würde sogleich ein Still-
stand dieser Bewegung eintreten. Darum müssen die Bestandteile des
Muskels solchergestalt ungleichartig angenommen werden, dafs der Reiz
zwar einige derselben in ihren Zuständen stark hemme, andere aber nicht.
Dann werden diese letztern, wie wir uns oben ausdrückten, die Zufiuchts-
örter, wohinein jene sich zusammendrängen. Und indem dieses in allen
Moleculen geschieht, woraus der Muskel besteht, macht die Summe der
Elementar-Wirkungen, welchen gemäfs jede Molecule eine neue, weniger
längliche Form annimmt, eine so grofse Gesammtkraft aus, wie wir sie
an der Muskelthätigkeit bewundern.
Sollen wir nun dasjenige Ungleichartige in der Faser aufsuchen, was
am sichersten der aufgestellten Forderung entspreche : so werden wir
lieber etwas Neues, Fremdes, in Gedanken herbeyziehn, als das schon
vom thierischen Leben vollständig Ausgebildete. Denn beym letztern läfst
sich eine Gleichartigkeit der schon erworbenen innern Zustände, leichter
erwarten. Hingegen der frische Sauerstoff, welchen das Arterienblut mit-
bringt, und dem Muskel zuführt, dieser scheint am besten zu der Annahme
zu passen, er habe noch kein bestimmtes System innerer Zustände erlangt,
sondern werde es erst allmählig durch seine Verbindung mit dem Lebendigen
gewinnen. Jetzt also, bevor er es in sich ausbildete, [643] sey auch in
ihm noch wenig zu hemmen vorhanden. Folglich werde die Hemmung
durch den angebrachten; Reiz weit mehr die älteren Bestandtheile der
Muskelfaser treffen; alsdann sey es der frischere Sauerstoff, in welchen
hinein dieselben dringen, indem sie sich der Hemmung entziehen.
Müssen wir noch hinzusetzen, dafs dieser letztere Theil unserer Be-
trachtung eine Hypothese ist, an deren Stelle jede andre, wenn sie nur
eben so wahrscheinlich ist, kann gesetzt werden ? Das Wesentliche kommt
auf die beyden Puncte zurück, dafs ein Streben, sich wider den hemmenden
Reiz in dem vorhandenen Zustande zu erhalten, die Ursache der An-
strengung und Gewalt ist, womit alle Moleculen der Muskelfaser aus der
kinglichen in eine mehr runde Form übergehen; und dafs dies Streben
t>
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 6. Cap. Phil. Beleuchtung etc. 369
nicht in allen Elementen der Moleculen, sondern nur in einigen vorkommen
mufs, weil es sich sonst in seiner Wirkung selbst aufheben würde.
§• 435-
Sowohl das Gemeinsame als das Verschiedene der Irritabilität und
Sensibilität tritt nun fast von selbst hervor.
Es ist kein Wunder, dafs Manche die Irritabilität selbst für eine Art,
oder wenigstens für eine Folge der Sensibilität hielten. Allem zuvor Ge-
sagten liegt die Voraussetzung zum Grunde : die Muskelfaser pflanze durch
ihre ganze Länge entweder selbst, oder durch einen von ihr unzertrenn-
lichen Antheil an Nervensubstanz, den empfangenen Reiz fort; und ohne
diese Voraussetzung kann auch Niemand die Wirkung solcher Reize be-
greifen, welche nur an bestimmten Stellen, und nur an der Oberfläche der
Muskeln angebracht werden, alsdann aber deren ganze Masse in Bewegung
bringen. Ob wir nun diese Perception des Reizes blofs der Mus-[Ö44]kel-
faser selbst, oder vielmehr dem Nervengewebe, welches überall den Muskel
durchdringt, zuschreiben sollen, ist schwerlich eher zu entscheiden, als bis
uns die Zusammensetzung der Faser bekannter werden möchte. Durch-
aus nothwendig aber scheint es nicht, sich hierüber auf den Nerven zu
berufen, da so viel Sensibilität, um blofs überhaupt eine Störung vor-
handener Zustände zu empfinden und fortzupflanzen, überall in den
Theilen lebender Organismen leicht erwartet werden kann (§. 374)- Allein
es begegnet auch oft, dafs man dergleichen Erwartungen übertreibt, und
sich Täuschungen dadurch bereitet; lassen wir also diesen Fragepunct
ruhen !
Die Verschiedenheit der Nerven und Muskeln zeigt sich am offen-
barsten gleich darin, dafs die erstem keine bestimmte Structur ihrer kleinsten
wahrnehmbaren Theile haben; während die feine Faserung der Muskeln
eine sehr bestimmte Gestaltung ist. Anders konnte es nicht seyn, wenn
Veränderung der Form die Folge des Reizes werden sollte. Wo nicht
die innern Zustände schon eine genaue Anordnung in der Lage der Ele-
mente vestgesetzt haben, da kann auch kein veränderter Zustand den
Grund enthalten, weshalb eine neue, bestimmte Configuration hervortreten
müsse, die sich als eine Quelle mechanischer Kräfte darstellen könne.
Aber man kann fragen, welcher innere Grund es möglich mache, dafs die
Muskeln, noch vor ihrer Thätigkeit, den faserförmigen Bau erlangen, und
dafs sie ihn behalten? Denn auch hier mufs Inneres und Aufseres sich
entsprechen. Und kaum wird man anders antworten können, als durch
vorausgesetzte Ungleichartigkeit der Elemente, die so beschaffen seyn mufs,
dafs, in den kleinsten Moleculen schon, das Gleiche aus einem mittlem
Entgegengesetzten sich nach beyden Seiten hinausstreckt.
Was aber ist die Nervenmasse? Die Physiologen [645] antworten
uns: ein halbgeronnenes Eiweifs. Und wenn sie auch darin noch eine
Faserung finden, so geschieht doch dies mit dem Geständnifs, dafs künst-
liche Mittel nöthig seyen, um die Fasern kenntlich zu machen. Die graue
Masse, „der innerste Heerd der sensibeln Thätigkeit," soll halb durch-
Herbart's Werke. VIII. 24
270 !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
sichtig seyn. * Durchsichtigkeit gilt aber durchgehends für das Kennzeichen
einer gleichartigen Verbindung.
So nun mufsten wir uns die Fortleiter der innem Zustände ohnehin
vorstellen, dafs kein Mittel vorhanden sey, durch Veränderung der Lage,
der Empfindung zu entgehen (§. 375). Dies wird durch den Gegensatz
sogleich klar seyn. Die Muskelfaser zieht sich zusammen, weil hiedurch
dem Streben wider die Hemmung der vorhandenen innern Zustände Ge-
nüge geschieht. Aber das Nervensystem soll gerade umgekehrt nicht blofs
die eben gegenwärtigen innern Zustände hemmen lassen, sondern auch
neue Zustände annehmen und fortpflanzen. Könnten sich seine Elemente
durch Verdichtung den hemmenden Einwirkungen entziehn: so würde dies
geschehn. Weil aber die Elemente A in einer fast gleichartigen Verbindung,
ohne genaue Configuration, zusammenhängen: so darf man glauben, dafs
einerley Hemmung sie alle trifft, und dafs eben deshalb keine Veränderung
des Orts und der Lage ihnen den Wechsel der innern Zustände, welchem
sie dienen, zu ersparen im Stande ist.
Blicken wir nun zurück auf jenen Grundbegriff des Geschlechts-Unter-
schiedes (§. 430); so begegnet uns die auffallende Bemerkung, dafs der-
selbe im Thierreiche eine Art von Gegengewicht gegen den Unterschied
der Nerven und Muskeln zu bilden scheint. Muskulöser ist der Mann;
nervöser die Frau. Aber dort entwickelt [646] das Geschlecht mehr die
innern Zustände; hier mehr das Räumliche, die Configuration des Keims.
In beyden Fällen also liegt Ersatz des Fehlenden in dem Eigenthümlichen
des Geschlechts. Denn Muskelbildung ist Gestaltung; Nervenleben ist
innerer Zustand mit seinem Wechsel.
§• 436.
Man lehrt uns, dafs die Nerven, noch aufser der Leitung empfangener
Zustände nach innen und nach aufsen, die Function haben, in absondernden
Organen die eigne Thätigkeit derselben zu unterhalten. So sollen Leber
und Magen und Nieren von ihnen abhängen ; und auch die Lunge soll
ohne ihren Einflufs unthätig werden. Diese Behauptungen, wenn gleich
gestützt auf Thatsachen, möchten uns doch in unserm Begriff von den
Nerven, als dem Sitze der Sensibilität, leicht irre machen. Wenn die
Verdauung und Athmung, wenn sogar Galle und Harn ihr Daseyn den
Nerven verdanken: so sind dieselben offenbar selbstthätig; sie erzeugen
aus ihrer eigenen Macht etwas Neues; anstatt dafs wir auf ihren blofsen
Gehorsam glaubten rechnen zu dürfen.*
Fürs erste schauen wir einmal zurück zu den Pflanzen. Auch dort
finden sich sehr mannigfaltige Absonderungen; und die Producte derselben
sind bekannt als Öl, Harz, Gummi, Gift u. s. w. Welches Nervensystem
* Baer a. a. O. S. 145.
• Man vergleiche in der Psychologie den letzten Abschnitt des zweyten Bandes,
besonders S. 478. Doch ist zu bemerken, dafs dort die naturphilosophischen Betrach-
tungen weniger Umfang haben, als hier in Folge der fortgesetzten Untersuchung.
1 "Weil aber Elemente SW („die" fehlt).
5. Abschn. Umrisse d. Naturphii. 2. Abth. Analyt. Unters. 6. Cap. Phil. Beleuchtung etc. 371
hat denn hier den Vorsitz geführt, um die Zubereitung dieser Dinge zu
besorgen? Keins! So spricht selbst die Erfahrung, und beschränkt dadurch
die Meinung, die sie allerdings veranlafste, als ob besondere [647] Pro-
ducte der Organismen nicht füglich ohne Nerveneinfiufs zu Stande kommen
könnten.
Bey der Pflanze wird man nun wohl keinen andern Ursprung jener
Producte ersinnen können, als den nämlichen, woraus wir schon die
Bildung der Blüthe und des Saamens ableiteten. Es ist die ganze, aus-
gewachsene Pflanze, in welcher aus der Vollständigkeit der Form nun
rückwärts die innem Zustände der Elemente hervorgehn, wie früher,
während des Wachsthums, diese Zustände dem Saamen das Keimen, und
dem Keimen das Gedeihen gaben. Hiemit hängen, als Nebenbestimmungen
der gesammten Ausbildung, auch ohne Zweifel jene Erzeugnisse der Öle,
der Gifte u. s. w. genau zusammen.
Daher wird nun auch klar seyn, dafs man in Ansehung der Nerven
gar nicht berechtigt ist, den Grundbegriff der Sensibilität, welcher eine
Empfänglichkeit, aber keinen Anfang eigner Thätigkeit bezeichnet, um
jener Secretionen willen zu verlassen und zu übersteigen.
Nichts anderes braucht man den Nerven einzuräumen, als dafs durch
sie das Thier Ein Ganzes wird. Denn sie sind überall die Boten und
die Vermittler; sie machen, dals Alles von Allem leidet, folglich auch, dafs
in dem ganzen Thiere Jedes auf Alles wirkt. Weiter scheint hier nichts
nöthig. Die Leber wird wohl Galle absondern, wenn sie vermittelst der
Nerven an ihrer Stelle und in ihrem Gesammtverhältnisse zu den übrigen
Organismen gehalten ist. Die Lunge wird wohl athmen, wenn irgendwie
das Bedürfnifs der Blutreinigung ihr durch das Ganze aller organischen
Bedürfnisse angemeldet wird.
Es mag genug seyn, uns hier auf diese bildlichen Ausdrücke zu be-
schränken. Die allgemeinen Begriffe, welche man hier erwarten konnte,
sind schon so weit entwickelt, dafs die Verbindung der Physiologie mit
der [648] übrigen Naturlehre nicht leicht mehr räthselhaft erscheinen kann.
§• 437-
Nachdem nun die Begriffe von der Ernährung, der Generation, der
Irritabilität und der Sensibilität ihrer Bedeutung nach aufgeklärt sind: läfst
sich mit ziemlicher Bestimmtheit überschauen, was eine philosophisch be-
arbeitete Physiologie jetzt ferner leisten würde. Denn es entstehn für sie
drey Classen von Aufgaben, die wir leicht sondern können.
Die erste ist, zu entscheiden, ob aufser den angegebenen drey Haupt-
begriffen der Reproduktion, Irritabilität und Sensibilität (denn wir wollen
hier der Generation nicht insbesondere erwähnen) weiter nichts von Wich-
tigkeit im Kreise der Physiologie vorkomme? — Wir haben nämlich zwar
schon eingeräumt (§. 43 1 ), dafs hier nicht, wie bey den sogenannten Seelen-
vermögen, eine falsche, sondern eine wohlbegründete Trennung statt finde;
allein damit ist noch nicht gesagt, dafs die Disjunction vollständig sey,
und zwar dergestalt vollständig, dafs man nach dieser Eintheilung sogar
24*
■in 2 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
die Krankheitslehre abhandeln könne, wie es neuerlich geschieht. Wir
werden schleich hierauf zurückkommen.
Die zwevte ganze Classe von Aufgaben enthält die Fragen nach der
richtigen Verbindung, zuerst unter jenen drey scheinbaren Hauptkräften;
alsdann zwischen ihnen und dem, was sonst noch zu beachten seyn möchte.
Denn Jedermann weifs, dafs im lebenden Leibe nicht etwan die Irritabilität
oder die Sensibilität ein abgesondertes Daseyn haben, sondern dafs sie
unter sich und mit der Ernährung ein Ganzes des Lebens ausmachen;
ob aber die Verknüpfung, vermöge deren das Ganze aus Muskeln, Nerven,
und dem Assimilations- Apparate [649] besteht, in allen Puncten richtig
aufgefafst sey, das dürfte um desto mehr in Frage kommen, wenn man
sich schon erlaubt, so durchgreifende Lebens - Erscheinungen , wie die
Krankheiten meistens sind und allemal werden können, auf jene einzelnen
Haupt - Kräfte insbesondere zu beziehen.
Drittens endlich würde, nachdem beydes vorher Geforderte gehörig
in den allgemeinen Umrissen vollzogen wäre, nun das Specielle weiter aus-
zuführen seyn, was sich auf einzelne Arten von Nerven, oder auf einzelne
Organe sammt deren Producten bezöge.
§• 438.
Über die erste der unterschiedenen drey Classen von Aufgaben
scheint besonders dies zu bemerken, dafs man wohl nicht ohne Zwang
die weitläuftige Untersuchung über die mancherley belebten Flüssigkeiten
bey jenen drey Hauptkräften wird einschalten können; am wenigsten dann,
wann durch Darstellung der Physiologie zugleich der Pathologie soll vorge-
arbeitet werden.
Es gab eine Zeit (und sie ist noch nicht lange vorüber), wo sogar
ein Joseph Frank den Satz aussprechen konnte: „Wir werden uns stets
darin von den Humoral- Pathologen unterscheiden, dafs sie das Blut als
wirklich krankheitsfähig ansehen, und daher nicht allein von den Krankheiten
des Bluts , sondern auch von den Mitteln , dieselben zu heilen , sprechen ; wir
hingegen das Blut als äufsern Theil des Organismus, das hei/st, als nicht
lebend, mit Blumenbach gegen Hunter, betrachten; und ihm bloß, so zuie
der Luft, dem War inest off, und den Nahrungsmitteln (die, obivohl sie zu
Krankheiten Anlafs geben , doch nie für selbst krank angesehen werden) , die
Ei-\f>$o]genschaft zukommen lassen, Krankheiten zu erzeugen."*
Der Widerwille gegen die Humoral-Pathologie mag durch Vorurtheile
älterer Ärzte veranlafst seyn; er selbst aber enthält ein eben so schlimmes
Vorurtheil, wie jenes, welches durch ihn sollte verdrängt werden. Man
kann nicht behaupten, dafs in den vesten Theilen mehr, als in den flüssi-
gen, das Leben seinen Sitz habe. Das Blut läfst sich zwar abzapfen,
aber auch die Gliedmaafsen lassen sich amputiren, und selbst vom Gehirn
lälst sich etwas hinweg nehmen. Knochen als blofse Stützen, die Haut
als blofses Behältnils, Herz, Arterien und Venen als ein hydraulisches
Druckwerk zu beschreiben, wäre um nichts fehlerhafter, als die Meinung,
Erläuterungen der Erregungstheorie, von Joseph Frank, S. 309.
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 6.Cap. Phil. Beleuchtung etc. 373
die Flüssigkeiten seyen etwas Äufseres und Fremdes, weil sie im Organis-
mus nicht bevestigt sind. Wo ist denn in ihm etwas Vestes, Starres,
Trockenes? Und wo sucht man das Leben? Es liegt in den innern Zu-
ständen aller Elemente; es ist deren Zusammenwirkung. Rohe Stoffe haben
in ihm keinen Platz; Alles ist assimilirt, und bringt sogar schon aus den
Pflanzen, die zur Nahrung dienten, seine innern Zustände mit. Sobald
nun in dem System der innern Zustände (welches System weder vest
noch flüssig, sondern ganz unräumlich und unkörperlich ist), irgend etwas
von der Norm abweicht, mufs Krankheit entstehen. Von diesem System
aber wird freylich Niemand einen deutlichen Begriff fassen, der nicht
Psychologie, und insbesondre Mechanik des Geistes studirt. Denn es
giebt kein anderes, unserm Wissen zugängliches Beyspiel für ein System
innerer Zustände, als nur die Seele; und alle Begriffe, durch welche es
fafslich wird, müssen [651] von dort her auf die einzelnen Elemente des
Leibes ühertragen werden; obgleich sie hier bey iveitem nicht in der Ausdehnimg,
nicht in der vollständigen Entwickelung, anwendbar sind, wie in der Psychologie.
Aus dem Vorhergehenden aber versteht sich von selbst, dafs gemäfs
dem Zustande des Flüssigen sich auch das Veste umändern mufs; und
zwar nicht blofs wegen der Ernährung, die das Flüssige in Bestandtheile
des Vesten verwandelt, sondern wegen der Nerven, die alle innere Zu-
stände auf irgend eine Weise mittheilen und verbreiten; und überhaupt
wegen der Sensibilität, die wahrscheinlich nicht einmal ganz ausschliefsend
auf den Nerven beruhet.
Will man keine Krankheit der Säfte zugeben, was denkt man denn
von dem Wuthgift, dem Po:kengift, und so vielen anderen? Der Speichel
des Hundes, der Eiter der Pocken, war freylich ursprünglich aus einem
falschen Ernährungsprocefs hervorgegangen ; was aber ist nun das fertige
Gift für den zuvor Gesunden, der davon ergriffen wird ? Etwan ein blofser
Nervenreiz? Man wird einsehn, dafs solche Behauptungen sich mindestens
eben so wenig beweisen, eben so wenig wahrscheinlich machen lassen, als
die entgegengesetzten.
Nach diesen Bemerkungen ist es kaum glaublich, dafs sich die Phy-
siologie richtig gestalten lasse, wenn sie blofs und lediglich sich auf die
drev Hauptbegriffe der Reproduction, Irritabilität und Sensibilität beschränkt,
in der Voraussetzung, an diese lasse sich Alles knüpfen, was bey ihr zur
Untersuchung kommt. Wenigstens wird sie die Anknüpfung dann verfehlen,
wenn sie jene Begriffe zum Abtheilen dergestalt benutzt, als ob nun die
Theile der Abhandlung sich rein von einander sondern liefsen. Hier er-
innern wir nochmals an das Blut. Dieses gehört zwar zur Ernährung; aber
es ist eben [652] sowohl Folge als Grund derselben. Denn das Blut ist
nicht blofser Chylus; es kommt erst als Venenblut zum Herzen, bevor es
als Arterienblut von ihm wieder vertheilt wird. Wo entstand denn das
Venenblut? Doch ohne Zweifel da, wo schon ein Ernährungs-Prozefs im
Gansre war. Auf diesen aber hatten Irritabilität und Sensibilität ihren
Ein Hufs; ohne den sich das Blut nicht wird begreifen lassen. Dies ist
gewifs Nichts Neues. Aber es möchte besonders da zu beachten seyn,
wo man die Pathologie auf die drey Rubriken zurückzuführen sucht,
welche aus den erwähnten Hauptbegriffen entspringen.
"ijA I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anfingen etc. 1829.
§• 439-
Auch über die zweyte der vorhin erwähnten Classen von Aufgaben
(§• 437) können noch einige Bemerkungen beygefügt werden.
Das Gegenstück zu jener Frage des vorhergehenden Paragraphen,
ob nicht aufser den drey bekannten Hauptbegriffen noch etwas Anderes
für die Physiologie in Betracht komme ? liegt in der Frage : ob denn auch
die drey so unzertrennlich verbunden seyen, dafs keiner fehlen dürfe?
Lassen wir zuerst den Begriff der Ernährung weg : so kommen wir
zu dem Ideal eines leiblichen und geistigen Daseyns, welches zum Han-
deln und zum Denken geschickt sey, ohne durch das leidige Bedürfnifs
der Nahrung gedrückt zu werden. Aber dies liegt ganz aufser den Gränzen
der Erfahrung. Ob es denkbar sey, ist nicht so leicht zu entscheiden;
jedoch scheint es verneint werden zu müssen. Die Elemente eines Leibes,
in welchem es keinen Stoffwechsel gäbe, würden einander ihre innern Zu-
stände mehr und mehr mittheilen; damit fiele der Erklärungsgrund der
Muskelbewegung weg, den wir oben angaben (§. 432 u. s. w.), überein-
[O53] stimmend mit der Erfahrung, dafs der Hunger die Schwäche, und
die Verminderung des Pulses zur Folge hat; während jedoch Kranke,
besonders solche, die dem Scheintode nahe sind, lange Zeit die Nahrung
entbehren können, indem die Muskeln bey ihnen fast unthätig sind.
Den Begriff der Sensibilität wird Niemand weglassen wollen; nicht
blofs, weil er im weitern Sinne schon dem der Muskelthätigkeit zum
Grunde liegt (§. 374), sondern auch deshalb, weil man einen Körper,
d^r gar nicht empfände, gewifs nicht als animalisch lebend betrachten würde.
Es bleibt also die Frage haften bey dem Begriffe der Irritabilität.
Zwar wird man gleich einwenden, es gäbe dann kein Herz; folglich keinen
Blutumlauf. Allein hieran dürfen wir zweifeln. Wenn (nach §. 427) auf
die Attraction des Bluts in dem Zellgewebe gerechnet werden mufs: so ist
ein solcher Muskel, wie das Herz, nicht durchaus nöthig; und man mag
untersuchen, ob es bev den niedrigsten Thieren überall mehr ist als ein
blofser Behälter des Nahrungssaftes? Gesetzt aber, ein Herz sey nöthig
.zum Leben, ist denn auch die gesammte übrige Muskelbewegung unent-
behrlich? Bev kleinen Kindern, bey Greisen, bey Gelähmten bleibt wenig
von ihr übrig; hingegen bey voller Gesundheit scheint sie zur Erhaltung
derselben in der That unentbehrlich; und wir überlegen nun, was sie wohl
dafür leisten möge?
Diese neue Fra2:e zerfällt soe;leich in zwev andre: erstlich, was wirkt
die Muskelbewegung für die Ernährung? zweytens, welchen Einflufs hat
sie auf die Nerven? Ohne etwas erschöpfen zu wollen, begnügen wir uns
mit folgenden Betrachtungen.
Die Zusammenziehung der Muskelfaser suchten wir uns zu erklären
durch ein inneres Streben einiger Elemente, sich wider den hemmen-
den Reiz in dem vor-[ö54]handenen innern Zustande zu erhalten ; woraus
Verdichtung und veränderte Gestalt der Moleculen entspringen mufs, wenn
dies Streben befriedigt werden kann durch tieferes Eindringen in andre
Elemente der nämlichen Moleculen, die nicht gleichzeitig von derselben
Hemmung sind ergriffen worden. Hieraus nun folgt weiter, dafs diese
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 6.Cap. Phil. Beleuchtung etc. 375
andern Elemente dadurch in ihrer Assimilation bedeutend fortschreiten
werden. Denn je vollkommner sie zusammen sind mit jenen, desto mehr
richten sich ihre innern Zustände nach denselben. Angenommen, es sey
der frischere, kurz zuvor beym Athmen ins Blut gedrungene Sauerstoff, in
welchen sich die altern Elemente der Muskelfaser tiefer hineinziehn: so
wird mit der Innigkeit der Durchdringung auch vollständiger dasjenige
System von innern Zuständen in diesem Sauerstoff, was ihm als einem
Bestandteile des lebenden Leibes zukommt, ausgebildet werden. Führt
ihn nun der Blutumlauf mit sich fort: so dient er zwar in der Folge weniger
für die Contraction der Muskelfaser; aber desto mehr ist er geeignet,
Bestandtheil der Nahrung zu werden, und seinerseits wiederum andre
Bestandteile derselben zu veredeln. Oder sey es nicht, wenigstens nicht
bloß, der Sauerstoff, so gilt dasselbe von andern Elementen, die man statt
seiner in dem vorigen Verhältnisse sich denken mag. Für künftige Con-
traction der Muskeln aber sorgt nun entweder die erneuerte Respiration,
oder die Verdauung; indem hiedurch von neuem solche Elemente herbey-
kommen, die noch der Assimilation bedürfen. Verhält sich die Sache
wirklich auf diese Weise, so sieht man leicht, dafs eine wahre Verbesserung
des Bluts, und folglich auch bessere Ernährung, durch den Gebrauch der
Muskeln gewonnen wird.
Betrachten wir zweytens den Einflufs der Muskelbewegung auf die
Nerven: so ergiebt sich eine andre [655] Seite der Wichtigkeit, wo nicht
Unentbehrlichkeit, derselben für das Leben.
Von den Nerven gelangt in der Regel der Reiz zur Bewegung an
die Muskeln; welches bey den willkührlichen Muskeln offenbar, bey den
übrigen wahrscheinlich ist; nur dafs im letztern Falle die Aufregung der
Nerven von irgend welchen, uns unfühlbaren Lebens -Verhältnissen ausgeht.
Wenn die Muskelfasern sich nun zusammenziehn: will man alsdann sagen,
sie entsprechen dem Antriebe des Nerven? Genau genommen folgt aus
der obigen Erklärung das Gegentheil. Die Faser zieht sich zusammen,
weil sie sich der Hemmung entzieht, von der ihre innern Zustände be-
droht sind. Bliebe die Contraction aus, wie es bey dem schon ermüdeten
Muskel der Fall ist: dann gerade entstünde in ihm der Zustand, welcher
dem Nervenreize entspricht. Jetzt wollen wir rückwärts schliefsen. Der
Muskel hat sich dem Einflüsse des Nerven entzogen; er steht gleichwohl
mit dem letztern in der genauesten Verbindung ; und der Nerv ist eben
dadurch Nerv, — das heilst: Sitz der Sensibilität, — dafs es ihm nicht
also, wie dem Muskel, gelingen kann, sich durch eine Veränderung seiner
Gestalt der äufsern Einwirkung zu entziehen. Man rede ja nicht zuviel
von der Activität des Nerven; dadurch würde die Sensibilität verloren
gehn, welche nichts anders ist als Annehmen innerer Zustände gemäfs den
zufällig entstehenden Verhältnissen zu dem, was draufsen ist ! — Will man
nun consequent seyn, so raufe man erlauben, dafs der Nerv nicht blofs
gewisse Zustände auf den Muskel übertrage, sondern auch für den Muskel
wiederum sensibel sey; mit andern Worten, dafs er rückwärts von dem-
selben eine Bestimmung seiner innern Zustände empfange. Und was
kann er empfangen, während der Muskel sich contrahirt? Nichts anderes,
als eine Hemmung. Nämlich je-[656]ner versagt den Zustand, welchen
,y5 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
der Nerv überbringt; damit nun Alles zusammenpasse, mufs dieser seinen
eignen, eben vorhandenen Zustand, hemmen lassen. Und gerade dies ists,
wodurch der Nerv noch fortdauernd, für eine Zeitlang wenigstens, die
Fähigkeit behält, Diener des Willens zu seyn. Hätte sich in dem Nerven
derjenige Zustand, welchen in ihm der Wille unmittelbar hervorbringt,
sogleich vestsetzen können: so wäre er in dem folgenden Moment schon
ein verbrauchtes Werkzeug für den Willen gewesen. Er wird es ohnehin
bev langer Anstrengung allmählig, weil endlich der Muskel nachgiebt; und
dann auch der Nerv nicht mehr geschützt ist gegen die Anhäufung solcher
innerer Bestimmungen, wie sie dem Willen entsprechen.
Diesen letztern Umstand nun müssen wir noch einen Schritt weiter
verfolgen; jedoch mit dem Bemerken, dafs Alles, was hieher gehört, sich
nur mit Hülfe der Psychologie deutlich machen läfst. Dort ist gezeigt,
was eine Hemmungssumme sey, und nach welchem Gesetze sie sinke.*
Ebendaselbst ist von der Abnahme und Erneuerung der Empfänglichkeit
gesprochen.** Aus jenen Principien mufs beurtheilt werden, was in den
Nerven vorgehe, wann sie eine geraume Zeit hindurch verschiedenen Ein-
drücken von Seiten der geistigen Thätigkeit, oder auch der Außenwelt
ausgesetzt waren. Anfangs wirken die Muskeln entgegen, und hindern die
Anhäufung der empfangenen Eindrücke (wobey man von selbst begreifen
wird, dafs hier das Wort Eindruck für Selbsterhaltung in Folge eines
äußern Verhältnisses zu nehmen ist); nachdem aber diese Eindrücke sich
dennoch zu einer bedeutenden Hemmungssumme, indem sie unter einander
ent-[Ö57]gegengesetzt sind, ansammelten, wird es mehr und mehr noth-
wendig, dafs dieselbe sinke, und dagegen immer weniger möglich, dafs
noch neue Sensationen oder Bestimmungen durch die Wilikühr hinzukommen.
Wenn wir nun daran erinnern, dafs auf lange Ermüdung durch
Muskel -Anstrengung, oder auch (aber dem Leben nicht so zuträglich) auf
Geistes -Anspannung, endlich Schlaf erfolgt; und dafs der Schlaf zunächst,
und in Beziehung auf die Nerven, nichts anderes ist, als ein Aufhören
der Sensation : so wird man verlangen, dafs wir die Gränze angeben, bey
welcher die Fähigkeit zur Sensation aufhöre, und der Schlaf wirklich ein-
trete. Hierauf läfst sich zwar erstlich antworten, dafs diese Gränze nicht
ganz vest bestimmt ist; indem auch das Einschlafen durch stärkere Sen-
sation, — die also noch möglich ist, — verhindert werden kann; und
selbst der Schlafende sich wieder aufwecken läfst; überdies, dafs nicht
einzelne Elemente, und nicht einmal einzelne Nerven, sondern das ganze
Nervensystem in einen gleichartigen Zustand mufs versetzt werden, bevor
es zum ' Einschlafen kommt. Allein die Psychologie hat allerdings be-
stimmtere Antwort bereit, wenn sie im analogen Falle gefragt wird nach
der Gränze der Möglichkeit, dafs eine gewisse bestimmte Sensation in der
Seele entweder verloren gehe, oder zu einer Gesammtkraft anwachse.
Dieser Gegenstand gehört zur Untersuchung ioer die Aufmerksamkeit *
* Psychologie I. §. 42. 74. (Bd. V vorl. Ausgabe.)
** Ebendaselbst §. 94. 98.
*** De attentionis mensura, p. 30, wo man den Grand der Behauptung nach-
zusuchen hat: nunqitam committendum erit, ut ponat-ur ? — Ö> §<{, quod
est absurd u in.
5. Abschn. Umrisse d.Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 6. Cap. Phil. Beleuchtung etc. 377
In der That ist der Schlaf eine Gränze der Aufmerksamkeit, sofern
diese nicht blofs auf die Seele, sondern überhaupt auf die Sensibilität be-
zogen wird; und überdies von der hühern Bildung, die nur geistig [658]
sevn kann, abstrahirt wird. Wie es aber möglich sey, dafs wir uns hier,
in dem Kreise physiologischer Untersuchung, auf psychologische Lehrsätze
berufen können, darüber brauchen wir Demjenigen, welcher das Ganze
unseres Vortrags genau kennt, nichts mehr zu sagen; für jeden Andern
würde auch die weitläufigste Entwickelung unverständlich seyn.
Die Gränze der Aufmerksamkeit ist lediglich eine Bestimmung der
Gröfse, wie stark zum tvenigsten eine Sensation seyn mufs, damit ihre
kleinsten Theile (die momentanen Eindrücke) nicht durch die vorhandene
Hemmung vereinzelt, und gleichsam zersplittert werden; welches die Sen-
sation fruchtlos macht. Genau dasselbe pafst auf den Schlaf; denn eine
hinreichend starke Sensation bewirkt das Aufwachen. Nun aber mufs man
hinzunehmen, dafs physiologische Erörterungen sich niemals blofs und allein
auf innere Zustände beziehen, sondern auf solche nur, inwiefern die räum-
lichen Bestimmungen der belebten Materie mit ihnen in Zusammenhang
stehen. Sinkt im Schlafe die Hemmungssumme, welche in jedem einzelnen
Elemente der Nerven angehäuft war: so zieht sich zugleich das räumliche
Ganze, welches den sichtbaren Nervenfaden ausmacht, wieder zurecht,
nachdem es durch die frühere Aufregung irgend etwas in seinen materialen
Verhältnissen eingebüfst hatte. Und dies Zurechtziehen pafst nun ohne
Zweifel noch weit mehr auf die anderen Theile des Organismus, welche
während des Wachens zugleich und wegen ihrer Verbindung mit den
Nerven, waren afficirt worden.
Der gesunde Schlaf also, welcher vorzüglich durch die Muskelthätig-
keit gewonnen wird, und dem Leben seine Erquickung, jeder Empfänglich-
keit ihre Erneuerung verschafft, ist in seiner periodischen Abwechselung
mit dem Wachen eine der wichtigsten Folgen, welche aus [659] der Ver-
bindung der Irritabilität mit der Sensibilität hervorgehn. Weit von ihm
verschieden sind ohne Zweifel die soporösen Zustände, welche in Krank-
heiten die Unfähigkeit des Nervensystems bezeugen, sich von innen oder
von aufsen zu Sensationen bestimmen zu lassen, und die Gemeinschaft aller
Theile des Organismus zu unterhalten.
§■ 440.
Was hier über die Verbesserung der Ernährung, und über den Schlaf
gesagt worden, das wird noch unzureichend scheinen, um die Beziehung
der Irritabilität auf das Ganze des Lebens auch nur in den Haupt- Umrissen
anzugeben.
Nun wäre freylich sehr vieles anzuführen über die künstlich und
zweckmäfsig angebrachten Muskeln, durch welche es den Menschen und
Thieren vergönnt ist, sich frey zu bewegen, und hiemit auch für die äufsern
Bedingungen des Lebens, insbesondere für die Nahrung, selbstthätig zu
sorgen. Allein so stark auch dergleichen teleologische Betrachtungen sich
demjenigen aufdringen, der ihnen nicht aus Vorurtheil widerstrebt: so wenig
kann es doch helfen, die Vorurtheile direct anzugreifen ; und wir vermeiden
2y8 !• Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
überdies den Schein, als ob Teleologie an die Stelle theoretischer Er-
klärungen sollte gesetzt werden.
Eine andre Erweiterung geben die Physiologen ihren Betrachtungen
über die Irritabilität, indem sie die Lehre von der Blutbewegung hieher
ziehn. Gesetzt nun, der Grund dieser Bewegung läge wirklich vorzugsweise
im Herzen, so wäre doch dasselbe nur ein Mittel zum Zweck; und nicht
der Zweck selbst. Es wäre überdies ein sehr einzeln stehendes Mittel,
wofern es genau richtig ist, dafs die Arterien sich nicht erweitern und zu-
sammenziehn, sondern blofs den Schläuchen einer [660] Spritze gleichen.*
Liegt aber vollends der Grund der Blutbewegung vorzugsweise in den
Theilen, welche ernährt werden : so kann dieselbe, saramt allen Erschei-
nungen, die sie darbietet, und sammt allen Bestimmungen, die sie annimmt,
weit besser mit der Reproduktion in Verbindung gedacht werden.
Dies scheint besonders die Ansicht der Fieber zu verändern. Wird
man behaupten, jedes Fieber sey eine Krankheit des Herzens ? Oder
vielleicht, die Arterien seyen alsdann krank, indem sie gegen ihre Bestim-
mung an der Blutbewegung Theil nähmen.
Puchelt sagt vielmehr gleich im Anfange seiner Abhandlung von den
generellen Krankheiten der Irritabilität Folgendes ** : „Es ist zu bezweifeln,
dafs es im strengsten Sinne ursprüngliche Irritabilitäts - Krankheiten gebe ;
denn die Ursachen, welche hier Krankheiten veranlassen, können nur durch
die Nerventhätigkeit, oder auf dem Wege der Reproduction die Irritabilität
und ihre Organe erreichen; sie wirken nicht unmittelbar und zunächst auf
dieselbe ein."
Dazu passen Beyspiele, welche Frank in dem früher schon erwähnten
Werke anführt; von Fiebern, — und zwar Wechselfiebern, — die von
örtlichen Schädlichkeiten herrührten; von Fehlern der Lunge, vom Her-
vorbrechen eines Weisheits - Zahns ; von einem Steatom im Uterus ; von
einer im Magen liegenden Speckschwarte ; von einigen nach dem Erbrechen
zurückgebliebenen giftigen Schwämmen.***
Und der Fieberfrost, welcher der Hitze voranzugehn [661] pflegt,
was deutet er an ? Doch wohl ein Zusammendrängen des Bluts nach
innen, wovon eine gewaltsame Contraction und Oscülation des Herzens
die nothwendige Folge schon dann seyn müfste, wenn letzteres nichts
weiter wäre als ein elastischer Sack. Und wo hat der Frost seinen Sitz?
Doch vermuthlich in allen Theilen, welche ernährt werden, oder wenigstens
in den meisten derselben. Hier also wird man den Sitz der Krankheit
weit eher als im Herzen suchen dürfen ; und es ist natürlich zu glauben,
dafs jede von den unzähligen Ursachen des Fiebers, um ein solches zu
erregen, zuerst jenen Sitz der Krankheit in ihre Gewalt werde bringen müssen.
Es scheint also, dafs man den Begriff der Irritabilität bestimmter in
seinen Schranken werde halten müssen, um von ihm einen richtigen Ge-
brauch zu machen. Und in der Beantwortung der Frage, ob die Irrita-
bilität durchaus nothwendig mit Sensibilität und Reproduction verbunden
* Rudolphi, Physiologie, zweyten Bandes zweyte Abtheilung, S. 424.
