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Full text of "Sämtliche Werke : in chronologischer Reihenfolge"

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JOH.  FRIEDR.  HERBART'S 
SÄMTLICHE    WE  R|K  E. 


JOH.  FR.  HERBART'S 

SÄMTLICHE  WERKE. 


IN  CHRONOLOGISCHER  REIHENFOLGE 


HERAUSGEGEBEN 


KARL  KEHRBACH. 


ACHTER    BAND. 


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PRESERVATION 

SERVICES 
NOV  2  2  1990 


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LANGENSALZA, 
DRUCK  und  VERLAG  von  HERMANN  BEYER  &  SÖHNE. 

1893. 


300^- 
1 


VORREDE 

des  Herausgebers  zum  achten  Bande. 


Citierte  Ausgaben: 

HR  =  Herbart ische  Reliquien,  herausgegeben  von  T.  Ziller. 
Kl  Seh  =  J.    F.    Herbart's    Kleinere   philosophische    Schriften ,    herausgegeben    vod 
G.  Hartenstein. 
SW  =  J.  F.  Herbart's  Sämmtliche  Werke,  herausgegeben  von  G.  Hartenstein. 
O  =  Der  jemalige  Originaltext. 


Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anhängen  der  philosophischen 
Naturlehre.    Zweiter  systematischer  Theil.    [1829.]    (S.  1—388.) 

Bereits  ein  Jahr  nach  dem  Erscheinen  des  ersten  historisch  -  kritischen 
Teils  der  Allgemeinen  Metaphysik  wurde  der  vorliegende  zweite  syste- 
matische Teil  von  Herbart  veröffentlicht,  der  wie  Brandis  (vgl.  S.  394) 
ganz  richtig  vermutete,  bei  der  Gediegenheit  und  dem  Reichtum  seines 
Inhalts  „nicht  das  Werk  der  kurzen  Frist,  die  zwischen  seiner  und  des 
ersten  Bandes  Erscheinung  in  der  Mitte  liegt",  sondern  „die  Frucht  viel- 
jähriger Forschung"  sein  mufste.  Denn  schon  in  den  Jahren  1816  oder 
181 8  (vgl.  Bd.  VII,  Vorrede,  vorl.  Ausgabe)  hatte  Herbart  dieses  Werk, 
mit  dessen  Vollendung  er  wohl  eine  der  Hauptaufgaben  seiner  wissen- 
schaftlichen  Thätigkeit1    glaubte   gethan    zu   haben,    auszuarbeiten   und    zu 

veröffentlichen. 

Einige  unbedeutende  Veränderungen  des  Originaltextes  der  Metaphysik 
ersten  und  zweiten  Teils  (vgl.  Bd.  VII  vorl.  Ausgabe,  Vorrede  S.  VIII),  die  im 
Texte  vorliegender  Ausgabe  nicht  angemerkt  wurden,  seien  hier  nachgetragen: 

Bd.  VII  (erster  Teil  der  Metaphysik)  ist  gesetzt  worden:  S.  132,  Z.  2  von  §  81 
angekündigt  worden  ....  statt  ....  angekündigt  werden  (O). 

Bd.  VIII   (zweiter   Teil   der   Metaphysik)    ist   gesetzt   worden:    S.  14,    Z.   5    v.  u. 

....  für  Eins statt  ....  für  Eins?  (O).     Es  ist  ein  Punkt  gesetzt  worden  statt 

eines  Fragezeichens;  SW  hat  Ausrufezeichen.  —  S.  192,  Z.  14  v.  o.  auf  allen  andern 
Linien  ....  statt  ....  auf  alle  andern  Linien  (O).  —  S.  350,  Z.  3  v.  u.  Lehre  von 
der  Materie  ....  statt  ....  von  Materie  (O). 

Ferner  seien  auch  folgende  Abweichungen  der  Ausgabe  SW  von  O,  die 
im  Texte  vorl.  Ausgabe  nicht  angemerkt  wurden,  angeführt: 

Bd.  VII,  S.  92,  Z.  25  v.  o.:  ex  (SW)  .  .  .  statt .  .  .  et  (O) ;  S.  146,  Z.  28  v.  o.:  Wir 
hatten  (SW)  .  .  .  statt  .  .  .  Wir  hatten  (O);  S.  214,  Z.  4  v.  u.:  materielle  (SW)  .  .  . 
statt  .  .  .  materiale  (O);    S.  252,   Z.  1   v.  o. ;    tlSwka  (SW)  .  .  .  statt  .  .  .  ttSiuXa   (O). 

Bd.  VIII,  S.  273,  Z.  4  des  §  327  eine  Leiter  (SW)  .  .  .  statt  ...  ein  Leiter  (O); 
S.  274,  Z.  3  v.  u. :  sich  im  solches  (SW)  .  .  .  statt  .  .  .  sich  ihm  solches  (O);  S.  341, 
Z.  17  u.  16  v.  u. :  erst  Bewegung  setzen  lasse  (SW)  ...  statt  .  .  .  erst  in  Bewegung 
setzen  lasse  (O). 


1  Wenn  Herbart  an    seinen  Studienfreund  Gries    im    Dezember   1829  schreibt: 

,Mein  Werk  ist  gethan    und    was  noch  darüber    zu  reden  ist,    wird  mich 

wenig  Mühe  kosten",    so  ist  wohl  dabei  zunächst  an  die  damals  soeben  vollständig  er- 
schienene Metaphysik  zu  denken. 


VIII  Vorrede  des  Herausgebers  zum  VIII.  Bande. 


Ebenso  sind  eine  Anzahl  von  Abweichungen  der  Ausgabe  SW  von  O,  die  ledig- 
lich in  Hartensteins  Orthographie  und  Sprachgebrauche  ihren  Grund  finden,  nicht 
verzeichnet  worden.  So  druckt  SW:  ahnen,  allmälig,  andrer,  derenwillen,  dessenwillen, 
Geschäft,  Grenzen,  hierdurch,  hiermit,  willkürlich  u.  s.  w.  (und  ebenso  bei  den  ent- 
sprechenden Compositis  und  Derivatis),  wo  Ü  hat:  ahnden,  allmählig,  anderer,  derent- 
willen, dessentwillen,  Geschafft,  Gränzen,  hiedurch,  hiemit,  willkührlich  u.  s.  w.  —  Die 
Eigennamen  dekliniert  Herbart  schwach,  z.  B.  Leibnitz,  LEiBNiTzens,  LElBNtTzen, 
während  SW  Leibnitz,  Leibnitz's,  Leibnitz..  setzt.  —  SW  giebt  ferner  zusammen- 
gesetzte Substantiva  in  einem  Worte,  z.  B.  Naturerklärung,  Gröfsenveränderung  u.  s.  w., 
wo  O  druckt:   Natur- Erklärung,   Gröfsen -Veränderung  u.  s.  w. 

SW  druckt:  franklinsche,  voltaische  u.  s.  w.,  wo  O  Franklinsche,  Voltaische  u.  s.  w. 
setzt.  In  den  vorstehenden  und  anderen  Fällen  folgt  der  vorl.  Text  dem  Originale. 
Hie  und  da  hat  SW  die  Eigennamen  gesperrt,  wo  O  sie  nicht  sperrt  und  umgekehrt. 
(Aus  Versehen  sind  zwei  derartige  Varianten  im  vorl.  Texte  der  Metaphysik  stehen  ge- 
blieben; vgl.  Bd.  VII,  S.  340  u.  342.)  Im  vorl.  Texte  sind  alle  Eigennamen  gleichmäfsig 
(ohne  Sperrung)  aus  Kapitältypen  gedruckt  worden. 

Anhänge  zur  Allgemeinen  Metaphysik.     (S.  389 — 444-) 
Anhang  I:    Fragment  eines  Schlusses  der  Metaphysik.    (S.  391— 393) 
Die  Handschrift  zum  vorliegenden  Texte,    der  mit  Hartenstein  für 
das  Fragment  eines  Schlusses  der  Metaphysik   anzusehen  ist,    scheint  ver- 
loren gegangen  zu  sein. 

Anhang  II:    Die  Rezension  der  Allgemeinen  Metaphysik  von   Prof.  Or.  Brandis  zu 

Bonn.1    (S.  394 — 412.) 
Der  Abdruck  dieser  Rezension,  die  Herbart  für  die  „unstreitig  wür- 
digste und  durchdachteste"  hält  .  .  .   „obgleich  nicht  frei  von  Misverständ- 
nissen",    war   notwendig,    um    das  Verständnis    von    Anhang    III,    sodann 
aber  auch  von  Anhang  IV  zu  erleichtern. 

Anhang  IM:  Zwei  Entwürfe  zu  einem  beabsichtigten  Sendschreiben  an  Brandis,  den 
Rezensenten  der  Allgemeinen  Metaphysik.    (S.  412—437.) 

A.  Erster  Entwurf:  Drei  Briefe. 

B.  Zweiter  Entwurf:    Über  das  Verhältnifs    des  Idealismus 
zur  Pädagogik. 

Die  umfangreiche  und  gründliche  Besprechung  der  Allgemeinen  Meta- 
physik von  Brandis,  bei  der  die  Beweisführung  nicht  nur  aus  dem  Werke 
selbst,  sondern  auch  aus  den  beiden  Teilen  der  Psychologie  (Bd.  V  und 
VI  vorl.  Ausgabe)  und  der  Schrift  Theoriae  de  attractione  elementorum 
principia  metaphysica  (Bd.  III  vorl.  Ausgabe)  entnommen  worden  war, 
wollte  der  Verfasser  nicht  als  sein  endgültiges  Urteil  hingestellt  haben, 
sondern  als  die  Einleitung  zu  gegenseitigen  Erörterungen  über  die 
schwierigsten  Probleme  der  Spekulation  angesehen  wissen. 


1  Bonn,  nicht  Breslau,  wie  irrtümlich  im  Texte  stehen  geblieben  ist. 


Anhänge  zur  Allgemeinen   Metaphysik.  IX 


Diese  Erörterungen  wurden  auch  sofort  von  Herbart  und  Brandis 
in  Privatbriefen  begonnen. !  Bei  der  Bedeutung  der  Rezension,  ihres  Ver- 
fassers und  des  Organs,  in  dem  sie  abgedruckt  war,  mufste  Herbart 
aber  auch  daran  liegen,  in  der  Öffentlichkeit  sich  mit  Brandis  aus- 
einanderzusetzen. 

„Wie  in  anderen  Fällen,"  schreibt  mir  Strümpell,  „so  war  auch 
hierbei  Herbart  äufserst  bedächtig  und  überlegte  sich  lange  die  Sache, 
wie  er  sie  anzufangen  habe,  um  in  keiner  Hinsicht  zu  verstofsen."  Da- 
her die  verschiedenen  Ansätze  zu  einem  öffentlichen  Sendschreiben  an 
Brandis. 

Aber  nicht  nur  er  selbst  fafste  den  Plan,  öffentlich  auf  die  Re- 
zension zu  erwidern,  auch  in  dem  Herbart  sehen  Schüler-  und  Freundes- 
kreise bestand  diese  Absicht.  Wie  aus  S.  412  zu  entnehmen  ist,  hatte 
zunächst  Strümpell  „die  Rolle  des  Respondenten"  gegen  Brandis  über- 
nommen. Diese  Strümpell  sehe,  durch  Herbart  angeregte  Entgegnung 
ist  auch  erschienen,  aber  freilich  nur  auf  dem  Umschlage  der  Halleschen 
Litteraturzeitung  (wahrscheinlich  auf  dem  Umschlage  des  Oktoberheftes 
1831)  und  so,  da  früher  wohl  allgemein  die  Umschläge  nicht  mit  ein- 
gebunden wurden,   verloren  gegangen.  2 

Auch  Griepenkerl   und  Roer    hatten    die  Absicht,   gegen  Brandis 
zu    schreiben,    scheinen    aber    diese    Absicht    nicht   ausgeführt    zu    haben.3 


1  Strümpell,    der    zur   Zeit    des    Erscheinens    der  Rezension  viel   mit  Herbart 
verkehrte,  erinnert  sich  dessen,    wie  er  mir  schrieb,    noch  ganz  genau.     Auf  Herbarts 
Anregung  und  in  dessen  Gegenwart  hatte  ei  s.  Z.  ebenfalls  sogleich  einige  Worte  der  Ent- 
gegnung an  Brandis  aufgeschrieben.  —  Dafs  sich  aus  dem  brieflichen  Verkehr  Herbarts 
mit  Brandis,  zu  dem  noch  ein  persönlicher  getreten  ist,  ein  freundschaftliches  Verhältnis 
zwischen    Beiden    entwickelt    hat,    erfährt    man    aus    dem    Briefe,     den    Herbart    am 
15.  März    1830  an  Dissen  in  Göttingen  gerichtet  hat:    „Sie  können    alle  Sorgen  wegen 
der  Übereinstimmung  zwischen  ihm  (sc.  Brandis)    und  mir  ganz  fahren  lassen;    selbst 
in   meinen  jüngeren  Jahren  habe  ich  nicht  schneller  Freundschaft  geschlossen,   als  diesmal 
mit  BRAXDis;   denn  anders  als  Freundschaft  kann  ich  dies  Verhältnis  nicht  benennen  .... 
In  allen  Hauptsachen  finde  ich,    dafs    er   mir    eigentlich    nichts   bestimmt   entgegensetzt, 
sondern  nur  noch  für  jetzt  in  vielen  Punkten  seine  Zustimmung  zurückhält.     Natürlich 
war  im  Gespräch  an  kein  Abschliefsen  zu  denken,  sondern  nur  an  Mittheilung  zu  künftiger 
leichterer  Verständigung  "     Vgl.  auch  die  Anmerkung  S.  XI  (Citat  aus  Brandis'  Auto- 
biographie). 

2  Trotz    aller  Nachfragen    auf    verschiedenen   Bibliotheken    war    ein  Exemplar    der 

Litteraturzeitung  mit  Umschlag  nicht  erhältlich. 

3  Aus    Herbarts   Brief  vom    27.  Januar   1832    an    Griepenkerl:    „An 

Brandis  habe  ich  geschrieben:  es  werde,  so  viel  sich  für  jetzt  absehn  und  beschliefsen 
lasse,  gegen  seine  Rec.  weiter  nichts  gedruckt  werden,  als  ein  kurzer,  entfernt  an- 
deutender Aufsatz  von  mir  im  Hallisch.  Lit.  Bl.  unter  Aufschrift:  „zwey  Worte 
über   Naturphilosophie."     (=   Anhang  IV,    S.   438    vorl.    Ausgabe.)      Er    hatte    nämlich 


X  Vorrede  des  Herausgebers  zum  VIII.  Bande. 

Und  auch  Herbart,  auf  dessen  Entgegnung  Brandis,  wie  aus  dem 
untenstehenden  Briefe  an  Griepenkerl  hervorgeht,  gewartet  hatte,  hat 
kein  öffentliches  Sendschreiben  drucken  lassen,  sondern  nur  die  beiden 
handschriftlichen  Entwürfe  hinterlassen. 

A.  Erster  Entwurf:   Drei  Briefe.     (S.   412 — 420.) 

Von  diesen  drei  Briefen  befinden  sich  im  Herbart  sehen  Nachlasse 
auf  der  Königsberger  Bibliothek  nur  die  beiden  ersten.  (Msc.  2072.) 
In  dem  Manuskript  (16  Seiten  4°),  von  Herbart  geschrieben,  sind  mehr- 
fach redaktionelle  Bleistiftbemerkungen  von  Ziller,  der  die  Briefe  zuerst, 
wenn   auch   unvollständig  veröffentlichte,  gemacht  worden. 

Von  dem  dritten  Briefe,  den  Ziller  von  Drobisch  erhalten  hatte, 
war  die  Urschrift  leider  nicht  zur  Verfügung,  und  es  mufste  daher  der 
Text  nach  Zillers  Veröffentlichung  gegeben  werden. 

Hartenstein,  dem  dieser  erste  Entwurf  ebenfalls  vorgelegen  hatte,  ver- 
zichtete auf  seine  Veröffentlichung.  In  SW  XI,  Vorrede  S.  IX  führt  er  nur 
eine  Stelle  aus  dem  ersten   Briefe  an. 

B.  Zweiter  Entwurf:   Über  das  Verhältnifs  des  Idealismus 
zur  Pädagogik.      (S.  420  —  437.) 

Das  Original  des  vorliegenden  Entwurfes  (Msc.  2072  der  Königs- 
berger Universitätsbibliothek)  rührt  von  Herbart's  Hand  her;  es  umfafst 
43  Seiten.  Die  hinzugefügten  redaktionellen  Bemerkungen  (mit  Bleistift 
und  Tinte)  stammen  von  Hartenstein,  ebenso  der  auf  S.  29  der  Hand- 
schrift angeklebte,  mit  einem  Citat  aus  Brandis'  Rezension  versehene 
Zettel.  Die  im  Texte  mit  Bleistift  bewirkten  Streichungen  rühren  ebenfalls 
von  Hartenstein  her. 

Der  Entwurf  macht  den  Eindruck  einer  sauberen,  etwa  für  den  Druck 
bestimmten  Reinschrift,  der  aber  noch  die  Titelüberschrift  fehlt.  Auf- 
fallend könnten  dabei  nur  die  Worte  bleiben  S.  422,  Z.  3  u.  4  v.  o. : 
„Der  Anfang  des  Briefes  ist  weggelassen ;  er  würde  nur  ein  persönliches 
Interesse  haben,"  die  in  der  Handschrift  nicht  etwa  den  Charakter  einer 
Anmerkung  und  am  Rande  oder  in  Klammern,  sondern  im  fortlaufenden 
Texte  stehen,  gerade  wie  sie  S.   422   abgedruckt  worden  sind. 


von  Halle  den  Auftrag,  meine  Encyklop[ädie]  zu  recensiren  angenommen,  aber  gesagt, 
er  wolle  erst  abwarten,  was  ich  gegen  ihn  zu  sagen  habe.  Wenn  nun  Sie  oder 
Roer  jetzt  etwas  gegen  seine  Rec.  der  Metaph.  drucken  lassen,  so  werde  ich  den 
Schein  des  Vorwissens  zu  fürchten  haben ;  wortbrüchig  darf  ich  weder  seyn  noch 
scheinen  ;  und  bitte  daher  besonders  Roer  hievon  in  Kenntnis  zu  setzen.  Übrigens 
ist  nur  Aufschub  nöthig.  Ich  habe  dem  Brandis  ausdrücklich  bemerkt;  meinen  nähern 
Bekannten  würde  das  Gewicht  seiner  Recension  vor  allen  andern  der  Antrieb  seyn,  sich 
in  der  Folge  besonders  über  diese  zu  äufsern." 


Anhänge  zur  Allgemeinen  Metaphysik.  XI 


Die  Sache  läfst  sich  vielleicht  auf  folgende  Weise  erklären:  Herbart 
hatte  beim  Anfertigen  der  Reinschrift  ein  Concept  des  Sendschreibens 
vor  sich,  das  wahrscheinlich  in  seinem  Anfange  aufser  einigen  Höflichkeits- 
formen die  Veranlassung  des  Schreibens,  etwa  in  einer  dem  Eingange  von 
Brief  i  (S.  412)  ähnlichen  Fassung,  angab.  Für  seinen  jetzigen  Entwurf, 
dem  die  „Vorrede"  vorausging,  war  ihm  diese  Einleitung  nicht  mehr  ge- 
eignet und  er  machte  nun  die  Bemerkung,  entweder  für  sich  oder  einen 
Andern,  dem  er  das  Schriftstück  zur  Prüfung  vorlegen  wollte,  um  sie 
später,   vor  der   Drucklegung,   zu   streichen. 