** Puchelt, System der Medicin, zweiten Theils erster Band, §. 82.
*** Franks Erregungslheorie, S. 102.
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Anatyt. Unters. 6. Cap. Phil. Beleuchtung etc. 370
sey ? bleibt nach den vorstehenden Betrachtungen immer noch etwas
Schwankendes zurück, wenn man streng darauf besteht, die teleologische
Betrachtung, dafs ein Thier ohne Muskeln sich keine Nahrung schaffen
könnte, ganz aus dem Spiele zu lassen. Vielleicht wird man sagen, es
gebe ohne Muskelbewegung nicht einmal Verdauung; allein auch dies
reicht nicht zu, um das System der Begriffe von Reproduction, Sensibilität
und Irritabilität, sobald sie in völliger Abstraction gefafst werden, zu einer
durchaus nothwendigen Einheit zu bringen. Es könnte eine Ernährung
ohne Verdauung geben; wie sie beym Embryo wirklich vorkommt. Weit
vester und genauer hängen in der Psychologie die Begriffe des Vorstellens,
Fühlens und Begehrens zusammen; denn wo es Vorstellungen im eigent-
lichen Sinne (nicht blofse Empfindungen) geben soll, das heifst, Bilder in
bestimmten Umrissen, da müssen schon Hem-[662]mungen, Strebungen
und Reproductionsgesetze vorkommen, aus welchen Gefühle und Be-
gehrungen unter den für jene vorauszusetzenden Umständen nothwendig
folgen. Anders war es auch nicht zu erwarten. Die Seele ist einfach im
strengsten Sinne; hingegen jeder lebende Organismus ist zusammengesetzt,
und in unserem Erfahrungskreise ist jede Zusammensetzung als zufällig zu
betrachten.
Erlauben wir uns jetzt, den Begriff der Irritabilität aus dem Verein
der drey physiologischen Grundbegriffe als vielleicht nicht schlechterdings
durch die übrigen gefordert wegzulassen: so fällt sogleich von selbst ins
Auge, dafs auch die Sensibilität fehlen kann, wo die Reproduction dennoch
vorhanden ist; nämlich bey den Pflanzen. Dies mufs jedoch nicht so mis-
verstanden werden, als ob in dem wirklichen Thiere eine solche Ab-
sonderung vorhanden wäre, wie in einem trennbaren Aggregate. Die Art
von Reproduction, die einem bestimmten Thiere zukommt, könnte un-
streitig nicht eine solche seyn, wie sie ist, wenn nicht eine solche Sen-
sibilität und Irritabilität mit ihr verbunden wäre.
§• 44 1-
Noch bleibt uns übrig, die dritte Classe von Aufgaben (§. 437) mit
Wenigem zu berühren ; nicht um wirklich in das Specielle der Physiologie
hineinzutreten, was nur den Meistern der Wissenschaft vor Augen liegt,
sondern blofs um zu überlegen, welcher von jenen drey Hauptbegriffen
wohl mehr, und welcher weniger mannigfaltige Nebenbestimmungen an-
nehmen möge?
Um hier mit dem Leichtesten anzufangen, beginnen wir mit der
Irritabilität. Wie mannigfaltig auch der Bau der Muskeln seyn mag: die
Action selbst, die Zusammenziehung, scheint etwas so einfaches, und so
sehr überall gleichartiges, dafs, wenn man den Begriff der [6Ö3] Irritabilität
auf sie beschränkt, wie es uns oben rathsam geschienen hat, wohl schwer-
lich Jemand für nöthig finden wird, darin eine besondere Mannigfaltigkeit
verschiedener Modificationen anzunehmen.
Ganz anders verhält es sich mit den Nerven, auf deren Thätigkeit
so aufserordentlich vielerley Heilsames und Krankes pflegt zurückgeführt
zu werden. Hier sey zuerst, und vor allem ein Wort von Herrn Professor
380 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
Sachs * angeführt, ohne dessen Schutz wohl schwerlich das Nachfolgende
für etwas anders, als für eine Probe philosophischer Wagestücke mochte
genommen werden.
„Das Rückenmark läfst sich mit jedem einzelnen Nerven darin ver-
gleichen, dafs beyde eben so entschieden wichtig als unselbstständig sind :
wichtig als leitende Apparate; hingegen unselbstständig , indem sie, ab-
gesehen von diesem Leitungsgeschäfte (wo es verhindert, aufgehoben, un-
möglich ist), nichts für sich bedeuten."
Neben diesem Ausspruche darf wohl an die, in der Psychologie
nachgewiesene Notwendigkeit erinnert werden, in Ansehung der Seele das
Nervensystem, im gesunden Zustande, und im Menschen, als passive Ma-
schine zu betrachten; wenigstens weit mehr, wie irgend eines von den-
jenigen Organen, welche nach ihren eignen Gesetzen die ihnen zu-
kommenden Lebensfunctionen verrichten.** Dagegen ist selbstständiges
Auftreten des Nervensystems in Beziehung auf die Seele die reichste Quelle
von Erklärungen der anomalen geistigen Zustände.
Ganz unabhängig nun von jenen psychologischen Be-[664]trachtungen
ergiebt sich aus der allgemeinen Lehre von der Materie eine sehr starke
Bedenklichkeit gegen die Annahme einer ursprünglichen Verschiedenheit
der Nerven, woraus man etwa eine bedeutende Verschiedenheit ihrer
Functionen im gesunden Zustande möchte erklären wollen.
Wir wissen längst, dafs wir aus innern Zuständen die äufsere Ge-
staltung erklären müssen. So wird allein die ungeheure Verschiedenheit
der Prlanzenformen begreiflich, worauf kein Nervensystem Einflufs hat;
sanimt den höchst verschiedenen vegetabilischen Producten (§. 436). Was
aber hier die Pflanzen lehren, das ist, wie man aus dem Ganzen unserer
Untersuchung längst weifs, blofse Bestätigung der allgemeinen Grund-
sätze; es stand längst vest ohne Rücksicht auf die Pflanzen.
Aus gegebenen innern Zuständen folgt die Gestaltung eben sowohl,
wie wir aus gegebener Gestalt auf innere Zustände schliefsen. Man nehme
nun einmal an, die Nerven besäfsen ursprünglich eine grofse Mannigfaltigkeit
innerer Zustände, was wird folgen ? Eben so grofse Mannigfaltigkeit der Ge-
staltung bey freyem Wachst hu in.
Zeigt denn die Erfahrung eine Mannigfaltigkeit in der Configuration
der Nerven? Sieht ein Nerve beträchtlich anders aus wie ein anderer?
Wir reden hier nicht von dem verschiedenen Bau des gesammten
Nerven- und Hirn-Systems bey verschiedenen Thieren; dieser versteht sich
wohl selbst, so gewifs wir nicht die Nerven des Fisches für brauchbar
halten werden im Säugethiere. Aber wenn in dem einzelnen Thiere selbst
eine grofse Verschiedenheit seiner Nerven unter einander angenommen
werden sollte, gemäfs den verschiedenen Functionen, die man von ihnen
erwartet : dann trit das Bedenken ein, ob nicht die entsprechende Con-
figuration der Nervenmasse weit grös-[ö65]sere Unterschiede zeigen mülste,
als der Erfahrung gemäfs ist?
* Sachs Handbuch des natürlichen Systems der praktischen Medicin. Ersten
Theils erste Abtheilung S. 240.
** Psychologie II. §. 157. (Bd. VI vorl. Ausgabe.)
5-Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 6. Cap. Phil. Beleuchtung etc. 38 I
Demnach überlegen wir, ob nicht ohne Mannigfaltigkeit der innern
Zustände dennoch die Verschiedenheit der Functionen zu begreifen sey?
Und hier versteht sich wiederum von selbst, dafs wir die ursprünglich vor-
handenen, dem unthätigen Nerven schon vor aller Wirksamkeit eigenen,
innern Zustände im Auge haben; denn wenn eben jetzt der Nerve auf
eigenthümliche Weise thätig ist, dann freylich hat er gewifs in bestimmte
neue Zustände sich zu diesem Behufe versetzen lassen, welche jedoch vor-
übergehend sind.
In den letzten Worten ist unsre Meinung schon ausgesprochen; deut-
licher lautet sie also:
Nicht die Sensibilität verschiedener Nerven ist verschieden, sondern
die Sensationen; diese aber hängen bleibend ab von den übrigen, mit ihnen
verbundenen Theilen des Organismus, und vorübergehend von den einzelnen
Anlässen der einzelnen Sensationen. Die Nerven sind überall nur Boten
und Vermittler; sie thun im gesunden Zustande nichts von selbst. Aber
wenn ein Nerve zum Auge, ein anderer zum Ohr, ein dritter zu einem
Muskel, ein vierter zu einer Arterie geht u. s. w. : dann giebt es sowohl
bleibende als vorübergehende Gründe genug für die Verschiedenheit des
Leidens und Thuns.
Ist nun dies richtig: so bleibt endlich nur der dritte Hauptfactor
des thierischen Lebens übrig, um mannigfaltige nähere Bestimmungen an-
zunehmen. Bey dem Begriffe der Reproduction wird man die speeifischen
Differenzen anzubringen haben, welche nöthig sind, um die Mannigfaltigkeit
der Organe und ihrer Functionen zu begreifen. Das Pflanzenreich, an
welches wir vorhin schon erinnerten, zeigt deutlich, wie vieler Formen die
Vegetation für sich allein fähig ist. Im Thiere nun [666] wird sie im
hohen Grade beschränkt, und vor Wucherungen gehütet, — nämlich so
lange die Gesundheit dauert; — diese Beschränkung mögen wir den
Nerven verdanken, die, indem sie Alles mit Allem verbinden, auch Jedes
zur Bedingung des Andern machen, und keinem einzelnen erlauben, sich
blofs nach eigner Weise auszubilden. Aber Vermehrung des Mannigfaltigen
haben wir bey gesunden Nerven nicht Ursache zu suchen; wenigstens nicht
viel weiter, als insofern eine Spur von Faserung, und überhaupt von ver-
schiedenem Ansehen der Nerven und der Hirntheile, die Annahme be-
günstigt: hier sey mit innerer Verschiedenheit auch entsprechende äufsere
Gestaltung verbunden.
Jetzt wollen wir den Schlufs der oben angeführten Stelle des Herrn
Prof. Sachs hieher setzen. „Der Vegetation dient das Rückenmark, bey
dem Menschen und den höhern Thieren wenigstens, gewifs nicht. Dieses
ist völlig entschieden durch die nicht ganz seltenen Fälle des gänzlich
fehlenden Rückenmarks bey Misgeburten, die denn doch ernährt worden
sind. Ob es vielleicht bey den Fischen eine solche Bedeutung hat, maafsen
wir uns nicht an zu beurtheilen." Das letztere ist offenbar nur Nach-
giebigkeit gegen Andere. Vielleicht hätte die Nachgiebigkeit noch weiter
gehn können, wenn gesagt wäre: der Vegetation dienen die Nerven blofs
negativ, nämlich so, dafs aus den Thieren keine Misgeburten werden.
Vegetative Nerven im positiven Sinne wären dann nicht blofs bis zu den
Fischen, sondern bis zu den Hirngespinnsten verwiesen worden. Wo man
■2$2 !■ Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 1829.
dergleichen annimmt, da scheint die Erinnerung an das weite Reich der
blolsen Vegetation, nämlich an die Pflanzen, gefehlt zu haben.
Aber müssen wir nicht mit dem angeführten Schriftsteller wenigstens
dem Gangliensystem eine von der Sensation ganz verschiedene Function
zuschreiben, näm-[o,67]lich die Blut -Imitation? Um hierüber klarer zu
werden, ist es nöthig, zuerst Einiges über Incitation des Bluts überhaupt
einzuschalten.
§• 442.
Wir beginnen mit einer ganz einfachen Erfahrung. Wenn man mehrere
Blutigel neben einander ansetzt, so zeigt sich bald eine schwache Röthe
auf der Haut zwischen ihnen, ähnlich der Entzündungsröthe. Und die
Stellen, wo die Blutigel angebissen hatten, umgeben sich späterhin mit
blauen Flecken von untergelaufenem Blute.
Von den drey Charakteren der Entzündung, Schmerz, Röthe, Geschwulst,
ist hier nur das zweyte vorhanden; der Gegenstand ist also geeignet, die mehr
verwickelte Betrachtung der Entzündung vorzubereiten, weil der Fall einfacher ist.
Woher kommt nun hier der Andrang des Bluts? Doch wohl nicht
von dem kaum fühlbaren und nur augenblicklichen Schmerze. Noch
weniger vom Ausfliefsen des Blutes, welches wohl Blässe, aber nicht Röthe
beo-reiflich machen würde. Eben so wenig von innern Ursachen; denn
diese waren zuvor auch da, und machten die Stelle doch weder roth noch
blau. — Man wird gar keinen Grund finden, aufser nur die Attraction,
deren wir im Anfange (§. 426) erwähnten. Das Blut, welches der Blut-
io-el einsaust, wird unstreitig in dem Wurm selbst in neue innere Zustände
versetzt, welche einen Anfang von Assimilation in sich tragen mögen. Wie
aber auch diese innern Zustände beschaffen seyn, worauf hier nichts an-
kommt: sie pflanzen sich fort bis ins Innere des menschlichen Leibes.
Der Faden des Blutes, welcher von dem saugenden Wurm bis in jedes
der nahe liegenden feinen Gefäfse unter der Haut des Menschen kann
verfolgt werden, dient hier selbst als Leiter [668] eines fremdartigen Zu-
standes, wovon, wie wir wissen, Attraction die Wirkung ist. Nun kommt
das Blut im Überflusse herbey, ohne darauf zu warten, wieviel der Wurm
davon einsaugen möge, und so geschieht eine lange Nachblutung einer
höchst kleinen Wunde, die sich sonst weit früher schliefsen würde.
Setzen wir jetzt statt des Blutigels einen fremden Körper, den man
sich in die Haut gestofsen habe, z. B. einen Dorn. Auch hier geschieht
das Obige, aber es geschieht noch mehr. Denn der Dorn schmerzt.
Was ist der Schmerz? In der Psychologie ist gezeigt, dafs mit höchster
Wahrscheinlichkeit hiebey eine Mannigfaltigkeit mehrerer gleichzeitiger Em-
pfindungen mufs angenommen werden; und dafs die Untersuchung auf die
Lehre von der Verschmelzung vor der Hemmung zurückweiset.* So tief
brauchen wir nun hier nicht zu gehn; allein eine andre Bemerkung ist
nöthig. Obgleich nämlich der Schmerz in der Seele ein völlig Intensives
wird, so ist doch in der Materie, zunächst des Nerven, nicht anzunehmen,
dafs die ungleichartigen Zustände, welche hier zusammentreffen, sich in
den Elementen der Materie eben so vollkommen intensiv ausbilden sollen.
Psychologie II, S. 92. (Bd. VI vorl. Ausgabe.)
5. Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2. Abth. Analyt. Unters. ö.Cap. Phyl. Beleuchtung etc. 38^
Denn die mindeste Verschiedenheit in der Lage dieser Elemente macht
sie, wenn sie auch ihrer ursprünglichen Qualität nach gleichartig sind,
dennoch in verschiedenem Grade empfänglich für die verschiedenen Af-
fectionen, worin sie gerathen, während die Seele den zusammengesetzten
Zustand des Schmerzes empfindet.
Um nun die Erklärung der Entzündung zu finden, überlege man,
was hieraus folgt. Es ist schon aus dem Obigen bekannt.
Wenn gleichartige Elemente, die unvollkommen zu-[66c)]sammen sind,
in ungleichartigen Zuständen sich befinden, so erfolgt Oscillation (§. 365).
Dies ist das erste, notwendigste Princip unserer ganzen Untersuchung
über das Leben. Man wende es hier an, und man wird sich nicht mehr
wundern, dafs zum Schmerze und zur Röthe sich die Geschwulst gesellt,
und dafs diese, sich selbst überlassen, in Eiterung endigt. Die Oscillation,
worin die Elemente des leidenden Nerven und der ihn zunächst um-
gebenden Theile versetzt werden, giebt dem leidenden Theile ein gröfseres
Volumen, selbst unabhängig vom Blutandrange, wiewohl dieser sich damit
zu verbinden pflegt. Das Ende der stets vermehrten Oscillation aber,
wofern der fremde reizende Körper nicht früh genug entfernt wird, ist
Trennung der Elemente, deren Zusammenhang um so gewisser endlich
aufhören muls, weil diejenigen innern Zustände, durch welche sie zusammen-
hingen, mehr und mehr gehemmt, und durch die neu eintretenden Zustände
verdorben werden. So ist die Eiterbildung kein Wunder; vielmehr wird
diese Erklärung Jedem vollkommen einleuchten, der die Grundsätze gefafst
hat, daher wir uns mit weitern Erläuterungen nicht aufhalten.
So wenig man nun die Entzündung eines einzelnen Theils vom Herzen
ableiten kann : eben so wenig gelingt dies bey der Schaamröthe, oder bey
andern Congestionen in bestimmte Theile. Das Herz schlägt für alle
Organe gleich: es weifs keinen Unterschied zu machen, ob das Blut, was
in die Lunge und in die Aorta gestofsen wird, nach oben oder nach unten
gehen soll. Nervenreize wirken hier auf das Blut; die Anatomen haben
zu entscheiden, ob es Nerven des Ganglien -Systems sind, welche von den
Gedanken des Erröthenden den Reiz empfangen?
§• 443-
Indem wir nun die Blut-Incitation durch die Ner-[6/o]ven näher
zu betrachten wünschen: stofsen wir auf eine Schwierigkeit, die sich durch
philosophische Betrachtung wohl schwerlich heben läfst. Einerseits sagt
man uns, dafs die Nerven des Gangliensystems sich den Arterienstämmen
anschmiegen, sie umschlingen, und besonders die feinern Gefäfs-Äste netz-
förmig umgeben.* Aridererseits sollen die Arterien gar nichts seyn als blofse
Röhren, ohne eigne Fähigkeit, das Blut anzutreiben.** Was wirken denn
hier die Nerven? „Wenn durch den Nerven ei nfiufs, z. B. bey der Schaam,
plötzlich Röthe oder Blässe des Gesichts u. s. w. entsteht, so läfst sich
der Vorgang wohl nicht anders deuten, als durch Congestion nach aufsen,
durch Röthe, oder Congestion nach inneren Theilen , wobey äufserlich
Blässe hervorgebracht wird. Eine eigene Thätigkeit der Arterien ist hier
* Sachs a. a. O. §. 387.
** Rudolphi Phys-iologie, 2ter Band zweyte Abth. §. 424.
,84 *■ Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1829.
wenigstens durch nichts erwiesen; sondern die verstärkte oder ver-
ringerte Thätigkeit des Herzens ist zur Erklärung hinreichend." So
spricht Rudolphi. Wie nun das Herz dazu gelange, auch nur überhaupt
innere und äufsere Theile zu unterscheiden, das lehrt er nicht; auch giebt
es gewisse Congestionen, von denen kein Mann glauben wird, sie seyen
nur im Allgemeinen Congestionen nach aufsen.
In der That, so lange der Nerveneinflufs auf die Arterien nicht
klärer dargelegt wird, als nur durch Hülfe des Herzens, möchte man in
Versuchung gerathen, die ganze Behauptung, dafs die Arterien blofse
Röhren seyen, in Zweifel zu ziehen. Und dies um so mehr, da selbst
von den Haargefäfsen, und deren Attraction, die etwa auf einen Nerven-
einflufs erfolgen möchte, hier wenig zu erwarten ist. Was bedeutet [671]
denn das Anschmiegen schon an die Arterien- Stäm me, wenn die Nerven
nicht schon dort auf das darin befindliche Blut wirken? Und wie sollen
sie es machen, hieher zu wirken, wenn nicht durch die Arterien?
Allein so dunkel auch dieser Gegenstand bleibt: so kommt es uns
doch eigentlich nur auf die Frage an, ob man den Begriff der Nerven,
sie seyen Werkzeuge und Leiter der Sensationen, den Gangliennerven zu
Gefallen verlassen, und ihnen noch eine davon ganz verschiedene Function
auftragen müsse? Solche Abänderungen in den Grundbegriffen können
nicht willkommen seyn; sie verdunkeln zu sehr den Zusammenhang unserer
Gedanken, als dafs man nicht versuchen sollte, die Erfahrung von einer
andern Seite verständlich zu machen.
Zuvörderst erlauben wir uns die Bemerkung, dafs der Begriff der
Sensation oder Empfindung in der Psychologie kein anderer ist, als der
einer einfachen Selbsterhaltung der Seele. Das Wort wird gebraucht, wo
wir Rothes oder Blaues, Süfses oder Saures, oder irgend einen einfachen
Ton eben jetzt wahrnehmen. Der Begriff aber ist der nämliche für jedes
Element, das eben in Selbsterhaltung begriffen ist gegen ein anderes. Hält
man sich an diesen Begriff": so ist Sensation des Nerven nicht blofs auf
den Fall beschränkt, da er der Seele eine Empfindung verursacht; sondern
er kann eben so gut, wie zwischen ihr und der Aufsenwelt, auch zwischen
einigen und andern Theilen des Organismus eine ähnliche Vermittelung
und Übertragung innerer Zustände besorgen. Seine eignen innern Zustände
richten sich nach dem, was ihn reizt, und ihnen entsprechen andre in dem-
jenigen, was durch seine Vermittelung den Reiz empfängt. Von innern Zu-
ständen aber sind in der Regel Configurationen und Bewegungen die Folge; ■
es ist also kein Wunder, wenn auf [672] Nervenreize, in welchem Theile
des gesammten Nerven -Systems sie auch statt finden mögen, Bewegungen
des Bluts erfolgen; sobald man nur nachweisen kann, wie die Verbindung
zwischen dem Nerven und dem von ihm bewegten Gegenstande beschaffen
sey. Wir wundern uns nicht mehr über die Muskelbewegung, weil der
Nerv zum Muskel hingeht; aber bey den Arterien bleibt die Frage un-
beantwortet, ob sie selbst eine Zusammenziehung, oder Oscillation, durch
den Nerven -Einflufs erleiden, oder ob man annehmen müsse, durch die
Wand der Arterien erstrecke sich vermöge der nirgends fehlenden Feuch-
tigkeit ein vom Nerven abhängender Einflufs bis aufs Blut? Und dies
scheint beynahe das Begreiflichste zu seyn.
5.Abschn. Umrisse d. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 6.Cap. Phil. Beleuchtungetc. 3S5
Denn gesetzt, die Feuchtigkeit der Arterien -Wand empfange auch nur
im Geringsten von dem in der Nähe liegenden Nerven eine ähnliche
Attraction, wie jene in dem Blute, das vom Blutigel gesogen wird (§. 442),
und sie pflanze diese Attraction bis in das Arterienblut selbst fort: so ist
dies soviel, als würde das Blut in dem Gefäfse ausgedehnt, da es gegen
die Wände drängt. Nun mag die Arterie immerhin blofs die gewöhnliche
Elasticität einer gespannten Haut besitzen, ja sie mag starr seyn (wie bey
Verknöcherungen), so wird dennoch ein Gegendruck erfolgen, ohne dafs
die x\rterie nöthig hätte sich zu bewegen. Auf diesen Gegendruck wird
das Blut, wie auf eine wirkliche Zusammenziehnng des Gefäfses, seinen
Lauf beschleunigen; und der Nerveneinfiufs wäre demnach auch bey der
Incitation des Bluts erklärt, ohne dafs wir nöthig hätten, einerseits den
Begriff der Sensation zu verlassen, andererseits denen zu widerstreiten,
welche gegen der Starrheit der Arterien sich auf Erfahrung berufen.
Dafs jedoch eine solche Erklärung sehr unsicher, dafs sie in der That
nur eine vorläufige, aus Noth ge-[Ö73]wagte, für jede Widerlegung emfäng-
liche Ansicht ist, braucht kaum gesagt zu werden. Nachdem sie gewagt
worden, mag sie auch noch einen Zusatz empfangen. Zusammenziehung
der Arterie wäre unzweckmäfsig; denn sie bestimmt nicht, ob das Blut
rückwärts oder vorwärts soll. Drängen des Bluts gegen die Arterienwand
durch Anziehung von Seiten des Nerven wäre an sich um nichts besser;
wofern nicht nach der Gegend, wohin das Blut gehen soll, die Geschwindig-
keit gröfser ist. Dazu nun gerade mufs es, nach Überwindung des ersten
Widerstandes, sehr bald kommen, wenn die feinern Gefäfs-Aste den be-
schleunigenden Einflufs des Nerven vorzugsweise erfahren. Und eben dies
sagt die angeführte Beschreibung.
§• 444-
Je mehr wir uns im Vorhergehenden bemühten, die Begriffe der
Irritabilität, als der Zusammenziehung wegen des Widerstrebens gegen eine
bevorstehende Hemmung schon vorhandener Zustände, und der Sensibili-
tät, als der Unterwürfigkeit unter neue Zustände, welche sich in den Ele-
menten der Nerven vervielfältigen, — rein und frey von solchen Neben-
begriffen, die Verwirrung anrichten könnten, zu erhalten: desto noth-
wendiger ist nun, zu erinnern, dafs alles Bisherige sich auf die Gesund-
heit bezog; und dafs Krankheit aufs Gegentheil hinweist. Die Sensibilität
wird demnach gewifs der Lehre von den Krankheiten vielfach zum An-
knüpfungspuncte dienen können; nicht blofs insofern, als beym Aufhören,
bey Unterbrechungen derselben, ein Zerfallen der bis dahin verknüpften
Functionen des Organismus entstehn wird, sondern auch, indem die Unter-
würfigkeit und Dienstbarkeit des Nervensystems sich in Eigenwillen und
selbstständiges Auftreten verwandelt, wobey der Zusammenhang des Gan-
zen noch [674] mehr leiden mufs als im vorigen Falle. Krämpfe aller
Art scheinen davon das einfachste Beyspiel zu geben.
Dafs die Irritabilität sich wohl schwerlich zum Mittelpuncte einer
ganzen Krankheitsciasse eignen möchte, ist oben (§. 440) schon bemerkt.
Dagegen schienen die Begriffe der Humoral - Pathologie nicht so verwerf-
Herbart's Werke. VIII. 25
^86 I- Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen etc. 1820.
lieh (§. 438), und das nämliche dürfte sich auch von denen der Erregungs-
theorie zeigen lassen. In diesem Falle kämen vier Classen von Krank-
heiten zum Vorschein; nach Beyseitsetzung der örtlichen. Diese Classen
wären folgende.
1) Krankheiten der Ernährung.
2) Krankheiten der Säfte.
3) Krankheiten der Sensibilität, und
4) Krankheiten der Erregung.
Sollte diese Zusammensetzung ungeschickt erscheinen, so würden wir
zuerst bitten zu bemerken, dafs Verkehrtes sich niemals so schicklich zu-
sammenordnen läfst, als das Rechte. Fragt man uns z. B. nach einer
vollständigen Definition der Tugend; so können wir alle Factoren der-
selben mit Hülfe der fünf praktischen Ideen angeben; fragt man aber
nach einer Aufzählung aller Requisite des Lasters, und des Bösen, so sind
nur die negativen Bestimmungen vollständig, nämlich im Gegensatze der
Tugend; hingegen die positiven können ausserordentlich mannigfaltig seyn,
und erlauben keine veste Zusammenfassung. Eben so mufs man keine
genaue Eintheilung und Aufzählung der Leidenschaften und der Affecten
fordern. Krankheiten nun gehören gewifs zu den Verkehrtheiten; und wie
dies in Hinsicht der örtlichen Krankheiten Jeden bald auf die Bemerkung
führen wird, dafs sie sich nicht mit absoluter Vollständigkeit nachweisen
lassen, so kann man auch in Hinsicht der Eintheilung allgemeiner Krank-
heiten wohl kaum etwas mehr thun, als diejenigen Begriffe [675] sam-
meln, welche als Negationen der Gesundheit bey der Betrachtung der-
selben sich darbieten.
Um einen formalen Begriff nachzuholen, der zur Ergänzung der
frühem Hauptbegriffe unentbehrlich ist, haben wir der Erregungstheorie
erwähnt. Ganz allgemein, für Pflanzen eben sowohl als für Thiere, gilt
der Unterschied der vita maxima, vita minima, und der Mittelstufen. Die
Pflanze kann Mangel leiden an Licht und an Wasser; ihr Reproductions-
geschäft geht nun langsamer; woraus unter LTmständen Krankheit ent-
stehen wird. Beym Thiere wechseln aufser den Aufregungen und De-
pressionen der Ernährung auch noch die der Irritation und Sensation;
eine gewisse, nicht übermäfsige Abwechselung dieser Art gehört sogar zur
Lebensregel des thierischen Daseyns; während das Übermaafs die Gesund-
heit verletzt. Der Begriff der Beschleunigung oder Verzögerung des
Wechsels ist nun zwar an sich kein Begriff von Krankheit oder Gesund-
heit, aber rückwärts ist auch die Annahme der veränderten, anomalen
Reproduction, Sensation, oder der verdorbenen Säfte, nicht gleich dem
Quantitätsbegrifte der Erregung zum schleunigem oder verzögerten Wechsel.
Dieser Begriff bedarf einer besondern Aufmerksamkeit.
Ganz ohne Veränderung der Gesundheit liefse das Quantum der Er-
regung sich vermindert denken, wenn der lebende Organismus den Zwang
aushalten könnte, den die Versagung aller Lebensfunctionen ihm anthäte;
und wenn alle diese Functionen ganz gleichmäfsig, ohne Verrückung ihres
Verhältnisses, aufgehalten werden könnten. Die merkwürdigen Beyspiele
des Scheintods sind schon Krankheit; hingegen Fälle von gänzlich zurück-
gehaltenem, und doch nicht erloschenem Leben scheinen bey Thieren
5. Abschn. Umrissed. Naturphil. 2.Abth. Analyt. Unters. 6.Cap. Phil. Beleuchtung etc. 387
wirklich vorhanden zu seyn. Besonders häufig ist die Erzählung von
Kröten, welche [676] lebten, obgleich sie in Holz- und Stein-Massen ein-
geschlossen waren.* Sie erinnern an die Oliven, die man neulich noch
kenntlich in Herculanum fand. Jahrhunderte können für jene eingeschlos-
senen Tiere ohne Wechsel verlaufen seyn; es gab dann für sie selbst
keine Zeit. Das Gegenstück zu dieser Verminderung des wechselnden
Lebens ist die Vermehrung; allein sie geschieht schwerlich ohne Krank-
heit, man müfste denn einen wohlausgeschlafenen Rausch hieher rechnen.
Und doch giebt weder dies Beyspiel noch das von Thieren, die man in
Sauerstoffgas athmen läfst, vollständig den Begriff einer Beschleunigung
ohne Verrückung der Lebens- Verhältnisse; denn wo die Blutbewegung
beschleunigt wird, nämlich im Rausche, da ist schwerlich das Athmen und
Verdauen und die Ernährung mit jener gleichen Schritt gegangen; und
wo die Lungen zur gröfsten Thätigkeit aufgereizt wurden, nämlich durch
Sauerstoff, da ist wohl sicherlich kein gleichmäfsig wirkender Reiz auf die
übrigen Systeme angewendet worden. Auch kann die Beschleunigung, falls
sie nicht Krankheit zur notwendigen Folge haben soll, niemals weiter
gehn, als wie weit das innere Streben sich erhöhen läfst; darüber hinaus
mag z. B. wohl Sauerstoff angeeignet werden, aber das ist alsdann ein
chemischer Procels, der das Leben nicht fördert, sondern stört.
Die BROWNsche Erregungstheorie, welche sich auf die Hauptbegriffe
der Hypersthenie, directen und indirecten Asthenie stützte, mag am
Krankenbette sehr geschadet haben: allein man mufs den Begriffen ein-
räumen, dafs ihre Sonderung klar ist, soviel auch an der Ausarbeitung
und gehörigen Verknüpfung mit den andern physiologischen Grundbegriffen
zu fehlen scheint. Daher ist wohl kein Wunder, dafs die Ärzte noch
jetzt [677] Gebrauch davon machen. „So grofs auch der Beyfall war,
den das BROWNsche System erhielt, und so schnell es sich auch weit ver-
breitete: eben so schnell wurde doch auch die Einseitigkeit desselben er-
kannt; diese suchte man durch solidar- oder humoral-pathologische, che-
miatrische, naturphilosophische u. a. Sätze, die man hinzufügte, und durch
viele mannigfaltige Bearbeitungen und Veränderungen der Grundlehren zu
beseitigen, und bildete so die iueonsequente, eklektische Erregungstheorie aus,
welche in unsern Zeiten am ineisten verbreitet ist. ** "
Was Erregung sey, sagte Brown, das wissen wir nicht. Was Schwere
sey, hatte Newton gesagt, das wissen wir nicht. Aber nicht Jedem, der
sich begnügt, den Grundbegriff seiner Wissenschaft ohne tiefere Unter-
suchung anzuwenden, ist Newtons Glück beschieden. Das Schicksal der
BROWNschen Lehre kann warnen. Inkonsequenz entsteht überall, wo
ältere Lehren, die man nicht ganz verlassen will, und doch nicht behalten
kann, durch neue Zusätze nach Gutdünken, wohl auch nach der Mehrheit
der Stimmen, abgeändert und gleich alten Kleidern ausgebessert werden.
Vollständige Untersuchung hat veste Anfangspunkte und bestimmte Me-
thoden; sie übereilt sich nicht im Deuten der Erfahrung; und sie strebt
niemals nach der Mehrzahl der Stimmen.
* Treviranus, Biologie, zweyter Band, S. n.
** Puchelt, System der Mediän, erster Theil, S. 38.
25*
?§5 I. Allgemeine Metaphysik nebst den Anlangen etc. 1829.
Finden sich in diesem Buche übereilte Deutungen : so wird die Na-
tur sie zurückweisen; und es lohnt dann nicht, über die teleologischen
Ansichten, die nicht vergessen, sondern absichtlich verschwiegen wurden,
etwas beyzufügen. Bestätigt hingegen die Natur, was hier, freylich mit
sehr verschiedenen Graden des Wissens und Vermuthens, vorgetragen ist:
so kehrt die Teleologie [678] von selbst in ihre alten Rechte wieder zu-
rück. Denn diejenige Art von Natur forschung, welche man hier findet,
steht ihr sicher nicht im Wege. Sie macht nicht den mindesten Anspruch
zu erklären, wie im Menschen und in Thieren die Muskeln in gehöriger
Anzahl und Gestalt an die rechten Stellen kamen; sie begnügt sich, nach
der Contraction irgend eines vorhandenen Muskels zu fragen, und darauf
eine wahrscheinliche Antwort zu geben. Auch kann man alles, was hier
über das Licht, über die Nerven, und anderwärts über Mechanik des
Geistes gesagt worden, zusammennehmen: es wird nicht eine Spur des
Versuchs, aus dem Triebe oder dem Bedürfnis des Sehens das Auge zu
erklären, sich entdecken lassen. Völlig fremd, und darum völlig unange-
tastet, jedoch nicht etwan aus Nachlässigkeit unberührt geblieben, sind alle
Fragen, welche der Mensch über den Ursprung seines Geschlechts erhebt
und erheben soll. Die Fragen bleiben; es ist auch bekannt, dafs sie zu
einer sehr zahlreichen Familie gehören. Für ihr Gewicht, für ihren Um-
fang, giebt es kein Maafs. Jeder kennt und fühlt sie; der Glaube schafft
Jedem die Antwort, der sich nicht widersetzt.
Alle menschliche Wissenschaft endet mit dem lebhaftesten Gefühl von
der Geringfügigkeit unseres Wissens; selbst dies Gefühl aber setzt eine
Art von Übersicht dessen voraus, was uns fehlt. Drey Theile lassen sich
in dem Gebiete unseres Nicht - Wissens unterscheiden. Der erste gehört
den künftigen Erfahrungen, sammt den Schlüssen, zu welchen sie einst
führen werden. Von ihm hat jede Naturphilosophie für sich zu hoffen
und zu fürchten. Der zweyte begreift in sich die Erfahrungen, für welche
es einen Schauplatz giebt, den wir nicht erreichen können. Dorthin er-
strecken sich noch unsre Vermuthungen ; wir erwarten Starres und Flüs-
siges, Licht und Schwere, Electricum und Ca-[679]loricum, auch auf an-
dern Weltkörpern. Wir erwarten dort auch andre Vernunftwesen, nur
nicht etwan ausgerüstet mit andern Formen der Erfahrung. Hingegen
möchten wir dort die Anfänge dessen finden, was auf der Erde fremd ist;
das Fremdeste aber auf ihr ist der Mensch. Gesetzt nun, wir fänden
wirklich den Anfang einer Reihe von Ereignissen, sofern derselbe als Er-
scheinung möglich ist, würden wir ihn darum auch denkend begreifen und
verstehen? — Vielmehr, es giebt noch eine dritte, unendlich höhere
Sphäre unserer Unwissenheit; die der höhern geistigen Natur. Sie ist
über uns ; aber der Abgrund der Schwärmerev eröffnet sich neben uns,
7 0 •/
sobald wir uns nicht ausdrücklich verbieten, in jene uns hineindenken zu
wollen. Darum bleibt der Glaube im Felde der praktischen Ideen; die
Metaphysik aber versucht sich an der sichtbaren Natur, von welcher, wie
sie längst weifs, ihr Bestätigung oder Widerlegung bevorsteht.
ANHÄNGE
ZUR
ALLGEMEINEN METAPHYSIK.
Anhang I : Fragment eines Schlusses der Metaphysik.
Anhang II : Die Rezension der Allgemeinen Metaphysik von Prof. Dr. Brandis in Breslau.
Anhang III: Zwei Entwürfe zu einem beabsichtigten Sendschreiben an Brandis, den
Recensenten der Allgemeinen Metaphysik.
A. Erster Entwurf: drei Briefe.
B. Zweiter Entwurf: Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik.
Anhang IV: Zwei Worte über Naturphilosophie.
Anhang V: A. Strümpels metaphysisches Bedenken.
B. Herbarts Entgegnung auf ein metaphysisches Bedenken von Strümpell.
Anhang VI: Herbarts Entgegnung auf die Einwürfe des Herrn N.
Anhang I.
Fragment eines Schlusses der Metaphysik.
Text nach SW IV, 615 — 619.
(Bereits gedruckt Kl Seh III, 171 — 174.)
Wohl möchte jemand den Gedanken fassen, über alle bisher be-
trachteten Verhältnisse hinaus ein unendliches zu setzen, dem vermöge
einer ursprünglichen Verknüpfung alle jene untergeordnet seyen. Dem
Mathematiker ist es geläufig, in seinen Formeln den Wert eines Zeichens
unendlich grofs anzunehmen ; alsdann pflegen die Formeln sich plötzlich
so zusammenzuziehen und zu verändern, dafs man ihre vorige Gestalt nicht
mehr erkennt. Wenn es gelänge, infolge solcher Beispiele den Gegenstand
des Glaubens zu erreichen: so würden wir zwischen ihm und dem mensch-
lichen Wissen einen Übergang erblicken. Allein wie sollte uns dies bei einem
Gegenstand gelingen, der uns unendlich fern liegt?
Wollten wir uns einer Dreistigkeit hingeben, der schon so manches
System sein Dasein verdankte : so würden wir zuerst bemerken, dafs aus
einem unendlichen Abstände der ursprünglichen Qualität eine unendliche
Energie der innern Bestimmungen fliefst. Aus der Lehre von den Selbst-
erhaltungen versteht sich von selbst, dafs an ein Aufnehmen irgend welcher
fremdartiger Bestimmungen ohnehin nicht zu denken ist; alles Geschehen
und alle Gestaltung aber würde sich nach jener unendlichen Energie richten
müssen ; und nun erst würde von andern Dingen, welche bestimmte Eigen-
schaften hätten, die Rede sein können. Der Begriff des blofsen Sein, in-
sofern die Wissenschaft ihn dem wirklichen Geschehen, samt den Formen
desselben, voranstellt, kann hier gar nicht mehr in Betracht kommen; man
weifs längst, dafs das Sein ohne die Wirklichkeit des Geschehens lediglich
eine Abstraktion ist, welche in das Nichts der Hirngespinste zurücksinkt.
Da man sich wegen aller geistigen Eigenschaften nur an die unvermeid-
liche Analogie mit menschlicher Psychologie wenden könnte: so würde
man den Übergängen, welche dort die Stufen der Bildung bezeichnen,
hier eine unendliche Geschwindigkeit zuschreiben, welches soviel heifst, als
jeden Zeitverlauf gleich Null setzen, und das Höchste als unmittelbar vor-
handen betrachten.
Allein der Verfasser fühlt sich nicht im stände, länger fortzufahren.
Das anstöfsige der Künstelei, solchen Theorien, die nur für Gegenstände
unserer menschlichen Nachforschung erfunden waren, eine Ausdehnung zu
geben, bei der sie auch im Unendlichen noch passen sollen, ist ebenso
392 Anhang I.
unerträglich widerlich, als andererseits klar ist, dafs dennoch alle Systeme,
worin Glauben und Wissen vermengt wird, auf ähnliche Abwege geraten
müssen. Ein Geist ist für uns allemal ein Analogon des menschlichen
Geistes; ein Wesen, von dem Naturwirkungen ausgehen, begaben wir un-
vermeidlich mit einem Causalverhältnis, worin die Begriffe von Grund und
Folge, da sie nicht blofs eine logische, sondern eine reale Bedeutung an-
nehmen sollen, sich den Wirkungen anpassen, die wir vor Augen sehen.
Die grübelnde Neugier, welche sich des höchsten Gegenstandes theo-
retisch bemächtigen will, anstatt ihn nach praktischen Ideen zu bestimmen,
— ist dem Verfasser von jeher so fremd gewesen, dafs in demselben
Augenblick, wo er seine eigene Metaphysik versuchsweise einem solchen
Mifsbrauche unterwirft, sie sich ihm unwillkürlich entfremdet. Es fällt ihm
nun zuerst ein, was wohl im Laufe der Zeit aus ihr werden möge, und
ob sie sich den Physikern brauchbar zeigen, ob sie bei genauerer Ver-
gleichung mit den Erfahrungen und Beobachtungen bestehen, oder in
welchen Punkten man sie berichtigen werde? Jeder Mathematiker ist im
nämlichen Falle, wenn er Berechnungen gemacht hat, welche mit Ex-
perimenten sollen verglichen werden. Die Rechnung mag in sich selbst
wohl zusammenhängen; sie mag vollkommen fähig sein, gegen andere
Rechner verteidigt zu werden; aber wer wird darum das Experiment für
überflüssig halten? Ohne Bestätignng durch das unmittelbar und unwill-
kürlich Gegebene bleibt die Rechnung ein Hirngespinst; man versagt ihr
in Beziehung auf reale Anwendung das, wovon soeben die Rede war,
nämlich den Glauben! Dieser liegt stets in andern Gedankenreihen als
das Wissen, und erfordert eine andere Ausbildung.
Nach metaphysischen Grundsätzen kann man nicht einmal sein Haus-
wesen regieren; nicht seine gesellschaftlichen Pflichten erfüllen. Sondern
man wird durch die Geschäfte des Lebens unterbrochen im Denken; und
aus dem spekulativen Kreise wird man genötigt herauszutreten. Angelangt
in der Sphäre des geselligen Daseins, befinden vvir uns nun auf dem Boden
des religiösen Glaubens, der uns tröstet, wenn wir leiden, uns ermahnt,
wenn wir fehlen. In ihm sind wir aufgewachsen, und aus der Spekulation
wie aus einem Traume erwachend kehren wir unvermeidlich zu ihm wieder.
Er übt in uns die Gewalt der Erfahrung; die Systeme, wo sie mit ihm
in Konflikt geraten, beugen sich, oder ziehn sich zurück. Warum aber
soll man darauf warten? Es ist besser, willig sich den Zurechtweisungen
der von den Physikern so sehr bereicherten Erfahrung zu überlassen;
welche verständlicher sind, in Hinsicht der Punkte, bei welchen man zuerst
wird gefehlt haben.
Im Grunde glauben wir alle an Einen Gott. Es ist immer zuerst
die Idee der Güte, durch welche wir den Höchsten zwar als väterlich mit
uns verwandt, aber nicht als für sich, sondern als für uns sorgend, aufser
uns sehen ; daher ist Gott in der Sprache der Metaphysiker ein ens e.xtra-
mundanum. Es ist ferner die Idee der Weisheit, (Einstimmung der Ein-
sicht und des Willens,) wodurch wir zu dem bekannten unvermeidlichen
Anthropomorphismus genötigt werden, Bewußtsein und Willen aus unserer
innem Erfahrung herzuholen, um in unsrer Vorstellung von Gott den ersten
Haltungspunkt zu finden. Es ist die Idee der unendlichen Macht, wo-
Fragment eines Schlusses der Metaphysik. 393
durch wir zwar die Relation Gottes zur Welt, aber nicht die geringste
innere Bestimmung seiner Qualität erreichen.
Wir wollen jetzt nicht fragen, ob der Mensch zu diesem System von
Relationen das Absolute finden könne? Wir wollen nur fragen, ob ein
menschliches Gemüt es ertragen würde, hier eine theoretische Auffassung
an der Stelle der ästhetischen zu erhalten. Mufs uns nicht jene Fabel
von der Semele einfallen, die sich ihr Verderben erbat? Sind wir nicht
o-enuo- gewarnt durch die widrigen Eindrücke des Spinozismus, und durch
die fühlbare Schwäche der Theodiceen?
Die Erfahrung, mächtiger als die Systeme, und unbekümmert um
deren Dank oder Undank, sorgt dafür, dafs aus unserer ästhetischen Auf-
fassung, — welche für sich allein dem Zweifler als ein poetisches Bild
erscheinen möchte, — eine theoretische werde, in sofern wir dies ertragen
können. Der gestirnte Himmel, und der Bau des Leibes, dies sind keine
Fictionen der Dichter. Jener schreckt uns durch die Gröfse unserer Un-
wissenheit; dieser zwingt den Witz der Physiologen, dafs sie oft genug
selbst wider Willen einstimmen müssen in die Sprache der teleologischen
Naturbetrachtung.
Niemals wird die Teleologie entbehrlich werden; aber auch niemals
wird sie feste Grenzen erlangen. Bald wird man zuviel behauptet, bald
wiederum zuviel zurückgenommen haben; das Zurücknehmen wird sich
ebenso wenig rechtfertigen lassen, als die Übertreibungen des Behauptens.
Nur soviel ist klar, dafs von allen obigen Betrachtungen über Physiologie
und Physik auch nicht das mindeste weiter reicht, als bis zur Erklärung
des Fortbestehens, wenn der Anfang schon vorhanden war.
Dabei darf man nicht vergessen, dafs die Formen der Erfahrung nicht
vollständig anfgefafst sind, so lange die gegebene Form des Zweckmässigen
nicht mit in der Auffassung begriffen war. Alle Naturbetrachtung, die
unser Streben zum Wissen beschäftigen kann, schwebt immerfort im Ge-
biete der unvermeidlichen Abstraktion. Und alle wirkliche Erfahrung
schwebt wie ein unendlich Kleines im Reiche einer uns versagten möglichen
Erfahrung.
Der Mensch sieht sich selbst als ein Kunstwerk. Er vermutet auf
jedem Planeten, auf jedem Weltkörper ähnliche und gröfsere Kunstwerke
mit Recht. Er weifs, dafs bei jedem Versuch der Erklärung ihn die
Analogie mit menschlicher Kunst durchaus verläfst. Jeder weifs das; nie-
mand verlangt es von den Philosophen zu lernen. Das tiefe Meer unserer
Unwissenheit wirft hie und da schäumende Wellen; aber diese bleiben auf
der Oberfläche.
So nahe liegt uns die Grenze unseres Erkennens, dafs wir nicht
wissen woher wir stammen. Den Ursprung des Menschen erfährt kein
Mensch. Den Vater zu erblicken sind wir nicht wert, und zu schwach.
Wir sollen uns von ihm kein Bild machen. Wir sollen nicht schauen,
weder mit den Augen des Leibes noch des Geistes. Wir sollen glauben.
Würden diese Zügel uns abgenommen : wohin möchte des Menschen Über-
mut sich versteigen !
■2 Q4 Anhang II. Die Rezension der Allgem. Metaph. von Prof. Dr. Brandis in Breslau.
Anhang IL
Die Rezension der Aligemeinen Metaphysik von Prof. Dr. Brandis in Breslau.
(Text nach der Allgemeinen [Hallischen] Literatur-Zeitung. No. 141 — 145, Spalte48i — 5 1 7.)
Der zweite Teil der Herbartschen Metaphysik ist dem ersten rasch gefolgt, aber
— dafür zeugt die Gediegenheit und der Reichtum seines Inhalts — die Frucht viel-
jähriger Forschung, nicht das Werk der kurzen Frist, die zwischen seiner und des
ersten Bandes Erscheinung in der Mitte liegt. Je entschiedener und lebhafter Rez. das
anerkennt und diese metaphysischen Untersuchungen als das gereifte Erzeugnis hervor-
ragender, von reiner Liebe zur Wahrheit geleiteter Geisteskraft hochhält, um so mehr
fühlt er sich zu äufserster Behutsamkeit in der Beurteilung aufgefordert und ist weit
entfernt seine Einwendungen für etwas anderes als die Einleitung zu gegenseitigen Er-
örterungen über die schwierigsten Probleme der Spekulation zu halten. Dabei nicht
etwa mit verkleinerndem Vorurteil, vielmehr mit der Vorliebe verfahren zu sein, die
tief begründete Achtung für den Verf. seit lange in ihm genährt hat, — ist er sich leb-
haft bewufst. Er wird den Inhalt des ganzen Buches, soweit er der allgemeinen Meta-
physik angehört, den Lesern dieser Blätter im Abrifs vorlegen ; mit seinen Einreden
aber sich auf die Haupt- und Angelpunkte beschränken. Darlegung und Würdigung
der der allgemeinen Metaphysik beigefügten Anfänge der philosophischen Naturlehre
mufs er sachkundigem Gelehrten überlassen. Dem Grundrifs gemäfs, den wir aus dem
ersten Teile kennen, wird unsere Aufmerksamkeit zuerst für die Methodologie vom Verf.
in Anspruch genommen.
Auch die Empirie giebt zu, dafs der Geist die zerstreuten Glieder der Erfahrungen
zu verbinden, aus ihnen Gesetze zu folgern habe, um spätere lhatsachen den früheren
anzureihen, ja mit Hülfe der Theorie in der Zukunft zu lesen; sie verbietet aber das
Gegebene zu überschreiten, von der Theorie zum System überzugehn und bemerkt nicht,
dafs die Erfahrung gewisse Voraussetzungen fordert, welche zu ihr als notwendige Er-
gänzungen gehören. Um diese mit wissenschaftlicher Bestimmtheit und Vollständigkeit
aufzufinden und vermittelst ihrer den wahren Grund der Erfahrung, versucht die Speku-
lation eine Konstruktion von Begriffen, die, wenn vollständig ausgemittelt, das Reale
darstellen müfsten, wie es den Erscheinungen zu Grunde liegt. Sie sieht sich daher
nach einer Methode um, die ersten Gründe aller Erfahrung zu ergreifen ; sucht aus-
zumachen, wie das Gegebene frei von aller Verfälschung aufzufassen sei, wie aus ihm
als den Folgen die Gründe zu finden und wie aus den Gründen das Gegebene zu be-
greifen. Die Methodologie zerfällt mithin, nach ihren drei Hauptaufgaben, in drei Ab-
schnitte. 1) Das Gegebene mufs in höchster Allgemeinheit aufgefafst werden, damit
die zu findenden Gründe sich auf das ganze Gebiet der Erfahrung erstrecken ; nur mufs
es seiner Allgemeinheit unbeschadet, auf das Wirkliche, unmittelbar oder mittelbar,
sich beziehn, daher von allen leeren Abstraktionen frei sein. Das Wirkliche aber sind
Dinge mit mehreren und veränderlichen Merkmalen ; in ihm ist der Stoff oder das Em-
pfundene ohne alle Widerrede, jedoch auch die Form in so fern gegeben, inwiefern wir
sie am Empfundenen keinesweges willkürlich wechseln lassen, uns vielmehr an ihre
jedesmalige Bestimmtheit, d. h. an die Art, wie die Empfindungen sich gruppieren und
verknüpfen, gebunden finden: so dafs alle Ableitung der Formen der Erfahrung aus ur-
sprünglichen Formen des Erkenntnisvermögens die jedesmal bestimmte Wirklichkeit der
Erfahrung aufhebt. 2) Die Frage, wie kann aus dem Gegebenen gefolgert werden,
damit unser Wissen fortschreite (S. 24 ff.)? — nicht zu beantworten durch Berufung
auf Selbstbeobachtung und wiederholendes Denken (vgl. B. I. S. 243 ff.) oder auf
intellektuale Anschauung, — fällt mit der Frage zusammen, wie vielfach Gründe und
Folgen zusammenhängen können. Die Folge soll in dem Grunde liegen und zugleich
von ihm gesondert, ein Neues enthalten; sie kann sich daher zum Grunde nicht ver-
halten wie das Besondere zum Allgemeinen, eher umgekehrt wie das Allgemeine zum
Besondern; aber blofse Subalternation kann zu keiner Erweiterung des Wissens führen.
In der Mathematik schreitet unsere Ker.ntnis durch Ableitung der Folgen augenscheinlich
fort, aber indem wir wie beim Pythagorischen Lehrsatze und bei Auflösung von
Gleichungen, durch Hülfslinien und zufällige Ansichten den Grund erweitern, oder auch
Die Rezension der Allgem. Metaphysik von Prof. Dr. BRANDIS in Breslau. 3 95
die in der Aufgabe schon liegenden Begriffe mit bestimmter Absicht weiter entwickeln,
und so den ganzen Grund und die ganze Folge statt dessen finden, was sich zuerst
unvollständig als Grund und Folge gezeigt hatte. Ebenso bedarf, was uns in der
Physik als Grund erscheint, sehr häufig noch einer Ergänzung, um den ganzen Grund
zu ergeben. Die Begründungsweise in der Mathematik und Physik zeigt daher, dafs
die Folge wohl nur ein Teil des Grundes und der ganze Grund ein System von Be-
griffen sein müsse, ,,in welches man durch ein gewisses Thor, welches für den Grund
gehalten wird, hineingeht und zu einem andren Thor, das man Folge nennt, wieder
herauskommt" (S. 36); oder dafs das, was man den Grund zu nennen pflegt, nur ein
Teil eines gröfseren Ganzen sei; so dafs dann teils aus einem Grunde eine Menge von
Folgen abgeleitet werden kann, teils der Grund sich als zusammengesetzt erweist und
kraft seiner Zusammensetzung die Folgen erzeugen, und die Folge wenigstens eine neue
Verbindung solcher Begriffe darstellen mufs, die einzeln genommen schon im Grunde
lagen. Besteht nun die Folge lediglich in einer neuen Verbindung, so unterscheidet
sie sich nur der Form, nicht der Materie nach vom Grunde, wie im logischen Syllo-
gismus, in welchem die Folge in zwei Teile (die Haupttermini), der Grund in drei,
(die Haupttermini und den Mittelbegriff) auseinandertritt. Aber wie sehr wir auch den
Syllogismus durch Reihen von Mittelsätzen erweitern mögen, immer wird diese Form
der Folgerungen im Gebiete der Wissenschaften, namentlich der Mathematik, sehr un-
genügend bleiben, und sich nur auf Ausdruck der Verhältnisse der Inhärenz beschränken,
für alle darüber hinausgehenden Verhältnisse unzureichend sein. Um den Zusammen-
hang von Grund und Folge auch da zu begreifen, wo letztere von ersterem zugleich
materiell nicht blofs formell verschieden ist, erwägen wir den Grund vor dem Entstehn
der Folge, und wie diese aus ihm hervorbricht. „Der ganze Grund ist als Vorrat
schon da, aber noch nicht beisammen oder nicht gehörig bearbeitet" (S 43), und die
Folge als ein unbekanntes x mit ihm in Beziehung: für dessen Auffindung wir eine
allgemeine Regel als Methode der Beziehungen auszumitteln suchen. Zur Entdeckung
der Folge s?hen wir uns genötigt den Grund einer Bearbeitung zu unterziehen, so oft
der Versuch ihn im Denken festzustellen uns in Widersprüche verwickelt, die entweder
durch blofse Scheidung der schon vorhandenen Gedanken (durch Distinktion, wie beim
Begriff der Pflicht) oder durch Ergänzung des Begriffs sich auflösen lassen. Der Wider-
spruch oder Grund ergiebt sich dabei als Anfang, die Ergänzung des vorliegenden Be-
griffs als die Mitte und die Unterscheidung, zur Lösung des Widerspruchs, als das
Ende. Der Widerspruch ist Grund nicht wo man durch logische Schlufsformeln fort-
schreiten kann, oder wo er vollkommen an seiner rechten Stelle ist, wie im Begriff der
unmöglichen Gröfsen, sondern bei Begriffen wirklicher Dinge, wo vermittelst desselben
das Nachdenken in eine andere Richtung gedrängt werden mufs, um zu Resultaten zu
gelangen, und die Folge auch der Materie nach sich vom Grunde unterscheidet. Zu-
nächst mufs ein solcher Widerspruch zur Trennung der Einheit uns treiben, die das
Entgegengesetzte verknüpfen soll und nicht kann. Aber soll der Begriff denkbar zu-
gleich und gültig, der Logik und dem Gegebenen angemessen sein, so können nicht
ein und demselben Gliede die entgegengesetzten Prädikate zukommen, sondern statt des
Einen müssen mehrere gesetzt werden, wovon jedes einzelne für sich genommen
wiederum den ganzen Widerspruch in sich enthält, so dafs wir jene mehreren zusammen-
zufassen und anzunehmen uns genötigt sehen, jedes der verschiedenen (M), nicht einzeln,
sondern als zusammen mit den andren (M), sei gleich der Einheit (N). So haben wir
also zur Beseitigung des Widerspruchs, der in der angenommenen Einheit von Grund
und Folge liegt, den Grund in eine Mehrheit von Gliedern, in Gründe, aufgelöst und
mehrere zusammengehörige und gegenseitig durch einander umgeänderte Gedanken (nicht
blofs ihre Summe) als den ganzen Grund gesetzt. „Der hier angedeuteten Methode der
Beziehungen können wir ganz entbehren, wenn man in den einzelnen (sehr wenigen)
Fällen, auf welche sie pafst, genau genug dem Antriebe folgt, der in den Problemen
selbst enthalten ist" (S. 60). Sie wird zunächst in der Ontologie und zwar bei dem
ersten eigentlichen Prinzip der Metaphysik, dem Begriff des Dinges mit mehreren Merk-
malen, zur Anwendung kommen und nimmt, sowie die Mathematik ohne Wechsel der
Ausdrücke nicht fortschreiten kann, die Kunst der zufälligen Ansichten zu Hülfe. Das
wie aber und überhaupt der dritte Abschnitt der Methodologie, als Anweisung aus den
Gründen das Gegebene zu begreifen, läfst sich nur in der Anwendung selber hinlänglich
ins Licht setzen.
Seine Bemerkungen über diese Grundzüge einer metaphysischen Methodologie
396 Anhang II.
leitet Rez. durch Vergleichung derselben mit den Lehren der allgemeinen Logik ein.
Zwei Verbindungsweisen von Grund und Folgen treten sehr bestimmt auseinander; in
der einen sind letztere einzeln genommen schon in ersterem enthalten, und es bedarf nur
einer Zergliederung (Analysis), um die Folgen als im Grunde mitgesetzt nachzuweisen.
Die einfachste Form dieser Zergliederung ist der Schlufs und in ihm der Mittelbegriff
oder was ihm entspricht, nur ein Hülfsmittel, um die notwendige Zusammengehörigkeit
der Teile des Grundes darzuthun, daher im Schlufssatz, wo diese für sich als Folgen
zusammentreten , nicht mitaufgenommen. In analytischen Folgerungen ergeben sich
mithin die Folgen als identisch dem Grunde, und der Satz vom zureichenden Grunde
löst sich, auf sie angewendet, in die Grundsätze der Identität und des Widerspruchs
auf. Eine von diesen verschiedene Gattung und ein eigentümliches Gebiet gewinnt da-
gegen der Satz vom zureichenden Grunde, wenn gefolgert wird, ohne dafs die Folgen
schon materiell im Grande enthalten, d. h. durch blofse Anwendung der Grundsätze der
Identität und des Widerspruchs daraus abzuleiten wären: aut die Weise aber wird in
jeder Synthesis gefolgert, als deren Prinzip daher der Satz vom zureichenden Grunde
in engerer oder eigentlicher Bedeutung zu betrachten ist. Sobald der Grund mit seinen
Folgen synthetisch gefunden ist, mag es durch Ergänzung oder anderweitige Bearbeitung
derselben geschehen sein, können wir uns der analytischen Entwickelungsformen be-
dienen ; und der Syllogismus zwar keinesweges zureichend um alle Begriffsverbindungen
und Folgerungen auszumitteln, ist wohl geeignet die gefundenen als solche nachzuweisen.
Was unser Verf. von der Unzulänglichkeit des Syllogismus sagt, scheint uns daher gegen
die Anmafsung durch ihn die Synthesen selber zu entdecken und ausschliefslich die
Wissenschaft zu stände zu bringen, vollkommen treffend; in Bezug auf die analytische
Entwickelung des synthetisch gefundenen dagegen der Einschränkung zu bedürfen. Dafs
der Schlufs sich auf Ausdruck der Verhältnisse der Inhärenz beschränke, können wir
nicht zugeben, weil sich diese weder in der hypothetischen noch in der disjunktiven
Schlufslorm finden, und alles wohl erwogen, was der Verf. a. a. O. für Aufhebung des
Unterschieds der entsprechenden Urteilsformen gesagt hat, wir einen solchen doch immer
noch anerkennen müssen. Wie die an sich analytischen Formen dem synthetischen
Verfahren dienen können und müssen, wird in der That auch durch des Verf.s Be-
merkungen nur noch einleuchtender. In analytischer wie in synthetischer Begründung
soll nachgewiesen werden, wie die Teile des Grundes zu trennen oder zu verbinden,
um die Folge zu ergeben ; in der einen wie in der andern können sie nur nach Aus-
scheidung alles Widerspruchs für die Folgerung verbunden werden. Aber das Ver-
hältnis der zu verbindenden oder zu trennenden Glieder des Grundes ist in der Syn-
thesis und Analysis ein verschiedenes, und danach auch die Art den Widerspruch nach-
zuweisen und zu beseitigen. Schwerlich möchte es uns je gelingen, die allgemeingültigen
und notwendigen Synthesen auf Analysen völlig zurückzuführen : wohl aber finden wir
Ausdrücke für sie in den Formen der Analyse, so gewifs wir die Faktoren jener
irgendwie miteinander verbinden müssen, wollen wir uns nicht in Widersprüche mit
uns selber verwickeln : denn nur da findet reine Synthesis statt, wo das kontradikto-
rische Gegenteil undenkbar, d. h in sich widersprechend ist ; und durch Identität und
Widerspruch werden alle analytisch logischen Formen bedingt: so dafs diese entweder
noch nicht vollständig entwickelt oder im stände sein müssen, alle möglichen synthetischen
wie analytischen Begriffsbeziehungen auszudrücken. Als dem vermittelnden Denken an-
gehörig und bestimmt zu definitiven Verknüpfungen und Trennungen erst zu führen,
haben auch in der That die den logischen Grundformen, wofür wir die kategorische,
hypothetische und disjunktive immer noch halten müssen, entsprechenden Verbindungs-
weisen teils eine Weite, teils eine Fähigkeit ineinander überzugehen, wodurch sie zum
Ausdruck der mannigfaltigsten synthetischen Begriffsverhältnisse sich eignen. Allerdings
ist das Eigentümliche der kategorischen Form das Verhältnis der Inhärenz, aber dieses
durchaus nicht schon metaphysisch bestimmt, vielmehr ist diese Form nur der Aus-
druck einer innern Verbindung und wird ergänzt durch die hypothetische Form als
Ausdruck einer äufsern Verbindung; beide finden aber in der disjunktiven ihre Ver-
mittelung. Schwerlich möchte eine Synthese nachzuweisen sein, die nicht einer jener
drei Vei bindungsweisen und ihien Erweiterungen sich subsumieren liefse; und gewils
war der Grundgedanke der Kantschen Kategorientafel treffend und bedeutend, in den
Hauptmomenten dieser Formen müfsten sich die Grundbegriffe aller Synthesen finden,
so irreleitend auch der Schlufs war, sie lägen schon als solche hinlänglich entwickelt
in den Momenten der Urteilsformen zu Tage, welche die Logik für ihre Zwecke, ohne
Die Rezension der Allgem. Metaphysik von Prof. Dr. Bkandis in Breslau. 3 g 7
alle Rücksicht auf Objekte und ihre Erkennbarkeit, aufgestellt hatte. Höchst fruchtbar
war ebenso Kants Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, und wohl
ohne Zweifel auch für unsern Verf. der Entwickelungskeim seiner Methodologie. Aber
eben hier möchte Rez. ihn zu ergänzenden und erläuternden Ausführungen veranlassen.
Grundlinien zu einer Synthetik für Mathematik, Ethik und Metaphysik finden sich teils
in dem vorliegenden Werke, teils in früheren Schriften des Verf.s, und Entwickelungen
derselben gewifs in seinem Geiste, wenn auch nicht zu Papier gebracht. Durch ver-
gleichende Ausführungen würde er zugleich seine Methode der Beziehungen in noch
helleres Licht zu setzen im stände sein. Sie ist augenscheinlich aus vieljährigem und
vertrautem Umgange mit der Mathematik hervorgegangen; aber ebenso augenscheinlich
in ihrer Anwendung auf Metaphysik sehr verschieden von ihrer Bedeutung in der Ma-
thematik. Worin besteht diese Verschiedenheit und worin hat sie ihren Grund? Das
sind Fragen, zu deren ausführlicher Beantwortung Rez. Hrn. Prot. Herbart zunächst
und dringend auffordern möchte, wiewohl darauf bezügliche Andeutungen im gegen-
wärtigen Buche ihm nicht verborgen geblieben sind (s. z. B S. 28 ff. 49 ff.). Die
Behauptung, der Grund sei ein Widerspruch, würde in der Mathematik keine An-
wendung finden, und scheint Rez. auch in der Metaphysik der Mifsdeutung sehr aus-
gesetzt zu sein. Allerdings hat der Widerspruch nicht nur treibende, sondern auch
Richtung gebende Kraft fürs Denken, und nötigt uns den Grund zu suchen und falls
wir in Beseitigung der Widersprüche nicht ermüden, endlich zu finden ; aber der Grund
besteht auch dem Verf. zufolge, in der notwendigen Zusammengehörigkeit eines gewissen
Systems von Begriffen, in welchem sich Widersprüche nur fanden, so lange die zu
Tage liegenden Begriffe nicht ergänzt oder richtig bearbeitet waren. Unterscheidung
der ratio cognoscendi von der ratio cssendi möchte jene Bezeichnung schwerlich hin-
länglich rechtfertigen: denn in vielen Fällen kommen wir auch, nachdem wir den Grund
vollständig gefunden, über die ratio cognoscendi nicht hinaus. Doch wollen wir hier
um so weniger in weitere Erörterungen eingehen, da wir fernere, das synthetische Ver-
fahren nach allen Hauptrichtungen hin verfolgende Ausführungen vom Verf. erwarten, und
das, worauf die Behauptung zunächst beruht, — die Überzeugung, was Widersprüche
in sich enthält, dürfe weder als gültig festgehalten, noch als denkbar gesetzt werden
(S. 52) und die Beseitigung derselben könne allein durch Ausmitfelung der inneren
Beziehungen gelingen, vollkommen mit ihm teilen und es für ein sehr hochanzuschlagendes
Verdienst halten wie durch Entlarvung vieler verlarvten Widersprüche und durch Ab-
weisung vorgeblicher Legitimationen, so durch scharfsinnig konsequente Lösungsversuche
diese Überzeugung seinerseits bethätigt zu haben.
Mögen immerhin solche Bestrebungen als gemein logisch, der Verstandes- oder
Reflexionsphilosophie angehörig, der spekulativen Erkenntnis ermangelnd, als vorsätzlich
und willkürlich all und jeden Inhalt ignorierende Künstelei verunglimpft und dagegen
diejenigen angepriesen werden, welche die Sache aus sich selbst sich entwickeln zu
lassen unternehmen und voraussetzen, die im Denken wirksame Vernunft, sich selber
der Kreis und das Centrum, finde nicht nur den Widerspruch und entfliehe ihm, sondern
erzeuge ihn in allem und müsse ihn durch sich selber vernichten : — der Verf. wird lieber
nach wie vor geständig sein (S. XVI) nicht alle Widersprüche aufgelöst zu haben, als
dem Wahn sich hingeben wollen, dafs sie blofsen Machtsprüchen oder dem Vorgeben
weichen sich über ihre Sphäre erhoben zu haben. Unbefangene Leser aber werden
Machtsprüche nicht für Gründe, Vorgeben nicht für Leistungen halten, vielmehr fragen,
teils wie in dem aus sich selber sich entwickelnden Denken Grund und Folgen zusammen-
hängen, oder wenn überhaupt von Grund und Folgen darin nicht die Rede sein soll,
was an die Stelle der Begründung trete, teils auf welche Weise die Vernunft den überall
erzeugten Widerspruch „den dialektischen Puls der Dinge", vernichte, wie die Sache
sich aus sich selber entwickele, was an die Stelle der inneren Beziehungen trete u. s. w.
Wenn gegen des Verf.s Methode erinnert wird, indem sie ein Widersprechendes durch
sein Gegenteil denkbar zu machen suche, vergesse sie, dafs selbst der Widerspruch nicht
einmal gedacht werden könne, und dafs die denkbar zu machenden Begriffe, eben weil
sie Begriffe seien, schon dem Denken angehörten — so sieht man sich nicht ohne Ver-
drufs in die Zeiten der alten Sophistik zurückversetzt, die mit der Amphibolie der Be-
griffe von WTissen und Lernen ähnlichen Unfug trieb, wie hier mit denen von Denken
und Begriff getrieben wird. Unterscheidet denn nicht alle Logik von Aristoteles bis
Hegel wahre Begriffe von blofsen allgemeinen Vorstellungen, Vorstellen und Denken-
wollen vom wirklichen Denken ?
^gP, Anhang II.
Sehen wir wie der Verf. zuerst in der Ontotogie (S. 71 — 182) veriährt und lernen
auf die Weise zugleich die Methode dür Beziehungen und der zufälligen Ansichten in
verdeutlichender Anwendung kennen, aus welcher vielleicht die Methode selbst erst abs-
trahiert, gewifs nicht ohne sehr bestimmte vorgreifende Bezugnahme darauf zu stände
gekommen ist. Die durch die historische Kritik des ersten Teils vorbereitete Unter-
scheidung teils der Wirklichkeit des Dinges und seiner Eigenschaften, teils des Seins
und Daseins, leitet die ontologischen Untersuchungen ein. Wie weit wir auch der Skepsis
nachgeben mögen, ein Reales, ein Sein, zu setzen und zu bewahren, zwingen uns die
Widersprüche der Erfahrung selber, so gewifs kein Schein ohne Sein möglich ist : daher
die Aufgabe, was dem Gegebenen zu Grunde liegt, d. h. die unbekannte Qualität des
Seienden zu suchen. Die Anerkennung des Nichtaufzuhebenden ist der Begriff des Seins,
dessen Setzung nicht in Abrede gestellt werden kann, wie sehr auch seine Qualität dem
Zweifel preisgegeben wird. Doch kommt der Begriff des Seins der Dinge erst ver-
mittelst ihres Gegensatzes gegen das, was nicht ist sondern blofs gedacht wird, zum
Vorschein, und wird mit dem der Qualität verwechselt, indem man den Gedanken des
Gegenstandes diesem selber beilegt: daher der Irrtum das Sein wohne den Dingen ein,
sei eine ihrer Eigenschaften, da es doch eben nichts anders als die absolute Position
bedeutet. Als unmittelbare Setzung kann der Begriff des Seins keine Negation in sich
aufnehmen, d. h. weder wiederum aufgehoben noch relativ gesetzt werden (die Ne-
gationen im Sein gehören nur dem zusammenfassenden Denker an): mithin mufs die
Qualität des Seienden gänzlich positiv oder affirmativ und eben darum schlechthin ein-
fach sein, d. h. frei von aller Verneinung und Beschränkung; wenn aber ohne alle
Verneinung und schlechthin einfach, so auch den Begriffen der Quantität und aller Viel-
heit im Seienden als Seienden gänzlich unzugänglich: wogegen jeder Begriff der Quan-
tität, mag die Qualität darin zerfällt werden oder zerfliefsen sollen, d. h. mag es der
Begriff einer diskreten oder kontinuierlichen Gröfse sein, Mannigfaltigkeit und Teilbarkeit
voraussetzt. Es fragt sich nur, ob bei der Strenge der absoluten Position durch Aus-
schliefsung aller Relationen, nicht zugleich alle Beziehung der Dinge auf einander gänz-
lich aufgehoben werde, oder wie sich die absolute Position durch eine relative ergänzen
lasse? Zur Beantwortung dieser Frage soll eben die Methode der Beziehungen mit
ihrer Ergänzung durch die zufälligen Ansichten sich wirksam erweisen. Wie Vieles
sei, bleibt durch den Begriff des Seins ganz unbestimmt; Mannigfaltigkeit desselben
' keineswegs, wie die Eleaten wähnten, durch seine Einfachheit ausgeschlossen.
Die zufällige Ansicht soll nun aus der Zusammenfassung eines mannigfaltig Seienden
Folgen ableiten, die aus der einfachen ursprünglichen Vorstellung desselben nicht ent-
springen können; gleichwie in der Mechanik beim Parallelogramm der Kräfte die zu-
fällige Ansicht der Seitenkräfte angewandt wird, um eine einzige unteilbare Kraft
näher zu bestimmen (S. 110). Sie vermittelt — (auf verschiedene Weise, jenachdem
entweder beides der Hauptbegriff A und die Faktoren, worin er zerlegt wird « -(- ß,
oder nur ersteres oder die Folge gegeben ist, die aus der Zusammenfassung mehrerer
Begriffe sich ergeben soll) — eine Verbindung von Begriffen, die ohne sie geschieden
bleiben würden. Gegeben sind Dinge mit mehrern Merkmalen — die Erscheinungen
der Inhärenz. Die Qualität des Dinges aus den Merkmalen zusammenzusetzen, läfst
die Einfachheit desselben nicht zu: vielmehr, sowie wir das Mannigfaltige der Merk-
male zur Einheit verknüpfen, damit es gültig, d. h. in Einklang mit dem Gegebenen
sei, so müssen wir es wiederum sondern, damit es denkbar werde; daher der Schein
der Inhärenz als Anzeige eines mehrfachen Realen gefafst werden mufs. Die einzelnen
Empfindungen lassen sich nicht aus ihren Gruppen herausreifsen ; vielmehr jede nur
unter der Bedingung setzen, dafs die mit ihr verbundenen auch gesetzt seien : keine
stellt dar, was an sich ist. Die Substanz ist mithin das unbekannte Eine,_ dessen
Setzung alle diejenigen Setzungen repräsentiert, die ursprünglich den Merkmalen zu-
kamen: das der Einheit der Substanz gleichgeltende Mannigfaltige bildet eine zufällige
Ansicht, die auf verschiedene Reihen von Merkmalen sich erstrecken kann, aber ein
und denselben Ausgangspunkt, die Einheit der Substanz, beibehalten mufs. Da also
kein Ding an sich Substanz ist, so giebt es auch keine Attribute als ursprüngliche und
an sich seiende Korrelate der Substanz, so wenig als ein Substantiale, d. h. ein Etwas
in der Substanz, dem die Accidenzien einwohnten; und die Erscheinungen der Inhärenz
müssen, wie die der Veränderungen, auf hinzutretende Ursachen zurückgeführt werden;
so dafs keine Substantialität ohne Kausalität denkbar ist. Wie viele sinnliche Merkmale,
so viele Ursachen, und Substanz und Ursache unterscheiden sich nicht voneinander
Die Rezension der Allgem. Metaphysik von Prof. Dr. Brandis in Breslau. ^QO
durch Thun und Leiden, sondern nur dadurch, dafs wir von der Substanz ausgingen
und die Ursachen als mehrere und verschiedene hinzunahmen. Der Kausalbegriff ent-
hält noch keine Zeitbestimmungen; nur unsre Gedanken gebrauchten Zeit, gingen von
der Substanz aus und langten später bei den Ursachen an. Die Substanz war uns bis
jetzt nur zeitloses Subjekt einer Gruppe von Merkmalen ; wir fassen sie aber auch als
das Beharrliche im Wechsel auf, indem wir darauf achten, wie das Ding in den Spal-
tungen der Einheit sich nicht einmal gleich bleibt, d. h. indem wir auf die Veränderungen
merken. Ein Ding kann weder abwechselnd sein und nicht sein, noch einen Wechsel
in der Qualität ertragen, noch sein Beharren auf ein blofses qualitätloses Sein über-
tragen, noch vermag man das Beharren des Dinges im Wechsel abzuleugnen, ohne auf
die Erfahrung selber zu verzichten. Daher auch hier das Ding nicht als ein einiges
identisches zu setzen, sondern in ein vielfaches aufzulösen und das X als Anfangspunkt
in allen Gruppen, welche statt seiner angenommen worden, zu wiederholen ist. Also
kein Reales ist an sich Substanz, sondern wenn es Erscheinungen tragen soll, so mufs
es in Gemeinschalt mit andern realen Wesen stehen, und diese Erscheinungen wechseln,
wenn die Gemeinschaft wechselt, während die Substanz selber beharrt und weder der
Qualität noch der Quantität nach, vom Wechsel ergriffen wird. Unsre ganze Ab-
weichung von der Erfahrung besteht in notwendiger Ergänzung dessen was sie uns
nicht vollständig zeigt. Sowie nämlich die einfachen Empfindungen von Tönen und
Farben, obgleich nicht in Teile zerlegbar, die Unterscheidung dessen verstatten, was
dem andren gleich und entgegengesetzt ist, und einander mehr oder weniger entgegen-
gesetzt sind (das Blau dem Roten mehr als das Violette); so auch die wahren Quali-
täten der Wesen, die sich nie gegenseitig aufzuheben vermögen, weil keins die Ver-
neinung der Position sein kann, wohl aber im zusammenfassenden Denken, welches
durch die Erscheinungen geboten wird, einander gegenseitig Widerstand leisten oder
sich drücken. Das wirkliche Geschehn ist daher nichts andres als ein Bestehn wider
eine Negation ; die zufälligen Ansichten sind nur die Ausdrücke, welche die Wesen
annehmen müssen, um vergleichbar zu werden, und unendlich mannigfaltig, weil die
Qualität jedes Wesens unendlich vielen Vergleichungen zugänglich ist. Dem in die
verschiedenen Relationen des einen W'esens gegen andre, selber verwickelten Be-
obachter ist ausschliefslich das Eigentümliche der einzelnen Selbsterhaltungen zugänglich ;
die einfache Qualität vermag er nicht zu erkennen ; und Kräfte besitzen die Wesen
nicht an und für sich, sondern nur insofern sie mit andren von entgegengesetzter Qualität
zusammen sind. Soweit führt die Ontologic als Lehre vom Sein; die Ableitung der
wirklichen Erscheinungen mufs sie teils der Synechologie, teils der Eidolologie überlassen.