Nach  Strümpell^  Erinnerungen  war  es  Herbart  unangenehm,  dafs 
Brandts  bei  ihm  „Fichte  sehen  Idealismus  wollte  gespürt"  haben.  In  den 
bereits  erwähnten  Privatbriefen  an  Brandts  habe  H.  auch  sofort  dagegen 
Einspruch  erhoben,  und  das  sei  auch  der  Fall  gewesen  in  den  Entwürfen 
für  das  öffentliche  Sendschreiben.  Während  aber  in  dem  ersten  Ent- 
würfe, in  den  drei  Briefen,  „Herbart  nur  in  metaphysischer  Sprache  und 
direkt  in  Betreff  der  Sache  selbst,  wie  die  Metaphysik  es  verlangt,"  ge- 
sprochen habe,  hätte  er  in  dem  zweiten  Entwürfe,  „den  direkten  metaphy- 
sischen Verkehr,"  da  ihm  dieses  Verfahren  „nicht  mehr  gefallen  habe," 
verlassen  und  habe  nun  das  pädagogische  Gebiet  betreten.  Indem  er  an 
der  Hand  der  „Reden  an  die  deutsche  Nation"  die  Lehren  Fichtes  dar- 
gestellt und  beurteilt,  habe  er  für  Jeden,  der  sich  mit  seinen  (sc.  Herbarts) 
Schriften  beschäftigt  habe,  den  Nachweis  erbringen  können,  dafs  er  unmöglich 
etwas  dem  FiCHTEschen  Idealismus  Ähnliches  gelehrt  haben  könne.  Soweit 
Strümpell.1     Da  Herbart,  wie  er  S.  421    ausdrücklich  versichert,  nicht 


1  Brandis  selbst  übrigens  bezeichnete  in  seiner  185 1  geschriebenen  Autobiographie, 
bei  deren  Abfassung  er  sich  freilich  nicht  mehr  der  genauen  Daten  erinnerte,  als  den 
„Hauptstein  seines  Anstofses"  an  Herbarts  Metaphysik  „den  Übergang  vom  starren 
Sein  zum  Werden". 

Über  sein  Verhältnis  zu  Herbart  schreibt  er:  „  .  .  .  nachher  ward  meine  Auf- 
merksamkeit noch  mehr  wie  früher  auf  Herbart  gelenkt ;  seine  früheren  Schriften  waren 
mir  keineswegs  fremd  geblieben  und  mein  Interesse  für  sie  durch  Dissen's  Erzählungen 
von  dem  ihm  so  sehr  befreundeten  Verfasser  erhöht  worden.  Seine  im  Jahre  1823  (sie!) 
erschienene  Metaphysik  veranlafste  einen  Briefwechsel  unter  uns  und  endlich  im  Jahre 
1829  mündliche  Diskussion  seines  Systemes,  wozu  er  auf's  freundlichste  die  Hand  bot, 
indem  er  eine  von  Königsberg  unternommene  Erholungsreise  zu  einem  8— iotägigen 
Aufenthalte  in  Bonn  benutzte.  Wir  waren  gewöhnlich  von  morgens  früh  bis  abends 
spät  im  lebhaften  Gespräch  über  die  unter  uns  streitigen  Punkte  begriffen  und  er  un- 
ermüdlich bemüht,  meine  Einwendungen  durch  neue,  stets  scharfsinnige  Wendungen  zu 
beseitigen.  Obgleich  er  den  Hauptstein  des  Anstofses  für  mich,  den  Übergang  vom 
starren  Sein  zum  Werden,  nicht  zu  beseitigen  vermochte,  die  mündlichen,  wie  die  später 
noch  schriftlich  fortgesetzten  Verhandlungen  mit  ihm  waren  mir  nicht  nur  als  Gymnastik  des 
Geistes  förderlich,  sondern  veranschaulichten  mir  auch  die  Entstehungsgeschichte  des  Systems 


XII  Vorrede  des  Herausgebers  zum  VIII.  Bande. 

gern  polemisch  gegen  Brandis  sein  wollte,  —  die  Rezension  „sollte  nicht 
sowol  widerlegt,  als  vielmehr  durch  ein  Zeichen  der  Aufmerksamkeit  ver- 
dankt werden"  —  so  hatte  er  allerdings  jetzt  die  denkbar  unverletzendste 
Form  gewählt. 

Hartenstein  hat  in  seinem  Abdrucke  des  zweiten  Entwurfs  (SW  XI 
und  Kl  Seh  II)  aus  dem  Originaltexte,  wahrscheinlich,  um  ihm  den  Cha- 
rakter einer  Abhandlung  zu  geben,  alles  Persönliche,  alles  was  an  ein 
öffentliches  Sendschreiben  erinnert,  gestrichen  und  dem  Ganzen  den  obigen 
Titel  gegeben.  Dieser  Titel  ist  auch  in  vorliegender  Ausgabe,  obwol  er 
den  Inhalt  des  Entwurfs  nicht  deckt,  beibehalten  worden,  weil  er  in- 
zwischen auch  übergegangen  ist  in  die  Ausgaben  von  Herbarts 
pädagogischen  Schriften,  die  von  Bartholomäi - Sallwürk,  Richter, 
Willmann    bewirkt,    alle    der    HARTENSTEiNschen  Vorlage   gefolgt    sind.  l 

Anhang  IV.  Zwei  Worte  über  Naturphilosophie.  (S.  438—440.) 
Die  Veranlassung  zum  Abfassen  dieses  kleinen  Aufsatzes  ist  in  seinen 
einleitenden  Worten  und  in  dem  oben  in  der  Anmerkung  3   S.  IX  abge- 
druckten Briefe  Herbarts  an  Griepekkerl    vom    27.  Januar    1832    mit- 
geteilt worden. 

Anhang  V.    A. :  Strümpells  metaphysisches  Bedenken. 

B.    Herbarts  Entgegnung  auf  ein  metaphysisches  Bedenken  von  Strümpell 

(S.  440—443.) 

Das  im  Besitze  Strümpells  befindliche  und  für  den  vorliegenden 
Abdruck  zur  Verfügung  gestellte  Original  besteht  aus  einem  Quartbrief- 
bogen, dessen  erste  drei  Seiten  fast  ganz  von  Strümpells  Text  eingenommen 
werden.  Unmittelbar  unter  dem  STRÜMPELL'schen  Texte  beginnt  Herbarts 
den  übrigen  Raum  aubfüllende  Entgegnung.  Der  ZiLLER'sche  Abdruck 
in  den  HERBART'schen  Reliquien  (HR)  bringt  nur  die  HERBART'schen 
Bemerkungen,  aber  nicht  vollständig,  da  aufser  einem  den  Sinn  wesentlich 
beeinflussenden  „allein"  auch  die  ebenfalls  nicht  unwesentliche  Schluls- 
bemerkung  weggelassen  worden  ist.   (vgl.  S.  443)    Zur  Ergänzung  und  zur 


in  dem  kräftigen,  durch  und  durch  konsequenten  Geiste  seines  Urhebers.  (Brandis, 
Autobiographie  im  „Almanach  der  Kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien." 
1869.  S.  276  u.  277.)  Vgl.  auch  Trendelenkcrg  in  seiner  Rede  „Zur  Erinnerung 
an  Chr.  Aug.  Bkandis."  Abhandlungen  der  Königl.  Akademie  der  Wissenschaften 
zu  Berlin.      1868.     S.    16  u.    17. 

1  Nachdem  die  vorstehenden  Herausgeber,  sowie  Strümpell  und  Robert  Zimmer- 
mann über  die  Textbeschaffenheit  des  zweiten  Entwurfes  unterrichtet  worden  waren, 
haben  sie  alle  die  Notwendigkeit  einer  genauen  Wiedergabe  des  Urtextes  betont. 


Anhänge  zur  Allgemeinen  Metaphysik.  XIII 

Erleichterung  des  Verständnisses  der  HERBART'schen  Worte  sind  hier 
Strümpells  bisher  noch  nicht  bekannte  Erörterungen  ebenfalls  abgedruckt 
worden. 

Anhang  VI.:  Herbarts  Entgegnung  auf  die  Einwürfe  des  Herrn  N.  (S.  443—444.) 
Die  vorliegende  Entgegnung,  die  auf  einer  Seite  eines  Folioblattes 
(Msc.  2380,2  der  Königsberger  Universitätsbibliothek)  niedergeschrieben 
worden  ist,  stellt  wahrscheinlich  den  Schlufs  einer  gröfseren  Arbeit  dar. 
Aus  den  einleitenden  Worten  kann  geschlossen  werden ,  dafs  Herbart 
vor  diesen  Einwürfen  gegen  seine  Metaphysik  auf  vorausgehenden  Blättern 
bereits  anderen  Bedenken  begegnet  ist. 

Berlin,   Dezember   1893. 

Karl  Kehrbach. 


Inhalt  des  achten  Bandes. 


I  - 
I- 

-388 
-8 

9 

IO- 

-48 

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-14 

14- 

-24 

24- 

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-43 
-48 

Seite 

Vorrede  des  Herausgebers  zum  VIII.  Bande    V— XIII 

Allgemeine    Metaphysik    nebst    den    Anfängen    der    philosophischen 

Naturlehre.     Zweiter,  systematischer  Teil.  1829 

Vorrede    

Inhalt  des  zweiten  Teils    

Erster  Abschnitt.     Methodologie 

Erstes  Kapitel     Von  den  Forderungen,  welche  die  Methodologie  zu 

erfüllen  hat      §.    1 6 1  —  1 64    

Zweites  Kapitel.     Vom  Gegebenen.     §.    165 — 172 

Drittes    Kapitel.     Vom    Zusammenhange    der    Gründe    und    Folgen. 

§•    173-188 

Viertes  Kapitel.    Plan  der  bevorstehenden  Untersuchung.   §.  189  —  194 

Zweiter  Abschnitt.      Ontotogie 49—109 

Erstes   Kapitel.      Von    der   Auffassung    des    Realen    durch    Begriffe. 

§.    195  —  200    49  —  54 

Zweites  Kapitel.     Vom  Begriffe  des  Sein.     §.   201  —  204     54—  61 

Drittes  Kapitel.      Vom   Begriffe  der  Qualität.      §.205  —  212        .         .  61—74 

Viertes  Kapitel.     Vom   Probleme  der  Inhärenz.    §.    213  —  223    74  —  R7 

Fünftes   Kapitel.     Von  der   Veränderung.     §.    224—230      87  —  98 

Sechstes  Kapitel.     Vom  wirklichen  Geschehen.     §.   231—239     ....  98  —  109 

Dritter  Abschnitt.      Synechologie      [  IO — J97 

Erste  Abteilung.      Von    Raum,    Zahl    und    dem    Ursprünge    der 

Materie 1 10  — 186 

Erstes  Kapitel.     Von  den  verschiedenen  Anfängen  der  Synechologie 

§.240-244      110— 119 

Zweites  Kapitel.    Von  der  starren  Linie  und  der  Zahl     §.  245  —  252  119— 134 

Drittes  Kapitel.    Von  der  stetigen  Linie  und  der  Ebene.    §.253—262  135 — 151 

Viertes  Kapitel.    Vom  körperlichen  Räume.    §.  263  —  266 151— 158 

Fünftes  Kapitel.    Von  dem  Ursprünge  der  Materie.     §.   267—278..  158—168 
Zweite  Abteilung.     Vom  objecti v-scheinbaren  Geschehen,  oder 

Von  der  Zeit  und  dem   Zeitlichen  169—197 

Erstes   Kapitel.    Von   der  Bewegung  überhaupt.    §.279  —  283    169—174 

Zweites  Kapitel.    Von  der  Geschwindigkeit.    §.284—286    175  —  1 79 

Drittes  Kapitel.     Von  der  Zeit.     §.   287  —  291      180-186 

Viertes  Kapitel.     Vom  objektiven  Schein.     §.   292—296 186— 191 

Fünftes  Kapitel.  Vom  Schein  im  Laufe  der  Begebenheiten.  §.  297  —  301  191  — 197 


XVI  Inhalt  des  achten  Bandes. 


Seite 

Vierter  Abschnitt.     Eidolologie  198  —  244 

Erstes  Kapitel.    Idealistische  Metaphysik  im  allgemeinen.    §.  302  —  308  198 — 207 

Zweites  Kapitel.  Vom  Ich  und  Nicht -Ich  als  Thatsache.  §.309  —  319  207 — 223 
Drittes  Kapitel.     Schärfung  des  Begriffs  vom  Ich,    und  Widerlegung 

des  Idealismus.      §.   320 — 325     223  —  233 

Viertes  Kapitel.     Von    der  Möglichkeit    des  Wissens.     §.  326 — 330  233  —  244 

Fünfter  Abschnitt.      Umrisse  der  Naturphilosophie     245 — 388 

Erste  Abteilung.     Synthetische    Untersuchungen    245  —  286 

Vorerinnerung    .  .  245  —  250 

Erstes  Kapitel.    Vom  Unterschiede  des  synthetischen  und  analytischen 

Teils  der  philosophischen  Naturlehre.     §.  331 — 333  ..  251  —  254 

Zweites  Kapitel.     Von    der    möglichen  Verschiedenheit   der    Materie. 

§•334-346    254-264 

Drittes  Kapitel.    Von  der  Veränderlichkeit  der  Materie.    §.  347  —  361  264 — 277 

Viertes  Kapitel.    Von  der  Bildsamkeit   der  Materie.    §.  362-377..  277  —  286 

Zweite  Abteilung.     Analytische   Untersuchungen    287  —  388 

Erstes  Kapitel.  Von  der  Mitteilung  der  Bewegung.  §.  3*8  —  387  287  —  295 
Zweites  Kapitel.     Von  der  Wärme,    und   den  durch    sie  bestimmten 

Formen  der  Materie.     §.  388 — 399      295 — 305 

Drittes  Kapitel.    Von  der  Elektricität  und  dem  Magnetismus.    §.  400 

bis  412       305-333 

Viertes  Kapitel.     Von    der  Schwere    und   dem    Licht.     §.  413  —  420  334  —  344 

Fünftes  Kapitel.  Bemerkungen  zur  Chemie.  §.  421 — 425  ..  ..  344 — 355 
Sechstes    Kapitel.     Philosophische    Beleuchtung    der    physiologischen 

Grundbegriffe.     §.   426—444         356 — 388 

Anhänge  zur  allgemeinen  Metaphysik 389—444 

Anhang     I:  Fragment  eines  Schlusses  der  Metaphysik     391  —393 

Anhang   II:  Die  Rezension  der  Allgemeinen  Metaphysik  von  Professor 

Dr.  Brandis  in  Bonn 394  -  412 

Anhang  III :   Zwei  Entwürfe   zu  einem  beabsichtigten  Sendschreiben   an 

Brandis,    den  Rezensenten    der  Allgemeinen  Metaphysik  412  —  438 

A.  Erster  Entwurf:  Drei  Briefe      412  —  420 

B.  Zweiter  Entwurf:   Über  das  Verhältnifs  des  Idealismus 

zur  Pädagogik 420 — 437 

Anhang  IV:   Zwei  Worte  über  Naturphilosophie 438  -  440 

Anhang   V:  A.  Ein  metaphysisches  Bedenken  Strümpells 440  —  442 

B.  Herbarts  Entgegnung  auf  ein  metaphysisches  Bedenken 

von  Strümpell      442 — 443 

Anhang  VI:   Herbarts  Entgegnung  auf  die  Einwürfe  des  Herrn  N.  .  443 — 444 


I. 
ALLGEMEINE  METAPHYSIK, 

NEBST  DEN  ANFAENGEN 
DER 

PHILOSOPHISCHEN  NATURLEHRE. 

Zweiter,  systematischer  Theil. 


1829. 


[Text  der  Originalausgabe,  O,  Königsberg,    1829.] 


Bereits  gedruckt  in: 
SW  =  J.  F.  Herbart's  Sämmtliche   Werke  (Bd.  IV),  herausgegeben  von  G.  Harten- 


stein. 
Herbart's  Werke.     VIII. 


Vollständiger  Titel  der  Originalausgabe: 


Allgemeine 

Metaphysik, 

nebst 

den  Anfängen  der  philosophischen 
Naturlehre. 


Von 

Johann  Friedrich  Herbart, 

Professor  der  Philosophie  zu  Königsberg. 


Zweyter,  systematischer  Theil. 


Königsberg,    1829. 
Auf  Kosten  des  Verfassers,  und  in  Commission  bei 


August  "Wilhelm  Unzer. 


[in]  Vorrede. 


Frühzeitiger,  als  noch  vor  kurzem  zu  hoffen  stand,  ist  der  mit  dem 
vorliegenden  Werke  eng  verbundenen  Psychologie  das  Glück  zu  Theil  ge- 
worden, in  ihren  mathematischen  Grundsätzen  von  einem  Mathematiker 
geprüft  und  zulässig  befunden  zu  werden.  Der  Dank  dafür  gebührt  aber- 
mals dem  Herrn  Professor  Drobisch,  welcher  in  der,  für  künftige  Ver- 
handlungen als  Actenstück  zu  betrachtenden,  Recension  (Leipziger  Literatur- 
Zeitung  vom  10.  und  1 1.  November  1828)  sich  mit  einem  so  hohen  Grade 
von  Leichtigkeit  und  Sicherheit  auf  dem  neuen  Felde  bewegt,  als  wäre 
bereits  seit  einem  halben  Jahrhundert  von  mathematischer  Psychologie  die 
Rede  gewesen.  Nunmehr  ist  das  Verständnis  geöffnet;  damals  aber,  als 
diese  Metaphysik  nieder[iv]geschrieben  wurde,  schien  durch  Berichte  in  den. 
kritischen  Blättern,  deren  wohl  keiner  im  Stande  war  irgend  eines  Mathe- 
matikers Aufmerksamkeit  zu  gewinnen,  dem  Verfasser  der  gewöhnliche 
literarische  Zugang  zu  Denen,  mit  welchen  er  zu  reden  hatte,  völlig  ver- 
sperrt. Eine  solche  Lage  der  Dinge  hatte  Einflufs  auf  den  Ton  des  Buchs.. 
Jetzt  hingegen,  da  sich  die  Lage  merklich  geändert,  und  da  die  Unter- 
suchung ein  Geleise  gefunden  hat,  in  welchem  sie  vielleicht  durch  eigne 
Kraft  sich  fortbewegen  kann,  ist  es  Zeit,  den  Wunsch  zu  äufsern:  man 
möge  die  hart  klingenden  Stellen,  in  denen  die  Kritik  wie  Polemik  lautet,, 
blofs  als  rhetorische  Figuren  betrachten,  deren  Dienst  abgethän  ist,  sobald 
sie  den  Gedanken  des  Lesers  die  Richtung  auf  den  Punct  gegeben  haben,, 
auf  den  es  ankommt.  Wenn  Andre  übrigens  mehr  Werth  legen  auf  die 
Polemik,  so  ist  das  natürlich.  Metaphysik,  so  lange  sie  noch  arbeitet,  um 
ihre  Probleme  nur  erst  ins  klare  Bewufstseyn  zu  bringen  und  scharf  aus- 
zusprechen, befindet  sich  im  Kriegszustande  wider  die  Logik;  ihre  Art  zu 
reden  ist  davon  die  Folge  und  der  Ausdruck. 

Wie  bald  oder  wie  spät  nun  den  hier  vorgelegten  naturphilosophischen 
Untersuchungen  eine  unbefangene  und  gründliche  Prüfung  zu  Theil  [v]: 
werden  möge,  das  steht  dahin.  Die  Ausbreitung  derselben  in  verschiedene 
Zweige  der  Physik  wird  Blöfsen  genug  geben.  Allein  es  liegt  in  der  Natur 
der  Metaphysik,  dafs  sie  sich  das  mufs  gefallen  lassen.  Sie  soll  sich,  nach, 
gehöriger  Ausbildung  ihrer  allgemeinen  Begriffe,  durch  die  Anwendung 
derselben,  mithin  an  der  Erfahrung,  bewähren;  sie  kann  also  auch  von 
daher  Zurückweisungen  erleiden;  und  in  diesem  Falle  wird  es  nicht  sogleich 
klar  seyn,  wie  tief  der  Fehler  liege ;  ob  er  in  den  Principien,  oder  nur  in 
den  Ableitungen  seinen  Sitz  habe. 

Man  verlange  nur  nicht,  dafs  Metaphysik  gewisser  sey,  und  tiefer  dringe, 
als   sie   kann  in  Folge  der  Erfahrung.     Sie  ruhet  auf  dieser,  als  auf  ihrer. 


ov 


Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


eigenthümlichen  Hypothese.  Findet  man  die  menschliche  Erfahrung  zu  be- 
schränkt, zu  unvollständig,  mit  Hoffnungen  und  Wünschen  in  manchen 
Puncten  nicht  genug  einstimmend,  um  darauf  eine  völlig  befriedigende 
Überzeugung  zu  gründen:  so  schiebe  man  nicht  hievon  ungerechter  Weise 
die  Schuld  auf  die  Metaphysik;  welche  nun  einmal  nicht  vermag,  mit 
■eigenem  Lichte  zu  leuchten,    sondern  nur  wiederzugeben,  was  sie  empfing. 

Allgemein  aber  gilt  die  Metaphysik  für  weit  [vi]  minder  zuverlässig  als 
die  Erfahrung;  und  dagegen  läfst  sich  bey  dem  jetzigen  Streite  der  Systeme 
nichts  Gewichtiges  sagen.  Nur  daran  ist  zu  erinnern,  dafs  die  Geschichte 
•der  Wissenschaften  stets  eine  vortheilhafte  Annäherung  an  gemeinsames 
Arbeiten  vieler  Gelehrten  gezeigt  hat,  sobald  man  dahin  gelangte,  sich  an 
Erfahrung  und  Mathematik  vest  und  bestimmt  anzuschliefsen. 

Die  Gefahr,  welche  eintrit,  sobald  die  leeren  Gedankendinge  des 
Möglichen  und  Zufälligen  in  Eine  Reihe  mit  dem,  was  ist  und  geschieht, 
-gestellt  werden,  soll  aus  dem  ersten  Theile  dieses  Werkes  hinreichend  be- 
kannt seyn.  Es  kommt  nun  darauf  an,  die  Dinge  so  zu  fassen,  wie  sie 
zusammengenommen  wirklich  sind.  Und  man  halte  diese  Vorsicht  auch  da 
noch  vest,  wo  ein  Wille  sich  sammt  seinen  Motiven  zu  einer  Werth- 
bestimmung  darbietet;  man  hüte  sich,  vom  Fragepuncte  abzugleiten  durch 
Verwechselung  der  bewufsten  Motive  mit  unbewufsten  Ursachen,  und 
vollends  mit  leeren  Möglichkeiten  eines  andern  Willens  unter  andern  Um- 
ständen. Leere  Abstractionen,  sogar  hinaufgetrieben  bis  zu  unmöglichen 
Begriffen,  sind  Werkzeuge,  deren  die  Wissenschaft  sich  oftmals  mit  Vortheil 
bedient  (wie  jeder  Mathematiker  weifs),  [vn]  die  man  aber  nicht  mit  ihren 
Gegenständen  verwechseln  soll. 

Die  lange  Herrschaft  der  Kantischen  Lehre,  in  so  mancher  Hinsicht 
wohlthätig,  verbreitete  dennoch  auch  einige  schädliche  Einflüsse ;  unter 
■diesen  besonders  die  Überspannung  der  Freyheitslehre,  von  welcher  man, 
seitdem  die  bekannten  politischen  Täuschungen  schwinden,  allmählig  zurück- 
kommt; und  die  Geringschätzung  der  Teleologie,  welche  leider  noch  fort- 
dauert, während  die  zu  ihr  gehörigen  Wahrnehmungen,  die  natürlich  nicht 
still  stehen  konnten,  sich  hinter  sogenannten  Ansichten  von  der  Harmonie 
des  Lebens  verstecken.  Wird  einmal  die  neue  Naturphilosophie,  welche 
dies  Buch  vorträgt,  gehörig  geprüft,  so  mufs  sich  eben  so  ungesucht  als 
unvermeidlich  die  Teleologie  in  ihre  alten  Rechte  wieder  eingesetzt  befinden. 
Denn  sie  beruht  auf  unmittelbar  gegebenen  Formen  der  Erfahrung.  Können 
wir  diese  Formen  nicht  eben  so  bestimmt,  wie  die  übrigen,  als  wissenschaft- 
liche Principien  bearbeiten  und  benutzen:  so  müssen  wir  deshalb  unsre 
menschliche  Beschränktheit  bedauern.  An  sich  betrachtet  aber  stehen  alle 
■gegebenen  Formen  in  dem  gleichen  Range  als  Principien  des  Wissens. 
Für  uns  behält  immer  die  Teleologie  den  unendlich  wichtigen  Vortheil, 
•dafs  sie  gerade  hinweiset  auf  den  Grund  der  [vni]  Religion,  auf  die  Vorsehung  ; 
während  sie  zugleich  dem  Menschen  die  Gröfse  seiner  Unwissenheit  vor- 
hält, die  er  so  ungern  eingesteht.  Müssen  wir  es  sagen,  dafs  überspannte 
Speculationen  in  diesem  Begriffe  etwas  vermifst,  nämlich  die  ontologische 
Abstraction  von  Zeit-Verhältnissen?  Was  gewinnt  sie  denn  mit  dieser  Ab- 
straction?  Dafs  sie  von  der  erreichten  Höhe  wieder  in  die  Sphäre  unseres 
menschlichen  Lebens   herabsteigen    mufs,    versteht    sich   von  selbst;    allein 


Vorrede.  c 

welches  ist  nun  die  Werth-Bestimmung,  die  man  da  anbringt,  wo  die  Ab- 
kunft der  endlichen,  räumlichen  und  zeitlichen  Dinge  aus  dem  Absoluten 
soll  nachgewiesen  werden?  Vier  Fälle  bieten  sich  dar;  und  jeder  ist  ver- 
sucht worden.  Entweder  die  Evolution  des  Räumlichen  und  Zeitlichen 
ist  Verschlechterung.  So  erscheint  sie  nicht  blofs  in  alten  Emanations- 
lehren, sondern  auch  da,  wo  ganz  neuerlich  ein  Plus-Absohitum  behauptet 
wird,  das  sich  des  Selbstbeivufstscvns  wegen  ein  sogenanntes  Minus- Absoluium 
gegenüber  stelle,  und  dessen  Emporstreben  niederhalte.  *  Oder  jene  Evolu- 
[ixltion  ist  Verbesserung.  Dahin  gehört  die  bekannte  Behauptung:  »die  dritte 
Periode  der  Geschichte  wird  die  seyn,  wo  das,  was  in  den  frühern  als 
Schicksal  und  als  Natur  erschien,  sich  als  Vorsehung  entwickeln,  und  offen- 
bar werden  wird,  dafs  selbst  das,  was  blofses  Werk  des  Schicksals,  oder 
der  Natur  zu  seyn  schien,  schon  der  Anfang  einer  auf  unvollkommene 
Weise  sich  offenbarenden  Vorsehung  war.  Wann  diese  Periode  beginnen, 
werde,  wissen  wir  nicht  zu  sagen.  Aber  wenn  diese  Periode  seyn  wird, 
dann  wird  auch  Gott  seyn«.  ** 

Aus  beyden  Ansichten  pflegt  sich  eine  dritte  zusammenzusetzen,  die 
man  dramatisch  nennen  könnte,  weil  sie  auf  Verschlechterung  Verbesserung 
folgen  läfst ;  ***  wobey  aber  Jedem  einfallen  wird,  dafs  ein  Knoten  nur  braucht 
gelöst  zu  werden,  wenn  er  zuvor  geschürzt  wurde;  ein  Mathematiker  möchte 
noch  bey[x] fügen,  dafs  ein  gleiches  Quantum  von  Minus  und  Plus  am  Ende 
Null  gebe;  ja  er  möchte  fragen,  ob  man  die  Gleichung  für  die  Curve 
genau  untersucht  habe?  Ob  sie  nur  Ein  Maximum  gebe,  oder  ob  das 
fortrollende  Rad  der  Zeiten  etwa  eine  Cykloide  zeichne,  deren  steigende 
und  sinkende  Bogen  sich  ins  Unendliche  wiederholen  ?  —  Die  vierte  An- 
sicht endlich  thut  auf  alle  Werthbestimmung  Verzicht  und  betrachtet  die 
Entwickelung  des  Räumlichen  und  Zeitlichen  als  blofs  noth wendig,  übrigens- 
gleichgültig: wie  Spinoza  es  versuchte,  da  er  Gutes  und  Böses,  Schönes- 
und  Häfsliches  für  Vorurtheile  erklärte.  Dies  Tetralemma,  dessen  sämmt- 
liche  Glieder  historisch  als  thatsächlich  vorhandene  Meinungen  vor  Augeru 
liegen,  wollen  wir  hier  nicht  weiter  entwickeln;  es  ist  genug,  daran  zu  er- 
innern, um  Behutsamkeit  zu  empfehlen.  Überspannte  Speculation  des  sich- 
stets  erneuernden  unkritischen  Dogmatismus,  dessen  natürlicher  Stolz  sich, 
schwerlich  mit  religiöser  Demuth  vertragen  möchte,  mit  Erfolg  auf  praktisch- 
wichtige Gegenstände  zurückzuführen,  ist  ohne  Hülfe  der  praktischen  Philo- 
sophie nicht  möglich.  Aber  die  speculativen  Lehrmeinungen  werden  sich 
gar  sehr  ändern,  sobald  das  Lieblingsthema  der  neuern  Schulen,  das  Leben, 
genauer  wird  untersucht  werden.  An  dieser  merkwürdigen  [xi]  Stelle,  wo- 
sich  Fries  von  Schelling  gewinnen  liefs,  laufen  die  Wege  der  Psychologie 
und  Naturphilosophie  von  selbst  zusammen.  Hier  hatte  man  gleichsam 
einen  Altar  für  eine  unbekannte  Gottheit  errichtet;  die  Verehrung  derselben 
aber   wird    sich  mäfsigen,    sobald  den  Untersuchungen,    die  man  am  Ende 


*  Anregungen  für  -wissenschaftliche  Forschung,  vom  Grafen  von  Buquov,  einem 
geübten  Mathematiker  und  sehr  umsichtigen  Denker,  der  nicht  unbeachtet  bleiben  darf, 
wenn    man   die  heutige  Zeitphilosophie  vollständig  kennen  will. 

**  Schellixgs  System  des  transscendentalen  Idealismus,  S.  441.  Das  Buch  ist 
vom  Jahre   1800;  Schellings  Ansicht  kann  seitdem  verändert  seyn. 

***  Man  vergleiche  etwa  Fichte's  Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters. 


Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


dieses  Buches  finden  kann,  und  die  freylich  nicht  in  der  Begeisterung, 
sondern  in  der  Nüchternheit  ihre  Ehre  suchen,  nur  soviel  Aufmerksamkeit 
zu  Theil  wird,  als  jetzt  schon  die  mathematische  Psychologie  erlangt  hat. 
Mögen  immerhin  Ergebnisse  des  strengen  metaphysischen  Denkens  vor- 
läufig nur  als  Hypothesen  Eingang  finden;  genug,  wenn  sie  richtig  ver- 
standen, und  von  dem  vielleicht  zufällig  beygemischten  Irrthum  gereinigt 
werden.  Der  Verfasser  verlangt  für  sich  nur  das  Eine,  worauf  er  sichern 
Anspruch  hat;  nämlich  dafs  man  ihn  den  ernsten  und  redlichen  Forschem 
beyzähle.  Bald  genug  aber  wird  man  gutwillig  noch  mehr  einräumen. 
Denn  mit  starken  Schritten  nähert  sich  die  Zeit,  wo  man  der  Grund- 
bedingung des  Verstehens  —  nämlich  der  Anerkennung  der  in  den  Er- 
fahrungsformen gegebenen  Widersprüche  —  und  hiemit  auch  einer  ver- 
änderten Auffassung  des  menschlichen  Wissens  überhaupt,  sich  nicht  länger 
•wird  entziehen  können.  Hegel  hat  auf  [xu]  diese  Widersprüche  ein  so  helles, 
ja  grelles  Licht  geworfen,  dafs,  wie  sehr  auch  seine  Gegner  sich  sträuben, 
doch  endlich  auch  das  blödeste  Auge  sie  wird  sehen  müssen.  Nur  Eins 
scheint  der  berühmte  Mann  zu  vergessen:  des  Columbus  Ey  mufste  ge- 
knickt werden,  wenn  es  stehen  sollte.  Man  verlange  hier  darüber  nicht 
mehr  Worte;  auch  im  ersten  Theile  dieses  Werks  ist  nur  dasjenige  in 
Prüfung  genommen,  was  schon  eini^ermafsen  als  vers-antren  und  in  histo- 
rischer  Ferne   stehend   konnte  betrachtet  werden. 

Eher  könnte  man  hier  einiee  erleichternde  Winke  vermissen,  in  An- 
sehung der  im  Buche  vorgetragenen  Naturphilosophie.  Um  nun  wenigstens 
einen  Hauptpunct  als  Beyspiel  zu  berühren,  und  zugleich  für  minder 
Kundige  den  Standpunct  der  heutigen  Physik  bemerklich  zu  machen:  wird 
-es  dienlich  seyn,  eine  Stelle  aus  den  Göttingischen  gelehrten  Anzeigen  vom 
14.  August  1828  zu  benutzen,  worin  von  der  Wärme  die  Rede  ist.  Hier 
wird  mit  Recht  gesagt,  durch  die  Hypothese  vom  Wärmestoffe  werde  die 
mathematische  Construction  der  Erscheinungen  weit  anschaulicher,  als  wenn 
man  die  Wärme  blofs  in  Bewegungen  der  Körpertheile  suche;  wobey  die 
Frage  unbeantwortet  [xiii]  bleibe,  was  diese  Bewegungen  unterhalte,  warum  sie 
nicht  gleich  denen  einer  tönenden  Glocke  zur  Ruhe  kommen,  und  wie  sie 
sich  vom  Schalle,  wie  vom  Lichte  nach  der  Vibrations- Theorie,  unter- 
scheiden mögen?  „Alles,  <cas  bisher  in  der  dynamischen  Lehre  ron  der 
Wärme  versucht  worden,  ist  ein  bloßes  exercice  de  calcul gezvesen.  Freylich 
bleiben  auch  bey  der  Hypothese  vom  Wärmestoffe  noch  Fragen  zurück, 
die  jedoch  stillschweigend  auch  das  Bevvegungssystem  graviren.  Zum  Bey- 
spiel, wodurch  wird  die  Wärme  zu  einer  discreten  Flüssigkeit,  das  heifst 
zu  einer  Flüssigkeit,  deren  Theile  noch  immer  in  gewissen  Abständen  von 
einander  gedacht  werden  müssen,  selbst  wenn  sie  in  einem  Körper  durch 
Anziehung  verdichtet  wird.  Denn  das  von  keinem  eigentlich  chemisch  ge- 
bundenen Wärmestoffe  die  Rede  seyn  kann,  ist  daraus  klar,  dafs  durch 
seine  Verbindung  mit  andern  Stoffen,  diese  nicht  im  geringsten  (?)  ihrer 
-eigenthümlichen  Eigenschaften  beraubt  werden.  *)  —  Wenn  wir  dem  Wärme- 


*  Man  vergleiche  dagegen  §  391.  Auch  ist  bekannt,  dafs  beym  Destilliren  Ver- 
bundenes durch  die  Wärme  getrennt  wird,  und  dafs  die  meisten  Auflösungen  in  der 
Wärme  befördert,  andre  aber  erschwert  und  beschränkt  werden.  Das  Alles  zeigt  Ein- 
mischung in  chemische  Verhältnisse. 


Vorrede.  7 

Stoffe,  in  je[xiv]der  Verbindung  mit  den  verschiedenen  Materien,  noch  immer 
eine  expansive  Form  zueignen:  so  nehmen  wir  nichts  an,  was  nicht  die 
Dynamiker  in  der  Lehre  von  der  Wärme  stillschweigend  auch  voraussetzen, 
indem  sie  die  discrete  Form  der  Gasarten  und  Dämpfe,  ja  des  im  all- 
gemeinen Welträume  zerstreuten  Äthers  selbst,  so  wie  auch  die  Bewegung 
der  Körpertheile,  worin  sie  das  Wesen  der  Wärme  setzen,  als  einen  Er- 
folg des  Confhcts  attractiver  und  repulsiver  Kräfte  betrachten.  Der  Unter- 
schied besteht  blofs  darin,  dafs  bei  der  Theorie  eines  Wärmestoffs  nur 
dieser  allein,  wie  es  die  Erfahrung  ausweist,  als  die  nächste  Ursache  der 
discreten  Form  aller  übrigen  Materien  betrachtet  wird.  Man  kann  daher 
auch  in  diesem  Betrachte  nicht  sagen,  dafs  die  Materialisten,  in  der  Lehre 
von  der  Wärme,  sich  mehrere  Fictionen  erlaubten,  als  die  Dynamiker. 
Die  gewöhnlichen  Einwürfe  gegen  die  Existenz  des  Wärmestoffs  sind 
übrigens  schon  so  oft,  und  wie  es  uns  scheint,  genügend  beantwortet,  dafs 
Diejenigen,  welche  dieser  Theorie  nicht  huldigen,  sehr  Unrecht  thun,  wenn 
sie  dergleichen  Einwürfe  in  Lehrbüchern,  oft  ganz  ohne  alle  Rücksicht  auf 
jene  Beantwortungen,  anführen,  blofs  um  dem  entgegengesetzten  Systeme 
das  Wort  zu  reden,  das  doch  [xv]  weit  mehrern  und  erheblichem  Einwürfen 
ausgesetzt  ist,  gewöhnlich  aber  auch  so  dürftig  hingeivorfen  wird,  dafs  es  selbst 
von  den  gemeinsten  Phänomenen  der  Warme  keine  klare  Anschauung  verstaiict.li 
Man  wird  nun  fragen,  welche  Versuche  der  Verfasser  gemacht  habe, 
um  so  grofsen  Schwierigkeiten  zu  entgehen?  Und  die  nächste  Antwort  ist: 
keine  andern  Versuche  als  die,  welche  sich  aus  den  vorangehenden  meta- 
physischen Untersuchungen  von  selbst  ergaben.  Dasjenige  aber,  was  sich 
ergab,  war  allerdings  ein  Wärmestoff,  jedoch  nicht  eine  W<Lrme-Äfaterie, 
noch  weniger  ein  Flüssiges,  am  wenigsten  aber  vollends  eine  discrete 
Flüssigkeit.  Discrete  Quanta  sind  nicht  fliefsende;  und  fliefsende  Grüfsen 
sind  nicht  discret;  wenn  daher  ein  Physiker  sich  durch  die  Erfahrung  be- 
rechtigt, ja  gezwungen  findet,  einen  solchen  Begriff,  wie  den  eines  dis- 
creten Flüssigen  anzunehmen,  so  ist  er  entweder  von  dem  ursprünglichen 
Sinne  des  Worts  Fliefsen  abgewichen,  oder  nicht  mehr  weit  von  dem  Be- 
kenntnisse entfernt,  er  habe  in  den  gegebenen  Formen  der  Erfahrung 
Widersprüche  angetroffen.  Und  dies  Bekenntnifs  müssen  wir  benutzen, 
wie  es  auch  mag  [xvi]  herbeykommen.  Aber  nicht  alle  Widersprüche  können^ 
und  nicht  alle  sollen  aufgelöst  werden.  Sie  bleiben  in  denjenigen,  mit  Noth- 
wendigkeit  erzeugten,  Begriffen,  welche  blofs  die  Art  der  Zusammenfassung 
für  den  Zuschauer  bestimmen.  So  bleibt  allerdings  etwas  Widersprechen- 
des in  denjenigen  Bestimmungen  der  Materie,  welche  blofs  die  Form  der 
Aggregation  ausdrücken.  Hingegen  Attractiv-  und  Repulsiv-Av-ä'/fc  können 
wir  nicht  annehmen,  weil  dadurch  das  Widersprechende  in  die  Begriffe 
vom  wirklichen  Geschehen  würde  verlegt  werden.  Will  nun  der  Leser  sich 
diesen  Unterschied  genau  ins  Gedächtnifs  prägen:  so  wird  ihm  dadurch 
das  Ganze  unseres  Vortrags  dergestalt  durchsichtig  werden,  dafs  er  beynahe 
von  jedem  Puncte,  der  ihn  eben  vorzugsweise  interessirt,  ausgehen  kann, 
um  von  da  aus  in  das  Übrige  einzudringen.  Überall  wird  sich  zeigen, 
dafs  die  Erklärung  der  Erscheinungswelt  ähnlich  ist  der  Auflösung  einer 
Gleichung  durch  ihre  unmöglichen  Wurzeln,  welche,  obgleich  unmöglich, 
dennoch   genau   und   richtig   bestimmt   seyn   müssen,   damit   die  Rechnung 


8  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


ihr  Ziel  pünctlich  erreiche.  Aber  nicht  überall  mufs  man  von  dem  vor- 
liegenden Versuche,  der  in  seiner  Art  der  erste  ist,  gleiche  Pünctlichkeit 
und  Vollständigkeit  verlangen.  Vielmehr  [xvn]  würde  der  Verfasser  sich  bey 
Kennern  schlecht  empfehlen,  wenn  er  in  allen  Theilen  der  Naturwissen- 
schaft vorgäbe  gleich  viel  Licht  gesehen  zu  haben.  Hoffentlich  ist  es  ge- 
lungen, in  demjenigen,  was  mehr  oder  minder  gewagt  heifsen  mufs,  die 
verschiedenen  Grade  der  Wahrscheinlichkeit  bemerklich  zu  machen. 