Zuerst wollen wir die Konsequenz ausdrücklich anerkennen, mit der diese Theorie
den Begriff des Seins von allem Werden läutert, die Schwierigkeiten vermeidet, in
welche die Begriffe sowohl transienter wie immanenter Ursächlichkeit verwickeln, und
mit diesen Begriffen zugleich die von Tendenzen, Trieben, Vermögen, ursprünglichen
Kräften und Freiheiten beseitigt. Dabei müssen wir die dem Verf. entgegengestellten
Behauptungen abweisen, dafs die absolute Position entweder als von ihm gesetzt nicht
absolut, oder als blofs durch Abstraktion gewonnen ein Negatives, mithin ebensowenig
absolut sei : und dafs überhaupt, was als absolut vorausgesetzt werde, der Voraussetzung
wegen nicht absolut sein könne. Wir müssen solche Einreden abweisen, weil der Verf.
aufs ausdrücklichste die absolute Position, indem er sie als schlechthin notwendig recht-
fertigt, von seiner Auffassung und Setzung so unabhängig macht, wie es nur immer in
unserm Denken geschehen kann, welches keine Selbstbewegung, kein Begriff, der zu-
gleich die Sache selbst sein will, jemals zum absoluten Denken aufschrauben wird. Wir
wollen vielmehr uns erinnern, dafs der Verf. Knoten zu lösen bemüht ist, die er nicht
willkürlich geschürzt, sondern die seit der Zeit der Eleaten die Metaphysik beschäftigt
haben, und dafs er sie zu lösen sich bestrebt, indem er durch die Resultate des Iden-
tismus den Realismus sicherer zu begründen unternimmt. Einfache qualitativ bestimmte
Wesenheiten sind ihm wie Leibnitzen der Grund der Erscheinungen ; aber Wesenheiten,
die nicht durch innere Kraftthätigkeit ihre Einfachheit wiederum aufheben, sondern
solche, die unverrückt in ihrer schlechthin einfachen Qualität der Mannigfaltigkeit und
dem Wechsel der Erscheinungen zu Grunde liegen, kraft der Mannigfaltigkeit und dem
Wechsel der Verhältnisse, die sich unter ihren einander entgegengesetzten einfachen
Qualitäten für den Zuschauer bilden. Für ihn und nur für ihn ist die Mannigfaltigkeit
und der Wechsel der Erscheinungen vorhanden, und so vorhanden wie er sie nach
seinem Standpunkte wahrnimmt, aber nicht blofs würden seine Wahrnehmungen ohne
400 Anhang II.
die qualitative Bestimmtheit der zu Grunde liegenden einfachen "Wesenheiten des Stoffs,
sondern auch der Form entbehren, in welcher er sie anerkennen mufs, will er nicht auf
die Erfahrung selber verzichten: d. h. das wahrnehmende Ich ist als solches ebenso-
wenig in Besitz der formen wie des Stoffes ; beides bietet sich ihm aar nach Be-
dingungen, die in dem Sein der Dinge selber, in den Qualitäten der einfachen Wesen-
heiten und ihren Verhältnissen zu einander (Verhältnissen der Selbsterhaltung und Störung)
sich finden. Endlich erwägen wir, dafs wir es freilich mit einer Hypothese, aber mit
einer Hypothese zu thun haben, die einerseits ihre Berechtigung in höchst bedeutenden
Schwierigkeiten und der Beweisführung nachzuweisen vermag, dafs die Lösung derselben
weder bisher gelungen sei, noch von der Hand gewiesen werden dürfe; anderseits bis
auf einen Punkt zurückgeht, der als die äufserste Grenze der Spekulation anerkannt
werden mufs. Geschehen, Veränderung und Kraftthätigkeit soll als ein Abgeleitetes;
als das einzig Seiende eine ursprüngliche Mannigfaltigkeit qualitativ bestimmter einfacher
Wesenheiten erwiesen, und aus ihnen die Welt der Erscheinungen abgeleitet werden,
wiewohl von vornherein jeder Versuch die Qualitäten des Seienden an sich zu erkennen
als notwendig erfolglos abgelehnt wird. Ob es aber in der That gelungen mit gänz-
licher Beseitigung ursprünglicher Kraftthätigkeiten alles Geschehen aus dem lediglich
sich selbst gleichbleibenden Realen oder Seienden abzuleiten — um darüber zu be-
gründetem Urteil zu gelangen, können wir uns nicht begnügen zu fragen, ob der ab-
soluten Position wegen von einem Vielen oder einer Vielheit des Seienden die Rede
sein dürfe ; oder ob es nicht in sich widersprechend sei, dafs etwas als positiv keine
Negationen und Relationen zulasse und dasselbe doch relativ zu ergänzen sei? oder
wie die realen Wesen durch die formale Bestimmung des Zusammen und Nicht-
zusammen eine reale Modifikation erleiden sollten, da das Zusammen keine Bedingung
ihres Daseins sei? oder ob nicht das eine Wesen von dem andern genötigt werde das
zu sein, was es ist? d. h um selbständig zu sein, des andren bedürfe, mithin un-
selbständig sei? wir können es bei solchen Fragen nicht bewenden lassen, weil die
Data zu ihrer Beantwortung in der scharfen und bestimmten Sonderung der einfachen
Wesen vom Zusammenfassen derselben im Denken augenscheinlich sich vorfinden, so dafs
ihre Vielheit, gleich ihrem Zusammen und Xichtzusammen und den davon abhängigen
Beziehungen unmöglich für reale Modifikationen der Wesen selber gelten können. Da-
gegen müssen wir vorzugsweise die Ableitung der Begriffe Bewegung und Bewufstsein
ins Auge fassen ; denn die Verhältnisse unter den einfachen Wesenheiten müssen als
wechselnd, die Zuschauer als ihrer sich bewufst gesetzt werden. Die Bewegung setzt
Raum und Zeit, das Bewufstsein ein Ich voraus. Wir müssen daher des Verf.s scharf-
sinnig durchgeführte Lehre von Raum und Zeit, Materie und Bewegung in seiner Syn-
echologie, und demnächst die Behauptungen vom Ich und vom Wissen in seiner Eido-
lologie prüfend verfolgen, bevor wir die Beantwortung jener Frage — das eigentliche
Ziel dieser Anzeige, — unternehmen dürfen.
Das Stetige, mit dessen Erörterung die Synechologie (S. 183—339) sich zunächst
beschäftigt, um vermittelst desselben zu Aufschlüssen über Raum, Zahl und Ursprung
der Materie zu gelangen, kann mit seinen unendlich vielen Teilen in sinnlicher An-
schauung unmöglich gegeben sein ; und ebensowenig das Nichterscheinen letzter Teile
über ihr Nichtvorhandensein entscheiden. Auch beruft man sich, indem man das räum-
liche Neben- und das zeitliche Nacheinander als stetig setzt, auf reine Anschauung, und
unterstützt diese Berufung wiederum durch Hinweisung auf die inkommensurabeln Linien.
Unser Verf. sucht dagegen, nachdem er bemerkt, dafs keineswegs alle Linien inkommen-
surabel seien, an seine psychologische Erklärung (Psychol. II. S. 132 ff.) erinnert, und
den Widerspruch entwickelt hat, der sich bei logischer Analyse der Kontinuität ergiebt,
zuerst zu zeigen, dafs der Begriff des Stetigen keinesweges überall wo er vorkommt,
sich selber gleich, vielmehr sehr verschieden sei bei den verschiedenen Fortschreitungen
von Zahlen und den dazwischen fallenden Brüchen, bei den Systemen von Quadrat-
Kubikwurzeln und überhaupt bei irrationalen Fortschreitungen; demnächst dafs im Nach-
einander der Zeit überall keine Kontinuität sich finde, vielmehr der Begriff der Gegen-
wart sich schlechterdings nicht mit Vergangenheit und Zukunft mischen dürfe, überhaupt
«las Fliefsende nur durch ein Verschwindenlassen der Sonderung gedacht werde; und
endlich durch Konstruktion des intelligibeln d. h. desjenigen Raums, den wir dem
Kommen und Gehen der Substanzen unvermeidlich hinzudenken, auszumitteln , „wie
man den Begriff der Kontinuität dergestalt zu fassen habe, dafs er für die Naturwissen-
schaft brauchbar werde." Diese Konstruktion geht von dem einfachen Gedanken aus:
Die Rezension der Allgem. Metaphysik von Prof. Dr. Brandis in Breslau. 40 1
ein Paar einfache Wesen, A und B, statt deren man auch andre einfache Vorstellungen,
wie Zahlen, wühlen darf, können zusammen aber auch nicht zusammen sein ; läfst aus
diesen zwei Begriffen vermittelst der leeren Bilder von dem was mit dem andern ver-
knüpft sein könnte, vier Begriffe und aus ihrem wechselnden Zusammen und Nicht-
zusammen, eine ins Unendliche fortlaufende Reihe entstehn, in der noch nichts von be-
kannten Raumbegriffen sich finden, vielmehr selbst der Begriff des Orts dadurch ent-
stehen soll, dafs das Vorausgesetzte dem andern eine Stelle anbiete; der Begriff des
Zwischen durch das Fortschreiten der Ordnungszahlen ; welches wie bei Zahl, Grad und
Zeit ein gerades sein müsse, weil überhaupt noch gar kein Seitwärts vorhanden sei.
Eine solche Reihe wird eine Linie und zwar eine starre genannt, insofern die Punkte der-
selben [494] vollkommen aus einander und doch wiederum aneinander d. h. so gedacht
werden sollen, dafs nichts eingeschoben werde. Die Unfähigkeit des psychologischen
Mechanismus des Aneinander mit beharrlicher Treue darzustellen, sein unwillkürliches
Gleiten und Verfallen in ein allmähliches Zwischenschieben, darf uns nicht veranlassen,
von der Strenge der Forderung nachzulassen. Zur Erweiterung der Konstruktion wird
ein drittes einfaches Wesen hinzugenommen, dessen leeres Bild als einen der Punkte
der Linie AB zu betrachten darum verboten wird, weil e ein selbstständiges Wesen
und nicht im mindesten an eine Konstruktion gebunden sei, deren Anlafs von A und B
ausgegangen (S. 2 2q): die Entfernungen des c von A und B aber werden aus dem-
selben Grunde als starre Linien gesetzt, aus welchem AB für eine solche gelten mufste.
Verbinden wir nun e mit der Linie AB durch AC oder BC, so findet sich, durch
blofse Entwickelung der Begriffe, ohne Konstruktion zu Hilfe zu nehmen, dafs je zwei
dieser geraden Linien nicht mehr als einen Punkt miteinander gemein haben können,
dafs zwischen zwei Punkten nur eine Gerade und nur Ein Lot vom Punkte auf die
Linie möglich, dafs zwischen zwei Punkten die Gerade zugleich die kürzeste ist. Wenn
die starren Linien zu Hypotenusen werden, tritt der Begriff des Stetigen ein, insofern
sie der stets gleichbleibenden Richtung des Lots unvergleichbar werden (S. 242 ff.);
und in der Kreislinie, in der die Punkte ohne alle Sonderung zusammenfliefsen, ergiebt
sich das eigentlichste Kontinuum ; dieses aber eben darum als keinen unabhängigen un-
mittelbar gegebenen Linien, sondern nur solchen eigentümlich, welche abhängig oder
Funktionen von andern sind. Auch die Kreislinie ist nämlich als Funktion zu be-
trachten, insofern ihr Ursprung Linie und Ebene, oder von der Ebene wenigstens Einen
Punkt aufser der Linie voraussetzt (S. 251). Andre zwischen gegebene Punkte zu
ziehende Linien halten wir für stetig, da sie die Endpunkte gewisser Katheten sein
können, zu welchen die einzuschiebenden Linien als Hypotenuse passen müssen (S. 252*.
Auf diese Weise rechtfertigt der Begriff des Stetigen, obgleich widersprechend, sich da-
durch, dafs er dem Gebiete unsers zusammenfassenden Denkens ausschliefslich zugeeignet
wird. Konstruktion des körperlichen Raums (S. 257 ff.) durch Annahme eines vierten
realen Wesens, wovon ein Lot auf die Ebene falle, welches dem ganzen System der
in ihr möglichen Richtungen fremd bleibe, und der Versuch zu zeigen, dafs eine vierte
Dimension undenkbar sei, weil man von einem fünften realen Wesen zu dem von der
Kugel völlig eingehüllten Punkt A nicht zu gelangen vermöge (S. 260.), beschliefsen
die Konstruktion des intelligibelen Raums, und leiten zu der Untersuchung über den
Ursprung der Materie über. — Bevor wir aber dazu übergehen, überlegen wir, inwieweit
wir uns teils der Konstruktion des Raums, ohne Anschauung vorauszusetzen, durch [495]
blofse Verdeutlichung von Begriffen, teils der angegebenen Annahme über das Stetige
anzuschliefsen vermögen. In jener Konstruktion soll uns das Aufser- und Nebeneinander
seinem Inhalt nach durch das Nichtzusammen von Vorstellungen, seiner Form nach
durch die bestimmte Abfolge (Ordnungszahlen) entstehn. Rez. aber gesteht nicht ein-
zusehen, wie ohne zu Grunde liegende Anschauung wir dazu kommen, der ersten
Dimension die zweite, der zweiten die dritte' hinzuzufügen. Die Annahme, C der End-
punkt einer zweiten von AB verschiedenen Linie, sei ein von A und B verschiedenes
Wesen, und D der Endpunkt einer dritten allen in der Ebene möglichen Richtungen
fremden Linie, von A, B und C verschieden, genügt ihm darum nicht, weil diese Ver-
schiedenheiten nur auf die Qualität bezüglich, keine Verschiedenheit der Lage zur Folge
zu haben brauchen. Wie kommen wir dazu, die Linie AB nicht vielmehr durch das
Zusammen und Nichtzusammen mit c und seinem leeren Bilde zu verlängern ? Wie
kommen wir überhaupt dazu, das Nacheinander von Vorstellungen und Bildern in ein
Aufser- und Nebeneinander zu verwandeln, vorausgesetzt dafs uns diese Vorstellungen
noch gänzlich fehlten? und während wir von Zahlreihen oder andren Reihen homogener
Herbart's Werke. VIII 2<>
J.02 Anhang II.
Vorstellungen zu keiner räumlichen Konstruktion gelangen? Zur Beantwortung dieser
Fragen wird der Verf. sich auf seine psychologische Deduktion von den Reihenformen
und darauf berufen, dafs das wirkliche psychologische Ereignis des räumlichen Vor-
stellens etwas völlig Unräumliches sei und alles dabei auf Abstufungen in der Ver-
bindung der Vorstellungen ankomme (s. Psychol. II. S. 124 f. ; aber in jener schwer-
lich zur Erledigung gegenwärtiger Fragen, den grofsen Übergang von der Verschiedenheit
der Qualität zur Verschiedenheit räumlicher Dimensionen nachweisen können. Die Er-
klärung, das Perpendikel auf eine Linie sei psychologisch betrachtet, nichts andres, als
die von derselben seitwärts gehende Reproduktion, nachdem in ihr alles Entgegen-
gesetzte sich gehemmt habe (Psychol. IL S. 152), setzt ein Seitwärts schon voraus;
so wie die allgemeinere Bestimmung, das Produkt sich gegenseitig hervorrufender
Reihen, die So verwebt seien, dafs indem ihrer mehrere abliefen, zugleich nicht nur
jedes Glied eine von ihm ausgehende Reihe anrege, sondern dafs auch die sekondären
Reihen sich nach einer Regel in andren Reihen Glied für Glied vereinigt fänden, so dafs
die Vereinigungspunkte jedesmal mehrfach gegeben seien, und dafs die Konstruktion
unendlich vielfach in sich selbst zurücklaufe, ohne mit sich in Mifshelligkeit zu geraten
— sei allemal ein Räumliches (Psychol. I. S. 359, vgl. [496] II. S. 136.) — auch diese
Bestimmung scheint Rez. noch nicht geeignet zu sein, den Übergang von qualitativer zu
räumlicher Bestimmtheit zu vermitteln. Was die Beschränkung des Stetigen, ins un-
endlich Leilbaren auf das Inkommensurable betrifft, so fragt sich, ob der Voraussetzung
es sei schlechthin kein gemeinschaftliches Mafs vorhanden, nicht schon die Vorstellung
vom Stetigen zu Grunde liege. Doch wollen wir uns wohl hüten, diese Konstruktion
des intelligibelen Raums durchweg zu verwerfen, weil wir sie uns nicht völlig aneignen
können, betrachten sie vielmehr als eine höchst bedeutende Ergänzung der Kantischen
Lehre von der reinen Anschauung ; wobei wir annehmen, dafs diese zu sehr aufser
acht gelassen, wie die mathematische Konstruktion, wenn gleich auf reiner Anschauung
beruhend, der Entwickelung der Begriffe zu ihrem Fortschreiten, nicht blofs zur Analyse
schon gegebener Konstruktionen, bedürfe. Wie weit es aber auch gelingen mag mathe-
matische Grundannahmen, die man bisher für axiomatisch gehalten, durch Entwickelung
von Begriffen zu deducieren, so können wir doch weder zugeben, dafs man von der
Linie zur Fläche und von dieser zum körperlichen Raum gelange, ohne dafs unmittel-
bare, reine oder empirische, Anschauung zu Grunde läge, noch dafs das Stetige der ur-
sprünglichen Vorstellung des Räumlichen gar nicht angehöre. Ebensowenig können
wir uns überzeugen, dafs dem Nacheinander der Zeit das Merkmal der Kontinuität
nicht wesentlich eigentümlich sei, sondern durch ein Verschwindenlassen der Sonderungen
ihm hinzukomme: denn die Forderung den Begriff der Gegenwart schlechterdings nicht
mit Zukunft und Vergangenheit zu mischen, erscheint uns als eine unmögliche, weil sie
voraussetzt, die letzten Teile der Zeit seien, zwar nicht sinnlich wahrzunehmen, dagegen
wohl im Denken zu fixieren, aber kein Merkmal anzugeben vermag, woran wir den Ge-
danken auch nur als Forderung festzuhalten im stände wären. So wie wir ein Moment
als schlechthin gegenwärtig im Denken feststellen wollen, gehört es der Vergangenheit,
oder wollen wir es im voraus ergreifen, der Zukunft an. Unser Denken müfste ein
absolut zeitloses und ein solches sein, worin Denkendes und Gedachtes, Subjektives und
Objektives schlechthin zusammenfiele, sollte es uns gelingen, die Gegenwart durchaus
nicht mit Zukunft und Vergangenheit zu mischen: auf die Voraussetzung aber, es müsse
ein solches Denken geben, wird der Verf. bei seinem entschiedenen Gegensatz gegen
absolute Anschauung sich zu stützen nicht geneigt sein.
[497] Das von dem Verf. angeführte Beispiel sittlicher Anforderungen scheint uns
darum nicht seinem Zweck zu entsprechen, weil, wie weit oder wie wenig sie auch im
Handeln realisiert werden mögen, sie sich im Denken kraft grundwesentlicher Merkmale
durchaus feststellen lassen. Ähnlich verhält sich's mit der Behauptung ,,so gewifs im
strengsten Sinne zugleich das Bewegte in A sei und aus A herausgehen müfste; eben so
gewifs komme in dies zugleich ein Vorher und Nachher hinein" (S 307). Für sehr
beachtenswert halten wir dagegen, was Hr. Prof. Herbakt S. 190 ff. von den vei-
schiedenen Arten des arithmetischen Kontinuums bemerkt, ohne dafs wir es aus ein und
derselben Quelle mit dem Stetigen des Räumlichen abzuleiten unternehmen möchten.
Der Einwendung aber, dafs nicht einzusehen, wie eine Linie, die ursprünglich
ungeteilt und selbständig, zugleich teilbar werde und ihre Selbständigkeit verlieren
solle, und warum da eine Mehrheit von realen Wesen als unbestimmte Vielheit an-
genommen sei, nur vier dieser Wesen für die Konstruktion der Raumdimensionen er-
Die Rezension der Allgem. Metaphysik von Prof. Dr. Brandis in Breslau. 103
wählt würden — diesen und ähnlichen Einwendungen dürfte der Verf. wohl durch seine
psychologische Konstruktion zu begegnen im stände sein, der zufolge alles Räumliche
mit seinen Verhältnissen dem zusammenfassenden Denken angehört, sowohl die starre
Linie wie die kontinuierliche, und welche von der unbestimmten Vielheit einfacher Wesen
nur so viel nimmt, als ihr zu ihren Zwecken dienlich sind, daher nicht über vier spe-
zifisch verschiedene, weil für eine vierte von den dreien verschiedene Dimension sich
keine Möglichkeit, keine offene Stelle ergiebt. Wir enthalten uns solcher Einwendungen
gegen Behauptungen, die mit jener Grundannahme stehen oder fallen müssen, können
aber, wie sich aus den vorangehenden Bemerkungen ergiebt, deren weitere Entwickelung
uns über die Grenzen einer Anzeige hinausführen würde, die Behauptung uns nicht
aneignen : der Raum sei gleich wie die Zahl eine Form der Zusammenfassung im
Denken, welche, wenn keine weitere Bestimmung hinzukomme, den Dingen gar kein
Prädikat, für jeden Zuschauer aber eine in vielen hallen unentbehrliche Hilfe dar-[_498]
biete, die gemäfs der gegebenen Veranlassung sich selber erzeuge (S. 263. vgl. S. 270); oder
dafs Grüfse als solche nur Zusammenfassung sei (S. 264) — Behauptungen, worauf die
Konstruktion der Alaterie beruht. Sie geht von der Annahme eines unvollkommenen
Zusammenseins zweier Wesen aus, d. h. zweier Wesen mit teilweise zusammenfallenden
Punkten, wie man die beiden letzten Punkte einer Hypotenuse als teilweise einander
deckend setze. In Übereinstimmung mit derselben lediglich den Raum nicht die Qualität
der Wesen treffenden Fiktion, der zufolge wir in einander geschobene Punkte als teil-
bar betrachtet, setzen wir die einfachen realen Wesen als Kugeln und nehmen an, diese
seien für alle gleich grofs; so dafs wir ein paar, teilweise durchdrungene, innerlich voll-
kommen gleichartige Kugeln voraussetzen, die jedoch mit Atomen, d. h. undurchdring-
lichen letzten Stoffteilchen durchaus nichts gemein haben dürfen. In den durchdrungenen
Teilen ist das Zusammen und hiermit völlige Kausalität, daher vollkommene Selbst-
erhaltung vorhanden; in den undurchdrungenen nicht. Da wir aber nur infolge einer
Fiktion den einfachen Wesen Teile beigelegt haben, so mufs in dem ganzen Wesen,
nicht blofs hier oder dort, Selbsterhaltung sich finden, und nur in schwächerem Grad
bei unvollkommnen Zusammen als bei vollkommnen Zusammen. Beim unvollkommnen
Zusammen aber kann es nicht bleiben, vielmehr müssen Wesen, die in diese Lage ge-
raten sind, vollends in einander eindringen : und darin ist der einzig mögliche Grund
der scheinbaren Kraft der Attraktion zu suchen. Von wirklichen auf Raumverhältnisse
bezüglichen Kräften kann nicht die Rede sein, wenn der Raum nichts Wirkliches ist.
Nehmen wir nun zu zwei unter sich gleichartigen Wesen (AA) ein drittes, ungleich-
artiges (B) hinzu, so mufs sich entweder B gegen beide A vollkommen selbst erhalten
und dazu, im Gegensatz des B gegen A eine solche Ungleichheit sein, dafs ein einzelnes
A nicht zureichte, um der ganzen Negation des B gegen die Qualität der A, völlig zu
entsprechen (eine Voraussetzung, die bei den Untersuchungen über die Verschiedenheit
der Materie weiter entwickelt wird), oder der Gegensatz zwischen A und B gleich sein,
daher B die geforderte doppelte Selbsterhaltung gegen beide A zugleich nicht vollziehen
können; im letzteren Falle scheint B eine zurückstofsende Gewalt (Repulsion) gegen sie
auszuüben. Gesetzt es vermehrte sich die Zahl der A und sie würden alle nach allen
Seiten gleichmäfsig so weit her[49Q]ausgetrieben, bis Attraktion und Repulsion sich im
Gleichgewichte befänden, so läge B in der Mitte und bildete mit allen A zusammen-
genommen nicht mehr einen mathematischen Punkt, sondern eine körperliche Ausdehnung
oder Klümpchen (S. 276), dessen Dichtigkeit durch das Verhältnis von Attraktion und
Repulsion bestimmt würde. Kämen mehrere B hinzu, deren jedes im unvollkommnen
Zusammen mit den A, in dieselben so weit als möglich eindränge, so würde aus dem
Klümpchen eine körperliche Masse sich bilden. Da aber der äufsere Zustand oder die
Lage der Elemente sich nach dem inneren Zustande oder der Selbsterhaltung jedes
Elements gegen die richtet, mit welchen es zusammen ist, so wird die Masse getrennt
werden, wenn entweder die inneren Zustände verändert oder die äufseren verhindert
werden sich nach den inneren zu richten (chemischer und mechanischer Grund der Ver-
änderungen). Da ferner das Gleichgewicht der Attraktion und Repulsion durch neue
hinzukommende Kiäfte zerstört werden kann, die Selbsterhaltungen aber, den ursprüng-
lichen Qualitäten der Elemente gemäfs, das ihnen gebührende Zusammen zurückfordern,
SO ist alle Materie notwendig elastisch, d. h. die Elemente, die sich eine gewisse Dehnung
hatten gefallen lassen, kehren in ihre vorige Lage zurück. Vermögen verschiedene
Massen, deren Elemente im gegensätzlichen Verhältnis stehen, die inneren Zustände
derselben aus irgend einem Grunde nicht abzuändern, so sind sie undurchdringlich für
404 Anhang IL
einander; durchdringlich dagegen für solche Elemente, welche, weil im gegensätzlichen
Verhältnis zu ihnen, den inneren Zustand derselben gar nicht verändern oder auch ihn
überwinden (Durchsichtigkeit, chemische Auflösung). Insofern das aus den ursprüng-
lichen Qualitäten der realen Wesen hervorgehende Gleichgewicht der Attraktion und
Repulsion für jeden gegebenen Fall nur ein einziges bestimmtes sein kann, stellen zwei
nächste Elemente der Materie allemal einen bestimmten Bruch der ursprünglichen Ein-
heit im Räume oder des Aneinander dar, so dafs die Materie ursprünglich eine starre
Masse, kein Kontinuum ist; und mit der jedesmaligen Dichtigkeit wird eine bestimmte
innere Konfiguration verbunden sein. Auf die Weise ist eine räumliche mit Cohäsion
versehene Materie gefunden, ohne dafs wir den realen Wesen innere Eigenschaften ge-
geben, wodurch sie räumliche oder auch andere Beziehung zu einander erlangt hätten,
und ohne dafs die Undurchdringlichkeit mit Kant in eine bewegende Kraft verwandelt
oder mit LEIBNITZ den Monaden ein vinatluin substantielle hintennach beigefügt wäre
(S. 261 ff.). Indem nämlich beim unvollkommnen Zusammen einer Mehrheit einfacher
Wesen die Selbsterhaltung zwar nicht geteilt, aber dem Grade nach vermindert wird,
entsteht Ausdehnung, daher für die nämlichen Stoffe das ihnen jedesmal zukommende
Volumen nach Verschiedenheit der Mischung so verschieden ist (vgl. des Verf.s theoriae
de attractione elementorum prineipia metaphysica p. 44 sqq.).
[500] Es bedarf nur gerechter Schätzung, wie sie in wissenschaftlichen Untersuchungen
nie fehlen sollte, um anzuerkennen, dafs diese Theorie mit dem klarsten Bewufstsein aller
der Schwierigkeiten, die eine Konstruktion der Materie zu gewärtigen hat, und mit un-
verrückter Richtung auf die Hauptsache, durch einfache Voraussetzungen, zu über-
raschenden und sehr beachtenswerten Ergebnissen führt. Aber zugleich ist offenbar, dafs
sie einerseits auf Konstruktion des Raumes , anderseits auf der Lehre von der Be-
wegung, als auf ihren Angelpunkten beruht, und mit ihnen stehen oder fallen mufs.
In erster Rücksicht wollen wir zwar nicht fragen (s. S. 287), warum denn überhaupt
die einfachen Wesen in die Stellung des unvollkommenen Zusammen eingeführt seien,
vielmehr die Berechtigung dazu in dem Vorhandensein des Stoffes gern anerkennen;
aber begreifen ebensowenig hier, wie ein Räumliches aus dem unvollkommenen Zu-
sammen einfacher qualitativ bestimmter Wesen hervorgehen soll, als wir oben die ent-
sprechende Ableitung des intelligibelen Raumes gelten lassen konnten. Nach Ver-
schiedenheit des Zusammen werden die Qualitäten der einfachen Wesen dem Zuschauer
auf verschiedene Weise getrübt oder gebrochen erscheinen ; er mag das Nacheinander
bedürfen, um die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen aufzufassen und zu ordnen; aber
dafs er sie nebeneinander ordnet, läfst sich ebensowenig aus dem unvollkommenen
wie aus einem vollkommenen Zusammen begreifen. Die psychologischen Erklärungen
scheinen uns auch hier das, was erklärt werden soll, die Vorstellung des Nebeneinander,
immer schon vorauszusetzen. Wie wenig wir darum auch geneigt sind, die Ableitung
der äufseren Verhältnisse aus den inneren Zuständen einfacher Wesen, zu verwerfen
und damit einen viel verheifsenden Erklärungsgrund von vornherein aufzugeben : über-
zeugen können wir uns nicht, dafs er für sich genommen zur Ableitung der Räumlich-
keit und ihrer Erscheinungen hinreichen sollte.
Was den zweiten Punkt betrifft, so leitet er uns zu der zweiten Abteilung der
Synechologie (S. 289 ff.) über, die überschrieben ist, vom objektiv scheinbaren Ge-
schehen oder von der Zeit und dem Zeitlichen. — Der Wechsel in den Zuständen
sinnlicher Dinge nötigt uns einen Wechsel im Zusammen und Nichtzusammen der
Substanzen anzunehmen. Setzen wir nun voraus, die den Wechsel bedingende Be-
wegung sei ein wirkliches Geschehen und aus innerm Triebe, d. h. einem solchen Be-
stehen abzuleiten, welches innerlich zum fortgehenden Wechsel nötige, so müfste mit
dem Triebe die Bewegung immer schwächer werden, und die Überzeugung, dafs ein
Bewegtes, dem kein Hindernis widerfährt, in gleicher Richtung und Geschwindigkeit
stets weitergehen werde, würde aufzugeben sein; wogegen sie durch die Voraussetzung
gesichert wird, die Bewegung sei keine wahre Veränderung, kein Zustand, keine Wirkung
irgend einer Kraft, und bedürfe überhaupt keines Grundes, sondern sei [501] dem Gegen-
stande im Räume ebenso natürlich wie die Ruhe; und der der Bewegung entsprechende
Wechsel liege blofs darin, dafs andere und wieder andere Stellen in der Bahn als die
Orte angesehen würden, worin sich das Bewegte befinde (S. 295); ihre gleichförmige
Fortdauer darin, dafs kein Punkt der Bahn einen Vorzug vor dem anderen habe; denn
jedes reale Wesen ruht in seinem eigenen Räume, aber bewegt sich samt seinem Räume
im Räume des anderen, und zwei reale Wesen können ebenso gut ursprünglich in Be-
Die Rezension der Allgem. Metaphysik von Prof. Dr. Brandts in Breslau. 405
wegung als in Ruhe gegen einander sein Leichter aber ist es, sich die realen Wesen
gegenseitig ruhend als in Bewegung zu denken, weil man nur Eine Konstruktion des
Raumes und für je zwei Reale Eine Distanz nötig hat. Die Bewegung zerfällt in die
Faktoren der Geschwindigkeit und der Zeit. Die Geschwindigkeit, insofern man sie
als intensive Gröfse nach dem Räume mifst, der mit ihr in gegebener Zeit durchlaufen
wird, erscheint als ein Zustand des Bewegten mit darin eingewickelter Bewegung oder
als Tendenz sich weiter zu bewegen. Aber das Bewegte hat in der That nur Ge-
schwindigkeit, sofern es nicht an irgend einem Orte beharrt, vielmehr das Sein an
diesem Orte sogleich wieder aufgehoben und das Setzen und Aufheben unmittelbar ver-
bunden wird (S. 301). Durch diese Erklärung lösen sich die vom Eleatischen Zeno
im Begriff der Bewegungen nachgewiesenen Widersprüche (S 301 ff.): denn jeder Weg
hat vermöge der bestimmten Geschwindigkeit sein bestimmtes Element, einen Bruch
des Aneinander; ist nicht ins Unendliche teilbar (S. 305). Geschwindigkeit ist demnach
Bewegung auf ihren allgemeinen Begriff zurückgeführt; Zeit der Multiplikator dieses
intensiven Multiplicandus Die Geschwindigkeit ist nämlich Setzung, Aufhebung und
neue Setzung dergestalt verbunden, dafs die jedesmalige neue Setzung mit der vorigen
nicht ganz zusammenfällt: Da nun das Bewegte sich an dem neuen Platze, wegen der
durchgängigen Gleichartigkeit der Teile des Raums gerade so befindet, wie am vorigen,
so wiederholt sich das Element der Bewegung, oder wird multipliziert durch die Zeit,
die daher nichts als eine Zahl ist und zwar die Zahl des Wechsels Indem die Zeit
aus dem Multiplikator der Bewegung in das Bewegte selber verwandelt wird, legt man
ihr Geschwindigkeit bei: indem ungeachtet der Aufhebung der einzelnen Zeitpunkte die
vorigen Ordnungszahlen zusammengefafst und bis ins Unendliche hin überschaut werden,
verwandelt sich die Zeit in ein Analogon des Raums, ist aber, vermöge des be-
stimmten Zwischen, welches unter ihren Punkten stattfindet, immer nur als gerade Linie
und zwar ursprünglich als starre Linie aufzufassen; die Vorstellung der Kontinuität
kommt erst hinzu, wenn verschiedene gleichzeitige Bewegungen verglichen und zusammen-
gefafst werden: denn zwischen zwei nächsten Zeitpunkten liegt keine Zeit, vielmehr fällt
der Wechsel in die Zeitpunkte selbst. Dafs die Zeit nur eine Dimension haben kann,
folgt daher aus der [502] Ent Wickelung des Begriffs, nicht aus reiner Anschauung; und
Sonderung einer intelligiblen und sinnlichen Zeit gelingt nicht, weil der Wechsel der Vor-
stellungsmassen, der zu der Sonderung im Bewufstsein notwendig wäre, selbst in die
Zeit fällt (S. 317). Wiewohl auf diese Weise Raum- und Zeitverhältnisse nicht im
mindesten für wahre Prädikate der Objekte selber zu halten sind, sondern lediglich auf
dem Zusammentreffen ihrer Bilder in der sie abspiegelnden Intelligenz beruhen, so ge-
hören sie doch nicht dem subjektiven Scheine, wie Kant wähnte, sondern dem ob-
jektiven an, weil die Intelligenz an das jedesmal bestimmte Zusammentreffen der Bilder;
wie an jede qualitative Bestimmtheit des Gegebenen gebunden ist. Der Zuschauer ver-
leiht den von einander gegenseitig unabhängigen Objekten eine lediglich im Gedanken
vorhandene Gemeinschaft; und indem er in dem Räume, worein er schon eines der
Elemente gesetzt hatte, noch ein anderes setzt, entzieht sichs ihm, und gewinnt eine
Richtung und Geschwindigkeit, die jetzt zur Regel der Zusammenfassung wird, welche
das zweite Objekt in Beziehung auf das erste gestattet. Damit ist denn die gleich-
förmige Bewegung im Gange, welche bleibt bis ein Grund der Abänderung eintritt.
Was hier dem einen Zuschauer begegnet, mufs allen begegnen. Bewegung ist also
nichts anderes als ein natürliches "Mifslingen der versuchten räumlichen Zusammen-
fassung; Geschwindigkeit und die ihr einwohnenden Richtungen, — Bestimmungen wie
und inwiefern die Zusammenfassung mifshngt (S. 325). Die Objektivität des Scheins
aber wird bedingt durch die R.egel des Zusammentreffens der Bilder in einem gleich-
viel ob idealen oder wirklichen Zuschauer, und ihr Grund ist, dafs die äufsere Lage
sich nach dem inneren Zustande richten mufs (vgl. S. 365). Kritische Yirgleichung
dieser Theorie mit der Kantschen und der Atomistik, nebst Rückblick auf die Kant-
scheu Antinomieen (S. 333 ff.) beschliefst den reichhaltigen dritten Abschnitt. Die
dritte und vierte Antinomie wird als beseitigt durch die Ontotogie, die zweite als er-
ledigt durch die Konstruktion der Materie betrachtet; in Bezug auf die erste aber er-
innert, dafs das Quantum des Realen, d. h. die Anzahl der realen Wesen nicht un-
endlich sein könne, weil der Vorbehalt noch Etwas beizufügen die absolute Position
aufhebe; gleichwohl die Welt nicht in Grenzen eingeschlossen sein könne, weil die Be-
wegung sich immer so viel Raum nehme, wie sie brauche, und für die Dauer des
Realen sich kein Anfang finde, wiewohl die Summe des Geschehens endlich sein müsse.
406 Anhang II.
Bewegung nichts weiter als ein natürliches Mifslingen der versuchten räumlichen
Zusammenfassung? können wir uns nicht enthalten zu fragen, so scharfsinnig auch hier
wiederum das Einzelne behandelt ist. Die Zusammenfassung mifslingt also erst da,
wo Objekte von der Ruhe zur Bewegung übergehen; und doch hat sich weder an den
Objekten und ihrem Verhältnis zu einander noch bei uns irgend etwas [503] verändert,
wodurch bei solchem Übergange die Zusammenfassungen erschwert würden. Wie kommt
es denn, dafs wir eine grofse Mannigfaltigkeit verschiedener Objekte ohne Schwierigkeit
als in Ruhe befindlich betrachten, d. h. räumlich zusammenfassen, und wiederum zwei
derselben Objekte nicht zusammenzufassen vermögen, d. h. sie als in Bewegung begriffen
setzen müssen ? wie kommt es, dafs gerade die unendliche Menge von Fixsternen, bei
denen alle räumliche Zusammenfassung versagt, uns als ruhend erscheint ? Doch statt
solche Instanzen zu häufen, die nur bestimmt und geeignet sein können, fernere Er-
läuterungen über einzelne Punkte der neuen Theorie hervorzurufen, fragen wir, was
denn durch eine solche Bewegung für die Erklärung des Wechsels in dem Zusammen
und Xichtzusammen einfacher Wesen gewonnen werde ? oder wie die äufsere Lage der-
selben sich nach dem innern Zustande richten könne, wenn der Wechsel in Bezug auf
jene ausschhefslich durch ein dem Subjekte eigentümliches Gelingen oder Mifslingen
bedingt wird ? So wenig wir begriffen, wie blofs qualitative Verschiedenheit einfacher
Wesen uns von der ersten zur zweiten, von der zweiten zur dritten Dimension führen
könne, ebensowenig sehen wir ein, wie innere Zustände oder die Qualitäten der ein-
fachen Wesen äufsere Lagen bedingen sollen , die vermittelst der Bewegung ganz
abhängig von unserem subjektiven Gelingen oder Mifslingen der Zusammenfassung.
Oder ist dieses wiederum bedingt durch die besondere Qualität der einfachen Wesen ?
so dafs wir die einen ohne alle Schwierigkeit zusammenzufassen vermöchten, andere
dagegen gar nicht? dann findet sich eine Lücke in der Darstellung, von der wir zweifeln,
ob sie mit Erfolg auszufüllen sein möchte. Jedenfalls aber werden durch diese Er-
klärung von Bewegung alle Schwierigkeiten und Widersprüche, welche der Begriff des
Wechsels mit sich führt, auf das Ich, als einzigen Grund der Bewegung, zusammen-
gehäuft. Davon handelt die Eidolologie, soweit die darauf bezüglichen Untersuchungen
vom Verf. in die Metaphysik gezogen werden.
[505] Die Eidolologie (S. 340—424.) soll von der Möglichkeit des Wissens Rechen-
schaft geben; und entnimmt aus den früheren Abschnitten, dafs die gegebenen Em-
pfindungen für Selbsterhaltungen der Seele, das Empfundene für Ausdruck der inneren
Qualität der letzteren zu halten, die Ordnung und Folge der Empfindungen aber das
Zusammen und Xichtzusammen der Dinge verrate. Sie setzt sich zuerst teils mit dem
transscendentalen Idealismus sowohl in seiner ursprünglichen reinen Darstellung in
FlCHJEs Bestimmung des Menschen und Wissenschaftslehre, als in seiner späteren An-
näherung zum Spinozismus in der Anweisung zum seligen Leben auseinander; teils mit
Friess Bestimmungen über das Selbstbewufstsein, und subsumiert das Ich, ihr eigent-
liches Objekt, als eine Komplexion von Merkmalen, unter den logisch höhern Begriff
der Inhärenz (S. 362.). Die dem Ich zu Grunde liegende Substanz, die Seele, soll
nämlich ebensowenig inhaftende Attribute haben wie jede andre Substanz; vielmehr
ihrer ganzen geistigen Mannigfaltigkeit eine hinreichende Menge und Bestimmung eines
vielfältigen Zusammen mit anderen und wiederum andren realen Wesen vorausgesetzt
werden. Ein reines Selbstbewufstsein, welches setzte ohne Gesetztes wird von vorn-
herein als undenkbar beseitigt (S. 367. vgl. Psychol. I S. 93 ff.). Die Vorstellungen
ergeben sich als Selbsterhaltungen der Seele, zunächst insofern sie auf einfache Empfin-
dungen sich beziehen (S. 38b.); dafs nun nicht alle mit allen, sondern einige mit Aus-
schliefsung andrer in Verbindung treten , und dadurch eine Mehrheit von Dingen für
uns entsteht, dafür mufs der Grund in der Beschaffenheit der zufälligen Ansichten ge-
sucht werden, und diese auf den Hemmungen unter den Vorstellungen beruhen. Das
Ich ist nichts anderes als ein Mittelpunkt wechselnder Vorstellungen (S. 403.), und der
Begriff desselben durchaus unfähig, die Qualität eines Realen unmittelbar auszudrücken
(S. 404.). Die ersten Anlässe des Zweifels und Irrtums aufzuzeigen, mufs der Psycho-
logie überlassen bleiben ; die Metaphysik hat über den Gebrauch und Wert der Bestand-
teile des \\*i- 5,o6]sens — sinnliche Wahrnehmung, allgemeine Begriffe, mathematische
Formen — Rechenschaft zu geben (S. 407.)- Die Anfänge des Wissens und einzig mög-
liches Fundament seiner Realität sind die Empfindungen, die als blofse Selbsterhaltungen
der Seele nichts Äufseres abspiegeln können. Weil wir aber die wahrhaft erste Position
des Empfundenen unmöglich so stehen lassen können wie sie ursprünglich war, so tritt
Die Rezension der Allgem. Metaphysik von Prof. Dr Brandis in Breslau. 407
schon in der niedrigsten Region des gemeinen Verstandes eine Veränderung des Ge-
setzten ein, indem Substantiva zu den Adjektivis der Empfindung gebildet werden.
Diese Veränderung ist keinesweges eine willkürliche; sondern eben indem die Empfin-
dungen gegeben werden, fügen sie sich in bestimmte Gruppen und Reihen ; der Gehalt
oder das Jf'i7s des Wissens ist daher in der Form wie in dem Stoffe enthalten; und
weil das Empfundene nicht real sein kann, bleibt von der ursprünglichen Setzung nichts
als die Form übrig, d. h. die Dinge an sich kennen wir nicht, wissen aber, dafs etwas
und zwar vieles und verschiedenes da ist, und dafs unter seinen Qualitäten, die wir
nicht kennen, Verhältnisse stattfinden; diese vermögen wir wissenschaftlich zu bestimmen
ohne die Verhältnisglieder einzeln zu kennen. Alle vermeinte Qualitäten laufen auf Re-
lationen hinaus — Ausdehnung auf den Gegensatz des Hier und Dort, Denken und
Wissen auf ein entweder wahres oder angenommenes Verhältnis zwischen Bild und
Gegenstand, Kräfte der Körper auf den Raum, Kiäfte des Geistes auf Gedachtes und
Gewolltes (S. 413.). Abgebildet in unsrem Wissen ist die Einheit des realen Wesens,
welches sich unter Umständen für uns mit vielen Merkmalen bekleidet; abgebildet in
unsrem Erfahrungskreise das Zusammenkommen oder Getrenntwerden solcher Ein-
heiten, die sich unter einander die Gruppen von Merkmalen bestimmen, vermöge deren
sie uns erscheinen sollen. Die Erkenntnis der Relation genügt uns in der That auch,
da wir in Relationen leben ; und ist gesichert durch die ihnen zu Grunde hegenden
realen Wesenheiten So nämlich sind die empirischen Raumverhältnisse denen ähnlich,
worin eine Intelligenz, welche die realen Wesen unmittelbar anschauen könnte, dieselben
zusammenfassen würde. Die allgemeinen Begriffe sind nur Abbreviaturen zur Be-
quemlichkeit, ohne irgend eine eigene Bedeutung, und logische Ideale, insofern wir Bei-
seitsetzung der spezifischen Differenzen von uns fordern, um das Allgemeine rein zu
denken; das Allgemeine hat aber nur Giltigkeit, [507] weil es in jedem Einzelnen wieder-
kehrt. Verletzung oder Verkennung der wahren Beziehungen verrät sich durch Wider-
sprüche; und indem die spekulative Form des Wissens diese hinwegräumt, berichtigt
sie zugleich das Fehlerhafte der ursprünglich erzeugten Bilder. Den Täuschungen ist
sie unterworfen, wenn sie in Ansehung der absoluten Position sich übereilt, und Be-
griffe, die nur in bestimmten Beziehungen Grund und Bedeutung haben, schlechthin
setzt d. h. in reale Objekte verwandelt (wie Zahlen und Ideen, Seelenkräfte u. s. w.),
oder das scheinbare Geschehen mit dem wahren verwechselt (S. 418.), dem Nichtigen
der Bewegung Kräfte hinzudenkt, lediglich begleitenden Phänomenen für den Zuschauer,
wie der Attraktion und Repulsion, Wirklichkeit beilegt. Die Mehrheit, der Wechsel
und die Begrenzung der Bilder beruhen auf der Hemmung, welche aus dem Entgegen-
gesetzten der Empfindung sich ergiebt und die Strebung zur Folge hat.
Fassen wir nun die Hauptpunkte der Erkenntnislehre des Verf.s zusammen, so
ergeben sie sich einerseits als durchaus konsequente Folgerungen aus seinen meta-
physischen Grundannahmen, anderseits aber zugleich als abhängig von den Resultaten
seiner Psychologie. Das Ich kann ihm keine Vorstellungen und Begriffe entwickelnde
Kraft, vielmehr nichts als ein schlechthin einfaches qualitativ bestimmtes Wesen, die
Vorstellung nur eine bestimmte Erscheinungsweise seiner Qualität und — diese wiederum
nur abhängig von dem jedesmaligen Zusammen desselben mit anderen einfachen Wiesen
sein, gegen die es sich in seiner unveräufserlichen Bestimmtheit zu erhalten hat. Auch
sehr begreiflich, dafs der Verf. die einfachen Empfindungen für die unmittelbarsten Aus-
drücke der Selbsterhaltung und eben darum für die Grundlage aller Erkenntnis, ihre be-
stimmten Gruppen und Reihen, sowie ihre Ordnung und Folge, für bedingt durch die
ursprünglichen Verhältnisse der einfachen Qualitäten zu einander und durch die davon
abhängigen zufälligen Ansichten, hält; weil er aber die Qualität an sich als unerkennbar
setzen mufs, alle Erkenntnis auf wissenschaftliche Bestimmung der Verhältnisse be-
schränkt und die allgemeinen Begriffe für blofse Abbreviaturen des Besondern nimmt.
Ebenso ergiebt sich was vom Ursprünge des Irrtums und seiner Verbesserung gelehrt
wird, als völlig der Grundannahme angemessen; denn Irrtum mufs ihr zufolge entstehen,
so oft wir entweder erkennen zu können wähnen, was unerkennbar ist, die einfache
Qualität der Wesenheiten, und Relationen dafür halten, oder auch in der Auffassung
der Relationen fehl greifen und Unvereinbares vereinigen. Dadurch erhält auch die Be-
hauptung der Methodologie, der Widerspruch sei Grund der Erkenntnisse, höhere Be-
deutung; denn durch Widerspruch verrät sich die Verletzung der wahren Beziehung
und damit der /wiefache Irrtum, dem zufolge wir blofse Verhältnisse luv Qualitäten
halten, oder [508] in diesen fehlgreifen und Unvereinbares zusammenfassen. Aber woher ein
4o-S Anhang II.
solches Fehlgreifen, und zwar ein Fehlgreifen, das sich schon im Kreise der alltäglichen
Erfahl ung auf's mannigfaltigste äufsert? Warum hat es bei den Gruppen und Reihen,
worin sich die Empfindungen ursprünglich fügen, nicht sein Bewenden? etwa weil ihnen,
so gewifs das Ich Mittelpunkt der wechselnden Vorstellungen ist, ein einheitlicher Träger
hinzugedacht werden mufs; und dieses Hinzudenke-i zwar einerseits zu den Ergänzungen
der Erfahrungen und vermittelst derselben zu allen den Aufschlüssen führt, die wir
zunächst der Metaphysik verdanken, anderseits aber auch immer von neuem veranlagst
für reale Objekte oder Qualitäten zu halten, was nur der Ausdruck von Verhältnissen
ist? da bliebe dann noch zu erklären, wie Irrtum in die Auffassung der Gruppen und
Reihen kommen kann, wie in ihnen nicht vielmehr alles nach den gegensätzlichen Ver-
hältnissen zwischen den einfachen Qualitäten, die der Zuschauer in zufälligen Ansichten
zusammenfafst, mit Notwendigkeit sich ordnet.
Doch ohne diese und ähnliche Fragen weiter zu verfolgen, die uns in die Tiefen
der Psychologie des Verfassers führen würden, wollen wir uns für jetzt begnügen zu
fragen,' wie doch das Ich als Zuschauer zu den zufälligen Ansichten und in ihnen zu
dem Wechsel des Zusammen und Nichtzusammen komme? an ihm nämlich bleibt der
Wechsel haften, dem durch so scharfsinnige Operationen die Objekte oder vielmehr die
ihnen zu Grunde liegenden einfachen Wesen entzogen worden. Nun ist aber das Ich
selber ein schlechthin einfaches, an und für sich dem Wechsel unzugängliches Wesen;
wie kommt es also zu dem Wechsel? dafs diese Schwierigkeiten vom Verfasser mit
nichten aufser acht gelassen sind (vgl. u. a. s. Psychologie I. S. 1 1 8 ff.), bedarf wohl
kaum der Erinnerung; ihrer Beseitigung hat er ausführliche Untersuchungen in seiner
Psychologie gewidmet, die wir hier nicht ganz unberücksichtigt lassen können. Ob die
Metaphysik besser gethan sie als Schlufsstein bis so weit in sich aufzunehmen, wo das
Ich als Zuschauer in den Wechsel der zufälligen Ansichten eingeht, ohne seine Ein-
fachheit ihm zum Opfer zu bringen - wollen wir dahin gestellt sein lassen. Aber wenn
sie auch in der Psychologie, in der Mitte verwandter Forschungen, passend ihren Platz
gefunden haben, wir müssen hier darauf eingehn, um die Prüfung der metaphysischen
Grundlinien nicht ohne Abschlufs zu lassen.
Die Empfindungen sollen für Selbsterhaltungen der Seele, d. h. eines schlechthin
einfachen Wesens gelten, das Empfinden und Vorstellen des Subjekts unverändert be-
harren (Psvchol. I. S. 1 1 8, 141, 14/), aber zu einem Streben vorzustellen werden, wenn
entgegengesetzte Vorstellungen sich in ihm vereinigen (Psychol. I. S. 148); und erst
indem mehrere [509] Objekte vorgestellt werden, etwas dem Vorstellenden angehören, ihr
Zusammenfassen in Ein Vorstellen (Psychol. I. S. 105, 150^, denn: „Alle unsere Vor-
stellungen, blofs und lediglich darum, weil sie in uns beisammen sind, werden ein
einziges, aus gar keinen Teilen bestehendes, gar keine Art von Absonderung fähiges
Objekt vorstellen — und zwar ebensowohl ein unzeitliches als ein unräumliches
Objekt; — wenn die bekannten Hemmungen und Gegensätze der Vorstellungen nicht
wären" (Psychol. II. S. 168.) Schon hier an der Schwelle dieser Untersuchungen mufs
Rez. bekennen schlechterdings nicht zu begreifen, was man unter Empfindungen und
Vorstellungen zu denken habe, die noch keinem Empfindenden und Vorstellenden an-
gehören ; sollen sie überhaupt nicht vorgestellt und empfunden werden, oder nur nicht
von einem vorstellenden und empfindenden Subjekte vorgestellt und empfunden werden ?
er vermag sich unter solchen subjektlosen Vorstellungen und Empfindungen nichts anderes
zu denken als etwa Bilder, die auf die Spiegelfläche der einfachen Wesenheit fallen,
ohne von ihnen aufgefafst zu werden, oder als an ihm wechselnde Schlagschatten. Er
erinnert sich sehr wohl der LElBXiTzischen Sonderung von perceptioncs und apperceptiones;
aber meint, dafs auch ihre Triftigkeit zugegeben, unser Verfasser sie sich nicht aneignen
könne, weil er die innere Kraftthätigkeit verwirft, wodurch Leibnitz die V01 Stellungen
aus ihren bewufstlosen Anfängen sich entwickeln läfst. Und wie soll ein Mannig-
faltiges von Objekten in ein Vorstellen zusammengefafst werden, so lange noch kein
zusammenfassendes Subjekt oder kein Vorstellender vorhanden ist? zu geschweige!!,
dafs auch noch zu erklären wäre, welches Zusammentreffen eines Mannigfaltigen ein
Zusammenfassen erzeuge, und wie überhaupt aus einem blofsen Zusammentreffen ein
Zusammenfassen werde. Die schlechthin einfache Wesenheit, woraus das Ich wird,
kann nicht für ein zusammenfassendes Subjekt gelten. Auch kann, bevor das Vor-
stellende sich gebildet, wenigstens nicht von einem bestimmten zusammenzufassenden
Mannigfaltigen die Rede sein; ein solches mufs aus der Allheit des Mannigfaltigen
das Subjekt sich begrenzen. Warum wird ferner nicht alles Zusammen einfacher Wesen
Die Rezension der Allgem. Metaphysik von Prof. Dr. Brandis in Breslau. 400
zu Vorstellungen? werden die Selbsterhaltungen zu Vorstellungen bei bestimmten Arten
des Zusammen einfacher Wesen, oder nach eigentümlicher Qualität derselben? in
ersterem Fall müfste der Wechsel unter den einfachen Wesen stattfinden noch ehe ein
Zuschauer vorhanden wäre, was gegen die Voraussetzung ist ; in letzterem Falle eine
bestimmte Qualität die Spaltung bedingen, welche Empfindung und Vorstellung not-
wendig voraussetzen, und so doch wiederum die Einfachheit der dem Zuschauer zu
Grunde liegenden Wesenheit aufgehoben werden. — Auch in der ferneren Erklärung,
wie das Vorstellende zur innern Wahrnehmung und zum Selbstbewufstsein gelange, ver-
mag Rez. dem Verfasser [510] nicht zu folgen. Der letzte Grund des Selbstbewufstseins
wird in die einfache Wesenheit des Vorstellenden gesetzt, aber damit ihre Einfachheit
nicht getrübt werde, sollen durch Verschmelzungen der Vorstellungen Massen sich
bilden, deren eine als die beobachtende den neu hinzukommenden entgegentrete. Bei
welcher Erklärung wir den Anstofs nicht zu beseitigen vermögen, wie teils die einfache
Wesenheit das Ich irgendwie Massen von Vorstellungen festzuhalten im stände sein
könne, nicht vielmehr bei jedem Wechsel in den Komplexionen und der Abfolge durch
die jedesmal stattfindenden Störungen in einer eigentümlichen Art der Selbsterhaltung
sich befinden müsse, der mit den früheren nichts weiter als den Mittelpunkt gemein, teils
wie Kontinuität des Bewufstseins und wie die unveräufserlichen Thatsachen der sitt-
lichen Zurechnung mit solchem Wechsel der apperzipierenden und bestimmenden Vor-
stellungsmasse bestehen können ; teils wie eine solche Annahme nicht eben so gut
in die Schwierigkeiten eines progressus in infinitum zurückführen solle wie der vom
Verfasser verworfene Begriff freier Selbstbestimmung. „Unter den mehrern Vorstellungs-
massen, deren jede folgende die vorhergehende apperzipiert . . . mufs irgend eine di 2 letzte
sein. Diese höchste apperzipierende wird nun selbst nicht wieder apperzipiert." (Psychol. II.
S 222.) Dieses mit/s sind wir weit entfernt zu bestreiten; nur wollen wir es den An-
griffen des Verfassers gegen die Annahme freier Selbstbestimmung als Schild entgegen
halten, und bitten uns gelten zu lassen, was er für seine Theorie zuletzt auch in An-
spruch zu nehmen sich genötigt sieht — als ein notwendiges Postulat gelten zu lassen,
dafs in der Reihe der Selbstbestimmungen irgend eine die letzte sei. Aber hier er-
öffnet sich uns ein Gebiet der Erörterungen, in das wir lieber für jetzt nicht eingehen,
als mit einzelnen unzulänglichen Bemerkungen uns begnügen wollen, wie dieser Ort und
unser gegenwärtiger Zweck sie uns verstatten könnte Dagegen erlauben wir uns kurze
Entwickelung der unmittelbar vorher berührten Punkte. „Eine Vorstellung oder Vor-
stellungsmasse wird beobachtet; eine andere Vorstellung oder Vorstellungsmasse ist die
beobachtende" (Psychol. II. S 211); daraus soll Wahrnehmung hervorgehn und die
Psychologie ausmitteln, unter welchen Umständen sie wirklich erfolge, unter welchen
anderen sie ausbleibe (S. 219). Eine apperzipierende Vorstellungsmasse mufs vorhanden,
sie mufs stark genug sein, der zu apperzipierenden in ihrem Steigen zu widerstehn oder
sie in ihrem Sinken festzuhalten u. s. w. : und nur in den vielfach zusammengeflossenen
und durch einander verstärkten Totalkräften kann eine apperzipierende Vorstellungsmasse
gesucht werden (S. 221). So wird gelehrt und mit höchst beachtenswerten aus geist-
voller Beobachtung und heller Reflexion geschöpften Bemerkungen die Apperzeption der
inneren Wahrnehmung, ihr Ausbleiben bei schnel[5 1 ijler, rasch vorübergehender, sehr
mannigfaltiger und neuer Entwickelung von Gedanken oder bei heftig auflodernder
Leidenschaft u. s. w. erklärt, die Aufmerksamkeit mit ihren verschiedenen Modifikationen
(S. 223 ff.) beleuchtet, vom Grunde der Stärke und Thätigkeit der Reflexion — einer
erhöhten Apperzeption — und von den Hilfsmitteln der Ausbildung, welche dem
Menschen seine geistige Überlegenheit über das Tier sichern sollen (Hände, Sprache,
lange hilflose Kindheit, dabei- Erziehung), sowie von den Kategorien der inneren
Apperzeption als dem Erfolg dieser Überlegenheit (Empfinden, Wissen, Wollen,
Handeln, mit dem was ihnen untergeordnet), ausführlich gehandelt und das Selbstbewufst-
sein von seinen ersten Anfängen beim Kinde durch die verschiedenen Stufen seiner
Entwickelung verfolgt. Eine dritte Vorstellungsmasse, welche das Zusammenfallen
zweier Reihen in einein identischen Punkt apperzipiert, soll vorhanden sein, wo das
Wort Selbst der Ausdruck eines allgemeinen Begriffs solcher Identität, auf einen vor-
kommenden Fall angewendet wird, dieser Begriff aus dem Zusammenfallen, Verschmelzen
und mit vereinter Kraft Hervortreten der beiden gleichartigen Elemente zweier inein-
ander zurücklaufenden Vorstcllungsweisen erst erzeugt werden (S. 207 ff.); — das wahre
Ich aber dasjenige sein, in welchem jenes Entgegengesetzte zum Gleichgewicht gelangt
ist (S. 283), jedoch höchst veränderlich bleiben und keine vollkommne Komplexion
AlO Anhang II.
sein (S. 285): dennoch ein Erwägen, Wählen, Beschliefsen, sittlichen Maximen gemäfs,
nach dem zusammengesetzten Verhältnis der von den apperzipierenden Vorstellungs-
massen zuvor gewonnenen Ausbildung und des Einflusses, den ihm die anderen gleich-
sam gewogenen oder erwogenen Vorstellungsmassen gestatten (S. 418), stattfinden, Zu-
rechnung aber Schwierigkeiten mit sich führen, weil sie aus verschiednen zum Teil
entgegengesetzten Gröfsen einen Gesamtwert bestimmen müsse, der sich aus den Hand-
lungen und Aussagen eines Menschen nur mit Wahrscheinlichkeit erraten lasse, indem
dieselben teils auf das Vorbedachte, teils auf augenblickliche Reizung, teils auf Gewohn-
heit, teils auf dreiste Wagestücke, teils auf dringende Bedürfnisse hinweisen (S. 452).
[513] Ein Teil dieser Erörterungen, die sich zu den eben mitgeteilten wenigen Grund-
strichen wie ein nach allen seinen Teilen sorgfältig ausgeführtes Bild zu einem Schattenrifs
verhalten, bewährt eben dadurch seinen bleibenden Wert, und der Verfasser durch sie
seinen hohen philosophischen Beruf, dafs sie auch abgelöst von der Grundannahme, der
sie ihre Entwickelung verdanken, teils sehr bedeutende Resultate, teils fruchtbare Ent-
wickelungskeime und Anregungen für neue Untersuchungen enthalten, und namentlich
die Psychologie nötigen werden, die allmähliche Steigerung und Ausbildung der innern
Wahrnehmung und des Selbstbewufstseins mit ganz anderer Sorgfalt wie bisher zu be-
handeln, der Annahme eines von vornherein fertigen Selbstbewufstseins sich entschlagend.
Aber so wenig vorher die Möglichkeit des Übergangs von der in sich schlechthin un-
veränderlichen Qualität eines einfachen Wesens zu der Affektion der Empfindung und
Thätigkeit des Vorstellens, und wiederum vom Zusammentreffen einer Mannigfaltigkeit
von Vorstellungen zum Zusammenfassen nachgewiesen ist; ebensowenig hier, wie Massen
von Vorstellungen sich bilden, zu irgend einigem Bestand gelangen und vom Ich, un-
beschadet seiner schlechtsinnigen Einfachheit, festgehalten werden sollen. Die Bildung
derselben setzt schon ein zusammenfassendes Denken voraus, ohne welches die ein-
fachen Wesen ohne alle Beziehung zu einander, ohne Störung und Selbsterhaltung, ohne
Empfindungen und Vorstellungen bleiben müfsten, so dafs nicht einmal Zusammen-
treffen, geschweige denn ein Zusammenfassen stattfinden könnte, da schon Zusammen-
treffen Wechsel voraussetzt, aller Wechsel aber auf die zufälligen Ansichten eines Zu-
schauers zurückgeführt wird. Oder soll sich's mit dem Zusammentreffen von Empfindungen
lind Vorstellungen anders verhalten, wie mit dem Zusammentreffen der einfachen Wesen
selber, so wird doch immer auch dann noch ein Vorstellendes und Empfindendes vor-
ausgesetzt, das den Wechsel zu den nur der Möglichkeit nach vor ihm vorhandenen Em-
pfindungen und Vorstellungen hinzu[5i4]brächte. Doch angenommen (wie undenkbar es
auch ist), es seien Vorstellungen zusammengetroffen und es hätten durch Verschmelzungen
Vorstellungsmassen sich daraus gebildet, ohne dafs noch das zusammenfassende Denken
eines Zuschauers vorhanden gewesen ; wie wird eine der Vorstellungsmassen zur be-
obachtenden, eine andere zur beobachteten? Beide haben ein und denselben Mittelpunkt,
die einfache Wesenheit, gemein, welche gegen die Störungen sich selber erhält, und
dieser Mittelpunkt vermag kraft seiner absoluten Einfachheit die eine ebensowenig wie
die andere festzustellen, sondern höchstens von der jedesmal stärkern überwältigt zu
werden. Also in einer der Massen selber mufs das Beobachtende sich entwickeln,
mithin Wechsel in ihr stattfinden ; und so fragt sich denn auch hier wiederum, woher
der Wechsel, bevor das zusammenfassende Denken eines Zuschauers vorhanden ? Doch
es habe auch eine der Vorstellungsmassen über die andre den Sieg davongetragen und
sei zur beobachtenden geworden, — wollen wir setzen, ohne es zugeben zu können, —
sie wird ihre Stelle einer anderen abtreten müssen und sofort diese einer anderen. Dessen-
ungeachtet machen wir auf Zusammengehörigkeit aller Modifikationen und Affektionen
des Bewufstseins Anspruch, und müssen darauf Anspruch machen, wollen wir nicht
auf alle Verständigung mit uns selber und anderen verzichten. Auch reifst unser Be-
wufstsein nie ab, selbst wo es Unterbrechungen erleidet. Die Annahme, die jedesmal
apperzipierenden Vorstellun«smassen übertrügen einen Teil ihrer Elemente auf die ihr
folgenden und auf die Weise werde Kontinuität des Bewufstseins oder vielmehr der
Schein davon erhalten — könnten wir uns gefallen lassen, wenn nur der Träger dieser
verschiedenen Massen mehr als ein blofser Mittelpunkt wäre, wenn er irgendwie an dem
AYechsel der Vorstellnngsmasscn apperzipierend teil hätte und uns dadurch berechtigte,
ihn als wirksamen Grund dieser verschiedenen apperzipierenden Massen zu betrachten.
Vorzüglich aber erweist sich die Annahme als ungenügend, wenn wir die Thatsachen
der sittlichen Zurechnung ins Auge fassen. Was der Verfasser darüber sagt, bezieht
sich nur auf die Anwendung des Begriffs und erklärt keineswegs wie die jedesmal
Die Rezension der Allgem. Metaphysik von Prof. Dr. Brandts in Breslau, a \ \
apperzipierende Vorstellungsmasse sich zurechnen könne, was unter der Herrschaft einer
anderen, von der jetzt vielleicht nur wenige vereinzelte Elemente übrig, geschehen ist:
an die Stelle reuevoller, oft zerknirschender Zurechnung könnte höchstens ein Be-[515]
dauern treten, dafs die apperzipierende Vorstellungsmasse gethan, was die jetzige nicht zu
billigen vermöge; ein Bedauern ähnlich dem, das uns begegnet, wenn wir Fehler wahr-
nehmen, die ein uns übrigens durchaus fremder Vorgänger in der Amtsführung sich
hat zu Schulden kommen lassen. Bei solchem Bedauern aber läfst es das strafende
Gewissen nicht bewenden und kann es nicht dabei bewenden lassen, soll es zugleich
treibend und anfordernd sein. Hier müssen wir inne halten, um nicht auch noch, über
unser Ziel hinaus, auf das praktische Gebiet, zur Erörterung über Herbarts ästhetische
Urteile und praktische Ideen, im Gegensatz gegen Kants kategorischen Imperativ, ge-
führt zu werden.
Zum Schlufs stellen wir die Hauptpunkte nnsrer Bemerkungen unter einen Ge-
sichtspunkt zusammen. Das letzte Ziel der HERBART'schen Metaphysik: so wie die
unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, so auch ihre Veränderungen aus schlecht-
hin einfachen, unräumlichen und unzeitlichen Wesenheiten abzuleiten, die Beziehungen
der Dinge aufeinander — die absolute Position durch eine relative ergänzend — her-
zustellen, und nicht blofs das Werden und Geschehen selber, sondern auch den Grund
desselben, die zufälligen Ansichten des Zuschauers, in das Gebiet des Scheines zu ver-
weisen — können wir nicht für erreicht halten ; können nicht zugeben, dafs es ihr
gelungen, den Begriff der Ursächlichkeit von dem Gegensatz des Thuns und Leidens
zu befreien, das wirkliche Geschehn in ein blofses Bestehn wider eine Negation, die
Kräfte in ein Zusammensein der Wesen mit andren von entgegengesetzter Qualität
aufzulösen, das Stetige, Räumliche und Zeitliche, die Materie und die Bewegung auf
blofse Formen der Zusammenfassung oder Mifslingen derselben, zurückzuführen. Aber
auch angenommen, Ontologie und Synechologie hätten ihren Zweck erreicht, die ein-
fachen qualitativ bestimmten Wesenheiten von allem Wechsel befreiet, um ihn auf den
Zuschauer überzutragen, so wissen wir nicht, wie wir zu ihm gelangen, wie wir ihn mit
Wahrnehmung und Selbstbewußtsein ausstatten sollen, vorausgesetzt, dafs auch sein
realer Grund nichts als ein schlechthin einfaches qualitativ bestimmtes Wesen sei. Dafs
er die eignen Selbsterhaltungen gegen all und jede Störung und nach Verschiedenheit
derselben auf verschiedene Weise empfinde, wollten wir willig zugeben, wenn ihm Be-
wußtsein irgendwie im voraus einwohnte, vermögen aber ebensowenig schlechthin
bewufstlose Empfindungen, wie teils den Übergang von einer solchen zu dem Bewufst-
sein durch ein Zusammentreffen bewufstloser Vorstellungen, und durch Erhebung des
Zusammentreffens zu einem Zusammenfassen unabhängig von einem zusammenfassenden
Subjekt, uns zu denken, teils ein unbedingt anforderndes und unbedingt zurechnendes
Selbstbewufstsein in einer zur Herrschaft gelangten Vorstellungsmasse wieder zu finden, [5 16]
selbst wenn in ihr oder durch sie alles Entgegengesetzte zum Gleichgewicht gelangt wäre.
Wie wenig wir aber auch bis jetzt wenigstens uns aneignen können, was zunächst
als Resultat der HERBARTschen Metaphysik sich ergiebt, so halten wir nichtsdesto-
weniger sie und die Psychologie desselben Verfassers für die Werke höchst aus-
gezeichneter spekulativer Kraft und Tiefe, und sind überzeugt, dafs selbst wenn es
dem Verfasser nicht gelingen sollte, die hervorgehobenen Punkte gegen Einwendungen
zu sichern, die durch ihn gewonnene Ausbeute von grofser Wichtigkeit ist und für alle
folgenden Untersuchungen auf diesem Gebiete voll der fruchtbarsten Entwickelungskeime,
deren Vernachlässigung unsere Zeit entschiednen Mangels an spekulativem Geist zeihen
würde. Wir rechnen hierher namentlich, keinesweges ausschließlich, 1. die tief ein-
dringende Entwickelung der metaphysisch-psychologischen Probleme und ihre Läuterung
von den Verhüllungen, mit denen man hin und wieder sie zu umgeben bemüht gewesen
ist, um den Schein ihrer Lösung zu erregen ; 2. die Grundlegung einer Methodologie, die
auf den ewig gültigen Prinzipien wissenschaftlicher Verständigung beruht und zu Fort-
schritten treibt, indem sie die gegenseitige Bedingtheit von Erfahrung und Spekulation,
mit allem Reichtum der ersteren und aller Schärfe der letzteren in helles Licht setzt;
3. die Beweisführung, dafs das scheinbare Geschehen von dem wahrhaften sorgfältig zu
unterscheiden, und an die Stelle eines blofs subjektiven Scheins ein "objektiver zu setzen;
4. die Hinweisung auf ursprünglich und objektiv bestimmte Qualitäten und die Nach-
weisung, wie sie, wenn auch an sich unerkennbar, die Erkenntnis objektiv gültiget Be-
ziehungen zu bedingen im stände sind; 5. tiefere Begründung der Annahme, unsere
Erkenntnis beschränke sich auf das Gebiet der Verhältnisse und Beziehungen und sei
41.
Anhang III.
in diesen ihren Schranken ihre wahren Zwecke zu erreichen sehr wohl im stände ;
6. viele einzelne scharfsinnige Bestimmungen und Entwickelungen, vorzüglich im Ge-
biete der Svnecbologie.
Ohne daher hoffen zu dürfen, uns jemals mit Herrn Prof. Herbart über seine
Grundannahmen völlig zu verständigen, seinen Standpunkt völlig zu dem unsrigen zu
machen, sein festes Beharren darauf wird uns sehr begreiflich, wenn wir bedenken, wie
die Eigentümlichkeit desselben seinem rüstig strebsamen Geist ein unermefsliches Gebiet
höchst anziehender und immer fortschreitender Forschung eröffnet und Philosophie mit
Mathematik auf eine früher nie versuchte Weise verbunden hat : ja wir begreifen diese
Beharrlichkeit nicht nur, sind vielmehr auch überzeugt, dafs sie der Wissenschaft reich-
lich Frucht getragen hat und ferner tragen wird.
Die der Metaphysik angeschlossenen Anfänge der philosophischen Xaturlehre
(S. 425 — 629) wollen wir lieber von unserem Bericht ausschlief I7]fsen, als einer gründ-
lich ins einzelne eingehenden Anzeige vorgreifen, wie sie sie verdienen, und wir sie zu
liefern uns aufser stand sehn. Brandts.
Anhang III.
Zwei Entwürfe zu einem beabsichtigten Sendschreiben an Branois, den Recensenten
der Allgemeinen Metaphysik.
A. Erster Entwurf: Drei Briefe.
Text von 1 und 2 nach dem Manuscript 2068 der Königsberger Universitätsbibliothek,
Text von 3 nach den Herbartischen Reliquien (HR).
(Bereits gedruckt, aber mit Auslassungen, in den Heibartischen Reliquien (HR) S. 335 — 342.)
I.
Am ersten Oktober [183 1].
!Gar zu lang., mein hochverehrter Freund! täuscht mich die Hoff-
nung, einen Brief von Ihnen zu empfangen. Soll ich glauben, Sie wollten
nur noch durch die Presse mit mir correspondiren ? Das glaube ich zwar
nicht; und wenn ich es glaubte, so könnte ich, was etwa meine literarische
Angelegenheit heifsen mag, Herrn Strümpell aus Braunschweig überlassen,
der die Rolle des Respondenten übernehmen, und die Erstlinge seiner
philosophischen Studien Ihnen vorlegen will. Aber wohl sehe ich ein, dafs
Sie das Recht haben, keine blofse Antwort auf Ihre Recension meiner
Metaphvsik. - sondern auch einen öffentlichen und persönlichen Dank für
Ihre öffentlich geäufserte gütige Gesinnung gegen mich, zu erwarten. Diesen
Dank Ihnen hiemit abzustatten, ist mir eine angenehme Pflicht. Wenn
ich zugleich einige Vergeltung der kritischen Aufmerksamkeit daran knüpfe,
so bitte ich Sie, die Sie meiner Arbeit gegönnt haben, nichts Vollständiges
zu verlangen. Sie Selbst, indem [2] Sie meinen naturphilosophischen
Versuch mit Stillschweigen übergingen, wollten mich dadurch gewifs nicht
des Vortheils berauben, welcher einer Theorie daraus erwachsen kann,
wenn sie eine ungezwungenen Anwendung auf sehr mannigfaltige Erfahrungs-
1 Der Abschnitt »Gar zu lange . . . realistischen Ansicht bekenne« S. 4 Z. 1 1 v. o.
fehlt in HR.
2 In der Hallischen Literaturzeitung August 1831, No. 141 — 145.
Zwei Entwürfe zu einem beabs. Sendschreiben an Brandis, d. Rec. d. Allg. Methaphys. _i j >
gegenstände verstattet: aber Sie wollten auch nicht dunkel werden durch
Weitläufigkeit; und das läfst sich bey dem höchst weitläufigen Gegen-
stande, welcher hier nichts Geringeres ist als die gesammte geistige und
körperliche Natur, nicht anders vermeiden, als dadurch, dafs man abbricht,
und sich erinnert, wie vieles man ohnehin andern Zeiten und andern
Personen überlassen mufs. Weder Sie noch ich werden in der Meta-
physik das letzte Wort behalten; und einen Streit ausfechten zu wollen,
kann uns beyden auf keine Weise einfallen. xTur die Thatsache, dafs wir
nicht durchgehends einverstanden sind, können wir gemeinschaftlich be-
leuchten, und die Gründe davon aufsuchen.
Es scheint mir nicht nöthig, Ihre einzelnen Ausdrücke so pünktlich,
wie wenn ich darüber streiten wollte, durchzugehn; sondern es wird ge-
nügen, dals ich nochmals mich zu einer gänzlich realistischen Ansicht
bekenne.
Zuerst nun bitte ich Sie zu bemerken, dafs einige Stellen Ihrer Re-
cension den Anschein haben, mir einen [3] Idealismus zu leihen, der mir
durchaus fremd ist. Sie sagen S. (folgen etwa 6 unbeschriebene Zeilen).
Die wahren, realen Elemente, die sich uns durch ihr Erscheinen an-
melden, sind aufser uns, völlig unabhängig von uns vorhanden. Sie würden
vorhanden seyn, wenn wir auch gar nicht wären. Dafs sie uns erscheinen,
ist für sie selbst nur eine entfernte Folge ihrer mannigfaltigen und sehr
wechselnden Gemeinschaft unter einander; und wenn einige wenige der-
selben in unserm Handeln sich von uns etwas gefallen lassen so ist dieses
ihr Leiden von uns unendlich gering im Vergleich mit [4] der Gesammt-
heit des wirklichen Geschehens, was aus jener Gemeinschaft hervorgeht.
Was ich von zufälligen Ansichten gesagt habe, kann diesem Realismus
nicht im Geringsten Abbruch thun. Wenn der Mathematiker die Kräfte
nach verschiedenen Richtungen zerlegt, so steht er darum gewils nicht
auf einem idealistischen Standpunkte; obschon er weifs, dafs seine Zer-
legung blofs ein Hülfsmittel seines Denkens ist. Er nimmt die Kräfte
für etwas Wirkliches. Und die Zerlegung wird jedesmal geboten und be-
stimmt durch den wirklichen Unterschied gegebener Richtungen; daher
in der Anwendung der zufälligen Ansicht, als ob Eine Kraft aus mehrern
bestünde , nichts Willkührliches übrig bleibt. Ebenso betrachte ich die
wirkliche Verschiedenheit der Qualitäten als den Grund, weshalb wir jedes
reale Wesen, das auf ein anderes wirkt, durch eine bestimmte zufällige
Ansicht würden auffassen müssen, wenn uns die Qualität eines jeden be-
kannt wäre. An wirkliches Auffassen, ist nicht einmal zu denken.