Das  Klarste  in  der  ganzen  Naturphilosophie  ist  die  Lehre  von  der 
Elektricität.  Franklin  hat  über  sie  längst  das  wahre,  oder  doch  das 
wahrscheinlichste  Wort  gesprochen;  aber  er  hat  Plus  und  Minus  ver- 
wechselt. In  dieser  Sache  hätten  die  empirischen  Physiker  längst  mehr 
Licht  sehen  sollen;  das  Electricum  leuchtet  dazu  hell  genug;  aber  freylich 
leuchten  nicht  diejenigen  Puncte,  welche  es  empfangen,  sondern  die,  welche 
es   aussenden. 

Das  Dunkelste  aber  ist  das  Reich  der  Schwere,  in  welchem  wir  stets 
befangen  sind,  und  daher  nicht  frey  experimentiren  können.  Welche  Be- 
griffe würden  wir  davon  haben,  wenn  unsre  Erfahrung  nicht  hinausginge 
über  den  Horizont,  in  welchem  wir  geboren  sind?  Eine  Kraft,  welche  die 
Körper  in  parallelen  Richtungen  gegen  die  Horizont-Fläche  treibe,  das  wäre 
unser  Begriff.  Und  wie  viel  kann  das  [xvm]  Vorurtheil,  alle  Materie  sey 
schwer,  denn  mehr  gelten?  Von  diesem  Vorurtheil  abzulassen,  möchte  für 
manche  Naturphilosophen  die  erste  Bedingung  seyn,  um  zu  richtigem,  oder 
wenigstens  frevern  Ansichten  zu  gelangen. 


[xix]       Inhalt  des  zweyten  Theils.1 

Erster  Abschnitt.     Methodologie. 

Erstes  Capitel.     Von  den  Forderungen,    welche  die  Methodologie  zu  erfüllen 

hat.     §    161 — 164. 
Zweytes  Capitel.     Vom  Gegebenen.     §    165 — 172. 

Drittes  Capitel.    Vom  Zusammenhange  der  Gründe   und  Folgen.     §  173 — 188. 
Viertes  Capitel.     Plan  der  bevorstehenden  Untersuchung.     §    189-  194. 
Zweyter  Abschnitt.      Ontotogie. 

Erstes  Capitel.    Von  der  Auffassung  des  Realen  durch  Begriffe.     §  195  —  200. 
Zweytes  Capitel.     Vom  Begriffe  des  Seyn.     §   201  —  204.     [xx] 
Drittes  Capitel.     Vom  Begriffe  der  Qualität.     §   205  —  212. 
Viertes  Capitel.     Vom  Probleme  der  Inhärenz.     §   213—223. 
Fünftes   Capitel.     Von  der  Veränderung.     §   224—230. 
Sechstes  Capitel.     Vom  wirklichen  Geschehen.     §  231  —  239. 
Dritter  Abschnitt.     Synechologie. 

Erste  Abtheilung.     Von  Raum,   Zahl,  und  dem  Ursprünge  der  Alaterie. 

Erstes  Capitel.  Von  den  verschiedenen  Anfängen  der  Synechologie.  §  240 — 244. 
Zweytes  Capitel.     Von  der  starren  Linie,  und  der  Zahl.     §  245  —  252. 
Drittes  Capitel.     Von  der  stetigen  Linie,  und  der  Ebene.     §   253  —  262. 
Viertes  Capitel.     Vom  körperlichen  Räume.     §  263  —  266. 
Fünftes  Capitel.     Vom  Ursprünge  der  Materie.     §  267 — 278. 
Zweyte   Abtheilung    der    Synechologie.2       Vom     objektiv -scheinbaren    Geschehen; 
oder  von  der  Zeit  und  dem  Zeitlichen. 

Erstes  Capitel.      Von  der  Bewegung  überhaupt.     §  279  —  283. 
Zweytes  Capitel.     Von  der  Geschwindigkeit.     §  284 — 286. 
Drittes  Capitel.     Von  der  Zeit.     §  287  —  291. 
Viertes  Capitel.     Vom  objektiven  Schein.     §  292  —  296. 

Fünftes  Capitel.     Vom  Schein    im  Laufe    der    Begebenheiten.      §  297 — 301. 
Vierter  Abschnitt.     Eidolologie      [xxi] 

Erstes   Capitel.     Idealistische  Metaphysik  im  allgemeinen.     §  302  —  308. 
Zweytes  Capitel.     Vom  Ich  und  Nicht- Ich  als  Thatsache.     §  309  —  319. 
Drittes    Capitel.      Schärfung    des    Begriffs    vom    Ich    und    Widerlegung    des 

Idealismus.     §   320 — 325. 
Viertes  Capitel.     Von  der  Möglichkeit  des  Wissens.      §  326 — 330. 
Fünfter  Abschnitt.      Umrisse  der  A'atttrphilosophie. 
Erste  Abtheilung.     Synthetische  Untersuchungen. 
Vorerinnerung. 
Erstes  Capitel.     Vom  Unterschiede  des  synthetischen  und  analystischen  Theils 

der  philosophischen  Naturlehre.     §  331 — 333. 
Zweytes  Capitel.   Von  der  möglichen  Verschiedenheit  der  Materie.  §334 — 346. 
Drittes  Capitel.      Von  der  Veränderlichkeit  der  Materie.     §  347—361. 
Viertes  Capitel.     Von  der  Bildsamkeit  der  Materie.     §  362 — 377. 
Zweyte  Abtheilung.     Analytische  Untersuchungen. 

Erstes  Capitel.     Von  der  Mittheilung  der  Bewegung.     §  378 — 387. 
Zweytes  Capitel.     Von  der  Wärme,    und  den  durch  sie  bestimmten  Formen 

der  Materie.      §   388  —  399. 
Drittes   Capitel.      Von   Elektricität  und   Magnetismus.      §  400 — 412. 
Viertes  Capitel.     Von    der  Schwere    und  dem  Lichte.     §  413 — 420.     [xxn] 
Fünftes  Capitel.     Bemerkungen  zur  Chemie.     §  421 — 425. 
Sechstes    Capitel.      Philosophische    Beleuchtung    der    physiologischen    Grund- 
begriffe.    §  426  —  444. 


1  In  SW.  lautet  die  Ueberschiift  des  Inhaltsverzeichnisses ,  das  übrigens  daselbst  vor  der 
Vorrede  steht:  Inhalt:  Allgemeine  Metaphysik,  nebst  den  Anfängen  der  philosophischen  Naturlehre. 
Zweiter  systematischer  "lheil.  Vorrede  trster  Abschnitt  u.  s.  w.  1.  Kapitel  u.  s.  w.  (Die  Zahlen- 
bezeiclinung  der  Kapitel  ist  in  SW  nicht  in  Buchstaben,  sondern  in  Ziffern  ausgedrückt.) 

-  Zweite  Abtheilung.     SW.  („der  Synechologie"    fehlt.) 


[i]  Erster  Abschnitt. 

Methodologie. 


Erstes  Capitel. 
Von   den  Forderungen,   welche   die  Methodologie  zu  erfüllen  hat. 

§  161. 

Um  nicht  blofs  von  Demjenigen  auszugehn,  was  Jedermann  einräumen 
mufs,  sondern  auch  bey  einem  Puncte  anzuknüpfen,  den  jeder  wirklich 
einräumt,  und  der  in  der  gesammten  Gelehrtenwelt  eine  gleiche  Aufmerk- 
samkeit erlangt  hat:  lassen  wir  Spinoza  und  Kant,  Schelling  und  Fries. 
Ein  französischer  Naturforscher  soll  die  Rede  beginnen. 

„Der  Zweck  einer  Theorie  besteht  darin,  mit  einer  allgemeinen  That- 
sache  oder  mit  so  wenigen  solchen  Thatsachen  als  möglich,  alle  diejenigen 
besondern  Thatsachen  zu  verbinden,  welche  davon  abhängen.  Die  ein- 
zelnen Entdeckungen  standen  Anfangs  jede  allein;  ja  sie  erschienen  zum 
Theil  paradox,  und  im  Widerspruche  mit  andern  Thatsachen  der  nämlichen 
Gattung.  Aber  der  Geist  trat  endlich  heivor,  welchem  es  war  [2]  vorbehalten 
gewesen,  aus  allen  zerstreuten  Gliedern  eine  Kette  zu  bilden.  Kennt  man 
das  Gesetz,  welchem  eine  Tendenz  unterworfen  ist:  so  kann  man  durch 
Rechnung  alle  andern  Thatsachen  der  ersten  anreihen;  und  mit  Hülfe  der 
Theorie  lieset  man  sogar  mit  Gewifsheit  in  der  Zukunft;  weil,  nachdem 
die  Verknüpfung  der  Thatsachen  einmal  bestimmt  worden,  das  Gewesene 
sich  verbürgt  für  das  Kommende;  so  dafs  die  Rechnung  selbst  Phänomene, 
die  sich  erst  nach  einer  Reihe  von  Jahren  würden  gezeigt  haben,  schon 
im  Voraus  erblicken  läfst.  Die  anfänglich  zerstreuten  Thatsachen  gleichen 
nun  einer  Familie;  oder  den  verschiedenen  Seiten  eines  einzigen  Ereig- 
nisses. —  Man  kann  leicht  sehn,  welcher  weite  Abstand  die  Theorie  vom 
Systeme  absondert.  Das  System  (in  der  Bedeutung,  worin  wir  hier  das 
Wort  nehmen,  um  es  aus  der  Physik  zu  verbannen)  besteht  in  einer  ledig- 
lich willkürlichen  Voraussetzung,  auf  welche  man  durch  gezwungene  Deutung 
den  Gang  der  Natur  zurückführt.  Es  ist  etwan  ein  Wirbel,  oder  ein  Aus- 
fluß feiner  Materie;  es  ist,  was  man  will;  denn  der  Einbildung  steht  Alles 
frey.  Mit  Hülfe  einer  solchen  Voraussetzung,  die  stets  das  Gegebene  über- 
schreitet, erklärt  man  Alles  obenhin;  das  System  schwankt,  vom  Zufall  ge- 
trieben, in  der  Gegend  Dessen,  was  ungefähr  mit  den  Thatsachen  zusammen- 
trifft, aber  es  ist  unfähig,  sie  genau  zu  bestimmen." 

1    SW.    haben   über   „Erster    Abschnitt"    noch    die   Ueberschrift   „Zweyter    syste- 
matischer Theil." 


i.  Abschnitt.    Methodologie,      i.   Capitel.    Von  den  Forderungen,  welche  etc.     n 


So  weit  Haü\t,  in  der  Einleitung  zu  seinem  traitt  eUmentaire  de 
phvsiqne.  Und  Biot  versichert  in  den  ersten  Zeilen  seiner  Naturlehre, 
die  Metaphysiker  geben  zwar  sehr  verschiedene  Erklärungen  der  Materie; 
einige  behaupten  sogar,  dafs  wir  keine  moralische  Gewifsheit  ihres  Da- 
seyns  hätten;  aber  der  Physiker  lasse  sich  auf  diese  Erörterungen  nicht  ein. 

Man  will  also  Thatsachen,  so  weit  es  möglich  ist,  [3]  verknüpfen  und 
vorher  sehn;  damit  sie  nicht  überraschen,  wenn  sie  eintreten.  Dem  An- 
schauen soll  das  Denken  dergestalt  vorausgehn,  dafs  beydes  in  gesicherter 
Harmonie  stehe. 

Man  will  hingegen  nichts  wissen  von  beliebigen  Voraussetzungen,  nichts 
von  gezwungenen  Deuteleyen. 

So  weit  ist  völliges  Einverständnifs  vorhanden.  Aber  wir  erweitern  die 
•erste  Forderung;  weil  mit  dem,  was  man  verschmäht,  aus  Unvorsichtigkeit 
etwas  weggeworfen  ist,   welches  wesentlich   zu  jener  Forderung  gehört. 

Das  Denken  soll  nicht  blofs  mit  dem  Anschauen,  sondern  auch  mit 
sich  selbst  übereinstimmen.      Wird  Jemand   das   Gegentheil  wollen? 

Verschmäht  hat  man  das,  was  die  Erfahrung  überschreitet,  in  der 
Meinung,  dies  Transscendente  sey  nichts  als  beliebige  Voraussetzung.  Man 
hemerkt  also  nicht,  dafs  die  Erfahrung  gewisse  Voraussetzungen  fordert, 
-welche  zu  ihr  als  nothwendige  Ergänzungen  gehören,  obgleich  sie  nicht, 
wie  die  im  Voraus  berechneten  Thatsachen,  irgend  einmal  in  die  Sinne 
fallen  werden,  sondern  stets  Gegenstände  des  Denkens  bleiben. 

§  162. 

Betrachtet  man  das  Verfahren  der  Physiker  mehr  in  der  Nähe,  so 
findet  man,  dafs  ihre  Beschreibung  desselben  nicht  gar  zu  streng  zu  nehmen 
ist.  Beliebige  Voraussetzungen  und  erzwungene  Deutungen  sind  ihnen  nicht 
ganz  fremd. 

Dafs  sie  Hypothesen  versuchen,  kann  man  ihnen  nicht  verdenken. 
Nachdem  sie  voraussetzten,  ein  Komet  laufe  in  einer  Parabel,  welches 
freylich  weder  bewiesen,  noch  eine  Thatsache  war,  sind  sie  bereit,  fernere 
Beobachtungen  anzustellen,  und  die  Hypothese  diesen  gemäfs  zu  berichtigen. 
Sie  analysiren  also  die  Erfahrung,  und  verbessern  hierdurch  den  Mangel, 
der  sich  in  der  [4]  Unsicherheit  der  anfänglich  nur  gewagten  Muthmafsung 
zeigt.  Obgleich  aber  dieser  Mangel  hintennach  ersetzt  wird,  so  war  er 
doch  vorhanden,  und  darf  nicht  abgeleugnet  werden.  Wenn  Jemand  eine 
Gleichung  durch  Versuche  auflöset,  und  aus  anfänglichen  nicht  übergrofsen 
Fehlern  eine  Wegweisung  gewinnt,  wie  er  sich  einer  Wurzel  der  Gleichung 
annähern  könne:  so  darf  er  ohne  Zweifel  sein  Verfahren  nicht  einer  voll- 
kommenen Methode  vergleichen,  welche  ihn  mit  Bestimmtheit  nicht  blofs 
Eine,  sondern  alle  Wurzeln  würde  gelehrt  haben;  selbst  die  unmöglichen, 
die  zur  vollständigen  Entwickelung  des  Begriffs,  den  die  Gleichung  ausdrückt, 
unstreitig  mit  gehören.  Und  wenn  Jemand  durch  glückliches  Errathen  ein 
Gesetz,  wie  das  der  Gravitation,  findet,  oder  auf  eine  Hypothese,  wie  die 
Franklinsche  oder  Symmersche,  die  Beobachtungen,  welche  mehr  oder  weniger 
wahrscheinlich  in  einem  geschlossenen  Kreise  zu  liegen  scheinen,  zurück- 
führt: so  soll  darum  Niemand  glauben,  hier  seyen  nun  die  äufsersten  mög- 
lichen Gränzen  der  menschlichen  Erkenntnils   erreicht;  wohl  aber  ist  es  klar, 


12  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

dafs    die  Sache   noch   tiefere  Gründe   haben   mufs,    die   man    nicht  errieth 
und  nach  denen  die  Frage  stets  offen  bleibt. 

Dafs  gezwungene  Deutungen  zuweilen  auch  den  Physikern  begegnen, 
und  dafs  in  solchen  Fällen  ein  unbefriedigtes  metaphysisches  Bedürfnifs 
pflegt  zum  Grunde  zu  liegen:  hievon  bietet  Haüy,  in  der  angeführten 
Stelle,  ein  Beyspiel,  das  kurz  genug  ist,  um  hier  angeführt  zu  werden; 
und  zugleich  vollkommen  eingreifend  in  die  Metaphysik.  „Die  Worte  An- 
ziehung und  Abstofsung  (sagt  er),  deren  man  sich  bedient,  um  das  Grund- 
factum,  worauf  die  Theorie  beruht,  anzugeben,  bedeuten  eigentlich  nichts 
anderes,  als  die  Geschwindigkeiten,  womit  Körper  sich  bestreben  (t enden t)r 
einander  sich  zu  nähern  oder  zu  entfernen."  [5]  Jedermann  sieht  unmittel- 
bar das  Gegentheil  dieser  Behauptung.  Die  Worte  Attraction  und  Repulsion 
bedeuten  in  allen  Sprachen  eigentlich  ein  Thun;  dieses  aber,  sammt  der 
Kraft  in  den  Körpern,  die  man  zu  ihrer  Thätigkeit  hinzu  zu  denken  pflegt,, 
wollte  Haüy  vermeiden.  Darin  hatte  er  vielleicht  noch  mehr  Recht,  ais- 
er selbst  wufste;  aber  doch  war  es  nicht  recht,  dafs  er  der  Untersuchung, 
wodurch  dies  Recht  klar  werden  mufs,  zu  entschlüpfen  suchte,  indem  er 
den  Worten  statt  des  Thuns  eine  blofse  Geschwindigkeit  unterschob;  und 
noch  obendrein  mislang  der  Versuch.  Denn  der  metaphysische  Frage- 
punet,  den  er  umgehen  wollte,  kommt  doch  in  der  Tendenz,  welche  den 
Körpern  beygelegt  wird,  wieder  zum  Vorschein.  Ungefähr  so  wie  bey 
der  französischen  Darstellung  der  Differentialrechnung  das  Unendlich-Kleine 
umgangen  wird,  in  der  Mechanik  aber  dennoch  einem  Jeden  unvermeidlich 
einfällt;  so  dafs  die  Schwierigkeit  eben  darum  stehen  bleibt,  weil  man  sich 
scheute,   ihr  in  die  Nähe  zu  kommen. 

Die  Billigkeit  erfordert  jedoch,  in  solchem  Verfahren  der  Physiker 
und  Mathematiker  weiter  nichts  zu  erblicken  als  ein  Bemühen,  die  Arbeit 
zu  theilen,  welche  die  Naturlehre  verlangt.  Die  französischen  Physiker 
haben  sich  um  Rechnung  und  Beobachtung  so  aufserordentlich  verdient 
gemacht,  dafs  es  unbescheiden  seyn  würde,  auch  noch  die  Aufhellung 
metaphysischer  Begriffe  von  ihnen  zu  verlangen.  Unmöglich  konnten  sie 
sich  mit  bisheriger  Metaphysik  vertragen;  sie  beschränkten  sich  daher  auf 
Thatsachen,  und  liefsen  unentschieden,  ob  diese  unmittelbar  das  Reale  dar- 
stellten, oder  ob  dasselbe  darunter  in  einer  vielleicht  unergründlichen  Tiefe 
verborgen  sey. 

§  163. 

Jede  Speculation,  sie  heifse  nun  Theorie,  System,  oder  wie  man  willT 
sucht  eine  Construction  [6]  von  Begriffen,  welche,  wenn  sie  vollständig  wäre,  das 
Reale  darstellen  würde,  'wie  es  dem,  ivas  geschieht  und  erscheint ,  zum  Grunde 
liegt.  Über  den  Grad  dieser  Vollständigkeit,  und  über  das,  was  man  ent- 
behren müsse,  trennen  sich  die  Meinungen.  Allein  die  Gründe,  die  jede 
derselben  für  sich  anzuführen  hat.  würden  besser  einleuchten  und  sicherer 
geprüft  werden,  wenn  man  wenigstens  vorläufig  die  Frage  in  ihrer  ganzen 
V«  -llständigkeit  liefse,  und  sich  auf  Entbehrungen  erst  dann  gefafst  machte, 
wenn   man   dazu  eezwunsren   wird. 

Hier  entsteht  ein  scheinbarer  Unterschied  zwischen  dem  Lehrer  und 
dem   Hörer. 


i.  Abschnitt.    Methodologie,      i.  Capitel.    Von  den  Forderungen,  welche  etc.      13 


Der  blofse  Schüler  würde  zufrieden  seyn,  wenn  man  ihm  die  Natur 
wie  eine  Maschine  auseinander  nähme,  und  sie  dann  vor  seinen  Augen 
wieder  zusammensetzte.  So  ungefähr  geschieht  es  in  Vorträgen  der  Chemie, 
wenn  dieselben  anheben  von  den  einfachen  Stoffen,  und  nun  erzählen,  aus 
Sauerstoff  und  Wasserstoff  werde  Wasser,  aus  Sauerstoff  und  Stickstoff 
Salpetersäure,  aus  Sauerstoff  und  Kohlenstoff  werde  Kohlensäure  u.  s.  w. 
Aber  wer  wird  so  lehren  wollen?  Und  selbst  welcher  klügere  Schüler 
wird  unterlassen  zu  fragen:  Wie  erkanntet  ihr  den  Sauerstoff?  wie  entdecktet 
ihr  den  Stickstoff?  Waren  das  blofse  Hypothesen?   — 

Der  Lehrer,  oder  vielmehr  der  selbständige  Denker,  der  ja  zuerst  für 
sich  und  dann  für  Andre  forscht,  kann  nicht  bey  der  Frage  vorübergehn, 
wie  er  es  denn  anfangen  werde,  das  Reale  zu  finden?  Freylich,  bei  vor- 
eiliger Resignation,  wenn  er  die  obige  Aufgabe  gar  nicht  in  ihrer  Voll- 
ständigkeit aufzufasssen  wagt,  überläfst  er  sich  vielleicht  dem  Versuch,  den 
Erscheinungen  nur  eine  dünne  Folie  unterzulegen,  um  sie  zu  erklären,  ohne 
nach  der  Erklärung  dieser  Erklärung,  bis  auf  den  realen  Grund,  sich  um- 
zusehn.  [7]  Und  hiezu  mag  es  genügen,  sich  etwa  mit  Franklin  oder 
Svmmer  aufs  Rathen  zu  legen,  um  eine  oder  ein  paar  Materien  mit  ur- 
sprünglichen Repulsivkräften  ihrer  gleichartigen  Theile  den  elektrischen 
Erscheinungen  anzupassen;  ohne  nach  der  Möglichkeit  solcher  Repulsiv- 
kräfte,  und  nach  ihrem  Zusammenhange  mit  dem  Realen  zu  fragen. 

Wer  aber  um  die  Tiefe  seiner  Untersuchungen  besorgt  ist,  und  wer 
die  gröfste  mögliche  Tiefe  zu  erreichen  wünscht :  der  bedarf  einer  Methode, 
um  die  ersten  Gründe  aller  Erklärung  'zu  finden;  oder  wenigstens  regel- 
mäfsig  darnach  zu  suchen. 

Dafs  solche  Gründe  nicht  unmittelbar  gegeben  sind,  darüber  wird  im 
ersten  Theile  dieses  Werks,  und  anderwärts,  genug  gesagt  seyn.  Dafs  sie 
aber  aus  dem  Gegebenen  erkannt  werden  müssen,  leuchtet  unmittelbar  ein, 
wenn  man  es  nicht  auf  den  Zufall  des  glücklichen  Rathens,  ungewarnt 
von  der  ganzen  bisherigen  Geschichte  des  menschlichen  Wissens  will  an- 
kommen lassen. 

§   164. 

Die  erste  Hauptforderung,  welche  die  Methodologie  zu  erfüllen  hat, 
ist  demnach  die,  dafs  sie  die  Auffassung  des  Gegebenen  gehörig  bestimme. 

Darunter  sind  zwey  speciale  Forderungen  enthalten.  Die  eine,  dafs 
sie  gegen  Verfälschungen  des  Gegebenen  warne,  und  dessen  Sicherheit 
oder  Unsicherheit  prüfe.  Die  zweyte,  dafs  im  Gegebenen  die  Antriebe 
des  fortschreitenden  Denkens  nachgewiesen  werden,  vermöge  dessen  man 
sich  dem  Realen  ohne  Sprung  nähern  könne. 

Die  zweyte  Hauptforderung  ist,  die  Bewegung  desjenigen  Denkens  zu 
beschreiben,  was  aus  jenen  Antrieben  unmittelbar  hervorgeht;  und  im  All- 
gemeinen die  [8]  Gränze  zu  bestimmen,  wie  weit  es  reicht.  Diese  Forderung 
läfst  sich  allgemeiner  fassen;  und  es  ist  vortheilhaft,  das  nicht  zu  ver- 
säumen. Die  Frage  lautet  so:  wie  können  überhaupt  Gründe  und  Folgen 
im  Denken  zusammenhängen?  Sie  darf  nicht  verwechselt  werden  mit  der 
analogen  Frage  der  Ontologie:  wie  können  Ursachen  und  Wirkungen  zu- 
sammenhängen?   Denn  hier,  in  der  Methodologie,  kann  nur  vom   Denken 


j  .  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


die  Rede  seyn;  und  die  Verknüpfung  der  Gedanken  im  Schliefsen  hat 
eicne  Schwierigkeiten,  aber  nicht  die,  welche  bev  den  Ursachen  aus  der 
vorausgesetzten  Realität  derselben  hervorgehn. 

Die  dritte  Hauptforderung  ist  die,  im  allgemeinen  die  Möglichkeit 
begreiflich  zu  machen,  dafs  man  zum  Gegebenen,  von  dem  man  ausging, 
zurückkehre. 

Denn  gesetzt,  man  habe  sich  durch  die  vorige  Bewegung  des  Denkens- 
dem  Realen  genähert,  das  heifst,  man  habe  solche  Begriffe  gewonnen,  die 
mehr  oder  weniger  für  eine  Erkenntnifs  desselben  gelten  können  (wobey 
wir  dies  Mehr  oder  Weniger  absichtlich  unbestimmt  lassen,  um  Nichts  vor- 
eilig vestzusetzen) :  so  ist  offenbar,  dafs  man  nun  erst  anfangen  kann,  aus- 
den  gefundenen,  mehr  oder  weniger  tief  liegenden  Gründen  die  Er- 
scheinungen zu  erklären. 

Die  ganze  Metaphysik  beschreibt  gleichsam  einen  Bogen,  der  von 
der  Oberfläche  des  Gegebenen  in  die  Tiefe  hinabsteigend  sich  dem  Realen 
erst  nähert,  dann  wieder  aus  derjenigen  Tiefe,  die  man  hatte  erreichen 
können,  sich  erhebt  und  beym  Gegebenen  mit  den  Erklärungen  desselben, 
insofern  sie  uns  möglich  sind,  endigt.  Diese  bogenförmige  Bewegung  zu 
leiten,  ist  die  ganze  Aufgabe  der  Methodologie;  und  darin  sind  jene 
Forderungen  enthalten. 


[9]  Zweytes  Capitel. 

Vom    Gegebenen. 

§  165. 

Der  Anfang  sollte,  wie  in  jeder  Wissenschaft,  so  auch  in  der  Meta- 
physik, das  Leichteste  seyn.  Er  ist  es  wirklich  an  sich;  wenn  man  ab- 
rechnet von  den  Vorurtheilen,  den  Erzeugnissen  des  blinden  psychologischen 
Mechanismus;  und  von  dem  Mangel  an  Aufmerksamkeit  auf  die  wahre 
Beschaffenheit  des  Gegebenen. 

Zwar  nicht  mit  Nymphen  und  Dämonen,  nicht  mit  Kobolden  und 
Hexen,  haben  wir  heutiges  Tages  zu  kämpfen;  von  ihnen  ist  der  Boden 
des  Gegebenen  jetzt  rein  und  frey.  Auch  nicht  die  Kugelgestalt  des 
Himmels,  als  eines  blauen,  vesten  Gewölbes  mit  allerley  Schmuck,  steht 
im  Wege.  Der  alte  xoo/uog,  in  diesem  Sinne,  ist  verschwunden.  Aber  die 
kosmologische  Neigung  ist  geblieben.  Von  dem  All  redet  man  noch 
heute  mit  der  gröfsten  Geläufigkeit;  und  über  der  Frage,  ob  es  endlich 
sev  oder  unendlich,  vergifst  man,  dafs  es  als  eine  ganz  unbestimmte,  und 
unzusammenhängende,    unsymmetrische    Menge   von   Körpern   gegeben   ist. 

Diese  Körper  zu  organisieren  und  zu  beleben,  kostet  unsern  heutigen 
Magiern  nur  einen  Zauberschlag;  sie  erklären  das  All  für  Eins.  Ist  ihnen 
denn  die  Einheit  gegeben? 

Gewifs  nicht!  Aber  seit  Kant  sind  sie  gewohnt,  Raum  und  Zeit  als 
unendliche  gegebene  Gröfsen  jeder  Erfahrung  vorauszusetzen,  und  dieselbe 
damit    zu    umspannen.      Seit   Fichte    sind    sie    gewohnt,    diese    ganze    Er- 


i.  Abschnitt.    Methodologie.     2.  Capitel.    Vom  Gegebenen.  15 


fahrung  zusammengefafst  im  Ich  zu  vereinigen.  Seit  Spinoza  und  Schelling 
sind  sie  gewohnt,  das  Ich  aus  sich  hinausgetragen  als  die  universale  Sub- 
stanz zu  betrachten.  Lassen  wir  diese  dichtenden  Philosophen!  [10]  Von  der 
Notwendigkeit,  zu  den  Anfangspuncten  zurückzukehren,  und  Anfangs  Alles 
bey  Seite  zu  setzen,  was  entweder  nicht  Anfang,  oder  doch  nicht  Anfang 
des  Wissens  seyn  kann,  haben  sie  zwar  genug  geredet;  aber  bei  den  Worten. 

ist's  geblieben. 

Weder  Alles  noch  Eins  ist  gegeben.  Aber  Dinge,  als  Complexionen 
von  Merkmalen,  fördert  der  natürliche  psychologische  Mechanismus,  ab- 
gesehen von  allen  Verkünstelungen,  wirklich  zu  Tage;  und  es  begegnet 
uns  Allen,  dafs  wir  diese  Dinge  als  ausgedehnt  im  Räume,  als  veränder- 
lich, thätig  und  leidend  betrachten.  Wenn  hierin  Irrthum,  oder  wenigstens 
Besorgnifs  des  Irrthums  entspringen  kann,  so  gehört  es  allerdings  zum  An- 
fange der  Metaphysik,  die  unsichere  Stelle  zu  untersuchen;  und  das  ist 
der  Gegenstand  dieses  Capitels. 

§   166. 

Eine  logische  Bemerkung  mufs  vorangehn.  Das  Gegebene,  ein  unbe- 
stimmt- Vieles,   läßt  sich   nicht  übersehen,   außer   durch  allgemeine  Begriffe. 

Nur  vermittelst  derselben  kann  es  Gegenstand  der  Untersuchung 
werden.  Denn  von  der  ganzen  Masse  des  Gegebenen  kann  man  weder 
auf  einmal  Gebrauch  machen,  noch  würde  ein  willkührliches  Herausheben 
des  Einen  und  Weglassen  des  Anderen  zu  rechtfertigen  seyn.  Das  sämmt- 
liche  Gegebene  ist  Gegenstand  der  Untersuchung;  eben  darum  aber 
mufs  man  es  nicht  blofs  als  bekannt,  sondern  auch  als  logisch  geordnet, 
voraussetzen,  damit  es  als  ein  zum  Gebrauche  bereit  liegender  Vorrath 
gelten  könne. 

Unstreitig  kommen  nun  die  höchsten  Allgemeinbegriffe  zuerst  zur  Unter- 
suchung. Allein  hier  liegt  eine  Klippe,  an  die  wir  erinnern  müssen,  damit 
nicht  die  Logik  selbst  zum  Verderben  der  Wissenschaft  gereiche. 

[11]  Die  Metaphysik  der  altern  Schule  betrachtete  das  Wirkliche  als 
logisch  untergeordnet  dem  Möglichen.  Dies,  mit  seinem  Gegentheile,  dem  Un- 
möglichen, konnte  keinem  höhern  Begriffe,  der  beyden  gemein  gewesen  wäre, 
untergeordnet  werden.  Also  war  der  Gegensatz  des  Möglichen  und  Un- 
möglichen scheinbar  der  oberste  Anfang  der  Metaphysik;  und  nun  mufste 
man  von  hier  an  die  logische  Stufenleiter  wieder  hinab  steigen.  Das  Mög- 
liche stand  an  der  Spitze.  Man  sollte  demnach  diejenige  Determination 
finden,  wodurch  man  das  Wirkliche  als  eine  Art  des  Möglichen  beschreiben 
könne.  Und  man  fand  —  jenes  complementum  possibilitatis,  von  dem  wir 
oben   (§  7)  gesprochen  haben. 

Aber  welches  war  nun  der  Sitz  des  Fehlers?  Reflextonsphilosophie! 
ruft  uns  die  heutige  Zeit  schmähend  entgegen.  Also  hätte  die  alte  Schule 
ohne  Reflexion,  ohne  logische  Allgemeinheit  zu  Werke  gehen  sollen?  Frey- 
lich,  wenn  sie  dichten  oder  schwärmen  wollte! 

Der  Fehler  lag  vielmehr  darin,  dafs  die  Abstraction  über  ihr  Ziel 
hinausging.  Das  Gegebene  ist  ein  Wirkliches,  und  keine  leere  Möglichkeit. 
Die  Metaphysik  will  nicht  blofs  denken,  sondern  erkennen.  Was  nicht  zum 
Erkennen   dient,  das  ist  ihr  fremd;   alles  in   ihr  miß  sich  auf  Wirklichkeit,. 


I0  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


unmittelbar  oder  mittelbar  bezieht.     Diese   Voraussetzung  kann  sie  nicht  einen 
Auscnblick  loslassen.     Sie  liefs  aber  davon  los,  als  sie  vom  blofs  Möglichen 

o  . 

redete;    und  dadurch  verlor  sie,   vom   ersten  Augenblicke  an.   die  Spur,   in 
der  sie  fortgehen  sollte. 

Hier  ist  ein  ähnlicher  Fall,  wie  in  der  Ästhetik.  Oben  (§  124)  wurde 
bemerkt,  wie  sehr  dieselbe  Ursache  hat,  sich  zu  hüten,  dafs  sie  nicht  in 
Abstractionen,  wodurch  die  Grundverhältnisse  zerrissen  werden,  sich  ver- 
liere. Leere  Abstraction  war  der  gewöhnliche  Feh[i2]ler  in  früherer  Zeit; 
neuerlich  hat  man  das  gefühlt,  aber  nicht  verbessert,  sondern  durch  den 
umgekehrten  Fehler  verschlimmert. 


"Ö" 


§  167. 

Die  Warnung  gegen  leere  Abstraction  mufs  noch  erweitert  werden. 
Der  Begriff  des  Wirklichen  ist  ebenso  wohl  ein  allgemeiner  Begriff,  als  der 
des  Möglichen;  und  in  ihm  liegt  kein  Anfangspunct  des  Wissens,  aufser 
inwiefern  er  das  Gegebene  ausdrückt.  Nun  trägt  aber  das  Gegebene  nicht 
in  dieser  Allgemeinheit  den  Charakter  der  Wirklichkeit;  sondern  alles  Wirk- 
liche, das  wir  vorfinden,  ist  (entweder  gewifs,  oder  wahrscheinlich)  ein  Ding 
mit  mehreren  und  veränderlichen  Merkmalen.  Also  nur  mit  dieser  nähern 
Bestimmung  hat  der  Begriff  des  Wirklichen  einen  eigentlichen  Werth. 

Wir  werden  zwar  die  Ontologie  mit  der  allgemeinen  Betrachtung  über 
das  Seyn  und  das  Sevende  anheben.  Aber  das  sind  nur  vorbereitende 
Entwickelungen  der  Begriffe,  die  für  sich  allein  noch  kein  Wissen  begründen 
würden.  Der  Anfang  des  Wissens  liegt  in  der  Lehre  von  der  Substanz, 
und  der  zugehörigen  Inhärenz;  wiederum  nicht  wegen  dieses  Begriffs,  als 
eines  solchen,  sondern  weil  hier  erst  die  gegebene  Anschauung,  mit  ihrem 
Anspruch  an  wenigstens  mittelbare  Darstellung  des  Realen,  sich  mit  dem 
Denken  unzertrennlich  vereinigt;  dergestalt  zwar,  dafs  nicht  der  ganze  Ge- 
danke angeschaut  wird,  wohl  aber  von  einem  zusammengesetzten  Gedanken 
ein  Theil  durch  die  Anschauung  verbürgt  ist,  während  ein  andrer  Theil 
dazu  eine  im  Denken  nothwendige  Ergänzung  bildet,  die  sich  von  dort  an 
noch  im  Nachdenken  erweitert. 

Gesetzt  ferner,  ein  Gegebenes  sey  unsicher,  wie  bey  schwankenden  Be- 
obachtungen, oder  bey  Zeugnissen:  [13]  so  pafst  darauf,  ohne  Verminderung 
oder  Vermehrung  des  Grades  der  Wahrscheinlichkeit,  dieselbe  Form  der 
Untersuchung,   wie  wenn  das  nämliche,    als  Gegebenes,   völlig  sicher  wäre. 

Diese  Bemerkung  kann  auch  auf  Muthmaafsungen  angewendet  werden. 
Z.  B.  die  Sterne  sind  uns  blofs  durchs  Licht  gegeben.  Jeder  einzelne  der- 
selben ist  also  für  sich  keine  Complexion  von  Merkmalen,  sondern,  was 
bey  andern  Dingen  nur  ein  Merkmal  seyn  würde,  das  ist  hier  der  ganze 
Gegenstand.  Gleichwohl  zweifelt  Niemand,  dafs,  wenn  wir  in  die  Nähe 
eines  FLxsterns  gelangen  könnten,  wir  dort  eine  ungeheuer  grofse  Ver- 
bindung von  Merkmalen  antreffen  würden.  Dies  näher  zu  untersuchen, 
ist  nicht  die  Sache  der  allgemeinen  Metaphysik;  sondern  der  Stern  fällt 
für  sie  muthmaafslich  unter  die  nämliche  Untersuchung,  die  sie  für  die 
uns  näher  bekannten  Gegenstände  allgemein  anstellt. 

Das  Gewicht  der  Muthmaafsung  wird  in  solchen  Fällen  durch  den 
Lauf   der    metaphysischen    Untersuchung   gar   nicht   verändert.     Aber    der 


i.  Abschnitt.    Methodologie.     2.  Capitel.    Vom  Gegebenen.  \j 


Werth  der  letztern,  da  sie  nicht  blofs  für  Muthmaafsungen,  sondern  für 
das  unbestreitbar  Gegebene  allgemein  angestellt  wird,  verliert  nichts,  wenn 
auch  nicht  Alles,  worauf  sie  pafst,  als  Gegebenes,  die  gleiche  Sicherheit 
besitzt.  Denn  es  kommt  für  sie  nichts  darauf  an,  in  wie  vielen  Exemplaren 
die  Gegenstände  ihrer  Grundbegriffe  gegeben  sind;  sondern  selbst  ein  ein- 
zelnes Exemplar  könnte  nöthigenfalls  genügen,  um  die  Gültigkeit  der  Be- 
griffe zu  verbürgen. 