Sie wissen, dafs ich weit entfernt bin, diesen meinen Realismus als
ein Axiom hinzustellen. Das Ich [5] des Idealismus war gerade der
erste Gegenstand meiner selbstständigen Untersuchungen. Die Unmöglich-
keit dieses Ich war deren erstes Ergebnifs. Völliges Aufgeben des ge-
sammten Idealismus, als einer in jeder Gestalt unrichtigen Ansicht, war
die unvermeidliche Folge. So entstand, auf rein theoretischem Wege,
mein Realismus. Gesetzt nun, über diesen Punkt sey ich von Ihnen
misverstanden worden, so darf ich mich nicht wundern, wenn meine
ganze Metaphysik in Ihren Augen ein überaus künstliches, aber auch
überaus verworrenes Ansehen bekam. Dafs bey Ihnen das FiCHTEsche
414 Anhang III.
Ich sehr viel mehr gilt als bey mir, schliefse ich aus vielen Stellen Ihrer
Recension, die zuweilen, wenn dadurch meine Meinung sollte bezeichnet
werden, mir nur verständlich wurden, indem ich geradezu anstatt des
Wortes Ich, den Ausdruck, die Seele setzte.
Es kommt nun freylich hier der Weg der Untersuchung in Be-
tracht, welche an den speculativen Begriff des Ich ist geknüpft worden.
Deshalb fordern Sie mich zu einer Erläuterung meiner Methodologie
auf. Entschuldigen Sie, wenn ich dieser Aufforderung Folge zu leisten
Bedenken trage; wir [0] stehen hier, wie es scheint, noch gar zu weit
auseinander. Der vordere Theil Ihrer Recension bezieht sich nicht
hinlänglich genau auf mein Buch; und wenn nicht das Folgende mir
näher träte, so hätte ich Ihnen eben so wenig, als manchem Andern,
dem ich nur mein Stillschweigen entgegensetze, zumuthen mögen, in er-
neuerte gemeinsame Überlegung mit mir einzugehn. Um doch Einiges
anzuführen, bemerke ich, dafs Sie auf den Satz vom zureichenden Grunde
Sich beziehen. Darüber möchte ich am liebsten blofs auf das letzte
Capitel meiner Encyklopädie verweisen, wo von der gänzlich leeren Ab-
straction die Rede ist, welcher man bey allgemeiner Betrachtung der
Gründe sich hinzugeben pflegt. Leibnitz forderte l bekanntlich, man solle
ihm den Satz des zureichenden Grundes, in dreyfacher Bedeutung, als
ein Axiom zugeben. Er nahm es übel, wenn die, ihm gegenüber stehende,
Freyheitslehre das verweigerte. Meinerseits mufs ich hier beyden Par-
theyen zugleich Unrecht geben. Der Fehler liegt darin, dafs man voraus-
setzt, es gäbe Gründe, nur seyen nicht alle Gründe zureichend. Meine
Untersuchung stellt aber die ganze Möglichkeit, dafs es überhaupt [7]
Gründe geben könne, von vorne herein in Zweifel; und hier, wenn irgendwo,
ist meines Erachtens Zweifel der Weisheit Anfang. Weiterhin folgt bey
mir eine so vieltheilige Sonderung der verschiedenen Arten von Gründen,
dafs für einen allgemeinen Satz vom zureichenden Grunde gar keine Be-
deutung übrig bleibt. Nicht nur die Erkenntnifsgründe überhaupt sind
verschieden von den Causalitäten : sondern die allgemeinen Begriffe jener
und dieser sind noch immer leere x\bstractionen ; und die ganze Fiage
nach der Möglichkeit eines Grundes bekommt erst dann einen Sinn, wenn
man auf der einen Seite logische Syllogismen von metaphysischen Prin-
cipien, auf der andern die Causalität unter mehrern realen Wesen von
derjenigen absondert, welche zwischen den innern Zuständen eines und
desselben realen Wesens stattfindet. Die Sonderung geht noch weiter,
aber hier mag genügen zu bemerken, dafs, wie bey Nominal- und Real-
Definitionen, so auch im Gebiete der Abstractionen , man überall die
höchste Vorsicht anwenden mufs, um nicht leere Begriffe mit gültigen zu
verwechseln; denn solche Untersuchungen, die an jene erstem geknüpft
sind, brachten von jeher die Metaphysik nur in Verlegenheit.
[8] In die Klasse der leeren Begriffe stelle ich nun auch diejenige
Dependenz, welche vorgeblich in hypothetischen Urtheilen noch etwas
Besonderes ausdrücken soll, das nicht schon vollständig in jedem Prädikat
läge, sofern dasselbe als Prädikat sein Subject voraussetzt. Sie aber wollen
1 iordert HR.
Zwei Entwürfe zu einem beabs. Sendschreiben an Brandis, d. Rec. d. AI lg. Metaphys. 4 j ;
Sich den Unterschied der kategorischen und hypothetischen Urtheile nicht
rauben lassen. Gesetzt einmal, in diesem Punkte wäre ich nachgiebiger
als ich bin : was würden Sie damit gewinnen ? Natürlich einen logischen
Unterschied, wo ich, der ich jedes antecedens lediglich als ein Subject,
jedes consequens lediglich als ein Prädicat — und rückwärts jedes Sub-
ject als ein antecedens und jedes Prädicat als ein consequens be-
trachte, nur einen grammatischen Unterschied anerkenne. Vielleicht auch
gilt Ihnen der vorgebliche logische Unterschied zugleich für einen psycho-
logischen ; und hier trage ich weniger Bedenken, Ihnen etwas einzuräumen;
denn jede grammatische Form drückt eine besondere Art des Verhältnisses
unserer Vorstellungen aus.
Also mag wohl meine Strenge im Abscheiden der Psychologie von
der Losik hier den Grund der Mishelligkeit enthalten. Allein wenn Sie nun
fortführen ; . . . .
[q] Zweyter Brief.
Dafs ich noch einmal die Feder ergreife, verehrtester Freund ! hat eine
besondere Veranlassung. ' Eben kommt mir das sechste Stück der Schle-
sischen Provincial- Blätter vom Jahre 1831, und hierin ein Aufsatz zu Gesichte,
welcher das Buch der Herrn Schtjbarth und Carganico über Philosophie
überhaupt, und über Hegels Philosophie insbesondere betrifft. Der An-
fang des Aufsatzes enthält eine Stelle aus meiner Recension dieser Schrift;2
das Ende aber ist ein Brief von Süvern, den ich Ihnen ganz hersetzen will.
„Ew. Wohlgeboren sage ich für die mir gütigst zugesandte Schrift
über Hegel den aufrichtigsten und verbindlichsten Dank. Ich habe sie
aufmerksam und mit grofsem Interesse, und fast möchte ich sagen, in
steter Unterhaltung mit ihrem Herrn Verfasser gelesen, wozu ich mich
um so mehr angeregt fand, als mir fast durchgängige Übereinstimmung
mit meinen Ansichten begegnete. Ich nehme keinen Anstand zu gestehen,
dafs ich sie für sehr verdienstlich halte, und wünsche, [10] dals sie
allgemein beherzigt werden möge. Mit grofser Erwartung sehe ich der
verheifsenen Kritik des HEGELschen Systems entgegen, und habe die
Ehre mit der vorzüglichsten Hochachtung zu seyn u. s. w.
Berlin, 23sten März 1829. Süvern.
Wie konnte Süvern so etwas schreiben? — Dieser Frage, mein
verehrter Freund, wird uns glaube ich, auf FiCHTEn zurückführen.
Kränklich und verstimmt, wie Süvern es im Jahre 1829 war (ich
habe ihn bald nach dem Datum des Briefes gesehen und gesprochen)3
konnte er allenfalls glauben, eine Streitschrift gegen HEGELn, die selbst
als solche völlig bedeutungslos ist, werde den Zudrang zu Hegels Audi-
torium etwas beschränken. Aber unmöglich konnte sein stets wachender
Geist es übersehen, dafs diese Schrift sich dergestalt breit macht, als hätte
sie in HEGELn die Philosophie selbst getroffen.
1 Der unvollendete Schlufssatz des ersten Briefes: „Allein . . . fortführen . . ."
und die Anfangsworte des zweiten Briefes bis . . . Veranlassung fehlen in HR.
2 In der Jenaer L.-Z. 1830, No. 178.
3 „. . . und gesprochen" fehlt HR.
4 1 6 Anhang III.
Meine Erinnerung an Süverx reicht zurück bis in die Zeit, da er
mit mir zugleich Student in Jena war; das heifst, ins Jahr 1794. Fichte
war damals eben [11] aufgetreten. Den starken Eindruck, welchen dies
Auftreten machte, hat Süverx ohne Zweifel empfunden. Er hat späterhin
Gelegenheit gehabt, von einem hohen Standpuncte herab Fichtes Laufbahn
zu beob chten. Demnach glaube ich annehmen zu müssen, ihm sey die
Philosophie vorzugsweise durch FiCHTEn repräsentirt worden.
Geht es der Mehrzahl unserer Zeitgenossen anders? Die Meisten
urtheilen, nach dem, was sie sehen. Ist die Philosophie ein paar Decennien
lang idealistisch gestimmt, so halten sie den Idealismus für Philosophie
überhaupt, und beurtheilen das Wirken der Philosophie nach dem Wirken
des Idealismus.
Sehn Sie nun, mein theurer Freund, weshalb ich es ungern ertrage,
dafs Sie in einigen Äufserungen vorauszusetzen scheinen, meine Metaphysik
sey idealistisch ? — Doch Sie können Sich unmöglich lange dergestalt
täuschen, über eine Thatsache, die Ihnen in meinen Büchern klar vor
Augen liegt. Darum wollen wir nicht streiten, aber ich mufs suchen, Sie
aufmerksam zu machen. Dazu kann mir füglich der Gegenstand dienen,
den ich einmal ergriffen habe.
[12] Doch bevor ich zu Fichtes pädagogischen Ansichten zurück-
kehre, hebe ich noch aus dem erwähnten Aufsatze folgende Stelle aus : J
„Als die Philosophie unter den Griechen sich zu entwickeln begann,
hatte sie das Verdienst, in einem Zustande, wo die Menschheit eben
erst herankommend nur in vielen, wenn auch geistreichen und genialen
Einzelnheiten sich gewahr wurde, dieselbe an ein darüber schwebendes
Allgemeine zu erinnern, und so dem Einzelnen zu entreifsen, d. h. der
Einseitigkeit, der Beschränktheit zu entrücken. Bey der nach allen
Richtungen entwickelten Stellung der Menschheit in der nachchristlichen
Zeit ist die Gefahr, einseitig dahin gerissen, und mithin auf etwas Ein-
zelnes beschränkt zu werden, weit weniger nahe liegend, (denn schon
die christliche Religion nöthigt den Menschen immerwährend, Geist und
Gemüth an einem universelleren Ganzen des Himmels und der Erde
zu üben,) als das Gegentheil, nämlich im Allgemeinen und Allgemeinsten zu
verschwelen, und sich darin zu versenken. Daher ist das Bedürfnifs für die
neuere Welt weit weniger vorhanden, an das Allgemeine besonders erinnert
zu werden; und jeder [13] Versuch, darauf hinzuweisen, mufs in dem
Maafse misglücken, als bey dem reichen Weltinhalte und den mannigfaltig
entwickelten geistigen Zuständen die Formeln, welche ersonnen worden,
diesenWelt- Inhalt mit einem Male auszudrücken und zu befassen, nur
kahl, dürftig und leer, mithin unwahr, im Verhältnifs gegen dasbefun den
werden können, was sie ausdrücken sollen. Daher scheitert fast jedes
moderne philosophische System an diesem reichen, vor uns ausgebreiteten
Welt -Inhalte; und keine einzige Formel von Kant und Fichte hat,
mit Ausnahme einer augenblicklichen Täuschung, ausgereicht, sein wahres
Verhältnifs auszudrücken."
1 Statt der Worte: „Doch bevor ich . . . Stelle aus" haben HR: „Ich hebe noch
aus dem erwähnten Aufsatze folgende Stelle aus."
Zwei Entwürfe zu einem beabs. Sendschreiben an Brandis d. Rec. d. Allg. Metaphys. 417
Auf diese Weise beabsichtigt man die Schrift der Herrn Schubarth
und Carganico dem Publikum zu empfehlen. In der That, ihr Sachwalter
ist nicht ungeschickt.
Im zu Allgemeinen verschweben ist schädlich.
Die Philosophie verschwebt im Allgemeinen.
Also die Philosophie ist schädlich.
[14] Quaeritur: was heifst: verschweben im Allgemeinen? Antwort:
es heifst zweyerley; nämlich in der Ästhetik heifst es, die Abstraction so
weit treiben, bis die ästhetischen Verhältnisse zerstört sind ; in der Meta-
physik heifst es, die Abstraction so weit treiben, bis einerseits das Ge-
gebene, andrerseits das Treibende der philosophischen Probleme aus den
Augen verschwunden ist.
Sie wissen, wie Vieles ich gegen diese Verkehrtheiten in der Ency-
klopädie gesagt habe. l Also — was falsche Systeme anlangt — concedo;
was wahre Philosophie betrifft, — nego minorem.
Übrigens mögen Diejenigen, welche von dieser Seite die Philosophie
angreifen, ja dafür sorgen, dafs man bey ihnen recht viel Kenntnisse des
Besondern in Naturwissenschaft und angewandter Mathematik antreffe; da-
mit man sie nicht in die Klasse der fr eres ignorantin s versetze.
Am allermeisten aber mögen sie sich hüten, dafs sie nicht unter ver-
änderten Namen dieselbe Philosophie lehren, die sie darum angreifen, weil
sie eben keine andre gelernt haben. Es hilft nichts, den Zuschnitt und
die Sprache neu zu gestalten; die Sache mufs anders werden.
[15] Es ist aber die Sache des Idealismus, von der wir sprechen.
Als dieser sich erlaubte, die ganze Welt unter den allge?neinen Begriff des
Nicht -Ich zu fassen, da machte er einen Versuch, den man ihm nur in
so fern gestatten kann, als es nützlich ist, einmal etwas Unmögliches zu
beginnen, nämlich um sich von der Unmöglichkeit zu überzeugen. Denn
unmöglich ist das Ich, welches dem Nicht -Ich gegenüber stehen bleibt.
Aber dieses gerade mufste2 man einsehen. Statt dessen corrigirte man,
uneingedenk aller Warnungen Kants, das ungereimte Ich durch eine trans-
scendente Theologie, die man vom Spinoza entlehnte. Das war das Un-
heil der Philosophie ; und hiemit war sie, und bleibt sie den leichtfertigsten
Angriffen Preis gegeben.
Hätte man das ungereimte, vorgeblich reine Ich von sich gethan, wie
man sollte und mufste, so wäre auch sein lächerliches Gegenstück, das
Nicht -Ich, von selbst verschwunden, und die wirkliche Welt wäre wieder
in ihre Rechte getreten.
Bemäntelt man aber vollends seine Unwissenheit mit Briefen hoher
Staatsbeamten, so läfst sich erwarten, dafs solche Auctoritäten (von denen
freylich die Philosophie nichts versteht,) auch auf der entgegengesetzten
Seite erscheinen.
Und jetzt, verehrter Freund, brauche ich Ihnen gewifs keine Er-
läuterung mehr darüber zu geben, weshalb ich mich Kantianer nenne.
Durch Kant war der Untersuchungsgeist von seiner falschen Richtung,
1 Der vorstehende Satz lautet in HR: „Vieles gegen diese Verkehrtheiten habe
ich in der Encyklopädie gesagt "
2 HR nuifste
IlKRRAKr's Werke. VIII. 27
4Ig Anhang III.
wohin er niemals durchdringen kann, zurück gerufen. Hiemit konnten
diejenigen Bahnen, welche für ihn gangbar sind, für geöffnet gelten. Aber
Fichte berührte die Theologie mit gleicher Unvorsichtigkeit erst von der
einen, dann von der andern Seite. Damit war Alles wieder verdorben.
Und was berührte er sonst? Den Staat! Das trieb er so weit, bis end
lieh gar eine Verfassung für die Jugend herauskam. Vor lauter Bestimmungen
dessen, was der Staat sevn und werden solle, gelangte er niemals zur
Überlegung dessen, was der Staat wirklich ist und seyn kann. So gehts,
wenn man aus der Idee construirt, anstatt psychologische Untersuchungen
anzustellen.
Dafs ungeachtet aller begangenen Fehler, Fichte eine sehr glänzende
Stelle in der Geschichte der Philosophie behauptet und stets behalten
wird, versteht sich von selbst. Die Geschichte sammelt Alles, was grofs
ist; ihr Warnungsspiegel zeigt, was man vermeiden soll, und dafür sind
gerade die deutlichsten Warnungsmuster ihr die liebsten; besonders wenn
das Verfehlte in guter Absicht verfehlt wurde. Und wer wird an Fichtes
Absichten zweifeln?
Text nach HR S. 342—344.
Königsberg, 28. Nov. 31.
Ich erwähne noch mit zwei Worten der Bewegung. Nicht als ob
ich diesen Gegenstand an sich betrachten wollte, sondern nur in Bezug
auf den ganzen Zusammenhang. Insofern können Sie nicht weit fehlen,
wenn Sie meine Elemente als Leukippische Atomen mit ursprünglicher
Bewegung betrachten. Denn in der That, (nicht etwa blos in unsrer
Vorstellung!) würden sich die Elemente in dem Räume, den ich den
intelligibeln blos deshalb nenne, weil er nicht für eine Kantische Form der
Anschauung, sondern geradezu für den nämlichen Raum gelten soll, den
Andere den wirklichen Raum nennen, — nach allen Richtungen bewegen,
wenn nicht zwei Umstände hinzu kämen; ein begreiflicher und unbegreif-
licher. Der begreifliche Umstand ist die Attraction und Repulsion der
Elemente welche ich nachgewiesen habe, und von welcher keine Atomen-
lehre etwas weifs. Diese Attraction mufste die im Räume vorhandenen
Elemente dahin bringen, sich in Weltkörper zu verdichten. Aber die
Weltkörper würden nach aller Wahrscheinlichkeit noch immer kreuz und
quer durch einander fahren, wenn nicht der unbegreifliche Umstand hin-
zukäme — die Vorsehung, — die wir uns durch keine transcendente
Theologie verderben wollen, — der wir aber die Ruhe des Fixsternhimmels
zuschreiben müssen. Das bedeutet ungleich mehr, als alle irdische, mit
irdischen Zeit-Begebenheiten zusammenhängende aufs Universum ohne Grund
ausgedehnte Theologie mit ihren kosmologischen Ansprüchen. Unsre
Theologen denken nicht einmal an den Jupiter, viel weniger an die Fix-
sterne; sie thun immer, als wäre die Erde der Mittelpunkt der Welt.
Mögen sie doch durch Missionäre einmal die Heiden im Monde bekehren!
Dafs Vorstehendes durchaus realistisch, und nicht im allergeringsten idealistisch
laute, werden Sie einräumen. Es lautet aber nicht blos so, sondern es ist
Zwei Entwürfe zu einem beabs. Sendschreiben an Brandis, d. Rec. d. Allg. Metaphys. 410
so meine wahre und definitive Meinung. Finden Sie, mein verehrter
Freund! nun irgend etwas in meinen Schriften, das Ihnen idealistisch
klingt, so seien Sie fest überzeugt, dieser Klang verführt Sie! Den ein-
mal vorhandenen realistischen Boden dürfen Sie, sofern Sie mich zu
verstehen wünschen, schlechterdings gar nicht mehr verlassen. Wohl aber
dürfen Sie meinen intelligibeln Raum als die Erkenntnis des wirklichen
Raumes betrachten. Es wird Ihnen an den gehörigen Stellen schon wieder
einfallen, dafs ein Raum, — blofser Raum, — doch eigentlich nichts
Wirkliches sein könne; — aber diese Bemerkung darf Sie schlechterdings
nicht zum Suchen nach Idealismus bei mir verleiten; sondern Sie können
leicht hier hinreichenden, unüberwindlichen Widerstand leisten. Und wenn
Sie irgendwo in meinen Schriften lesen, der ganze Realismus werde die
unvermeidliche Beute des Idealismus, so darf auch dieses Sie durchaus
nicht im geringsten an mir irre machen, sondern Sie sind gebeten, Sich
sogleich zu erinnern, dafs bei mir den Idealismus seine innern Wider-
sprüche platzen machen. Daraus folgt — was sich von selbst versteht, —
der Idealismus läfst die Beute, die er verschluckte, wieder fahren; und
aus seinem Rachen geht der Realismus völlig unversehrt, und nun auf
immer gesichert, wieder hervor.
Soviel ich sehe, ist es allein der idealistische Faden, an welchen ge-
fafst, sich mein ganzes Gewebe unbegreiflich kraus und bunt gezogen hat.
Schneiden Sie diesen Faden dreist ab. Dann wird das Ganze von selbst
glatt werden; und es wird Sie bald bedünken, Sie haben in der ganzen
Geschichte der Philosophie nichts so Glattes und Einfaches gesehen. Der
einfachste Glaube an die Vorsehung wird an die Stelle treten; und die
einfachste Psychologie nach Lockes Weise, nur ein wenig ordentlicher
ausgeführt, wird sich zum Gefäfs darbieten, um unsere empirischen Kennt-
nisse sowohl des gesunden als des kranken geistlichen Zustandes in sich
aufzunehmen. In der Physik und Chemie und Biologie werden Sie Sich
mit mir, wie mit jedem guten Naturforscher, ohne weitere Künstelei von
Gesetzen unseres Vorstellens u. dgl. bewegen können, — und ohne spino-
zistische Bedeutmigenl Ist das Verlust, so will ich ihn geduldig tragen.
Nun will ich, blos der mehreren Sicherheit wegen, noch einmal auf einen
schon besprochenen Punkt Ihres Briefes zurückkommen. Sie sagen: —
einfache Wesen seien vorhanden: wie zverden Vorstellungen daraus? Darauf
antworte ich:
1. Aus einfachen Wesen wird gar Nichts. Sie bleiben lediglich
was sie sind.
2. Vorstellungen werden nicht aus Wesen, sondern aus Empfin-
dungen.
3. Empfindungen sind innere Zustände einfacher Wesen. Jedes Wesen
ist und bleibt in jeder seiner Empfindung sich selbst gleich, denn empfinden
ist nichts anderes als sich selbst erhalten.
4. Jede einfache Empfindung ist so einfach, wie das Wesen, das in
ihr sich selbst erhält.
5. Jede Empfindung, sich selbst überlassen, würde ewig fortdauern.
6. Keine Empfindung ist an sich eine Vorstellung von irgend Etwas;
am wenigsten ist sie ein Bild eines Dinges aufser uns.
27*
A20 Anhang III.
7. Was aus mehreren Empfindungen Eines Wesens weiter werde,
das hängt von dem Verhältnisse der Empfindungen unter einander ab.
8. Gefühle und Begierden sind frühere Produkte aus mehreren Em-
pfindungen, — frühere, als Vorstellungen.
9. Vorstellungen, nämlich Bilder, Objecte, kommen erst insofern zum
Vorschein, als die Verbindung der Empfindungen bestimmte Formen an-
nimmt.
10. Damit von einem Subject die Rede sein könne, mufs erst die Vor-
stellung vom Vorstellen sich gebildet haben.
11. Das Subject ist lediglich ein Vorgestelltes, welchen das Vorstellen
zugeschrieben wird.
12. Die wirkliche Seele ist nicht unmittelbar Subject, denn sie ist
nicht unmittelbar vorstellend, sondern sie ist nur mittelbar vorstellend,
nwiefern diejenigen innern Zustände in ihr, welche zuerst Empfindungen
waren (S), geblieben sind, und in der Reproduction wirksam wurden ge-
mäfs den Formen ihrer Verbindung, die sie aHmählig je nach vielfach
wiederholter, stets eine neue Abbildung veranlassender Reproduktion, ge-
wonnen haben. Davon handelt die Psychologie.
B. Zweiter Entwurf, bekannt unter dem von Hartenstein herrührenden Titel:
Über das Verhältnifs des Idealismus zur Pädagogik.1 1831.
[Text nach d^m Msc 2072 der Königsberger Universitätsbibliothek.]
Vorwort.2
Theorien, wahr oder falsch, haben zwar wohl niemals ihren Urhebern
bedeutenden Einflufs nach eigner Wahl geschafft; denn bey ihrem ersten
Hervortreten sind sie in der Regel unwillkommen. iVber später finden sie
ihre Zeit, um sich in wirksame Kräfte zu verwandeln; wenn auch weit
entfernt von der Absicht, aus der sie hervorgingen. Vieles, was ehedem
unfruchtbare Speculation hiefs, gewann allmählig die Meinung für sich, und
aus dem Schoofse der Meinungen entspringt das Handeln.
Man hat den Idealismus verlacht, den Spinozismus gescheut; aber
jenes Lachen und diese Scheu sind zusammen in ernste und weil ver-
breitete Betrachtung übergegangen. Fichte, der Idealist, fand selbst für
pädagogische Pläne aufmerksames Gehör, als er politisches Heil für Deutsch-
land in einer neuen National-Erziehung suchte.
Doch hier mag man mit Recht erstaunen. Kann aus idealistischen
Grundsätzen eine pädagogische Theorie herfliefsen? Zwar sucht sich jeder
1 Bereits gedruckt in:
SW = J. F. Herbarts Sämmtliche Werke (Bd. XI), herausgegeben von G. Hartenstein.
Kl Seh — J. F. Herbarts Kleinere Schriften (Bd. II), herausgegeben von G. Hartenstein.
B = J. F. Herbarts Pädagogische Schriften (Bd. II), herausgegeben von Frdr.
Bartholomäi.
R = J. F. Herbart. Pädagogische Schriften (Bd. II), herausgegeben von Karl Richter.
W = J. F. Herbarts Pädagogische Schriften (Bd. II), herausgegeben von Otto
Whxmann.
* Die Überschrift fehlt in SW.
Über das Verhältnifs des Idealismus zur Pädagogik. 42 1
gute Erzieher in den Geist und in das Gemüth seines Zöglings hinein-
zuversetzen, ja ein jeder Lehrer, während er auf das didicisse f elidier
afies rechnet, stöfst bey dem mindesten Nachdenken auf die Frage, wie
denn wohl diejenigen Vorstellungsmassen, welche er durch seinen Unter-
richt dem Zöglinge beybringt, es anfangen mögen, bis in die Sitten, bis
in den Willen, bis in das Ich des Zöglings einzuwirken? Unter welchen
Bedingungen dieser geforderte Erfolg eintreten oder ausbleiben werde?
Eine psychologische Theorie darüber ist ihm Bedürfnifs , wofern er nicht
seinem Unterrichte eine ihm selbst unbegreifliche Zauberkraft zumuthet.
Aber eine idealistische? Nach dieser wäre ihm sein Zögling1 nur eine
Erscheinung. Oder, wenn über solches Bedenken die Theorie ihn wirklich
hinwegsetzen könnte, so wären wenigstens die Bücher, die Bilder, die
Charten, die sämmtlichen Lehrmittel und das ganze Verfahren bevm
Unterricht, nur Erscheinungen. Wer dem Idealismus etwas einräumt,
ja wer ihm nur die geringste Aufmerksamkeit gönnt, der sollte doch diese
Fragepunkte nicht leichtsinnig beseitigen; er hätte wenigstens Ursache, in
Fichtes Schriften diejenige, wenn auch mangelhafte, Auskunft aufzusuchen,
die sich hierüber etwa darbietet.
Er findet nun eine solche Auskunft gerade in demjenigen Buche,
welches von allem, was Fichte geschrieben, wohl den gröfsten Kreis von
Lesern dürfte angesprochen haben.
Fichtes ,. Reden an die deutsche Nation" waren das Erzeu°;nifs einer
Zeit, die glücklicherweise längst vorüber ist, allein ihre oratorische Kraft,
und noch mehr das Andenken an den Mann, der im Augenblicke der
Gefahr so zu reden wagte, sichern ihnen eine lange Dauer. Was ihren
philosophischen Gehalt betrifft, so bedarf es dessen nicht, um Fichtes
Lehren dem heutigen Zeitalter gegenwärtig zu erhalten; der grofse Denker
hat sich in wichtigern Werken verewigt. In pädagogischer Hinsicht kann
man ganz andrer Meinung seyn, ohne darum das Bedürfnifs des Wider-
Sprechens zu empfinden; denn Voischläge, die von der Ausführung weit
entfernt stehen, können auf keine Weise Besorgnifs einfiöfsen. Fichtes
Reden sind aber im nachstehenden Briefe als ein willkommener Stoff" zu
einer Unterhaltung benutzt, die leicht polemisch hätte werden können,
und es doch nicht werden sollte. Denn eine Recension in der Hallischen
Literaturzeitung, welche von Denen, die sich für Metaphysik interessiren,
ohne Zweifel als ausgezeichnet ist anerkannt worden, sollte nicht sowohl
widerlegt, als vielmehr durch ein Zeichen der Aufmerksamkeit verdankt
werden. Dafs nun ein offener Brief keine förmliche Abhandlung enthält,
wird um so leichter Entschuldigung finden, weil das Wesentliche des Inhalts
nicht sowohl auf der Pädagogik, als auf der Erinnerung an FiCHTEn und
an seine Lehre beruht; welche bekanntlich vom Ich ausging, und jederzeit
von neuem in Betracht kommt, so oft sich über diesen wichtigen Punct
eine Differenz der Meinungen erhebt. Die denkenden Pädagogen werden
übrigens wohl darin übereinstimmen, dafs, wenn auch Fichte sich niemals
über Erziehung geäufsert hätte, doch seine Untersuchung des Selbst-
bewufstseyns ihnen nicht gleichgültig sey; schon deshalb, weil der Egois-
1 ein Zögling. SW.
422
Anhang III.
mus als eine Ausartung desselben zu betrachten ist, deren Verhütung
gewifs jedem praktischen Erzieher am Herzen liegen mufs.
'Der Anfang des Briefes ist weggelassen; er würde nur ein persön-
liches Interesse haben.
Allmählig, mein verehrter Freund! fange ich an zu glauben, dafs ich
meinen Hauptzweck erreicht habe. Dieser bestand, wie Sie wissen, darin,
dem philosophischen Untersuchungs - Geiste neue Nahrung darzubieten.
Die stao;nirenden Wasser mufsten in Bewegung kommen. Wird das er-
reicht — was schadet die Beschuldigung, ich könne nicht begreifen, was
ich längst nur zu gut begriffen habe, um es mir gefallen zu lassend Die
Manier, wie man mich angreift, wird sichtbar um Vieles verständiger, als
in frühern Jahren; und es läfst sich hoffen, dafs die Angreifer gelegentlich
selbst etwas lernen werden. Alles Weitere kann man der Zeit überlassen.
Ihre Opposition gegen meine Metaphysik ist unstreitig die würdigste
und durchdachteste, die ich bis jetzt gefunden habe; obgleich nicht frey
von Mifsverständnissen. Ihrem scharfen historischen Blicke können diese
nicht lange verborgen bleiben; ich beschränke mich daher, um Ihnen so-
gleich das eigentliche Thema dieses Briefes anzuzeigen, auf die einfache
Bemerkung, dafs jeder Angriff, wobev das Ich als ein Reales vorausgesetzt
wird , gegen mich ein petitio principü ist. Und Sie, mein Verehrtester,
werden sich gewifs nicht mit der völlig undankbaren Mühe plagen wollen,
mich zum Idealismus zurückzubekehren; Sie könnten höchstens auf Augen-
blicke vergessen, dafs ich der entschiedenste Realist bin, den es geben mag.
Oder würde etwa der Mathematiker, welcher Krätte zerlegt und zusammen-
setzt, Ihnen darum Idealist heifsen, weil er wohl weifs, dafs solche Zer-
legungen und Zusammensetzungen lediglich seine, im Allgemeinen zufälligen,
für jeden vorkommenden Fall aber zur Erklärung des Phänomens noth-
wendigen Ansichten sind? — Nicht die Ansicht macht den Idealisten,
sondern die Meinung von dem Gegenstände, dessen Ansicht man aus-
bildet. Der Mathematiker hegt die Meinung, jede von ihm zerlegte Kraft
sey in der Wirklichkeit nur Eine; wenn sie ihm aber diese Wirklichkeit
bestreiten, so wird er sich abwenden, und mit solchen Zweifeln nichts zu
schaffen haben wollen. Ebenso, mein theurer Freund, bin ich es müde,
von Dingen reden zu hören, die nur für das Ich, nur in Gedanken vor-
handen seyen; wofern nicht die Beziehung der Gedankendinge auf die
realen Elemente, welche unabhängig von uns waren und sind und seyn
werden, klar vor Augen liegt. Der Idealismus hatte seine Periode ; er
hat Zeit genug gehabt, sich zu versuchen, sich der Welt anzupassen;
ja sich, wo möglich, berichtigen zu lassen.
Offen gesagt, mein verehrter Freund, vom eigentlichen Disputiren
mit Ihnen schreckt mich Ihre anscheinende Neigung ab, eine Zeit-
philosophie zu behalten, deren rechte Zeit vorüber ist. Damals als Kant
selbst, und mit ihm die Kantianer, jeden philosophischen Gegenstand
nach der Kategorientafel abhandelten, — mochte nun von Naturphilosophie,
oder von Ästhetik, oder von Naturrecht, oder wovon immer sonst die
1 Das Folgende: „Der Anfang des Briefes ist weggelassen, . . . eine Zeitphilosophie
zu behalten, deren rechte Zeit vorüber ist" (bis Z. 4 v. u.) fehlen in SW.
Über das Verhältnifs des Idealismus zur Pädagogik. 423
Rede seyn, — damals war die Zeit der Kategorien. Heute zu Tage
findet man dergleichen Abhandlungen pedantisch. Wahre Gründlichkeit
wird jedoch nie pedantisch. Wäre hier wahre Gründlichkeit zu finden
gewesen, sie hätte längst ihr Recht überall geltend gemacht. Das nämliche
ist von allen den andern Formularen zu sagen, die man den Gegenständen
hat aufdringen wollen. Wie nach den Kategorien, als vermeintlichen
Urgesetzen unseres gesammten Denkens, entweder Alles oder Nichts mufste
abgehandelt werden: so zeigt sich bey jeder Methode, die auf Allgemein-
heit Anspruch macht, ihre Falschheit in den einzelnen Wissenschaften,
die fortwährend einen andern, als den vorgezeichneten Gang gehen.
Anstatt aber dieses Mifsgeschick zu beachten, halten die philosophischen
Schulen die alten Formeln vest, weil sie eben nichts Besseres wissen. In
ihnen sieht es aus, wie in den Cabinetten alter Physiker, wo sich ein
unnützer Apparat anhäuft, den Niemand braucht, weil er nicht leistet
was gefordert wird. Wollen Sie solchen Apparat behalten? — Aber,
wenden Sie ein, das Ich sammt den Thatsachen des Bewufstseyns, veraltet
niemals. Gewifs nicht! Darum beschäftigt in der That das Ich nicht
blofs FiCHTEn, sondern auch Sie und mich. Aber wer seinen Unter-
suchungen den Stempel der Zeit durch die Art der Behandlung aufdrückt,
der giebt sie dem Wechsel Preis. Als Kant den menschlichen Verstand
in Kategorien für die Sinnen weit einsperrte, und der theoretischen Ver-
nunft ihre Dialektik verwies; damals gab er sich dem Eindruck hin, welchen
die mechanische Physik durch ihr Übergewicht machte; Chemie und
Physiologie waren noch nicht, was sie heute sind. Jetzt aber ist das
Leben zum Thema des Tages geworden; es zeigt uns das Mittelglied
zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen. Wer jetzt noch
Attraction und Repulsion als blofse Raumbestimmung für sinnliche Er-
scheinung behandelt, der hat von lebender Materie sicher keinen Begriff;
ja nicht einmal von chemischer Verwandtschaft. Wir sind jetzt genöthigt,
uns in das Innere der Elemente, in ihre wechselnden inneren Zustände
hineinzudenken; es hilft uns nichts mehr,1 der Materie eine allgemeine
Attraction und Repulsion ohne innern Grund beyzulegen. Und als Fichte
seine Wissenschafts -Lehre entwarf, — doch hier mufs ich ausführlicher
werden. Wir müssen den Mann, an welchen Sie durch Erwähnung des
Ich so oft erinnern, genauer betrachten, sollten wir auch dadurch von
Ihrer Recension weit abkommen.2
Welches war die theologische Stimmung der Zeit, als Fichte mit
seiner Kritik aller Offenbarung auftrat? Sie wissen es.3 Welches war die
politische Stimmung der Zeit, als gleich darauf der nämliche Mann die
französische Revolution beurtheilte? Sie wissen es.3 Man wollte aufklären;
und man nahm dies Wort im ausgedehntesten Sinne. In der nämlichen
Zeit — in wenigen Jahren, entstand die Wissenschaftslehre. Kurz darauf
folgten Naturrecht und Sittenlehre. Glauben Sie wirklich, derjenige, der
sich so ganz und gar in praktische Interessen vertieft zeigt, habe mitten
1 „hilft uns nicht mehr" SW.
2 Die Worte: „sollten wir auch . . . weit abkommen" fehlen in SW.
a Beide Male fehlen in SW. die Worte: „Sie wissen es".
^2_l Anhang III.
im Sturm die speculative Ruhe besessen, welche die Behandlung eines
metaphysischen Problems erfordert? Hat er diese Ruhe etwa späterhin
gewonnen? Der Vorwurf des Atheismus verwundete ihn, wie natürlich,
im Innersten. Die Hoffnungen des Enthusiasmus, welchen die französische
Revoution erregt hatte, verschwanden bis zur äufsersten Erniedrigung
Deutschlands. Und Fichte verlor sich nun bis in die düstern Phantasien
von einer allgemeinen Sündhaftigkeit der Zeit. Das Asyl der Mathematik
und Naturwissenschaft, was jeden Denker zur Ruhe einladet, war ihm
verschlossen. Aber die Neigung, aus allgemeinen Begriffen zu construiren,
ohne um genaue Auffassung der Thatsachen besorgt zu seyn, leuchtet aus
allen seinen Schriften hervor. Die Gewalt, welche er in sein Denken
legte, sollte ihm, dem Idealisten, die Gültigkeit der Begriffe verbürgen.
Dals ein solcher Mann etwas Grofses leistete, war natürlich; ob aber dies
Grofse näher der Wahrheit, oder näher der Dichtung stand und stehen
mufste, das bitte ich zu überlegen. Jeder grofse Dichter findet Nachahmer;
und Fichte hat die seinigen gefunden. Aber jede Dichterschule blühet
eine Zeitlang; dann wird sie matt, und bald stirbt sie aus. Das erste
Zeichen der Ermattung pflegt Schwulst zu seyn. Ob es zutrifft, bitte ich
abermals zu überlegen.1 Die Zeit, mein theurer Freund!2 wird Geständnisse
erzwingen, an die schon längst die Schulen gemahnt werden von der um-
gebenden Welt; und welche um desto trauriger lauten werden, je länger
sich der Stolz dagegen sträubt.
Zufällig fand ich mich neulich veranlafst, Fichtes Reden an die
deutsche Nation wieder aufzuschlagen. Gern verweilte ich hier bey dem
eigentlichen Glanzpunkte seines Lebens. Seine moralische Energie, das
Lebensprinzip seiner Lehre; taugte besser fürs Handeln mitten in grofser
Gefahr, als für irgend eine Theorie. Und im jähre 1808 hatte er die
Gelegenheit sich zu bewähren; denn sein freymüthiges Lehren war jetzt
ein Handeln. Er sprach Worte zur rechten Zeit, — jedoch die Zeit
bestimmte auch hier seine Gedanken. Pestalozzi blühete; und Fichte,
weder in Hoffnungen noch in Befürchtungen, den wahren Erfolg voraus-
sehend, ward auf einmal zum Pädagogen. Gewifs eine schwere Meta-
morphose für den Idealisten!
Das Erste, was er nun vorbrachte, waren Äußerungen des vollkommensten
Determinismus; eben so übertrieben als seine Freyheitslehre. Die neue
Erziehung, im Gegensatze der alten, müsse die wirkliche Lebensregung und
Bewegung ihrer Zöglinge, nach Regeln sicher und unfehlbar bilden und
bestimmen. Im Rechnen auf einen freyen Willen des Zöglings liege der
erste Irrthum der bisherigen Erziehung, das deutliche Bekenntnifs ihrer
Ohnmacht und Nichtigkeit. Denn sie bekenne, den Willen und hiemit
die eigentliche Grund -Wurzel des Menschen, nicht bilden zu können,
sondern dies für unmöglich zu halten. Dagegen werde die neue Erziehung
gerade darin bestehen müssen, dafs sie auf dem Boden, dessen Bearbeitung
sie übernehme, die Freyheit des Willens gänzlich vernichte, und strenge
Nothwendigkeit der Entschliefsungen an die Stelle setze. Sie finden diese
merkwürdigen Behauptungen gleich im Anfange der zweyten Rede.
1 Die Worte: „Ob es . . . überlegen." fehlen in SW
- Die Zeit wird Geständnisse . . . SW („mein theurer Freund" fehlt).
Über das Verhältnifs des Idealismus zur Pädagogik. 42 5
Zwey ganz verschiedene Betrachtungen dringen sich hier zugleich auf;
die eine des Moralisten, die andere des praktischen Erziehers. Jene setzt
voraus, es sey geleistet was gefordert werde; und fragt alsdann, ob eine
solche rein determinirte Sittlichkeit des Zöglings irgend einen Werth habe?
— Der praktische Erzieher hingegen, dem seine wirklichen Sorgen zur
Grübeley keine Zeit lassen, und der in den zahllosen Äusserungen bald
der Unbesonnenheit, bald der Verschlagenheit, bald der Lüsternheit
die wahre Unfreyheit seines Zöglings fortwährend vor Augen sieht, über-
läfst recht gern FiCHTEn die Beantwortung jener moralischen Frage; er
würde das Geforderte gerne leisten, wenn er nur könnte. Aber der un-
freie Wille seines Zöglings ist nichts destoweniger ein Wille; ein wirklich
selbstthätiger, eigener Wille; der bald unbeugsam sich der Besserung wider-
setzt, bald schlau sich verbirgt, bald nach kurzer Rührung ohne wesent-
liche Veränderung nach alter gewohnter Weise wieder zum Vorschein
kommt. Alle diese Wahrnehmungen sind jedoch weit entfernt, dem prak-
tischen Erzieher das Bekenntnifs abzupressen : er vermöge gar nichts über
den Willen des Zöglings; denn es giebt nicht blofs Einen Zögling, sondern
viele und verschiedene; und an diesen Vielen giebt es viele, sehr ver-
schiedene Erfahrungen, die nirgends durch veste Gränzen von einander
gesondert sind.
Auf dem rein praktischen Standpunkte noch einen Augenblick ver-
weilend, wollen wir nun vor allen Dingen bey FiCHTEn uns erkundigen,
welches grofse Mittel er denn erfunden habe, um die neue, viel versprechende,
ja geradezu die Welt verbessernde Erziehung an Stelle der alten zu setzen?
Die Antwort ist Ihnen ohne Zweifel erinnerlich ; er wollte ' gänzliche
Absonderung der Jugend von den Erwachsenen; und ein für sich selbst
bestehendes Gemeinwesen der Zögli?ige, das seine genau bestimmte, in der
Natur der Dinge gegründete, und von der Vernunft durchaus geforderte
Verfassung habe. Kein Wunder! Wer von der Politik getrieben, die
Pädagogik als ein Hülfsmittel benutzen will, der schaut stets zur Politik
zurück. Wird denn auch der praktische Erzieher, welchem die Aufgabe
seines Thuns unmittelbar durch den Blick auf den Zögling klar wird, jene
hohen Ansichten zu den seinigen machen können ?
Nichts in der Welt erschwert so sehr die eigentlich moralische Er-
ziehung, als Anhäufung vieler Kinder auf einem Puncte. Die unmittelbare
Folge davon ist ein geselliger Geist, der sich unter ihnen — mit möglichster
Ausschliefsung der Erzieher bildet, welche als Fremde betrachtet, beobachtet,
beurtheilt, und nach Möglichkeit umgangen werden. Das offenste Kind
vertraut sich doch dem Gespielen lieber als dem Lehrer; wo aber vollends
eine Menge gegenübersteht ihrem Lenker, da berathschlagt sie allemal unter
sich; es sey denn, dafs man durch militärischen Zwang sie in eine Armee
verwandele. Jeder Director einer Lehranstalt kennt die Schwierigkeiten
der Disciplin; wie weit aber ist noch von der guten Disciplin bis zum
sichern Einwirken auf das inwendige, sittliche oder unsittliche Wollen der
einzelnen Zöglinge! Den Schulen helfen überdies die Familien nach; aber
wo das Band der Anhänglichkeit an Vater und Mutter aufgelösct ist, -
1 „Die Antwort ist : er wollte . ," SW. („Ihnen ohne Zweifel erinnerlich" fehlt.)
426 Anhang III.
da gerade erfährt der praktische Erzieher seine Ohnmacht. Mit abstracten
Begriffen regiert man keinen Knaben. Warum sollte ich nicht? fragt der
unbesonnene Jüngling, den man bey leichtsinnigen Äufserungen warnt.
Die Bedeutung seines Thuns, wenn es dereinst in gröfsere Welt- Verhältnisse
übergeht, begreift er nicht; er will sich versuchen! Und in der That, ver-
suchen würde sich jene Fichtesche Gemeinschaft der angehäuften Jugend;
alle möglichen Verkehrtheiten würde sie versuchen,1 durch welche jemals
irgend eine Gesellschaft roher Menschen herdurchgegangen ist, wenn nicht
ein heilsamer Zwang von aufsen hinzukäme, dessen Heil jedoch zunächst
nur in äufserer Ordnung besteht, und die Gemüther zwar bändigt, aber
zugleich verschliefst. Wo bliebe da die sichere Bildung des Willens? Der
beste Fall wäre eintönige Gutmüthigkeit durch gleichförmige Gewöhnung.
Fichtes Vorschlag ist daher nicht blofs schimärisch, wegen der Un-
ausführbarkeit, sondern er ist geradezu das Gegentheil dessen, worauf seine
eigne Forderung ihn führen mufste und geführt hätte, nach Beseitigung
der politischen Rücksichten und Wünsche. Die eigentlich moralische Er-
ziehung geht nie sicherer, als da, wo Vater und Mutter nur ein einziges
Kind haben, auf das sie gemeinschaftlich dergestalt wirken, dafs sie ihm
die nächsten sind und lange Zeit bleiben; mit allmähligem Zulassen andrer
Gesellschaft, die sie nöthigenfalls wieder entfernen können.
Bekommt aber das natürliche Bedürfnifs, Jemanden zu haben, dem
man sich frey äufsern und hingeben könne, einen anderen Ausweg als zu
Eltern und Erziehern: dann ist sogleich jene Sicherheit verloren, aus der
Fichte sogar Unfehlbarkeit machen wollte. Und dies ist ein starker
Grund, warum der erfahrne Erzieher niemals von Unfehlbarkeit zu reden
wagen wird.
An ein praktisches Interesse ist daher bei Fichtes pädagogischen
Vorschlägen nicht zu denken; wenn wir nicht etwa noch heute zum Ge-
deihen des Staates nothwendig erachten, dafs man die Kinder den Eltern
entreifse. Aber für uns Beyde, mein verehrter Freund! behält alles,2
was von FiCHTEn kam, sein theoretisches Interesse. Und es war ja die
Metaphysik, die uns zu ihm führte.3 Lassen wir daher Alles bey Seite,
was sich für eine öffentliche Erziehung, (die jedes Individuum nach seiner
Art zu witzigen und weltklug zu machen pflegt,) sagen läfst, und was mit
grofsen und leicht erklärlichen Übertreibungen der Weltverbesserer oft
genug ist gesagt worden. Die grofsen Pläne, welche man freylich nicht
auf Privaterziehung bauen kann, werden, ohne dafs ich es zu hindern
vermag, die wahren Grundsätze der Pädagogik noch lange in Schatten
stellen; allein das macht mir für jetzt keine Sorge. Sie, mein verehrter
Freund! sind der Gegenstand, den ich im Auge habe. Mit Ihnen wollte
ich nicht disputiren ; aber mit Ihnen unterhalte ich mich, um Ihnen wenig-
stens soviel abzugewinnen, dafs sie klärlich einsehen mögen, wie fremd
mir der Idealismus ist.^
1 „Verkehrtheiten würden sich versuchen" SW.
Aber alles, was von FiCHTEn kam . . . behält." SW.
3 Die Worte: „Und es war ... zu ihm führte" fehlen in SW.
1 Die Worte: „Sie, mein verehrter Freund ! . . . mir der Idealismus ist" fehlen inSW.
Über das Verhältnifs des Idealismus zur Pädagogik. 42 7
Gemildert war bekanntlich auch bey Fichteii der Idealismus durch
die Annahme andrer Vernunftwesen, aufser dem eignen Ich; jedoch
mit dem Beding, dafs Alle im Urwesen verknüpft und im Grunde Eins
seyen. Für die Natur aber fand sich bey ihm keine Gnade. Mit
fmsterm Ernste, als ob frühere Schriften denselben noch nicht genugsam
verkündet hätten, wiederhohlt er in seinen Reden: „Der Wahn, dafs in
der Natur Gottes Wesen auf irgend eine Weise unmittelbar, und anders,
als durch Zwischenglieder vermittelt, eintrete, stammt aus Finsternifs im
Geiste, und aus Unheiligkeit im Willen." Gegen Wen diese Erklärung
eigentlich gerichtet ist, das wissen Sie, mein Freund,1 so gut wie ich;
allein wozu sollten wir eine alte Ungerechtigkeit aufdecken ? Wir würden
die Kreuz- und Querzüge unsrer Literatur, die so oft ihren Ursprung und
ihre Triebfedern verkennt, damit doch nicht bessern. Genug, „jene todt-
gläubige Seyns-Philosophie, die wohl gar Natur-Philosophie wird, die er-
storbenste von allen Philosophieen," würde doch unstreitig in Fichtes
Augen noch unendlich besser gewesen seyn als die meinige; wenn nicht
etwa, wie man zuweilen behaupten hört, die Extreme sich berühren.
Wenigstens in der Consequenz pflegen s die Systeme der rechten und
linken Seite einander ähnlicher zu seyn, als die aus der Mitte. Werden
wir denn strenge Consequenz, die Fichte unstreitig mit rühmlichem Eifer
suchte, auch wirklich bey ihm antreffen? Das wird sich allmählig zeigen.
Überaus milde, ja über alles gerechte Maafs 3 der Erfahrung eben-
sowohl, als der Theologie, zutrauensvoll und selbst gütig und liebreich
finden wir FiCHTEn da, wo er uns von der ersten Bedingung aller Er-
ziehung, nämlich von dem Causal-Verhätnifs zwischen Erzieher und Zög-
ling, einigen Bericht darbietet. Dies wichtige Causal -Verhältnifs würde
uns freylich äufserst schwierig erscheinen, da wir den eignen Willen des
Zöglings doch gewifs beyde, wenn auch in einem näher zu bestimmenden
Sinne, einen freyen Willen nennen würden. Wie soll denn irgend eine
Art von Freyheit nicht blofs gewonnen, gelenkt, bewogen, sondern nach
obiger Forderung schlechthin unfehlbar bestimmt werden? Hören wir
zuvörderst FiCHTEn über das Wesen der Freyheit, nicht etwa nach Er-
klärungen, die er anderwärts giebt, sondern nach dem Buche, was vor
mir liegt.
„Die Freyheit im Sinne des unentschiedenen Schwankens ist nicht
Leben, sondern Vorhof und Eingang zum wirklichen Leben. Endlich
mufs es doch einmal aus diesem Schwanken heraus zum Entschlüsse und
zum Handeln kommen; und erst jetzt beginnt das Leben. Nun erscheint
auf den ersten Blick jeder Willens- Entschlufs als erstes, keineswegs als
zweytes. Aber es sind zwey Fälle möglich; entweder nämlich erscheint
in ihm nur die Erscheinung abgetrennt vom Wesen, oder aber das Wesen
tritt selbst erscheinend ein; und zwar ist zu merken, dafs das Wesen nur
in einem Wilhnsenischlusse zur Erscheinung werden kann, dafs aber um-
gekehrt es auch solche Willensentschlüsse geben kann, in denen keines-
weges das Wesen, sondern nur die hlofse Erscheinung hervortritt."
1 „wissen Sie, so gut . . ." SW („mein Freund" fehlt.)
2 „pflegen Systeme" . . . SW („die" fehlt.)
3 „Maafs der Erfahrung zutrauensvoll und" . . . SW.
428
Anhang III.
Wie, möchte jemand fragen, blofse Erscheinung tritt heraus, und
zwar in einem Willens -Entschlufs? Wer, und tvem erscheint sie denn?
Wo ist ihr Object, wo ihr Subject? — Halten wir uns nicht dabey auf!
Denn Fichte versicheit uns sogleich weiter, die blofse Erscheinung sey
fähig selbst zu erscheinen.
Eine solche Erscheinung der zweyten Potenz aber sey unabänderlich
bestimmt, und nothwendig also wie sie eben ausfällt. Hiebey vermisse
ich nun zunächst Erscheinungen der dritten, vierten Potenz, und so femer;
in welchen vermuthlich die Nothwendigkeit noch um vieles nothwendiger
werden würde. Dann aber fällt mir ein, dafs jede Potenz immer noch
von ihrer Wurzel abhängt, und daher das Wesen unausweichlich die
Schuld aller Erscheinungen, auch solcher, die es losgelassen hat, wird
tragen müssen. Jedoch auch dies sey dahingestellt; ja es mag meinet-
halben (für jetzt wenigstens) in der freyen Handlung noch ein Mehr, als
das aus dem Ganzen der Erscheinungen erklärbare enthalten seyn, und
dieses Mehr mag auch so sichtbar werden als man verlangt und vorgiebt:
was beginnt nun mit dem Allen der Erzieher? — Wer an ein vestes,
beharrliches, und todtes Seyn glaubt, (sagt Fichte,) der glaubt daran,
weil er in sich selbst todt ist; und nachdem er einmal todt ist, wird diese
Ausländerey, (erinnern wir uns an die deutsche Nation!) sich auch zeigen
als Aufgeben aller Verbesserung unserer selbst oder Andrer. Wie nun,
wenn unser Zögling ein Solcher ist, der also glaubt? Wenn er nicht zu
den „ursprünglichen Menschen" gehört: was macht alsdann der Erzieher.
Antwort: Die Sittlichkeit ist ursprünglich, und vor aller Erziehung
vorher, in allen menschlichen Kindern, die zur Welt geboren werden. Be-
lieben Sie das eignen Augen1 (S. 317 des angeführten Buches) zu lesen.
Und damit ja kein Zweifel übrig bleibe, dafs es mit dieser gütigen,
milden Beurtheilung des Menschengeschlechts Ernst sey: findet sich an
mehrern Stellen die strengste Verwerfung der Lehre von der Erbsünde.
„Was läfst sich von solcher Belehrung anders erwarten, als dafs jeder
Einzelne sich in seine Natur ergebe? Es ist eine abgeschmackte Verläum-
dung der menschlichen Natur, dafs der Mensch als Sünder geboren werde."
So wird dann auf einmal Alles leicht! Der Erzieher bestimmt den
Willen seines Zöglings — wozu? dazu, dafs er sey, was er ist; nämlich
sittlich. Diejenigen, welche in sich selbst todt sind, belästigen den Erzieher
nicht, denn — sie verschwanden und wurden nicht mehr gesehen, indem
von der Erziehung die Rede anhub. Die Ausländer, die Völker der un-
lebendigen Sprachen, sollten ja nicht erzogen werden, sondern nur die
deutsche Nation! Das mag die Zeit entschuldigen, worin jene Reden
geschrieben wurden.
Der Erzieher also soll die deutsche Jugend lassen ivie sie ist? Wozu
denn jene hohen Verkündigungen einer neuen Erziehung? Dabey ist
offenbar ein Widerstand, oder ein verderbendes Prinzip vorausgesetzt,
welches abzuwehren dem Erzieher eine wenigstens negative Thätigkeit
kosten wird. Wir fragen demnach zuerst: wo liegt denn das verderbende
Prinzip? Und die Antwort wird uns nicht vorenthalten: „Der Mensch
1 Die Worte: „Belieben Sie . . . zu lesen" fehlen in SW.
Über das Verhältnifs des Idealismus zur Pädagogik 4?Q
lebt sich zum Sünder. Das bisherige menschliche Leben war in der Regel
eine im steigenden Fortschritte begriffene Entwickelung der Sündhaftigkeit.
Allenthalben, wo die Gesellschaft verdorben ist, mufs dasselbe erfolgen.
Nicht die Natur ist es, die uns verdirbt, diese erzeugt uns in Unschuld:
die Gesellschaft ists."
Wodurch verdarb denn wohl die Gesellschaft? So wird jeder Theo-
log mit mir fragen. Und ich frage weiter: mit welcher Hoffnung wollte
denn Fichte es wagen, aus der Jugend eine Gesellschaft zu bilden? meinte
er wirklich, diese würde nicht verderben ?
Aus Gründen, an welche Fichte nicht entfernt dachte, die Sie aber
in meiner Psychologie werden zu finden wissen, behaupte ich: dafs jeder
Haufen von Menschen, die in Confhct gerathen, seyen sie alt oder jung,
eine natürliche Neigung in sich trägt, in vier Klassen zu zerfallen:
Dienende, gemeine Freye, Angesehene und Herrscher.
Beyspielsweise wollen wir hier nur die Dienenden ins Auge fassen,
und für jetzt nur in der Erfahrung. Da könnte ich, weil docli von der
Jugend die Rede ist, an den alten Unfug des sogenannten Pennalismus
erinnern. Oder, um von Zeitbegebenheiten zu reden, an den Unfug,
welcher neuerlich oftmals von der niedrigsten arbeitenden Klasse ausging.
Aber ganz nahe liegt mir das Unheil, was die Cholera eben kürzlich
unter meinen Augen, und so auch in mehreren Städten und Ländern
sichtbar gemacht hat. Da sie die niedrigste Klasse am härtesten traf,
so hat sie auf Menschen, die man sonst in der Gesellschaft kaum zu be-
merken pflegte, ein trauriges Licht geworfen; sie hat Einheit in diese
Klasse gebracht, deren Mitglieder man sonst nur vereinzelt erblickt, weil
sie am Gemeingeiste der Gesellschaft keinen Theil haben, so zahlreich sie
auch in ihr vorhanden sind. Welche Einheit? Die eines gemeinsamen,
aller Widerlegung trotzenden Vorurtheils: man wolle sie vergiften, aus
dem Wege räumen; dazu seyen die Ärzte angewiesen, befehligt, gedungen,
bezahlt. Selbst solchen Ärzten deren wohlthätiges Helfen die armen
Leute aus langer Erfahrung kannten, — selbst den Geistlichen, den Beicht-
vätern trat dies Vorurtheil starr entgegen. Es kam zu den Waffen. Es
mufste Blut fliefsen. Aber diejenigen, welche sich als freye Bürger im
Staate fühlten, blieben von dem Wahn unberührt. So zeigte sich eine
von den Scheidewänden, deren ich erwähnt habe. Wo liegt der Ursprung
dieser unglücklichen Scheidewand? Hatte Jemand sie absichtlich aufgebaut?
Wünschte Jemand, sie in dieser furchtbaren Gestalt zu erblicken? Nein,
Aber ihr Grund liegt in psychologischem Mechanismus. Das zufällige Übel
hat sie nur zur Anschauung gebracht.
Ob nun Fichte in seiner Jugend-Gesellschaft die natürlichen Aristo-
kraten und Herrscher dulden möchte, kann allenfalls in Frage gestellt
werden ; dafs er aber die so eben nachgewiesene Scheidewand, welche die
ganz Herabgedrückten hinter sich verbirgt, unmöglich dulden könnte, springt
eben so gewifs in die Augen, als es gewifs ist, dafs hiegegen jeder tüch-
tige Erzieher und Schulmann seine Kraft aufbietet; eine Kraft, die als
ein Höheres, als ein freyes moralisches Prinzip die Gesellschaft von dem
natürlichen Übel erlöset, in welches sie sonst schon bey ihrem Ursprünge
hinein gerathen würde, und wodurch im Orient wirklich manche Staaten
42 O Anhang ITI.
unheilbar sind verderbt worden. An die Sclaven, selbst bey Griechen und
Römern, brauche ich hier nicht zu erinnern. Aber die Natur, wie wenig
sie auch dem Übel bey Erwachsenen vorbeugt, hat doch die Jugend da-
gegen geschützt, indem sie keine Jugend - Gesellschaft stiftet, sondern die
Kinder den Eltern anvertraut. Und von Erziehungs- Anstalten fordert man
allgemein, sie sollen die häusliche Gesellschaft möglichst nachahmen.
Welches war denn über diesen Punct die Sprache des Idealismus?
Schon oben führte ich die Worte an: „ein Gemeinwesen der Zöglinge,
das seine genau bestimmte, in der Natur der Diiige gegründete, und von
der Vernunft durchaus geforderte Verfassung habe."
In der Natur der Dinge ist jener psychologische Mechanismus ge-
gründet, der das Übel erzeugt. In der Natur des Menschengeschlechtes
ist aber auch die Familie gegründet, welche die Kinder getrennt hält.
Die Vernunft fordert, dafs es hiebey sein Bewenden habe, und dafs man die
Gefahren grofser Gesellschaften von den Kindern möglichst fern halte. Sie
will keine Verfassung für die Jugend. Die Erziehung ist ohnehin schwer
genug; man braucht sie nicht noch mit künstlichen Hindernissen zu belasten.
Aber den Idealismus charakterisirt das Verkennen des psychologischen
Mechanismus. Wenn er ihn nur nicht siebt, dann meint er, sey derselbe
auch nicht vorhanden. Er construirt aus der Idee; wie die Wirklichkeit
dazu passe, das fragt er nicht eher, als bis das Wirkliche ihm feindlich
entgegentritt. Dann werden lange Reden über Sündhaftigkeit gehalten;
und hinter der Rhetorik verbirgt sich die Unwissenheit. Man streitet mit
Worten gegen Übel, deren Quellen man nicht kennt; und welche durch
die angegebenen Vorkehrungen nicht verhütet, sondern eben herbeygeführt
werden würden.
Doch jener Zeitpunct, da Fichte die deutsche Nation anredete, um
sie zu begeistern, war nicht der gelegene Zeitpunct, um sein früher ge-
bildetes, aus bekannten geschichtlichen Anlässen leicht erklärbares System
einer Revision zu unterwerfen. In Zeiten der Noth tröstet man sich mit
Idealen; und sie wirken wohlthätig wenigstens auf die, welche sich ihnen
hingeben. Zur That kam es nicht, denn das Glück wendete sich, und
zwar durch ein ganz anderes Thun. Möge nur nicht hinter dem Schleier,
der unsre Zukunft deckt, eine erneute Noth verborgen seyn, worin wir
uns abermals müfsten durch Worte und Gedanken zu trösten suchen!
jedenfalls wollen wir den hochherzigen deutschen Patriotismus in Ehren
"halten, der Fichtes Lehren und Reden belebte. Und da wir uns hier
nicht ins Politische verlieren dürfen, so lassen Sie uns wenigstens von
seiner pädagogischen Ansicht die bessere Seite aufsuchen.
Wo es darauf ankommt, das unmittelbar sittliche Streben in kräftigen
Worten zu beschreiben, da finden wir den Idealismus weit mehr in seiner
rechten Sphäre, als dort, wo die Veranstaltungen zur sittlichen Wirksam-
keit im zeitlichen Handeln den Gegenstand der Frage ausmachen. Gern
hören wir FiCHTEn reden von dem Triebe nach Achtung, als der reinsten
Gestalt, worin das Sittliche schon beym Kinde hervortrete. Gern lassen
wir uns von ihm einschärfen, dafs in der Behandlung des Kindes kein
Eigennutz hervortreten, kein Verlust, den etwa dessen Unvorsichtigkeit uns
zufügt, hart geahndet werden solle. Unbedenklich räumen wir ihm ein,
Über das Verhältnifs des Idealismus zur Pädagogik. a-xi
dafs, wo Bestrafung von keiner Schaam begleitet wird, es mit der Erziehung
zu Ende geht. Am schönsten, wenn auch nicht allgemein richtig, ist seine
Beschreibung der Kindlichkeit. „Das Kind geht aus von unbedingter
Achtung für die erwachsene Menschheit aufser sich; an ihrer wirklichen
Achtung nimmt es ab, in wiefern es auch sich selbst achten dürfe.
Dieses sich Vertrauen auf einen fremden , und aufser uns befindliehen
Maafsstab der Selbstachtung ist der eigenthümliche Grundzug der Kind-
heit und Unmündigkeit, auf dessen Vorhandenseyn ganz allein die Mög-
lichkeit aller Belehrung und aller Erziehung der nachwachsenden Jugend
zu vollendeten Menschen1 sich gründet. Der mündige Mensch hat den
Maafsstab seiner Selbstschätzung in sich selbst, und will von Anderen ge-
achtet seyn, nur in wiefern sie erst selbst seiner Achtung sich würdig
gemacht haben; und bey ihm nimmt dieser Trieb die Gestalt des Ver-
langens an, Andre achten zu können, und Achtungswürdiges aufser sich
hervorzubringen. Diesen Grundzug der Mündigkeit nun soll der Erzieher
darstellen, so wie auf den erstem bey dem Zöglinge sicher zu rechnen ist."
Sichert — Nein; das bestätigt die Erfahrung nicht. Nur soviel be-
stätigt sie, dafs da, wo die beschriebene Gesinnung des Zöglings sich ent-
weder gleich Anfangs vorfindet, oder wo sie doch früher oder später ge-
wonnen wird, von diesem Puncto an das Geschäft der Erziehung leicht
und glücklich von statten geht. Ein erstes, vorläufiges Ziel ist also hie-
mit richtig aufgesteckt, welches zu erreichen die Sorge des Erziehers seyn
mufs. Ein Ziel, das gleichwohl niemals dann erreicht wird, wenn einmal
eine jugendliche Menge begonnen hat, ihrem Gesammt-Urtheil mehr zu
trauen, als dem Urtheil des ihr fern stehenden Erwachsenen. Und selbst
den besten, einzeln stehenden Zögling dünkt oft genug das Urtheil des
Erziehers, wenn nicht falsch, so doch zu stark, zu hart, zu streng. Ab-
gesehen davon, dafs kein Erzieher vollkommen ist, dafs also der Zögling
in einzelnen Fällen sich ein richtig abweichendes eignes Urtheil bildet, —
abgesehen hievon ist zwischen dem nothwendigen Ernst des Erziehers
und dem Leichtsinn der Jugend eine weite Distanz, die durch kein, noch
so grofses Vertrauen, ganz ausgefüllt wird. Und in der Erfahrung sind
Fälle genug vorgekommen, wo ein Knabe, ja ein noch sehr junges Kind,
eine Art von Stolz darin setzt, unartig seyn zu können. Wäre Fichtes
Behauptung allgemein wahr; woher käme es denn, dafs selbst Kinder, die
man noch zu den guten zählen mufs, dennoch eine Freude darin finden,
zuweilen allein zu seyn, um thun zu können, was ihnen unter Aufsicht
nicht gestattet wird? Manches wird verboten, und mufs verboten werden,
was dennoch heimlich geschieht. Ein so reines pädagogisches Verhältnifs,
worin dergleichen gar nicht vorkäme, gehört zu den seltenen Ausnahmen;
und diese setzen ein Zartgefühl, ein frühes geistiges Leben voraus, dessen
nur glückliche Naturen fähig sind. Dergestalt sind wir genöthigt, auch
hier dem Idealisten zu widersprechen, wo wir ihm gern beystimmen möchten.
Dem Idealisten? War denn Fichte wirklich Idealist, als er das
Vorstehende schrieb? Oder schob sich ein fremder Gedanke an, welchen
das System selbst, nach strenger Consequenz, wird ausscheiden müssen?
1 „zu vollendeten Menschheit . . ." SW.
. , 7 Anhang III.
— Diese Frage, mein Verehrtester,1 wird Sie vielleicht näher berühren
als das Vorhergehende. Denn mir fällt Ihr „durchaus fremder Vorfahr im
Amte"2 dabey ein; Sie werden bald sehen wie das zugeht.
Nach strengem Idealismus ist der Zögling eine blofse Erscheinung,
ein Nicht -Ich für den Erzieher, ohne alle Realität, aufser in wiefern der
Erzieher einen solchen Zögling in sich setzt. Oder auch umgekehrt: dem
Zögling ist sein Mentor eine blofse Erscheinung; ein Nicht- Ich, ohne alle
Realität, aufser in wiefern das Ich des Zöglings jenes Nicht- Ich in sich
setzt. Diesen Idealismus dürfen wir von FiCHTEn keinesweges fordern.
Er hatte ihn längst verlassen, bevor an unsre Reden gedacht wurde. Wir
müssen hier gemäfs dem zuvor angeführten FiCHTEschen Dogma voraus-
setzen : Das Wesen trete in beyde Willens - Entschlüsse ein, sowohl in den
des Einen, zu erziehen, als in den entsprechenden des Andern, sich erziehen
zu lassen. Denn mit Willens -Entschlüssen, in denen die blofse Erschei-
nung heraustritt, abgetrennt vom Wesen, könnten wir in guter Erziehung
nichts anfangen.
Allein sehen Sie nun, was mir begegnet. Traue ich dem Zögling
einen ächten Willens- Entschlufs zu, sich erziehen zu lassen, so wird er
mir gleichsam vor Augen so grofs, so männlich, so mündig, dafs er bald
keine Erziehung mehr braucht. Gehe ich rückwärts in seine Kindheit, so
finde ich keine ächten Willens -Entschlüsse, also nichts, worin das Wesen
nach obiger Vorschrift — hervortreten könnte. Ja bey der Geburt
gränzt der Zögling so nahe an die blofsen Naturdinge, dafs durchaus
Zwischenglieder nöthig werden, wenn wir nicht in die bekannte Erstorben-
heit der Naturphilosophie verfallen wollen. Diese Zwischenglieder sind
am natürlichsten die Eltern. Sie denken in die Erscheinung, welche sie
ihr Kind nennen, eine künftige Vernunft hinein, lange vorher, ehe eine
solche wirklich darin ist; — womit ich denn, beyläufig gesagt, auch auf
meinem Standpuncte sehr wohl zufrieden und völlig einverstanden bin.
Blieben wir nun stehen bey der Erziehung der ersten paar Jahre: so möchte
uns keine auffallende Schwierigkeit begegnen. Allein jener Trieb nach
Achtung, jene Kindlichkeit, die schon ein Gewissen, wenn auch aufser sich,
hat, — das Alles mahnt uns an den Knaben, der längst darüber hinaus
ist, von sich in der dritten Person zu reden. Das Ich ist in ihm; er
weifs von Sich. Wie machen wir es nun, dafs er sein Gewissen, und den
Maafsstab seines Werthes dennoch aufser sich habe? Etwa so, wie das
idealistische Ich Stein und Holz und überhaupt die Sinnenwelt aufser sich
setzt? Gehört denn das Gewissen auch in diese Klasse der gemeinen
Dinge ? Gesetzt, dem sev also : dennoch will es mir nun immer noch
nicht gelingen, das Fehlende in dem eigentlichen Ich des Zöglings gerade
in den Erzieher hineinzubringen; vollends da es unbestimmt bleiben mufs,
wer der Erzieher sey ? ob der Vater, oder ein angenommener Erziehungs-
Gehülfe, oder beym Autodidakten ein Buch, oder bey dem wild heran-
gewachsenen Jüngling eine Geliebte. Nehmen wir noch hinzu, dafs schlechte
1 ,. Diese Frage wird Sie . . ." SW („mein Verehrtester' fehlt.)
' Die Stelle lautet übrigens bei Brandes: „durchaus fremder Vorgänger in der
Amtsführung" (vergl. oben S. 411, Z. 6 v. o.).
Über das Verhältnifs des Idealismus zur Pädagogik. 433
Erziehung wohl ebenso häufig ist als gute, und dafs die Mehrzahl der
Menschen eigentlich gar nicht merklich von diesem oder jenem erzogen
wird, sondern statt aller Erziehung eine Menge von Einwirkungen theil-
weise annimmt oder abstöfst: so wird das Ich des Zöglings, der den Maafs-
stab seiner Selbstachtung aufser sich bald hier bald dort hat, und ihn viel-
leicht bis ins späteste Alter noch an Erinnerungen irgend einer frühern
Auctorität heftet, — vor meinen Augen etwas so Buntes und Zufälliges
dafs ich darauf willig Verzicht thue, in einem fremden Systeme consequent
zu denken; und mich gern begnüge, nach eigner Ansicht den Anknüpfungs-
punct der Ichheit in jedes Thun und in jede Hingebung ohne Mühe ver-
legen, — oder besser, ihn so vielfach annehmen zu können, als er sich
darbietet.
Um kurz und ernst zu sagen, was ich denke: — der Begriff der
Erziehung ist ein gegebener; keine idealistische Constiuction kann ihn er-
reichen, ohne in die gröbsten und offenbarsten Fehler zu gerathen. Das
allein schon ist eine genügende Widerlegung des Idealismus in jeder Form,
die er versuchen kann. Und eine von den wichtigsten Proben wahrer
Metaphysik und Psychologie besteht gerade darin, dafs sie das pädagogische
Causalverhältnifs begreiflich macht.
Fichtes pädagogische Ansicht, dafs der gute, lenksame Zögling den
Maafsstab seiner Selbstschätzung nicht mit vollem Selbst -Vertrauen in sich
sucht, sondern sich auf das Urtheil seines Erziehers stützt : bezeichnet
richtig das Verhältnifs zwischen diesem und jenem; aber wäre das Ich
des Zöglings, — oder überhaupt irgend ein Ich, anzusehen als ein Reales,
und deshalb in sich Vollständiges, so würde ein so wichtiger Theil des Wissens
von Sich, wie der, welcher liegt in dem Wissen vom eignen Werthe, niemals
von dem eignen Ich getrennt, in eine andre Person können verlegt werden ;
sondern mit dem Selbstbewufstseyn schlechthin verbunden seyn und bleiben.
Und dies ist um desto auffallender, da hierin die Jahre keinen wesent-
lichen Unterschied machen ; vielmehr bey sehr vielen Individuen lebens-
länglich der Beichtvater die Stelle des Erziehers behauptet: ohne dafs man
ihnen darum die Persönlichkeit absprechen darf. Die pädagogische That-
sache ist richtig; die Erklärung derselben nach idealistischen Ansichten
ist unmöglich. Höchstens hätte nach diesen Ansichten der Zögling sich
einen Erzieher eingebildet; er hätte sein eignes Gewissen in der Einbildung
aus sich hinausgetragen. Aber er hat einen zvirklichen Erzieher; und noch
mehr ! diesen wirklichen Erzieher hat er sehr nöthig.
Wäre es Ihnen, verehrter Freund!11 vielleicht gefällig, hier einmal
an Ihren oben erwähnten Einwurf zurückzudenken ? Sie werden, glaube
ich, Stoff zu einer interessanten Vergleichung antreffen. Wenn nach meiner
Psychologie in einem Menschen mehrere Vorstellungsmassen sind, deren
jede zu eigner Ausbildung gelangt; wenn alsdann eine derselben handelnd
hervortritt, eine andre aber dieses Handeln appercipirt, und es lobt oder
tadelt : dann, sagen Sie, kann keine Zurechnung Statt finden. Denn die
appercipirende Vorstellungsmasse ist gleichsam eine fremde Person. Sie
ist unschuldig. Jene erste, welche den Sitz des Handelns ausmachte, würde
11 „Wäre es Ihnen vielleicht . . . ." SW,
Herbart's Werke. VIII 28
4-j4 Anhang III.
allein gelobt oder getadelt werden. Aber wo bleibt nun die Person, welche
Sich, das heilst, ihr eignes Ich beurtheilt? Keine der beyden Vorstellungs-
massen ist das Ich, also ist Niemand da, welchen die Zurechnung träfe;
folglich müfste es keine Zurechnung geben, was absurd ist. Diesen Ein-
wurf erläuternd, fragen Sie, ob denn Jemand sich das anrechnen werde,
was ein ihm durchaus fremder Vorfahrer in der Amtsführung ver-
brochen hat?
Bevor ich mich zur Antwort anschicke, lassen Sie uns doch jene
Beschreibung des Zöglings nach FiCHTEn zurückrufen. Dieser, und eben
so alle erwachsenen Beichtkinder, oder die, ihnen ähnlich, einen Gewissens-
rath aufser sich haben, stellen uns das in der Wirklichkeit dar, was jene beyden
Vorstellungsmassen Bedenkliches hatten. Wenn der Sohn einen Fehltritt
begeht, so tadelt ihn der Vater. Aber dabey bleibt es nicht. Der Sohn
schämt sich : — weshalb ? Etwa deshalb, weil er den Tadel anerkennt ?
Vielleicht! Doch das ist nach FiCHTEn nicht die Hauptsache beym Zög-
ling als solchem. Denn er hat den Maafsstab seiner Selbstschätzung aufser
sich. Also aufser ihm liegt der Tadel, der ihn verwundet! Wollen wir
das etwa leugnen? Die pädagogische Erfahrung sagt wirklich, dafs man
den Kindern beynahe Alles, was man will, zur Ehre und zur Schande
machen kann. Woher kämen auch sonst so viele thörichte Ehrenpuncte,
die im gemeinen Leben Schaden genug anrichten ? Man hat sie erkünstelt.
Die Möglichkeit eines solchen Erkünsteins gehört zu den leidigen psycho-
logischen Wahrheiten, die man gern — nicht einräumt, und die dennoch
wahr sind. Lob und Tadel wirken auf die Menschen, auch wenn sie
selbst kein Urtheil über sich fällen; und selbst ohne Rücksicht auf
Nutzen oder Schaden. Sie haben wirklich ein Gewissen aufser ihrem
Ich; und zwar ein solches, wie man es ihnen macht und giebt; schlecht
oder gut.
Das ist das Erste ; aber auch ein Zweytes dürfen wir nicht vergessen.
Wenn der Sohn einen Fehltritt beging, so schämt sich des Sohnes auch
der Vater. Giebt er sich Rechenschaft davon? Vielleicht! Denn er hätte
durch bessere Erziehung bessere Früchte erzeugen sollen. Aber das pafst
nicht immer. Sein Gewissen sagt ihm oft, er habe Alles gethan, was er
vermochte. Und dennoch schämt sich der Vater. Noch mehr! Des Bruders
schämt sich der Bruder. Nicht blofs der ältere, der ein Beyspiel geben
sollte, sondern auch der jüngere. Auch die Schwester schämt sich. Die
ganze Familie zieht sichs zu Gemüthe. Ja die ruhigen Bürger im Staate
schämen sich, wenn die Truppen feige waren. So dehnt sich die Zu-
rechnung aus ins Unbestimmte, weit hinweg über das individuelle Ich.