§.   168. 

Wie  aber,  zvetw  eine  Unsicherheit  des  Gegebenen  so  beschaffen  ist,  da/s 
sie  alle  Gegenstände  zugleich,  ja  auf  gleiche  Weise  trifft  ?  Dann  wird  aller- 
dings das  Fundament  der  Un-[i4]tersuchung  erschüttert;  und  hier  ist  die 
Gränze  zwischen  logischer  und  skeptischer  Betrachtung,  zu  welcher  letzteren 
wir  nunmehr  übergehen  müssen,  um  nicht  den  gefährlichsten  Feind  unbe- 
wacht hinter  uns  zu  lassen. 

Aus  der  Einleitung  in  die  Philosophie  (§.  19 — 29.)  kennt  man  eine 
zwiefache  Skepsis.  Die  erste  Art,  die  Skepsis  der  Alten,  betrifft  die  Frage, 
ob  die  Dinge  so  gegeben  werden,  wie  sie  wirklich  sind ;  das  aber  fragt 
heutiges  Tages  nur  der  Anfänger;  und  hieher  gehört  es  gar  nicht.  Denn 
inwiefern  durchs  Gegebene  das  Reale  hindurchleuchte,  wird  die  Ontologie 
untersuchen.  Jetzt  ist  nur  die  Rede  von  der  factischen  Sicherheit  des  Ge- 
gebenen;  nicht  von  dem,  was,   wie,  und  wieviel  man  dadurch   erkenne. 

Von  ganz  anderer  Beschaffenheit,  als  die  Skepsis  der  Alten,  sind  die 
Zweifel,  welche  in  der  Einleitung  unter  dem  Titel:  höhere  Skepsis,  auf- 
geführt wurden.  Diese  gehören  ihrem  Ursprünge  nach  dem  Humisch- 
Kantischen  Gedankenkreise.  Ihr  historischer  Anfang  liegt  in  der  Frage, 
ob  uns  ein  Zusammenhang  zwischen  Ursache  und  Wirkung  gegeben  sey? 
Ob  man  jemals  das  Wirken  eines  Dinges,  wobey  es  aus  sich  herausgeht 
und  in  das  Leidende  eingreift,  gesehen  habe?  Darauf  antwortet  Jedermann 
mit  dem  Bekenntnisse,  er  habe  es  nicht  gesehen;  und  wir  fügen  hinzu, 
er  konnte  es  nicht  sehen;  nicht  etwan  blofs  aus  Mangel  an  Fähigkeit  des 
Wahrnehmens,  und  wegen  Beschränktheit  der  menschlichen  Natur,  sondern 
weil  die  causa  transiens  in  der  Art,  wie  man  sie  sich  dachte,  und  nach 
ihr  fragte,  gar  nicht  existirt,  auch  niemals  existiren  kann,  sondern  ein 
blofses   Hirngespinnst  ist. 

Allein  das  Eigenthümliche  dieser  Frage  interessirt  hier  auch  nicht, 
sondern  blofs  die  Form  des  Zweifels,  welcher  das  vermeint/ich  Gegebene 
als   erschlichen   zurückweiset. 

[15]  §■   169. 

Dinge,  mit  mehrern,  und  veränderlichen  Merkmalen,  sind  gegeben. 
Die  Veränderung  fällt  in  die  Zeit;  die  Dinge  selbst  sind  bey  vollständigen 
Auffassungen  zugleich  räumlich  bestimmt. 

Die  philosophische  Reflexion,  indem  sie  dies  Gegebene  auffafst,  hat 
es  zu  allen   Zeiten  gespalten  in  Materie  und  Form. 

Materie  des  Gegebenen  ist  die  Empfindung.  Diese  war  niemals  ein 
Gegenstand  des  Zweifels,  und  kann   es  nicht  seyn. 

Hf.riiart's  Werke.     VIII.  2 


jg  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Aber  eben  indem  wir  dieses  aussprechen,  deuten  wir  schon  an,  dafs 
die  Form,  oder  dafs  alle  Formen  der  Erfahrung  dem  Zweifel  anheim  fallen. 
Denn  warum  kann  die  Empfindung  nicht  bezweifelt  werden?  Darum 
nicht,  weil  eben  sie  das  unmittelbar  Gegebene  ist.  Also  die  Form,  die  von 
der  Materie,  das  heifst  hier,  von  der  Empfindung,  unterschieden  werden 
mufs,  ist  nicht  das  unmittelbar  Gegebene'.  Daher  der  Zweifel;  und  dieser 
mufs  vollständig  überlegt,  aber  auch  nur  als  Zweifel  vorgetragen  werden. 
Denn  bey  gehöriger  Ueberlegung  verschwindet  er,  und  eine  psychologische 
Frage  tritt  an  seine  Stelle. 

Es  ist  unvermeidlich,  hier  an  frühere  Schriften  des  Verfassers  zu  er- 
innern. Denn  der  ganze  Zweifel  gehört  erstlich  zu  den  Vorübungen  des 
Anfängers;  und  sie  sind  so  nothwendig,  dafs  sie  niemals  vergessen  werden 
dürfen.  Zweytens,  die  Aufklärung  dieses  Zweifels  ist  ein  Hauptgegenstand 
der  Psychologie;  welche  nachweisen  mufs,  wie  die  Formen  der  Erfahrung 
sich  erzeugen,  und  wie  es  zugeht,  dafs  wir  sie  allerdings  im  Gegebenen 
unzweydeutig  finden,  obgleich  in  der  That  eigentlich  nur  die  Empfindung 
das  Gegebene  ausmacht. 

[16]  Der  Leser  wolle  nun  jene  Vorübungen  auf  einen  Augenblick  bey  sich 
erneuern,  die  er  damals  anstellte,  als  er,  etwan  auf  Veranlassung  der  Ein- 
leitung in  die  Philosophie,  sich  fragte,  ob  Raum,  Zeit,  Verknüpfung  der 
Merkmale  Eines  Dinges,  Veränderung  und  Verbindung  aller  Vorstellungen 
im  Ich  ihm  wirklich  gegeben  seyen?* 

Damals  hat  der  Leser  sich  z.  B.  ein  paar  Körper  vor  seinen  Augen 
näher  und  ferner  gerückt.  Er  hat  sie  betrachtet,  und  bemerkt,  dafs  sich 
das  Sichtbare  an  diesen  Körpern  nicht  ändert,  sie  mögen  nun  etwas  näher 
oder  entfernter  von  einander  seyn,  so  lange  nicht  optische  oder  per- 
spectivische  Gründe,  die  nicht  hieher  gehören,  hinzukommen.  Er  hat 
demnach  überlegt,  wie  es  ihm  möglich  sey,  ihre  Nähe  oder  Entfernung  zu 
beobachten?  Ob  er  den  leeren  Zwischenraum  sehen  könne?  Ob  etwa  die 
Entfernung,  als  eine  bestimmte,  erkannt  werde  mit  Hülfe  des  Hinter- 
grundes, vor  welchem  die  Körper  vorübergehn;  der  jedoch  sehr  mannig- 
faltig sevn  kann,  und  der  Nachts  zwischen  ein  paar  Sternen  eigentlich  gar 
nicht  als  eine  sichtbare  Fläche  vorhanden  ist!  Ob  endlich  das  Sichtbare 
des  einen  oder  des  andern  Körpers  auf  irgend  eine  Weise  als  Merkmal 
etwas  an  sich  trage,  das  auf  den  Gegensatz  des  einen  Sichtbaren  hier, 
und  des  andern  dort,  könnte  gedeutet  werden  ? 

Um  sich  in  diesen  Fragen  recht  zu  verstehen,  und  nicht  vom  Frage- 
punete  abzuirren,  hat  der  Leser  (wenn  es  erlaubt  ist,  die  nämliche  Form 
des  Vortrags  noch  beizubehalten,  da  sie  hier  die  zweckmäfsigste  scheint) 
schon  damals  die  Zeitbestimmungen  verglichen ;  und.  nicht  blofs  bey  dem 
Auge  und  dem  Getaste,  sondern  auch  beym  Ohr,  Nachfrage  gehalten. 
Wie  macht  man  [17]  es,  wenn  zweymal  mit  dem  Finger  auf  den  Tisch 
geklopft  wird,  die  Zeitdistanz  der  Schläge  zu  hören?  Vernimmt  man  die 
Zwischenzeit  in  dem  ersten  Schalle?  Nein;  die  Zwischenzeit  hatte  noch 
nicht  angefangen.  Oder  im  letzten?  Nein!  sie  war  schon  vorbey.  Ver- 
nimmt  man    denn    die  leere  Zwischenzeit  (bey  der  an  gar  keinen  Hinter- 

*  A.  a.  O.  §  23  u.  s.  w. 


i.  Abschnitt.    Methodologie.     2.  Capitel.    Vom  Gegebenen.  19 


grund  zu  denken  ist)  für  sich  allein;  und  kann  überhaupt  das  Leere  wahr- 
genommen werden  ? 

Ferner  hat  sich  der  Leser  gefragt,  ob  ein  Ding  A,  welches  gegeben 
wird  durch  die  Merkmale  a,  b,  c,  in  Wahrheit  für  gegeben  gelten  könne? 
Seyen  a,  b,  c,  unmittelbare  Empfindungen:  so  sind  sie  selbst  unstreitig 
gegeben;  aber  wo  ist  ihre  Einheit,  das  Ding?  Ist  diese  Einheit  noch  aufser 
und  neben  a,  b,  c,  gegeben?  Nein!  Oder  ist  in  a  das  Merkmal  gegeben, 
dafs  es  Eins  sey  mit  b  und  mit  c;  in  b  die  Verbindung  mit  a  und  c; 
in  c  die  Verbindung  mit  a  und  mit  b?  Nein;  jede  Empfindung  ist  in  sich 
vollständig;  sie  enthält  nichts  von  der  andern;  sie  weiset  nicht  hin  auf  die 
andere;  sie  steht  allein. 

Hieran  knüpfte  sich  die  Frage;  ob  denn  die  Veränderung  gegeben 
sey?  Die  Complexion  a,  b,  c,  gehe  über  in  a,  b,  d;  so  hat  sich  c  in  d 
verändert.  So  sagen  wir  gewöhnlich  im  gemeinen  Leben.  Wenn  aber 
die  Einheit  der  Complexion  a,  b,  c,  und  die  Einheit  der  Complexion  aT 
b,  d,  nicht  gegeben  ist,  so  mögen  zwar  sowohl  c  als  d,  nicht  aber  ihr 
Wechsel  in  der  voreilig  angenommenen  Einheit  gegeben  seyn. 

Endlich,  die  mehreren  Vorstellungen,  die  Ich  Mir  als  Meine  Vor- 
stellungen beylege,  enthalten  sie,  jede  einzeln  genommen,  das  Merkmal, 
eine  sey  bey  der  andern  im  Ich?  Nein!  Aber  ist  die  Verbindung  noch 
neben  und  aufser  ihnen  gegeben?  Ja,  denn  das  Ich  ivcifs  unmittelbar  von 
sich,  dem  Vorstellenden  jener  Vor  st  el  lim  gen!  So  lautet  hier  aus-[i8]nahms- 
weise,  und  verschieden  von  den  vorigen  Fällen,  die  natürliche  Antwort. 
Dafs  ein  unmittelbares  Wissen  von  Sich,  dafs  das  reine  Ich  ein  Unding 
und  eine  falsche  Abstraction  ist,  lehrt  erst  die  Psychologie,  die  der  Leser 
(welchen  wir  uns  einbilden),  als  er  die  hier  erneuerten  Vorübungen  an- 
stellte, noch  nicht  kannte. 

Sein  Schlufs  aber  lautete  damals  so:  die  Formen  der  Erfahrung  müssen 
entweder  für  sich,  oder  in  der  Materie  derselben  (das  heifst,  in  der  Em- 
pfindung) gegeben  seyn.  Keim  von  bey  den  findet  statt ;  also  sind  sie  gar 
nicht  gegeben.  Hievon  ist  nur  das  Ich,  als  Vereinigungspunct  aller  unserer 
Vorstellungen,  ausgenommen;  denn  es  ist  (oder  scheint  wenigstens)  für 
sich  eesreben. 

Der  Schlufs  bewirkte  jedoch,  bey  aller  anscheinenden  Bündigkeit,  nur 
einen  Zweifel.  Denn  es  war  erstlich  nicht  möglich,  eine  solche  Ver- 
nichtung alles  Wissens,  ja  alles  Denkens,  wie  dieser  Schlufs  nach  sich 
zieht,  indem  er  alle  Fugen  der  Natur  und  Geschichte  auflöset,  auch  nur 
einen  Augenblick  ernstlich  zu  ertragen.  Es  war  zweytens  glücklicherweise 
eben  so  wenig  möglich,  um  sich  her  zu  schauen,  ohne  sogleich  sich  von 
allen  Seiten  her  wiederum  ergriffen  zu  fühlen  von  gegebenen  Gestalten,  Zeit- 
räumen, Dingen  und  Veränderungen.  Wir  nahmen  den  Faden  dieser  Be- 
trachtung erst  nach  dem  Vortrage  der  Logik  wieder  auf,*  und  erinnerten 
an  Folgendes:  wenn  die  Formen  nicht  gegeben,  sondern  blofs  eingebildet 
seyen,  so  müsse  man  ihre  Bestimmungen  können  willkührlich  verwechseln. 
Es  sey  dann  möglich,  das  Runde  als  viereckig  anzuschauen,  indem  ja  die 
Rundung    könne    weggenommen    werden    von  dem  Empfundenen,    welches 


*  Einleitung  in  die  Philosophie.     [Band  IV  vorl.  Ausgabe.]     §.  96—103. 


20  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


dagegen  füglich  die  Form  des  Vierecks  sich  könne  gefallen  lassen.  [10] 
Wenn  nämlich  .das  Sichtbare  gar  nichts  von  Raumbestimmungen  enthält, 
sondern  vielmehr  jeder  einzelne  sichtbare  Punct  nur  seine  Farbe  zeigt; 
wenn  keiner  dieser  Puncte  auf  den  andern  hinweiset,  wenn  der  Gegensatz 
des  Hier  und  Dort  weder  hier  noch  dort  gesehen  wird;  —  wenn  gleich- 
wohl solche  Gegensätze  in  das  Gegebene  hineingetragen  werden  können: 
so    wird   man    sie   beliebig,   und    anders  bestimmt,    als  bisher,    hineintragen 

können. 

Man    kann   es  nicht!    Also    ist  allerdings  die  Raumbestimmung  gegeben. 

So  schlössen  wir  nun;  und  führten  den  analogen  Schlufs  durch  die 
Reihe  der  angegebenen  Erfahrungsformen   hindurch. 

Es  war  damals  zu  erwarten,  dafs  wenn  nicht  andre,  so  doch  die 
Kantische  Schule,  hören  und  bemerken  würde,  es  sey  hier  nicht  vom 
Räume,  dem  unendlichen,  sondern  von  Raumbestimmungen,  von  Gestalten 
und  Entfernungen  der  Dinge,  die  Rede;  und  es  sey  ganz  vergeblich,  die 
o-eo-ebenen  Gestallen  auf  allgemeine  Formen  der  Sinnlichkeit  zurückzuführen, 
deren  Gestaltlosigkeit  allein  schon  hinreicht,  sie  unbrauchbar  zu  machen. 
Aber  jene  Schule  beschwichtigt  den  Zweifel,  ohne  ihn  zu  lösen,  indem  sie 
die  Aufmerksamkeit  ganz  unzeitig  auf  eine  vorgebliche  Organisation  des 
menschlichen  Erkenntnifsvermögens  lenkt,  wovon  gar  nicht  die  Frage  war. 
Hiedurch  nöthigt  sie  uns,  ausdrücklich  zu  sagen,  dafs  es  ihr  an  den  psycho- 
logischen Untersuchungen  fehlt,  zu  denen  man  getrieben  wird,  wenn  man 
nicht  blofs  wissen  will,  ob,  sondern  auch,  wie  die  Formen  der  Erfahrung 
gegeben  seyen. 

§.  170. 

Die  Psychologie  hat  zwar  eigentlich  gar  keine  Stimme  in  der  all- 
gemeinen Metaphysik.  Denn  sie  soll  in  der- [20] selben  ihre  natürliche  Vor- 
gesetzte verehren.  x\ber  kein  Zeitalter  wird  sie  von  ihren  Anmaafsungen 
ganz  heilen  können.  Denn  die  Metaphysik  erscheint  wie  eine  Person,  die 
in  tiefen  Gedanken  mit  sich  selbst  redet,  und  die  es  nicht  versteht,  ihre 
Umgebung  so  zu  regieren,  wie  es  ihr  von  Rechtswegen  zukommt.  Dies 
träumende  Ansehen  kann  und  darf  man  ihr  gar  nicht  nehmen.  Es  wäre 
zwar  sehr  leicht,  ganz  dogmatisch  ein  längst  fertiges  System  hinzustellen; 
allein  das  hülfe  dem  Leser  zu  gar  nichts.  Ihm  müssen  die  Puncte  be- 
merklich gemacht  werden,  wo  er  mit  seinem  Nachdenken  still  stehn,  und 
alte  mit  neuen  Betrachtungen  verbinden  soll. 

Während  nun  die  Metaphysik  selbst  in  Zweifel  befangen  scheint; 
während  sie,  wie  wir  weiterhin  sehen  werden,  sich  mit  Bruchstücken  von 
Begriffen  beschäftigt,  die  so  lange,  bis  sie  die  gehörige  Ergänzung  erlangt 
haben,  widersprechend  erscheinen:  gewinnt  die  Psychologie  Zeit,  nach  ihrer 
Art  und  gemäfs  der  Bildungsstufe,  wo  sie  steht,  darein  zu  reden.  Sie 
spricht  etwa:  Kennt  Ihr  Euch  selbst?  Wifst  Ihr  den  Ursprung  Eurer  Vor- 
stellungen? Wo  nicht:  wie  wollt  Ihr  die  Gränzen  der  Anwendung  Eurer 
Begriffe  richtig  bestimmen?  Wie  wollt  Ihr  vermeiden,  Euer  eignes  Bild, 
das  Ihr  im  Spiegel  seht,  für  einen  äufsern  Gegenstand  zu  halten.  Wie 
könntet  Ihr  die  Formen  Eures  Auffassens,  die  in  Euch  selbst  liegen,  unter- 
scheiden   von    den  Formen    des    Gegebenen?    Durch    solche   Reden  findet  sich 


i.  Abschnitt.    Methodologie.      2.   Capitel.    Vom  Gegebenen.  2  1 

die  Metaphysik  zwar  gestört,  aber  nicht  belehrt.  Im  Namen  der  wahren 
Psychologie  ist  hier  eine  kurze  Antwort  einzuschalten,  in  Beziehung  auf 
die   Formen  der  Erfahrung. 

Complexionen  und  Verschmelzungen,  in  unerschöpflicher  Mannigfaltig- 
keit abgestuft,  verwebt  und  zur  Wirksamkeit  gereizt,  geben  unsem  Vor- 
stellungen theils  erdichtete,  theils  erfahrungsmäfsige  Formen.  Die  Me-[2i] 
chanik  des  Geistes,  die  nicht  beym  Vorgestellten  stehen  bleibt,  sondern  in 
die  Zustände  des  Vorstellens  selbst  eindringt,  zeigt  die  möglichen  Formen 
und  die  Wirkungsarten  der  Complexionen  und  Verschmelzungen;  sie  lehrt 
hiemit  die  Bedingungen,  unter  welchen  räumliche  Gestalten,  Zeitdistanzen, 
Reihen  von  Veränderungen  vorgestellt  werden.  Die  Erfüllung  dieser  Be- 
dingungen besorgt  die  Natur;  darum  besitzen  wir  eine  Naturkenntnifs,  die 
zwar  dem  Zweifel  und  den  Verbesserungen  unterworfen ,  uns  gleichwohl 
nicht  geraubt  werden  kann,  vielmehr  siegreich  aus  allen  Schwierigkeiten 
hervorgeht.  Denn  in  den  Verknüpfungen  unserer  Vorstellungen,  sofern  sie 
durch  Erfahrung  gebildet  werden,  spiegelt  sich  allerdings  die  Verknüpfung 
der  Dinge  unter  einander  und  mit  uns;  und  dieser  Zusammenhang  zwischen 
dem,  was  in  uns,  und  dem,  was  aufser  uns  ist,  wird  durch  die  Psychologie 
dergestalt  klar,  dafs  daraus  für  die  wahre  realistische  Metaphysik  eine  nicht 
unbedeutende  Bestätigung  entspringt. 