Aber, sagen Sie, der Nachfolger schämt sich nicht dessen, was der
durchaus fremde Vorgänger verbrach. Also giebt es einen solchen durch-
aus fremden! Daran erkenne ich, (wenn Sie das ernstlich meinen,) den
Realisten. Der Idealist hätte gesagt: humani nihil a nie alienum puto ;
denn die Menschheit ist Eins. Alle Menschen müssen sich dessen schämen,
was irgend Einer verbrach. Ja die Consequenz fordert duichaus, dafs man
sich auch derjenigen Sünden schäme, die im Monde und auf dem Jupiter
begangen werden. Denn — wie ungelegen immerhin diese Erinnerung
seyn möchte — das Wesen ist es, welches in den Willens-Entschlüssen heraus-
Über das Verhältnifs des Idealismus zur Pädagogik. 435
tritt. Oder wollen Sie den Mond und den Jupiter saintnt deren Bewohner
etwa geradezu unter die Erscheinungen der zweyten Potenz rechnen ? —
Doch Ihnen darf ich nicht zumuthen, Fichtes Lehre zu vertreten. Sie
räumen im Gegentheil mir ein, dafs, wo Zurechnung in Frage kommt,
recht füglich Einer dem Andern durchaus fremd seyn könne; womit denn
die versuchte Zurechnung verneint und abgewiesen ist. Allein zugleich geben
Sie zu verstehen, dafs sich dies Fremdseyn nicht überall vorfinde ; und so
dürfte ich fast glauben, wir wären einander etwas näher gerückt.
Und worin näher? Darin, dafs die vorerwähnten bevden Vorstellungs-
inassen, welche der Voraussetzung nach in Einer Seele seyn sollen, nicht
nöthig haben, sich mit gegenseitig durchaus fremden Personen vergleichen zu
lassen. Sie stehen einander gewifs näher als Sohn und Vater, Zögling
und Erzieher. Denn der vveitläuftige, vielfach bedingte Procefs des Han-
delns und Beobachtens, des Sprechens und Verstehens . ohne welchen
Zöslins und Erzieher von einander nichts wissen würden, ist zwischen
den mehrern Vorstellungsmassen einer und derselben menschlichen Seele
in der Regel nicht nöthig. In der Regel, sage ich ; weil ausnahmsweise
auch das Gegentheil vorkommt. Wenn der Geschäftsmann sich etwas
aufzeichnet, wenn der Reisende sein Tagebuch führt: so leitet er eine
Correspondenz mit sich selbst ein, die ihren Weg durch die Sprache
nimmt. Allein in den Fällen, wo das Gewissen laut spricht, geht die
Schaamröthe dem Selbstgespräche voran, zum Zeichen, dafs eine Vor-
stellunssmasse schon weit früher die andre verstanden hatte, bevor der
Tadel zum Worte kommt. — Alle diese Weitläufigkeit sollte wohl ent-
behrlich seyn ; denn vom Verschmelzen der Vorstellungsmassen, so weit sie
irgend können, ist am gehörigen Orte gesprochen; dies Verschmelzen aber,
so weit es reicht, hebt alle Vielheit und Sonderung auf; es stellt sich in ihm
die Einheit der Seele dar.
Und mit ihm kommt die Einheit des Ich ; nämlich bevm Gesunden
und Besonnenen. Täuschen wir uns aber ja nicht über diesen Punct !
Denn aller Angewöhnung an das idealistische Ich zum Trotze, kennt schon
längst die Psychologie Zustände genug, in welchen das Ich nicht vollkommen
Einst ist; und sie verfehlen auch nicht, die Zurechnung zu begränzen.
Doch mit Wahnsinn, Rausch, Nachtwandeln und dergl. will ich Sie nicht
aufhalten. Die Ichheit erzeugt sich fort und fort; sich sammelnd wächst
sie, und als ein wachsender Faden durchläuft sie theils die Lebenszeit,
theils den Reichthum der Gedanken, theils Pläne und Maximen; doch
sieht sie auch oft mühsam genug sich selbst in den verschiedenen Vor-
stellungsmassen ; und klagt, bey weitem nicht ganz, und nicht von selbst
mit sich Eins zu seyn. Diese Klage erschallt bald aus der einen, bald
aus der andern Vorstellungsmasse ; denn das Ich ist vieltönend, und viel-
bedürfend, und vielfordernd an sich selbst, und keinesweges stets einerley
Wissen und Wollen von sich.
Sind diese Sätze etwa neu? Der Idealismus machte sie neu; denn
er verkannte sie. Und die alte Psychologie der Seelenvermögen erlaubte
ihm das ; denn sie unterschied zwar die Substanz der Seele vom Ich ;
aber nur als Substanz und Accidens; sie begnügte sich, die Accidenzen
nur gerade hineinzuschütten in die Substanz. Dadurch wurde die Seele
28*
Ai 5 Anhang III.
verdächtig. Doch nichts weiter davon ! Sie würden glauben, ich wolle
Ihnen aufdringen, was Sie verschmähen. '
Im Vorigen kam es blofs darauf an, zu begreifen, dafs sich das Ich
tadelt oder lobt, indem eine Vorstellungsmasse die andre beurtheilt. Nun
erzeugt freylich nicht das Ich die Vorstellungsmassen, wohl aber wird es
selbst von ihnen vielfach und fortwährend erzeugt; ja die Zurechnung ist
grofsentheils selbst der Actus dieser Erzeugung, Verknüpfung, Verschmelzung.
„Habe ich das gethan und gesagt?" Ja, ruft man ihm zu, du bist S'huld
durch dein Thun und Lassen. So setzt man ihm reyn Ich aus Theilen
zusammen, wenn eine mühsame Erinnerung nicht von selbst das Einzelne
aus verschiedenen Vorstellungsmassen vollständig genug verbunden hatte.
Ein andermal hört man Viele zugleich rufen: „Haben wir das ge-
than?" Ja, lautet die Antwort, Ihr seyd Schuld, alle zusammen; denn Jeder
von Euch hat Etwas dabev, und Jeder von Euch hätte die Andern zurück-
halten sollen. — Da kommt das Wir und das Ihr zum Vorschein, wo
Viele sich gemeinschaftlich zurechnen, was — bald Einer von Allen, —
bald Alle wie Eine Person, gethan oder gelassen haben.
Der Kreis dieses Wir und Ihr bestimmt sich höchst zufällig, und ver-
ändert, vergröfsert, verkleinert sich nach den Umständen. Keine Mög-
lichkeit ist hier, ein idealistisches Ich zum Grunde zu legen. Gäbe es
erst ein Ich, und dann Vorstellungen des Ich, so wäre sein Pluralis, das
Wir, durchaus undenkbar. Es entsteht geradezu aus den Vorstellungen,
die Jeder im Kreise der Andern sich bildet. Und eben so entsteht das
Ich ; obgleich, wegen der Einheit der Seele, um sehr Vieles vester und
bestimmter als das Wir und das Ihr.
Sie sehen nun ohne Zweifel, mein Verehrtester, dafs es noch einen
wichtigen Punct giebt, worin wir bevde einverstanden sind.2
Die Zurechnung steht vest. Darauf baueten Sie, indem Sie mir wegen
der verschiedenen Vorstellungsmassen Einwendungen machten. Aber auch
meinerseits baue ich darauf, indem ich darauf dringe, dafs es nicht nur
eine Zurechnung giebt zum Ich, sondern auch zum Wir; und zwar zu
einem solchen Wir, welchem schlechterdings keine ursprüngliche und zugleich
seinen Kreis begränzende Einheit, als reales Prinzip, zum Grunde liegen kann.
Und jetzt, mein vereintester Freund! überlasse ich es Ihnen, darüber
nachzudenken, wie vieles in den Behauptungen, die Sie mir entgegen-
stellen, Sie wohl abändern würden, wenn Sie Sich einmal mit mir über
Folgendes vereinigten : 3
Das Ich ist kein reales Prinzip. Beym reifen Manne zwar ist es ein
mächtiger Strom. Aber im Kinde flofs dieser Strom aus tausend Bächen
zusammen, welche mit sich führen, was die Umgegend darbot. Und des-
halb ist Erziehung die Bedingung der Humanität.
Jetzt sey das Ich bey Seite gesetzt; aber von dem Wir ist noch ein
Wörtchen ■* zu reden; denn seine Construction kommt bey der Erziehung
1 Die Worte: „Sie würden glauben .... verschmähen." fehlen in SW.
2 Die Worte; „Sie sehen nun ohne Zweifel .... einverstanden sind." fehlen
in SW.
3 Die Worte: „Und jetzt .... über Folgendes vereinigten:" fehlen in SW.
4 „Wort" SW.
Über das Verhältnifs des Idealismus zur Pädagogik. a?j
gar sehr in Betracht. Und Fichte, in seinem jugendlichen Gemeinwesen,
hätte darauf stofsen müssen. Der Zusammenhang mit dem Obigen wird
hier von selbst einleuchten.
Das Wir ist das vergröfserte Ich; und es zeigt dessen Veränderlich-
keit nach vergröfsertem Maafsstabe. Weit schwerer noch als das Ich
gelangt das Wir zu einem bestimmten , vollends zu einem edlen
Charakter.
Zwar fehlt der Ausdruck Wir in keines Menschen Sprache ganz und
gar. Denn Jeder hat irgend Etwas mit Andern gemeinschaftlich gethan
und gelitten. Aber vergleicht man die Energie, womit verschiedene Menschen
das Wir aussprechen, so findet man die mannigfaltigsten Abstufungen. Nicht
bey dem Herrscher, der von sich in der Mehrzahl redet; noch weniger
bev dem Schriftsteller, der nur deshalb das Wir gebraucht, weil er gar
keine bestimmte Person anzeigen will, erwartet man die eigentliche Be-
deutung des Wir; aber es ist schlimm, wenn sie auch in der Gesellschaft
nicht überall hervortritt; und eben so schlimm, wenn sie streitende Par-
theyen in der Gesellschaft anzeigt. Erinnern wir uns jetzt nochmals jener
vier Abtheilungen, welche der psychische Mechanismus, sich selbst
überlassen, von keinem höhern Geiste geleitet, in der Gesellschaft hervor-
bringt. Jene Unglücklichen, welche die Cholera in Harnisch brachte gegen
Ärzte und Behörden, weil sie von der wohlthätigen Absicht beyder nichts
begriffen, sprachen auf einmal das Wir mit einer Energie, von der sie
bis dahin nichts wufsten ; denn jetzt hatten sie sich zusammengerottet, und
meinten bewaffnet durchzudringen. Bald kehrte ihr voriger Zustand zurück;
das Wir verschwand ; das demüthige Ich trat wieder an seinen Platz :
denn diese Leute sind in der Regel froh, wenn sie als Clienten irgend
einem Patron sich anhängen können, sonst stehn sie einzeln und verlassen.
Das Gegenstück zu ihrem demüthigen Ich zeigt uns der Angesehene, und
sein vornehmes Ich. Er braucht sich nicht anzuschliefsen. Die con-
ventionelle Höflichkeit bezeichnet weite Distanzen verschiedener Rangstufen
in den Gesellschaften der Angesehenen. Wo denn hat das eigentliche
Wir seinen wahren Sitz? Natürlich nur in der Klasse des Mittelstandes;
der längst als der dritte Stand pflegt gezählt zu werden, und zugleich als
der unterste, weil die vierte Klasse gar nichts dauerhaft Vereinigtes, keinen
Stand, in der Gesellschaft bilden kann.
Welche politische Betrachtungen sich hieran knüpfen, das ist bekannt
genug. Aber dafs dieselben nicht blofs in die Pädagogik, sondern bis in
die Psychologie zurückgreifen, dies scheint wenig bemerkt zu seyn. Und
doch ist es nicht anders. Das Wir zeigt den Gemeingeist an; die Unter-
suchung des Gemeingeistes, nach seinem Ursprünge, seiner Beschränkung,
seiner möglichen Ausartung, ist eine Untersuchung über das Wir, theils
im Gegensatz, theils in Verbindung mit dem Ich. Die Politik hat nicht
blofs ihre Ultras, sondern auch ihre Gemäfsigten; unter diesen besitzt sie
manchen ruhigen Denker; und es ist zu hoffen, dafs ein seither irgend
einmal den angegebenen Faden rückwärts bis in die Psychologie verfolgen
wird. Möchten Sie Selbst, ' mein hochgeschätzter Freund ! Sich dazu auf-
1 Die Schlußworte : „Möchten Sie Selbst .... Frucht tragen kann." fehlen in SW.
438 AnhaDg IV.
gefordert finden ! Dann würden Sie, glaube ich, noch manchmal an meine
Metaphysik denken, die ich Ihnen hiemit zu fernerer Berücksichtigung
empfehle; und zwar ohne Scheu vor Ihren Einwendungen. Dann gewifs
bedarf Metaphysik solcher Gegner, von denen sie ernstlich durchdacht
wird, weit nöthiger, als der Empfehlung an eine Menge, der sie keine
Frucht tragen kann.
Anhang IV.
Zwei Worte über Naturphilosophie.
Text nach der Hallischen Literatur-Zeitung. 1832, Intelligenz-Blatt Nr. 4. S. 26 ff.
[Bereits gedruckt SW. Bd. IV S. 608—611.]
Im Journal complementaire des sciences medicales hat Jemand, nach
Anführung meines Satzes: l'irritabilite des series d'idees est ce dont
clepend la connaissance de l'activite intellectuelle, für gutgefunden also fortzu-
fahren : ce probleme sera plus facile a resondre, quand nous aurons vu, que
les series d'idies naissent dans une Serie de ganglions cerebraux. Diese alte,
längst abgewiesene, hier gegen meine Psychologie erneuerte Zudringlichkeit
kann im allgemeinen daran erinnern, dafs nicht selten grofse Gelehrsamkeit
mit grofser Unwissenheit in einer Form beisammen sind. Sie erinnert mich
insbesondere, dafs in den beiden schätzbaren Recensionen meiner Metaphysik,
sowohl in der hallischen als in der jenaischen A. L. Z., die Naturphilosophie
so gut als ganz übergangen ist; gleich als wäre sie nur ein zufälliger Anhang
zur Metaphysik. Es sind aber Psychologie und Naturphilosophie die beiden
gleich nothwendigen Mittelglieder, durch welche Metaphysik und Erfahrung
dergestallt in Verbindung stehen, dafs jede von der anaern Licht empfängt.
Und Niemand darf hoffen, in einer von den genannten drei Wissen-
schaften vesten Fufs zu fassen, der nicht die beiden andern damit verbindet.
Nachstehendes kann als Ergänzung der einen jener angeführten Re-
censionen, und als Gegenbemerkung zur andern angesehen werden, ohne dafs
eine genauere Nachweisung deshalb nöthig wäre.
Innere und äufsere Zustände der realen Elemente bestimmen sich
gegenseitig. Dieser Satz ist zwar nicht der lang gesuchte erste Grundsatz
aller Philosophie, (der Stein der Weisen, den man niemals finden wird,)
aber er ist derjenige Lehrsatz der Metaphysik, von wo aus sich unsere
Naturkenntnis bequem überschauen läfst. Die Beobachtung giebt Aus-
kunft wegen der äufsern Lage (wenn auch nicht genau und nicht voll-
ständig; man weifs z. B., dafs Sauerstoff und Wasserstoff in jedem Theil-
chen Wassers oder Eises beisammen sind. Anstatt der innern Zustände
hat man bald Kräfte, bald Ideen, bald gar Elektricitäten hinzugedacht.
Diese mag man sämmtlich bei Seite lassen; selbst die Ideen, wenn sie
sich in den Vordergrund der Naturlehre drängen, stiften dort nur Schaden.
Es genügt, den einfachen Gedanken vestzuhalten : entgegengesetzte und ver-
bundene Elemente bleiben, was sie sind. Oder noch deutlicher: sie hüten
sich, der falschen Theorie Folge zu leisten, nach welcher sie sich in ein
Zwei Worte über Naturphilosophie. 4SQ
Drittes wirklich verwandeln sollten. Sie erhalten sich selbst. Kann denn
aber der innere Zustand der Selbsterhaltung, welcher mit der Verbindung
entsteht, und mit der Verbindung wächst, — ohne Ende wachsen? Oder
giebt es ein Maximum, eine Grenze der Intensität für die innern Zustände}
Wüfste hier die Metaphysik nicht zu antworten, so würde die Erfahrung
sprechen, Denn jeder gefrierende Wassertropfen enthält die Antwort.
Zwar: nach Entfernung der Wärmequelle sollte Condensation folgen; und
die Condensation sollte gleichförmig sein. Denn jede bestimmte Con-
figuration weicht ab von der geometrischen Continuität. Die Elemente,
die schon in Verbindung waren, schon angefangen hatten, einander die
innern Zustände zu bestimmen, sollten ohne Zweifel ihrem Zuge des tiefern
Eindringens folgen; lediglich darum (und aus keinem andern Grunde, als)
weil räumliche Trennung zu dem schon begonnenen, an sich gar nicht
räumlichen, Causalnexus der innern Zustände nicht pafst. Dies ist der
allgemeine Grund der scheinbaren Anziehung, (die eben so wenig jemals
durch einen wahrhaft leeren Raum geht, als Cohäsion einen Rifs im Glase
heilt). Aber das gefrierende Wasser verschmäht die allgemeine, gleich-
förmige Condensation. Beso?idere Repulsionen widersetzen sich; sie be-
wirken hier die Configuration des Eises, wie anderwärts die Kristallbildung
der Salze. Nämlich die innein Zustände hängen jedesmal von den Elementen
ab ; und indem sie bei vollkommener Durchdringung erhöhet werden, erreichen
sie in ledern besonderen Falle auf eigne Weise ihre Grenze. Deshalb nun,
indem ihnen die äulsere Lage entsprechen mufs, kommt die Durchdringung
nicht ganz zu Stande; die Art aber, wie sie gehemmt wird, ist die Con-
figuration. Und hierauf beruht alle Räumlichkeit im Dasein dessen, was
wir Materie nennen. Es ist unvollkommene Durchdringung der Elemente,
die selbst nicht Materie sind.
Dies vorausgesetzt, (worin freilich nicht viel weniger als die ganze
allgemeine Metaphysik eingewickelt liegt,) so zeigen sich nun sogleich die
Haupttheile, worin die Naturphilosophie zerfallen mufs. Entweder bringen
die Elemente, indem sie zur Form des materialen Daseins zusammentreten,
schon innere Zustände mit, oder nicht. Im ersten Falle entsteht aus der
beständig fortgehenden Wechselbestimmung des Äuiseren eine ganze Ge-
schichte voll unaufhörlicher Veränderung. Diesen Fall kann die todte
Natur nicht klar und unzweideutig vor Augen stellen. Vielmehr ist hier
das Gebiet des Lebens, wobei die grofse Frage nach der Zweckmäfsigkeit
noch einer höhern Bestimmung vorbehalten bleibt. Im zweiten Falle läfst
sich starre Materie als noth wendiges Product vorhersehen; wofern nur dazu,
nicht blofs quantitativ, sondern auch qualitativ das gehörige Verhältnifs der
Elemente vorhanden ist. Pafst hingegen letzteres nicht, um eine dauernde
Verbindung zu begründen, so zeigen sich wiederum mehrere mögliche
Fälle, welche darin übereinkommen, dafs sie die bekannte Strahlung der
Imponderabilien erwarten lassen; das heifst: zwar Attractionen, aber solche,
woraus unhaltbare Resultate in Ansehung der innern Zustände entspringen;
und hiemit augenblicklicher Übergang der Attraction in Repulsion.
Hiernach ist nun lebende Materie im allgemeinen nicht schwerer zu
begreifen, als todte; und strahlender Stoff nicht schwerer als ruhender;
keine Art Materie aber ist begreiflich ohne innere Zustände; und man hat
440 Anhang V.
nach diesen früher die Psychologie zu fragen, bevor man von Ganglien
des Gehirns in höherem als anatomischen Sinne redet. Übrigens lautet
nicht blofs das Gesagte völlig realistisch, sondern ist auch realistisch; ohne
andern idealistischen Vorbehalt, aufser dem einzigen, dafs man den Idealis-
mus — einen theoretischen Irrthum - genau kennen mufs, um ihn weder
mit praktischen Ideen und ästhetischen Idealen, noch auch mit den zu-
fälligen Ansichten des idealen Zuschauers in der Metaphysik zu verwechseln.
Wenn der Astronom den heliocentrischen oder den jonicentrischen Ort
eines Sternes unterscheidet von dem geocentrischen, so geräth er darum
bei Niemanden in Verdacht, als wolle er in eigner Person von der Sonne
oder vom Jupiter aus das Planetensystem beschauen. Vor Zeiten gab die
Sternkunde ihren ansehnlichen Beitrag zu den Verdriefslichkeiten des
Denkens; seitdem sie aber die verschiedenen Standpunkte der Betrachtungen
gehörig sondert, hört man nichts mehr davon. Die Philosophen könnten
es eben so bequem haben, wenn sie in Ansehung des ästhetischen, meta-
physischen und psychologischen Standpunktes dieselbe Bedingung erfüllten.
Das Gegentheil geschieht, wenn man einseitig die Naturphilosophie bald an-
greifet, bald wieder vernachlässigt, als ob sie entweder Alles oder Nichts wäre.
Anhang V.
A. Ein metaphysisches Bedenken Strümpells.
[Text nach dem Original.]
(Bisher ungedruckt.)
Der Gedanke, dafs über den Hauptpunkt der Metaphysik — die Lehre von
der Materie, — sich in meinem Kopfe ein Mifsverständnis erzeugt haben könnte
und also vielleicht sogar eine wirkliche Differenz stattfände zwischen der von
Ihnen begründeten Ansicht darüber und meiner Art, sie verarbeitet zu haben —
ist mir ein unerträglicher und ich bitte daher nur aut einen Augenblick noch
einmal um Ihr gütiges Gehör. Aber auch darum möchte ich Sie ersuchen, dafs
Sie bei mir gefälligst die Ansprüche des schärfsten und notwendigsten meta-
physischen Denkens in Anwendung bringen, denn in solchen Angelegenheiten,
wie die unsrigen, darf, weder von aufsen noch von innen, nicht ein Iota falsch
sein ; — sonst ist's kein Wissen, das man Kraft besitzt, gegen jeden Angriff un-
wandelbar zu behaupten. Dies zu meiner Rechtfertigung.
Dal's die Materie nicht ein Reales sein kann — darüber ist kein Wort zu ver-
lieren; ebensowenig aber auch darüber, dafs Niemand, der nicht die zwingenden Be-
weggründe, „wir müssen über die Erfahrung hinausgehen", allzusammen eingesehen
hat und getrieben von der Aufgabe „du sollst alles Gegebene zu erklären suchen",
den von Ihnen gegangenen Weg als den einzig richtigen erkennt und ihn darum noch
einmal ebenso, wie es Ihnen damals zu Mute gewesen sein mufs, selbst geht — jemals
zu dem Geiste einer wahrhaften Philosophie gelangen kann.
Ich nehme nun in diesem Augenblicke den ganzen Gang der von den Prinzipien
ausgelaufenen demonstrierenden Reflexion bis dahin als vollendet an, wo ich die Lber-
seugung in mir entstanden sehe :
es ist weiter nichts, als eine unbestimmbare Menge realer Wesen, jedes von seiner
eigentümlichen Qualität: und es giebt weiter kein eigentliches Geschehen, als
jenes wirkliche, jenes bestimmte Ereignis in einem solchen Wesen, welches ich
Selbsterhaltung, überhaupt einen einfachen inneren Zustand nenne, erzeugt unter
den bekannten Bedingungen.
Dies ist der erste Ausdruck der rein metaphysischen Denkweise, deren Strenge
nie wieder etwas nachgegeben werden darf.
A. Ein metaphysisches Bedenken Strümpells. 4 _}. 1
In der nun folgenden Einteilung glaube ich das Nötige über die Deduktion der
Materie hier am besten anbringen zu können, weil daraus vielleicht auch erhellt, wie
ich etwa eine „Monographie über das Problem der Materie" einrichten würde. Nämlich
aus dem Gesagten folgt sogleich dies :
Nehmen wir an, dafs eins unter jenen realen Wesen eine Seele sei, so fällt
alles Gegebene entweder
1. in die Klasse dessen, welches in diesem einen Wesen für sich, nachdem ein
wirkliches Geschehen in ihm ist, sich bildete ; oder
2. in die Klasse dessen, welches in realen Wesen aufser diesem, und sie unter-
einander und in Beziehung aufeinander gesetzt, sich ergiebt ; oder endlich
3. in die Klasse dessen, welches als Produkt eines zwischen jenem einen Wesen und
den übrigen aufser ihm seienden stattfindenden Zusammenhanges seine Erklärung findet.
Diese Punkte, unter denen, einzeln genommen oder kombiniert, alles enthalten
sein mufs, will ich nun in Beziehung auf die Lehre von der Materie ausfüllen,
'loch nur andeutend, da es von Ihnen selbst schon vollständig ausgesprochen ist.
In der ersten Nummer würden wir die subjektiven, in der zweiten die objektiven
Gründe erhalten und in der dritten müfsten diese so verbunden dargestellt werden, dafs es
uns zur völligen Evidenz wird : so mufs das, was wir jetzt Materie nennen, entstanden sein.
Sie sehen aber, dafs ich subjektive Gründe alles dasjenige nennen will, welches
sich, sobald einfache Empfindungen in der Seele sind, nach den bekannten Gesetzen
aus diesen bilden mufs, dies möge nun unmittelbar geschehen oder möge dazu mehr
Zeit gehören. Dahin rechne ich besonders die Raumprodukte, die vorzüglich, wie man
sich ausdrückt, unter den Empfindungen des Gesichts und Gefühls sich einfinden und
die ganze Täuschung, in der wir sie aus uns hinaustragen, so dafs wir sogar sagen:
„die Materie erfüllt den Raum'1; alsdann besonders die psychologische Entstehung
jener Einheit, die in der Folge als Subjekt erscheint und ebenfalls aus uns hinaus-
getragen wird; mit einem Worte aber alle die psychologischen Produkte, die wir in
die Auffassung der Welt hineinmischen. Die subjektiven Gründe, einen so bedeutenden
Anteil an der Erklärung sie auch haben mögen, gelten doch nichts ohne die objektiven ;
aber auch umgekehrt.
Die objektiven Gründe bilden aber die eigentliche Basis; denn hierhin gehört
erstens die Beweisführung der Notwendigkeit, dafs unter der Annahme des Zusammens
und der bestimmten Gegensätze der Wesen sich unter ihnen Attraktion und Repulsion
einfinden mufs; alsdann das daraus folgende Aufsereinander, wodurch die an sich ein-
fachen Realen für uns zu einem Räumlichen werden ; also die Nachweisung einer
bestimmten Konfiguration, der Lage u. s. w., wodurch die Entstehung des räumlichen
Produktes in unserer Seele unabänderlich bestimmt wird (so dafs wir hier diese, dort
jene Gestalt sehen müssen) und überhaupt die Nachweisung aller jener Phänomene, die
wir als Eigenschaften der Materie nennen, aus inneren, ohne unser Zuthun notwendig
stattfindenden Gesetzen in dem Zusammen wirklich aufser uns seiender Wesen selbst.
Die Vereinigung aller dieser Punkte geschieht wirklich durch den Zusammenhang
der aufser uns seienden Wesen mit unserer Seele — und nun entsteht das, was wir
Materie nennen.
Wenn mich also jemand fragte, der Ihre Philosophie versteht: was ist Materie?
so würde ich antworten :
sie ist ein Produkt, erzeugt im Zusammenhang einer Intelligenz und anderer
Realen, jedesmal mit den Spuren hier der Auffassung der Intelligenz, dort innerer
Eigentümlichkeiten jener Realen selbst behaftet und notwendig bestimmt.
Demnach würde ich im streng metaphysischen Sinne nicht sagen können, dafs
z. B. dieses Papier doch Materie sein würde, wenn nicht zwischen den ihm zum
Grunde liegenden Wesen und meiner Seele in diesem Augenblicke ein Zusammenhang,
eine Auffassung stattfände. Legen Sie es weg, so behalten die Wesen, aus denen es
besteht, ihre bestimmte Dichtigkeit u. s. w. alles das, was aus ihnen selbst und ihrem
Zusammen untereinander und auch noch mit anderen Wesen aufser ihnen folgen mufs,
bleibt ; aber in demselben Augenblicke, wo wir es rein für sich denken wollen, mischen
wir auch unsere Auffassung in Gedanken schon wieder mit hinein. Das Raumerfüllen
hat in Beziehung auf die Wesen selbst keine Bedeutung, sondern
auch das unvollkommene Zusammen gilt in betreff der Wesen selbst, allen Zu-
sammenhang mit irgend etwas anderem, also auch mit uns, den Auffassenden,
gänzlich weggedacht, durchaus nicht mehr, als wenn wir als reflektierende In-
442 Anhang V.
telligenz uns zwei oder drei oder mehrere Wesen in einem unteilbaren Punkt zu-
sammengefallen denken, wo wir dann auch mit Recht sagen, sie bilden keine Materie.
Und wie wäre das auch möglich, da aus Realen selbst nie etwas wahrhaft
Äußeres werden kann, wohl aber für das eine als ein Auffassendes der übrigen ?
Ich habe nun nicht zu befürchten, mifsverstanden zu werden; dazu könnten nur
die Worte Veranlassung geben, denn die Sache selbst ist, wie ich überzeugt bin, ganz
so, wie sie auch von Ihnen gedacht wird.
Dafs aber dem Idealismus dadurch auch nur im geringsten näher gerückt werde,
ist ebenfalls nicht einmal möglich, weil unsere Philosophie von dessen Tendenz in
ihrem eigentlichen Kern himmelweit entfernt ist; wie ich denn überhaupt glaube, nicht
besorgt sein zu dürfen, von solchen Dingen noch jemals hintergangen zu werden, von denen
Sie selbst behaupten, dafs ihr Irrtum unmittelbar am Tage liegt, wenn man sie nur ., scharf
denken" wolle. Was aber die Naturphilosophie betrifft, so verlieren deren Bestimmungen
ebensowenig an ihrem eigenen Gewichte, denn der Standpunkt ihrer Reflexion und ihrer
Untersuchungen ist ein ganz anderer als da, wo man im allgemeiyien erst nach dem Ursprünge
der Materie fragt, und deren Deduktion ist schon fertig, wenn jene ihre Arbeiten beginnt.
Die ganze obige zweite Nummer wird durch sie ausgefüllt. — und man denkt
dabei gar nicht einmal daran, weder, wie wir gezwungen sind, sie so aufzufassen, noch
wie es zugeht, dafs von Wesen aufser uns irgend etwas in unsere Seele hineinkommen
konnte. Sondern einzig und allein haben wir es in ihr mit der Erforschung der ob-
jektiven Gründe, d. i. den notwendigen Voraussetzungen zu thun, die wir in den Realen
selbst in ihrem Zusammen und dem Geschehen in ihnen u. s. w. machen müssen, um
jedesmal diese bestimmte, und keine andere, Materie und deren Äufserungen zu erklären.
Von den so bedeutenden Folgen aber, welche sich aus diesem Innersten unserer
Philosophie ergeben, kann leider nur dann erst einmal die Rede sein, wenn die übrigen
Schulen sich werden mit uns eingelassen haben; — mögen Sie die Güte haben, mich
durch Ihre Zurechtweisung in meinen Reflexionen zu unterstützen, damit meine Zeit
nicht unnütz verloren gehe. ^tr-
B. Herbarts Entgegnung auf ein metaphysisches Bedenken von Strümpell.
[Text nach dem Original.]
(Bereits gedruckt in HR S. 345 und 346.)
Es scheint, das unvollkommne Zusammen sey der einzige Gegenstand,
der Bedenken erregen konnte, indem er fühlen läfst, es sey noch nicht
Alles entwickelt, was darüber zu sagen wäre. Vielleicht treffe ich den
Punkt der Bedenklichkeit auf folgende Weise, indem ich den Ursprung
dieses Begriffes aufsuche.
1. In der Ontologie wird das Wort Zusammen, welches zuerst
am Ende der Methode der Beziehungen zum Vorschein kam, ein
Ausdruck für wirkliches Geschehen der paarweise zusammengehörigen
Selbsterhaltungen. (Metaphysik II. S. 1 70.) 1 Dadurch beschränkt
sich die Bedeutung des Worts gar sehr, während ihm dennoch auch
die Anwendung auf Vorstellungen, die in Einer Seele zusammen sind,
mufs gelassen werden.
2. Später wird das Nicht -Zusammen bedeutend (ebendaselbst
S. 200),2 es entwickelt sich daraus erstlich das An-Einander, aber
fernerhin auch jede Vervielfältigung des Aneinander, die starre Linie,
die Durchkreuzung mehrerer starrer Linien u. s. f.
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1 s. oben S. 103.
2 s. oben S. 119.
B. Herbarts Entgegnung auf ein metaphysisches Bedenken von Strümpell. 443
So weit nun war vom unvollkommnen Zusammen noch gar kein An-
ol
lafs zu sprechen. Wie aber, wenn wir jetzt diesen Begriff rückwärts, bis
in die Ontologie hineintrügen? — Alsdann wäre seine Bedeutung: ver-
mindertes wirkliches Geschehen. Die Verminderung nun wäre zwar ein
leerer Gedanke; aber soweit das mindere Geschehen wirklich reichte, wäre
das, wiewohl nur unvollkommne, Zusammen doch ein Zusammen, also der
Ausdruck des Causal-Verhältnisses.
Es ist hiebey zu bemerken, dafs der Lauf der Untersuchung gar
nicht aus dem Zusammen das wirkliche Selbsterhalten erklärt, sondern das
Zusammen der Wesen von Anfang an durch das Selbsterhalten seine
Aufklärung und Bedeutung erhält. Nicht- Zusammen heifst Anfangs blofs:
Nicht- Selbst erhalten. Diesem ganz allgemeinen Begriffe bleibt auch später-
hin jede Raumdistanz logisch untergeordnet.
3. Ganz anders gestellt ist die Betrachtung dort, wo das unvoll-
kommne Zusammen zuerst zum Vorschein kommt. Die Synechologie hat
dort die Qualitäten und Selbsterhaltungen gänzlich fallen lassen. Nachdem
dieselben bey Seite gesetzt sind, stöfst sie in der Raumconstruction, mit
der sie einzig beschäftigt ist, auf unvermeidliche Widersprüche. Hier nun
ist das unvollkommne Zusammen ein reiner Raumbegriff; anfangs ohne
alle Beziehung auf wirkliches Geschehen. — Darin eben liegt etwas Un-
bequemes, dafs die Begriffe des Zusammen und Nicht-Zusammen anfangs
im ontologischen Sinne allein * auftreten, und erst später den Begriff des
unvollkommnen Zusammen als einen neuen Ankömmling zwischen sich auf-
nehmen; zuerst in blofs synechologischer Bedeutung. Allein der Lauf der
Untersuchung bringt das so mit sich; und eine bequemere Darstellung in
dieser Hinsicht möchte sich kaum finden lassen.
2 Wenn diese Bemerkungen in Ansehung Ihres Aufsatzes überflüssig
sind: so ists blofs ein Zeichen, dafs ich gegen letztern nichts einzuwenden
habe, ich finde darin nichts bedenklich, als nur die Bedenklichkeit, womit
er geschrieben ist.
Anhang VI.
Herbarts Entgegnung auf die Einwürfe des Herrn N.
Text nach dem Msc. 2380, 2 der Königsberger Universitätsbibliothek.
(Bisher ungedruckt.)
Über die Metaphysik des Unterzeichneten hat sich Hr. N. ebenfalls
mit einer Ausführlichkeit verbreitet, die vermuthen läfst, er wünsche Be-
rücksichtigung seiner Einwürfe. In der That könnte wohl in so fern darauf
eingegangen werden, als das achtungsvolle Benehmen des Herrn N. nichts
zu wünschen übrig läfst. Allein es steht ein andres Hindernils im Wege.
Herr N. scheint nicht bemerkt zu haben, in welcher Folge die Arbeiten
des Unterzeichneten sind bekannt gemacht worden. Der Metaphysik
1 „allein" fehlt in HR.
2 Die Schlufsworte: „Wenn diese Bemerkungen — womit er geschrieben ist." fehlen
in HR.
444 Anhang VI.
(nämlich dem grölsem Werke) ging die Psychologie voran; dieser die
allgemeine Einleitung in die Philosophie nebst der Logik, nachdem noch
früher die praktische Philosophie und die allgemeine Pädagogik herausgegeben
waren. In dieser absichtlichen Zeitfolge wollen auch die Bücher gelesen seyn.
Es kann nichts helfen, mit dem Metaphysiker zu streiten, so lange er den
Unterschied der Psychologie, welche zurückschaut auf den früheren Gang
unserer Ausbildung, von der Metaphysik, welche von jetzt an unsre künf-
tigen Überzeugungen zu bestimmen hat, nicht mit Bestimmtheit anerkennt.
Es kann nichts helfen, von diesen beyden Wissenschaften zu reden, so
lange man versucht, an der Logik zu künsteln und zu meisten, anstatt
sie zu nehmen, wie sie ist, und ihren freylich nicht überall zulänglichen
Vorschriften wenigstens so weit nachzukommen als sie reichen. Es kann
nichts helfen, über eine durchaus theoretische Wissenschaft (und eine solche
ist die Metaphysik) mit demjenigen zu verhandeln, der von praktischen
Bedürfnissen noch gedrückt wird, und wegen des Ursprungs der moralischen
Urtheile besorgt ist. Dieser Ursprung, nämlich aus den zum Grunde
liegenden ästhetischen Urtheilen, mufs zuerst ins Reine gebracht seyn. Es
mufs anerkannt seyn, dafs kein blofses sie volo sie jubeo der praktischen
Vernunft (wie Kant sagte) in der Moralität herrscht. Der Macht und
Gewalt mufs erst ihr Rechtstitel gesichert seyn. Das moralische Urtheil,
welches Eins und ungetheilt ist in Bezug auf die Tugend, aber bis ins Un-
endliche vielgespalten in Bezug auf die Pflichten, beruht auf einer Auctorität,
die keine Gewalt ist; nämlich auf ästhetischen Urtheilen, in bestimmter
Mehrzahl und in geschlossener Reihe. Das ist die Lehre, womit der
Unterzeichnete zuerst dem Kantianismus entgegentrat, der allerdings einer
starken Reform in vielen Puncten, nicht aber einer radicalen Veränderung
bedurfte. Man konnte die Kantische Lehre verbessern, ohne ihrer mo-
ralischen Würde und ihrer kritischen Behutsamkeit Abbruch zu thun.
Dafs Fichte aus dem halben Fehler des Kantischen halben Idealismus den
ganzen Fehler des ganzen Idealismus machte: dies hätte in so fern nützlich
werden können, als ein ganzer Fehler leichter sichtbar wird als ein halber.
Statt solcher Benutzung gab man einigen poetischen Launen Gehör,
welchen der Spinozismus das Glück gehabt hatte wohl zu gefallen; so
stürzte man das neunzehnte Jahrhundert in eine Irrlehre zurück, die selbst
das siebzehnte Jahrhundert schon verschmäht hatte; vergessend, wie höf-
lich aber auch wie ernst Platon die Dichter aus seiner Republik ver-
wiesen hatte. Sollten denn wohl solche Künstlerlaunen auch in Holland ge-
wirkt haben? Oder sollte Herr N. nicht wissen, wie vielen Antheil die
Auctorität Lessings und Göthes an dem Gange der philosophischen Schulen
in Deutschland gehabt haben? Für denjenigen, welcher die Metaphysik
als eine Geschichte der Schulen betrachtet und darstellt, ist doch ohne
Zweifel dieser Umstand von Wichtigkeit; und wir glauben Hrn. N. darauf
aufmerksam machen zu dürfen.
ß
K44
1887
BD. 8
C.l
ROBA