Aber  diese  Bestätigung  ist  kein  Lehrsatz  der  Methodologie.  Wenn 
der  Leser  noch  so  genau  die  Lehre  von  den  Vorstellungsreihen,  ihren 
Reproductionsgesetzen,  und  den  Wirkungen  der  Complications-  und  Ver- 
schmelzungs-Hülfen  in  der  Psychologie  nachsehen  will:  er  wird  dadurch 
nichts  anderes  für  den  jetzigen  Zweck  erreichen,  als  nur  die  Überzeugung, 
dafs  diejenigen  Systeme  Manches  übersehen,  welche,  zum  Idealismus  sich 
neigend,  ihn  überreden  wollen,  man  müsse  die  Formen  der  Erfahrung  aus 
ursprünglichen  Formen  des  Frkenntnifsvermögetis  ableiten.  Dies  ist  die  falsche 
Lehre,  welcher  wir  durch  Berufung  auf  die  Mechanik  des  Geistes  uns  hier 
entgegensetzen;  weil  ihre  Einmischung  es  unmöglich  machen  würde,  die 
Formen  der  Erfahrung  als  die  wahren  und  einzigen  metaphysischen  Prin- 
cipien  in  der  weitern  Untersuchung  zu  \_22~]  benutzen.  Schon  oben  (§.  93.) 
ist  darüber  das  Nöthige  gesagt  worden.  Wir  kehren  nach  dieser  Ab- 
schweifung in  unsern  Zusammenhang  zurück. 

§•  171- 
Sind  die  Formen  der  Erfahrung  gegeben?  Antwort:  Ja;  sie  sind  aller- 
dings gegeben,  obgleich  nur  als  Bestimmungen  der  Art,  wie  die  Empfin- 
dungen sich  verknüpfen.  Wären  sie  nicht  gegeben:  so  könnten  wir  sie 
nicht  blofs  absondern  von  der  Empfindung,  dergestalt,  dafs  das  Empfundene 
ganz  ohne  Zusammenhang,  ganz  vereinzelt  wäre;  sondern  wir  könnten  auch 
andre  Gestalten,  andre  Zeitdistanzen,  beliebig  hören  und  sehen;  des- 
gleichen könnten  wir  Dinge  aus  Merkmalen  nach  unserer  Wahl  zusammen- 
setzen, und  abändern;  nicht  blofs  wie  jetzt  der  Dichter  thut,  indem  er 
wissentlich  phantastische  Erzeugnisse  schildert,  sondern  so,  dafs  die  er- 
sonnenen  Dinge  gänzlich  in  die  Reihe  der  wahrgenommenen  einträten, 
wofern  nur  deren  einzelne  Merkmale  in  der  Empfindung  wären  gegeben 
worden.      Der  Punct,   worauf  es   ankommt,   ist  immer  die  Gruppirung  dieser 


22  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Merkmale.  In  ihr  finden  wir  uns  gebunden,  und  gezwungen,  sobald  wir 
uns  herausnehmen,  sie  zu  verändern.  Durch  diesen  Zwang  verkündigt  uns 
die  Erfahrung,  dafs  sie  auch  der  Form  nach  gegeben  ist.  Und  diesen 
Zwang  übt  sie  aus,  wir  mögen  nun  wissen,  wie  das  zugeht,  oder  nicht. 
Darum  brauchen  wir  die  Psychologie  gar  nicht,  so  lange  wir  in  unserer 
Sphäre  bleiben,  und  uns  um  fremde  Systeme  nicht  bekümmern,  die  uns 
vom  eigentlichen  Fragepuncte  ablenken. 

Wie  viel  haben  wir  nun  bis  jetzt  erreicht? 

Schon  in  der  Einleitung  in  die  Philosophie  (§.  12.)  wurde  bemerkt: 
ein  Prinzip  müsse  zwey  Eigenschaften  haben;  erstlich  Gewifsheit  an  sich, 
zweytens  die  Fähig-[23]keit,  Anderes  durch  sich  gewifs  zu  machen,  und 
gleichsam  im  Wissen  aus  sich  heraus  zu  gehn. 

Die  erste  von  diesen  Eigenschaften  beschäfftigte  uns  bisher.  Wir  be- 
zweifelten sie  bey  den  Formen  der  Erfahrung  so  stark,  dafs  es  keinen 
stärkern  Zweifel  giebt,  noch  geben  kann;  wir  rechtfertigten  dieselben  gegen 
die  Anfechtung;  und  zwar  ganz  allgemein;  denn  bey  allen  Formen  der 
Erfahrung  kann  man  die  Probe  anbringen,  ob  sie  vertragen,  dafs  man  sie 
willkührlich  am  Empfundenen  wechseln  lasse.  Und  dies  vertragen  sie 
niemals. 

Hiemit  ist  nun  nicht  eine  bestimmte  Zahl  von  Principien  ange- 
nommen; am  wenigsten  haben  wir  uns  auf  die  Thorheit  eingelassen, 
gerade  nur  ein  einziges  Princip  dulden  zu  wollen.  Vielmehr  leuchtet  jetzt 
ein,  dafs  dieses  unerlaubt  und  lächerlich  zugleich  seyn  würde.  Unerlaubt, 
weil  keine  Willkühr,  keine  Vorliebe  in  der  Wissenschaft  wirksam  werden 
darf.  Lächerlich,  weil  derjenige  sein  Wissen  verkürzen  und  schwächen 
würde,  der  irgend  welche  Quellen  desselben  absichtlich  verstopfte. 

Wählen  können  wir  nur  insofern,  als  erstlich  der  Vortrag  der  Wissen- 
schaft eine  Zeitreihe  bildet,  die  irgendwo  anfangen  mufs;  weshalb  denn 
zweytens  der  Vorzug  der  logischen  Allgemeinheit  in  Betracht  kommt,  da 
das  Allgemeinste  für  die  Speculation  das  Leichteste  ist,  und  hingegen  das 
Mehr-Bestimmte  auch  mehr  Fragen  herbeyführen  kann;  drittens  alle  Meta- 
physik das  Wirkliche  sucht,  und  mit  leeren  Formen  sich  nur  insofern  be- 
schäfftigen  will,  wie  dieselben  sich  auf  das  Wirkliche  beziehen. 

Der  zweyte  Punct  weiset  unter  andern  die  Polaritäten  und  das  Leben 
von  dem  Anfange  der  Untersuchung  zurück;  obgleich  dies  allerdings  ge- 
gebene Formen  der  Erfahrung,  nur  nicht  allgemeine  Formen  sind.  Denn 
auf  den  Mifsbrauch  der  Worte,  [24]  wie  wenn  man  die  Weltkörper 
lebendig  nennt,  oder  auf  eingebildete  Polaritäten,  dergleichen  die  Physio- 
logen nach  Belieben  erkünsteln,  lassen  wir  uns  nicht  ein. 

Der  dritte  Punct  weiset  Raum  und  Zeit  zurück;  diese  leeren  Formen 
gehen  uns  Nichts  an,  so  lange  sie  nicht  mit  dem,  was  real  ist  oder  so  er- 
scheint, in  Verbindung  stehen.  Dasjenige  aber,  was  räumlich  und  zeitlich 
gestaltet  vor  unsre  Augen  tritt,  kann  nicht  unsre  Betrachtungen  anfangen, 
weil  die  so  gestalteten  Gegenstände  unter  den  allgemeineren  Begriff  des 
Dinges  mit  mehrern  Merkmalen  fallen,  und  dieser,  seines  logischen  Vor- 
zuges wegen,  früher  mufs  untersucht  werden. 


i.  Abschnitt.    Methodologie.     2.  Capitel.    Vom  Gegebenen. 


§■    172. 

Jetzt  aber  kommt  die  grofse  Frage  zur  Sprache:  wie  kann  aus  dem 
Gegebenen  etwas  Weiteres  folgen?  Wie  kann  das  gegebene  Wissen  sich 
selbst  vermehren  oder  überschreiten?  Wie  kann  dieses  im  Denken  ge- 
schehen ? 

Hier  wird  man  sich  an  gewisse  Lehren  erinnern,  nach  welchen  die 
Speculation,  wenn  sie  nicht  mathematisch  construiren  soll,  entweder  gar 
keine,  oder  nur  phantastische  Fortschritte  machen  würde.  Im  ersten  Falle 
wird  sie  hingewiesen  auf  Selbstbeobachtung,  und  wiederholendes  Denken 
(§.  88  —  93.),  im  zweyten  Falle  soll  sie  erzählen,  was  die  intellectuale  An- 
schauung erblickt  hat  (§  109,  nebst  dem  Vorhergehenden  und  Nach- 
folgenden); es  werden  aber  die  dort  gefundenen  Verwechselungen  noch 
in  frischem  Andenken  seyn. 

Wer  nun  Energie  des  eigenen  Denkens  besitzt,  der  wird  vielleicht 
von  selbst  zu  sich  ungefähr  so  sprechen: 

Die  speculative  Aufregung  der  menschlichen  Gedanken  ist  einmal 
vorhanden.  Woher  kann  sie  gekommen  seyn?  Wenn  das  Gegebene  sich 
ohne  alle  Veränderung  im  Denken  wieder  beobachten,  und  beliebig  wieder- 
ho-[2  5]len  läfst,  was  trieb  denn  die  Menschen  auch  nur  zu  dem  kleinsten  Ver- 
suche, darüber  hinaus  zu  gehn?  Und  wenn  jene  phantastische  Anschauung 
durch  gar  keinen  wirklichen  Stachel  des  Denkens,  keine  gegebene  Noth- 
wendigkeit  der  Speculation,  in  Schwung  gesetzt  ist:  wie  hat  denn  irgend 
Jemand  sich  durch  sie  täuschen  können;  und  warum  ist  sie  nicht  sogleich, 
überall,  von  Jedermann,  als  thöricht  und  nichtig  erkannt  worden?  —  Es 
mufs  doch  wohl  am  Gegebenen  liegen,  dafs  es  bey  den  Wiederholungen 
im  Denken  sich  nicht  gleich  bleibt;  sondern,  sich  selbst  ungetreu,  allerley 
Metamorphosen  versucht,  die  durch  einen  innern  Trieb  sich  von  allen 
Spielen  der  Einbildungskraft  unterscheiden.  Hätten  nun  die  Menschen 
diesen  Trieb  deutlich  erkannt:  so  würden  sie  in  ihrem  Denken  ihm  ge- 
meinschaftlich Folge  leisten;  und  dann  käme,  wo  nicht  eine  Wissenschaft, 
so  doch  eine  notwendige  und  einstimmige  Bewegung  des  Denkens,  statt 
der  bisherigen  Streitigkeiten,  zu  Stande. 

Diese  Betrachtungen  sind  leicht  fortzusetzen.  Denn  schon  in  der 
Einleitung  in  die  Philosophie  war  es  die  allernothwendigste  Vorübung  des 
Anfängers,  die  Widersprüche  zu  erkennen,  welche  beym  Reflectiren  auf  die 
Formen  der  Erfahrung  gefunden  werden.  In  der  Psychologie  mufsten  wir 
durch  ausführliche  Darlegung  des  Ursprungs  dieser  Formen  jene  Irr- 
lehren hinwegschaffen,  nach  welchen  Raum,  Zeit,  Substanz,  Ursache,  und 
das  Ich,  eben  so  viele  ursprüngliche,  unveränderliche  und  ganz  gesunde 
Grundzüge  des  Organismus  unserer  Vernunft  seyn  sollen.  Aber  hier,  an 
diesem  Orte  in1  der  Methodologie,  können  wir  die  Antwort  auf  die  vor- 
liegende Frage  am  umfassendsten  dadurch  geben,  dafs  wir  uns  auf  das 
gleich  folgende  Capitel  beziehen,  zu  welchem  sie  den  Übergang  bahnt, 
indem  darin  die  Frage,  wie  vielfach  Gründe  und  Folgen  zusammenhängen 
können,    allgemein    zur  Untersu-[>6]ehung    kommt.     Alsdann  versteht  sich 


1   an   diesem   Orte  der  Methodologie  S\V.   (»in«    fehlt). 


ii  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


von  selbst,  dafs,  ucm/  die  Formen  der  Erfahrung  auf  mehr  als  eine  Weise 
den  Bedingungen  eines  solchen  Zusammenhangs  entsprechen.,  sie  auch  eben  so 
vielfach  Gründe  abgeben  können,  aus  denen  sich  cm  weiteres  Wissen  ableiten  läfst. 


Drittes  Capitel. 
Vom  Zusammenhange  der  Gründe  und  Folgen. 

§•  iJo- 

Metaphysik,  hört  man  oft  sagen,  ist  nach  der  langen  Erfahrung  von 
Jahrtausenden  ein  vergebliches  Bemühen. 

Wer  auf  diese  Betrachtung  irgend  ein  Gewicht  legt,  der  komme  und 
sehe,  auf  welche  Weise  das  vergebliche  Bemühen  bisher  ist  angestellt  worden. 

Die  erste  aller  Fragen  für  den,  welcher  durch  Speculation  sein  Wissen 
erweitern  wollte,  war  unstreitig  die:  wie  folgt  Eins  aus  dem  Andern?  Was 
ist  ein  Grund?    Was  heifst  eine  Folge? 

Das  meinte  man  aus  der  Logik  zu  wissen.  Aber  man  bemerkte  nicht, 
dafs  der  Begriff  eines  Zusammenhangs  zwischen  Grund  und  Folge,  wenn 
er  nicht  einer  sorgfältigen  Läuterung  unterworfen  wird,  ein  logisches  Un- 
geheuer ist,  ein  Widerspruch. 

Die  Folge  soll  liegen  in  dem  Grunde.  Aber  sie  soll  auch  aus  ihm 
folgen,  das  heifst,  sie  soll  sich  von  ihm  absondern.  Liegt  sie  nun  wirk- 
lich in  ihm,  so  gehört  sie  zu  ihm;  und  wer  sie  willkührlich  von  ihm  trennt, 
der  hat  nicht  sein  Wissen  erweitert,  vielmehr  hat  er  blofs  wiederholt,  was 
er  schon  wufste,  da  er  den  Grund  wufste.  Lehrt  aber  die  Folge  etwas 
Neues:  so  ist  dies  [27]  Neue  nicht  das  Alte,  und  lag  nicht  in  dem 
Grunde;   es  heifst  dann  mit  Unrecht  eine  Folge  aus  demselben. 

Will  man  nun  die  Folge  in  dem  Grunde  lassen?  Dann  ist  nicht 
Zweyerley,  nämlich  Grund  und  Folge,  vorhanden,  sondern  nur  Einerley; 
und  das  ist  keins  von  beyden. 

Will  man  die  Folsre  sondern  vom  Grunde?  So  mufs  sie  etwas  Neues 
enthalten;  das  aber  ist  ihm  fremd,  es  folgt  nicht  aus  ihm.  Nun  ist 
Zweyerley  vorhanden,  allein  es  hängt  nicht  zusammen,  es  ist  weder  Grund 
noch  Folge. 

Wie  hat  man  es  angefangen,  sich  diese  einfache  Bemerkung  zu  ver- 
hüllen? —  Natürlich  hat  man  der  Strenge  der  Begriffe  etwas  vergeben. 
Und  das  würden  wir  auch  thun,  wenn  es  nöthig  wäre;  denn  wozu  sollten 
wir  ein  logisches  Ungeheuer  in  Schutz  nehmen?  Nur  mufs  es  mit  Be- 
sonnenheit geschehen;  wir  müssen  wissen,  was  wir  thun.  Und  vor  allem: 
die  Erkenntnis  mufs  sich  erweitern;  das  ist  der  Zweck,  den  wir  im  Auge 
behalten  sollen. 

§•  174- 

Man  konnte  sehr  leicht  die  Strenge  der  Begriffe  vermindern,  wenn 
man    entweder   zugab,    der  Grund    möge    sich   ganz  oder  theilweise  in  der 


i.  Abschnitt.     Methodologie.      3.   Capitel.     Vom   Zusammenhange  der  Gründe  etc.       25. 

Folge   wiederholen;    oder  die  Folge  möge  etwas  Neues,  das  nicht  in  dein 
Grunde  enthalten  sey,  mitbringen,   oder  beydes  möge  zugleich  statt  finden. 

In  der  Logik  liegt  das  Verhältnis  des  allgemeinen  Begriffs  zu  seinen 
untergeordneten,  den  übrigen  Lehren  zum  Grunde.  Nennen  wir  nun 
jenen  a,  diese  a  und  ß,  so  mag  wohl  a  der  Grund  heifsen  von  «  und  ß> 
dann  sind  die  Folgen  aus  ihm,  insofern  sie  ihn  als  Merkmal  enthalten, 
während  sie  gesondert  von  ihm  dadurch  sind,  dafs  sie  noch  eigne  specifische 
Differenzen  [28]  in  sich  tragen.  Wollen  wir  denn  sagen,  der  Begriff  Men seh 
sey  der  Grund  der  Begriffe  Mann  und  Weib?  Und  der  Begriff  Iflanze  sey 
der  Grund  der  Begriffe  Rose  und  Eiche?  Schwerlich!  Eher  kehrt  man  es 
um,  und  spricht:  hier  ist  ein  Mann,  also  hier  ist  ein  Mensch.  Hier  eine 
Rose,  also  hier  ist  eine  Pflanze.  Man  erträgt  es  alsdann,  dafs  die  Folge 
nur  Wiederholung  eines  Theils  vom  Grunde  sey.  Aber  dadurch  entfernen 
wir  uns  gerade  vom  Ziele.  Unser  Zweck  war  Erweiterung  des  Wissens; 
die  subalternirende  Fortschreitung  aber,  an  die  wir  so  eben  erinnerten,, 
verkleinert  das  Quantum  des  Vorgestellten,  den   Inhalt  des  Begriffs. 

Der  Deutlichkeit  wegen  dürfen  wir  nicht  rasch  fortschreiten.  Wir 
wollen  also  Beyspiele  suchen,  und  dabey  verweilen;  um  fürs  erste  den 
Sprachgebrauch  zu  beobachten. 

Wenn  man  im  rechtwinklichten  Dreyecke  ein  Perpendikel  auf  die 
Hypotenuse  aus  dem  gegenüberliegenden  rechten  Winkel  fallen  läfst:  so 
erzeugen  sich  zwey  Dreyecke,  beyde  ähnlich  dem  Ganzen.  Jede  Kathete 
des  ursprünglichen  ist  nun  die  mittlere  Proportionale  zwischen  der  Hypo- 
tenuse und  einem  Abschnitte  derselben;  und  indem  man  die  Quadrate  der 
Katheten  addirt,  findet  sich  der  pythagoräische  Lehrsatz.  In  diesem  Bey- 
spiele mufs  das  Verhältnifs  zwischen  Grund  und  Folge  unverwerfiich  zu 
erkennen  seyn.  Auch  liegt  die  Folge  offenbar  am  Tage;  aber  was  ist 
hier  der  Grund?  Ist  es  das  rechtwinklichte  Dreyeck?  Aus  diesem  allein 
folgt  der  Satz  nicht.  Ist  es  das  Perpendikel?  Vielleicht!  Denn  nach- 
dem dieses  gefället  war,  lagen  die  Proportionen,  die  Quadrate  der 
Katheten,  und  deren  Summe  vor  Augen.  Aber  doch  sieht  der  Knabe, 
der  zuerst  Geometrie  lernt,  in  dem  schon  gezogenen  Perpendikel  noch 
nicht  den  Lehrsatz;  man  mufs  ihm  den  Beweis  erst  Punct  für  Punct 
zeigen;  man  erinnert  ihn  [29]  dabey  an  mehrere  frühere  Sätze,  welchen 
das  Vorliegende  successiv  untergeordnet  wird. 

Wir  unterscheiden  nun  fürs  Erste  die  logischen  Schlüsse  in  dieser 
Unterordnung  von  dem  Eingriff  in  das  gegebene  Dreyeck,  welchen  wir 
thaten,  als  wir  die  Figur  durch  das  hineingezeichnete  Perpendikel  ver- 
mehrten. Dieser  Eingriff  war  einer  von  den  Kunstgriffen,  die  uns  in  der 
Mathematik  so  oft  begegnen,  und  deren  Wirkung  darin  besteht,  dafs  sie 
den  vorliegenden  Gegenstand  in  eine  bekannte  und  fertige  Vorstellungsreihe 
hineinführen,  die  alsdann  von  selbst  abläuft.  Man  könnte  sagen:  diese 
Kunstgriffe  erweitern  den  Grund,  aus  welchem  die  Folge  hervorgehen  soll. 

So  wird  die  Gleichung  x2  -j-  ax  -}-  b  =  o  auflösbar,  indem  man  das  Qua- 
drat ergänzt,  oder  eigentlich,  indem  man  x2  -\-  ax  als  eine  Differenz  betrachtet, 

nämlich  als  =  (x  -| — —  a)  2 —  a2.  Man  fafst  hier  eine  zufällige  An- 
sicht (ein  Ausdruck,  dessen  wir  uns  in  der  Folge  oft  bedienen  werden) 
von    der  Gröfse    x2  -f-  ax.      Deutlicher   vielleicht   sieht   man    dieses   in  ein 


2.t>  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1819. 


paar  andern  Beyspielen.  Die  eubische  Gleichung  x3  -\-  bx  —  c  =  o  wird 
aufgelöset,  indem  man  x  =  y  —  z  setzt;  oder  es  als  Differenz  zweyer 
andern  unbekannten  Gröfsen  betrachtet.  Welche  unbekannten  Gröfsen  ? 
Das  ergiebt  sich  nunmehr  von  selbst.  Denn  da  x3  =  y3  —  3y2z  -|-  3yz2 
—  zj  seyn  mufs;  dieses  nämliche  aber  vermöge  der  gegebenen  Gleichung 
auch  =  c  —  bx  seyn  soll:  so  zerfällt  es  in  zwey  Theile,  deren  einer  den 
Factor  x  enthält,  und  zugleich  negativ  ist;  der  andre  nicht.  Der  letztere 
ist  y3  —  zj;  als  den  erstem  erkennt  man  sehr  leicht  3yz  (z  —  y),  also 
bx  =  3yzx;  und  c  =  y3  — z3;  da  nun  x  aus  der  erstem  dieser  Gleichungen 
herausfällt,  so  kann  man  aus  ihnen  sowohl  y  als  x,  mithin  z  selbst1  finden. 
Nicht  ganz  so  von  selbst  ergiebt  sich  die  nähere  Be-  [30] Stimmung  der 
zufälligen  Ansicht,  die  man  braucht,  bey  der  sinnreichen  Integration  von 
dy  -{-  Pydx  =  Qdx.  Man  setzt  hier  zwar  y  =  Xu,  behält  sich  aber 
eine  zweckmässige  Bestimmung  dieser  beyden  willkührlichen  Factoren 
noch  vor.  Erst  nach  der  Differentiation  wird  Xdu  -\-  udX  -\-  PXudx 
=  Qdx ;  nun  erhält  die  zufällige  Ansicht  ihre  nöthige  Bestimmung  durch 
einen    glücklichen    Versuch,    indem    man    annimmt:    udX  -}-  PXudx  =  o. 

Dieses  nämlich  giebt  — -  =  —  Pdx,  und  X  =  e  '  woraus  alsdann 

du  =  e  .     Qdx  und  alles  übrige  von  selbst  folgt. 

Hat  nun  die  Schwierigkeit  der  Frage,  wie  Gründe  und  ihre  Folgen 
zusammenhängen  können,  sich  durch  Vergleichung  dieser  Beyspiele,  in 
thncn  offenbar  die  Kennt?iis  fortschreitet,  um  Etwas  vermindert?  Es  scheint 
so.  Man  sieht  wenigstens  den  anfänglichen  Gedanken  sich  erst  erweitern, 
dann  wieder  zusammenziehn;  und  es  ist  kein  Wunder,  dafs  die  Folge 
etwas  Neues  enthält,  was  man  in  dem  Grunde  Anfangs  nicht  erblickte; 
denn  der  Grund  hat  etwas  Neues  angenommen.  Nur  scheint  es  bis  jetzt 
ganz  dem  glücklichen  Zufall  überlassen,  ob  Jemand  das  errathen  werde, 
was  der  Grund  annehmen  kann,  ohne  verdorben,  und  was  er  annehmen 
mufs,  um  fruchtbar  zu  werden.  Millionen  von  Menschen  könnten  ihr  ganzes 
Leben  lang  über  der  Integration  von  dy  -\-  Pydx  =  Qdx  brüten,  selbst 
nachdem  man  ihnen  den  Sinn  der  Aufgabe  erklärt  hätte;  sie  würden  doch 
ohne  lange  mathematische  Übung  auf  die  beyden  Schlüssel  des  Räthsels, 
y  =  Xu  und  dX  -|-  PXdx  =  o,  nicht  leicht  kommen.  Ihre  Gedanken 
würden  entweder  still  stehn,  oder  sie  würden,  wie  die  bisherigen  Meta- 
physiker,  alles  in  der  [31]  Welt  eher  vermuthen,  als  dafs  ihnen  der 
Schlüssel   so  nahe  vor  den  Füfsen  liege. 

§•  175- 

Um  nicht  dem  Glücke  zu  viel  Glauben  zu  schenken,  und  dem  ab- 
sichtlich fortschreitenden  Denken  nicht  Unrecht  zu  thun,  wollen  wir  das 
erste  Beyspiel  wenigstens  noch  anders  behandeln.  Der  glückliche  Zufall, 
dafs  sich  aus  dem  rechten  Winkel  des  Dreyecks  auf  die  Hypotenuse  ein 
Perpendikel  herabsenke,  lälst  sich  entbehren,  wenn  man,  um  einen  Antrieb 
zum    fortschreitenden  Denken   zu   haben,    das   rechtwinklichte  Dreyeck   als 

1   mithin  sz  elbst   S\V.   (Druckfehler). 


i.  Abschnitt.     Methodologie.     3.  Capitel.     Vom  Zusammenhange  der  Gründe  etc.       27 

Gegenstand  einer  Aufgabe  betrachtet;  nämlich  die  Abhängigkeit  der  Hypo- 
tenuse von  den  Katheten  zu  finden. 

Man  wird  diese  Aufgabe  vereinfachen,  indem  man  eine  Kathete,  als 
Maafsstab  der  übrigen  Gröfsen,  zur  Einheit  nimmt.  Dann  ist  nur  die 
andre  veränderlich,  und  nach  ihr  richtet  sich  die  Hypotenuse.  Der  Lehr- 
satz, 1  -{-  x2  =  y2,  soll  nun  ohne  alle  Hülfslinien,  oder  andre  glückliche 
Einfälle,  blofs  dadurch  gefunden  werden,  da/s  man  den  in  der  Aufgabe  schon 
liegenden  Begriffen   als    Wegweisern  folgt. 

Da  die  Hypotenuse  abhängt  vom  Verändern  der  Kathete:  so  ver- 
ändere man  wirklich;  denn  ohne  dieses  zu  thun,  kann  man  sich  den  Be- 
griff der  Abhängigkeit  nicht  entwickeln.  Wenn  nun  eine  Kathete  wächst, 
so  wird  der  auf  ihr  befindliche  Endpunct  der  Hypotenuse  fortgeschoben, 
und  die  Hypotenuse  dreht  sich  um  den  andern  Endpunct.  Die  Drehung 
beschreibt  einen  unendlich  kleinen  Kreisbogen,  der  mit  den  Differentialen 
(nicht  etwa  Differenzen,  denn  das  Wachsen  soll  nur  die  Abhängigkeit  der 
Function  ausdrücken,  aber  keine  neue  Gröfse  erzeugen)  ein  rechtwinklichtes 
Dreyeck  einschliefst.  Da  die  Gröfsen  nur  im  -Begriff  [32]  sind,  sich  zu 
verändern:  so  ist  der  Winkel  zwischen  dx  und  dy  noch  derselbe,  wie 
zwischen  x  und  y;  das  Differential  -  Dreyeck  ist  ähnlich  dem  gegebenen. 
Also  dx:  dy  =  y  :  x,  oder  ydy  =  xdx;  und  y2  =  x2  -|-  C;  wo  die  Con- 
stante  für  x  =  o  offenbar  gleich  der  Einheit,  dem  Quadrate  der  unver- 
änderten Kathete  ist;   mithin  y2    =  x2  -\-  1. 

Dieser  Beweis  des  pythagoräischen  Satzes  soll  hier  blofs  dazu  dienen, 
der  übereilten  Voraussetzung,  als  ob  glückliche  Einfälle  allein  das  Denken 
wahrhaft  fördern  hönnten,  vorzubeugen.  Nicht  alle  Auflösungen  müssen 
nothwendig  neue  Hülfsgröfsen  unerwartet  einführen,  sondern  es  giebt  auch 
deren,  welche  blofs  verlangen,  dafs  man  die  schon  in  der  Aufgabe  liegen- 
den Begriffe  so,  wie  es  ihnen  angemessen  ist,  entwickele. 

§.   176. 

Den  zufälligen  Ansichten,  von  denen  wir  vorhin  sprachen,  würde  man 
nun  keinen  Vorwurf  machen  können,  wenn  sie  die  Beschaffenheit  blofser 
Einfälle  ablegten,  und  dagegen  von  den  Aufgaben  selbst  mit  Nothwendig- 
keit  herbeygeführt  und  hinlänglich  bestimmt  würden. 

Geschieht  dies  nicht,  üherläfst  man  sich  vielmehr  dem  glücklichen  Treffen, 
so  sind  die  Gründe,  von  denen  man  ausgeht,  offenbar  unzureichend,  um  die 
Folgen  zu  erkennen.  So  ist,  nach  dem  zuerst  angeführten  Beweise,  nicht 
das  rechtwinklichte  Dreyeck  für  sich,  sondern  das  schon  durchs  Perpendikel 
getheilte,  schon  als  ähnlich  seinen  beyden  Theilen  betrachtete  Dreyeck  der 
Grund.  In  dieser  Betrachtung  liegt,  als  ein  Theil  derselben,  die  Vor- 
stellung der  Katheten  als  mittlerer  Proportionalen,  deren  Quadrate  zweyen 
Rechtecken  gleich  sind;  zwischen  welchen  nun  noch  in  dem  Quadrate 
der  Hypotenuse  eine  Scheidewand  läuft,  die  in  [33]  dem  Lehrsatze  un- 
erwähnt bleibt.  Zu  der  unmittelbaren  Folge  aus  dem  Grunde  gehört  aber 
allerdings  diese  Scheidewand;  die  eine  nähere  Bestimmung  der  Art  und 
Weise  abgiebt,  wie  das  Quadrat  der  Hypotenuse  gleich  sey  den  Katheten. 
Der  Lehrsatz,  wie  er  gewöhnlich  ausgesprochen  wird,  ist  selbst  nur  ein 
Theil  des  ganzen  Gedankens,  den  der  Grund  darbietet. 


28  Allgemeine   Metaphysik  nebst  den   Anfängen   etc.      1829. 


Also  achte  man  auf  den  ganzen  Grund,  und  auf  die  ganze  Folge. 
Was  auf  den  ersten  Blick  als  Grund  und  Folge  erscheint,  das  kann  leicht 
blofs  ein  Theil  von  dieser  und  von  jenem  seyn. 

Die  ganze  Folge  aber  ist  in  dem  vorliegenden  Beyspiele  wirklich  ein 
Theil  des  ganzen  Grundes;  denn  die  Ähnlichkeit  des  Dreyecks  mit  seinen 
Theilen  enthielt  aufser  der  Proportionalität  derjenigen  bestimmten  Seiten, 
die  man  gerade  in  Betracht  zog,  noch  andre  Proportionen,  welche  gleich- 
sam unbemerkt  liegen  blieben. 

Es  ist  also  nicht  unpassend  oben  (§.  173.)  bemerkt  worden,  dafs  die 
Folge  nur  einen  Theil  des  Grundes  wiederholen  könne;  nämlich  des  ganzen 
Grundes!  Die  Totalität  des  Grundes  wird  dasjenige  seyn,  was  unsre  Auf- 
merksamkeit bey  einer  schärferen  Untersuchung  vorzugsweise  in  Anspruch 
nimmt. 

Bey  unserem  Beweise  durch  Differentialrechnung  erscheint  die  Sache 
etwas  anders.  Aber  sie  scheint  nur  so.  Der  ganze  Grund  ist  dort  die 
Beziehung  zwischen  dem  Differential  und  seinem  Integral;  von  welchen 
bevden  jenes  früher  vor  Augen  lag,  und  dieses  daraus  geschlossen  wurde. 
Der  Act  des  Folgerns  selbst  war  nur  das  Herausheben  des  Integrals  aus 
dem  Systeme  von  Begriffen,  worin  dasselbe  mit  dem  Differential  zusammen- 
hängt. So  gerade  war  oben  die  Ähnlichkeit  der  Dreyecke  ein  System  von 
Beziehungen,  woraus  die  Katheten  als  mittlere  Proportionalen  hervortraten. 

[34]  §•  177- 

Wir  wollen  die  Beyspiele  nicht  sparen;  und  uns  damit  nicht  auf 
Mathematik  beschränken.  Freylich  können  wir  nur  zuverlässige  und  genau 
bestimmte  Beyspiele  gebrauchen. 

Jedermann  kennt  das  Gesetz  der  elektrischen  Vertheilung.  Nach  der 
Symmerschen,  jetzt  beliebten  Meinung  ausgesprochen,  heifst  es  so:  Ein 
elektrisirter  Körper  zieht  die  ungleichartige  Elektricität  des  ihm  angenäherten 
herbey,  und  stöfst  die  gleichartige  zurück;  indem  die  ungleichartigen  Elek- 
tricitäten  sich  gegenseitig  in  einen  Zustand  geringerer  Wirksamkeit  gegen 
jede  dritte  Kraft  versetzen.  Von  diesem  Gesetze,  als  dem  Grunde,  sind 
zwey  bekannte  elektrische  Werkzeuge  abhängig;  nämlich  der  Condensator 
und  der  Multiplicator. 

Der  Condensator  beruht  darauf,  dafs  ein  elektrischer  Körper  desto 
mehr  neue  Elektricität  annimmt,  je  mehr  die,  welche  er  schon  besitzt, 
durch  den  gegenüberstehenden  Körper,  und  die  darin  vorgegangene  Ver- 
theilung, gebunden,  also  am  Zurückstofsen  der  noch  aufzunehmenden 
Elektricität  gehindert  wird. 

Der  Multiplicator  beruht  darauf,  dafs  man,  statt  Eines  vestzusammen- 
hängenden  Körpers,  deren  zwey,  die  sich  berühren,  in  gerader  Linie  dem 
elektrisirten  gegenüberstellt.  Beyde  erleiden  die  Vertheilung,  als  ob  sie 
nur  ein  einziger  Körper  wären;  nun  nimmt  man  denjenigen,  in  welchem 
die  entgegengesetzte  Elektricität  angehäuft  war,  hinweg;  und  überträgt  die- 
selbe auf  einen  Condensator,  welches  vermöge  der  Umdrehung  einer  Axe 
sich  nach  Belieben  wiederholen  läfst. 

Wir  haben  hier  zwey  Folgen  aus  Einem  Grunde,  worin  sich  ver- 
schiedene Theile  desselben  wiederholen.      Bey  der  Erfindung  des  Conden- 


i.  Abschnitt.     Methodologie.     3.  Capitel.    Vom  Zusammenhange  der  Gründe  etc.       20 

sators  war  die  Aufmerksamkeit  gerichtet  auf  den  elektrisirten  Körper,  der 
sich  noch  stärker  werde  elektrisiren  lassen;  bey  der  Erfin-[35]dung  des 
Multiplicators  wurde  reflectirt  auf  denjenigen  Theil  des  gegenüberstehenden 
Körpers,  welcher,  durch  die  Vertheilung  zunächst  afflcirt,  wenn  er  beweg- 
lich war,   die  entgegengesetzte   Elektricität  mit  sich   tragen  konnte. 

Die  erste  dieser  Erfindungen  ist  sehr  einfach.  Eine  gebundene  Kraft 
leistet  weniger  Widerstand  gegen  eine  hinzukommende.  Das  ist  der  ganze 
Gedanke.  Man  brauchte  nur  den  Begriff  der  gebundenen  Kraft  zu  ent- 
wickeln, so  ergab  sich,  dafs  sie  jetzt  nicht  thun  könne,  was  sie  sonst  thun 
würde.  Und  dieses,  zvas  sie  sonsf  thun  ivürde,  mufste  nun  versucht  werden; 
nämlich  ob  sie  wohl  ihre  gewohnte  Repulsion  gegen  neue  Elektricität  aus- 
üben werde?    Das  Gegentheil  davon  war  die  verlangte  Condensation. 

Die  zweyte  Erfindung  zeigt  deutlicher,  dafs  etwas  hinzukommen  mufste, 
um  aus  dem  Grunde  die  Folge  zu  ziehen;  und  zwar,  wie  in  den  obigen 
Beyspielen,  eine  zufällige  Ansicht.  Nämlich  der  gegenüberstehende  Körper 
liefs  sich  betrachten  als  bestehend  aus  zwey  Theilen.  Diese  Ansicht  mufste 
ausgeführt,  und  der  vordere  Theil  beweglich  gemacht  werden. 

Keine  von  beyden  Erfindungen  erfordert  *  ein  weitläufiges  Nachdenken. 
Dennoch  sind  sie  äufserst  sinnreich;  das  heifst,  es  zeigen  sich  in  ihnen  zwey 
glückliche  Einfälle.  Unzählige  Menschen  würden  weder  den  einen  noch 
den  andern  gehabt  haben,  wenn  sie  auch  das  Gesetz  der  elektrischen 
Vertheilung  noch  so  gut  gekannt  hätten.  Also  war  dieses  Gesetz  wieder- 
um nicht  der  ganze  Grund;  und  nicht  aus  ihm  allein  flofs  die  Folge;  wir 
sehn  also  auch  hier,  wie  leicht  man  dasjenige  Grund  nennt,  was  doch  nur 
ein  Theil  des  Grundes  ist. 

[36]  §■  178. 

Wie  nützlich  es  auch  dem  Leser  seyn  mag,  sich  zu  der  wichtigen 
und  schweren  Frage,  bey  der  wir  stehen,  noch  neue  Beyspiele  zu  suchen 
und  zu  analysiren:  so  müssen  wir  ihm  doch  dieses  jetzt  überlassen. 

Was  aber  vermögen  denn  überhaupt  die  Beyspiele  in  diesem  Falle? 
Etwa  eine  vollständige  Theorie  der  Gründe  und  Folgen  aus  ihnen  her- 
zuleiten? In  Beyspielen  ist  niemals  Vollständigkeit;  und  wenn  der  Meta- 
physik so  leicht  geholfen  werden  könnte,  so  möchte  dies  wohl  längst  ge- 
schehen seyn.  Gerade  im  Gegentheil  ist  zu  vermuthen,  dafs  zum  meta- 
physischen Nachdenken  noch  gewisse  Brücken  für  die  Gedanken  nöthig 
seyn  werden,  die  bisher  weder  Mathematikern  noch  Physikern  in  den  Sinn 
gekommen  sind.  Warum  hätte  man  sonst  unterlassen,  ihrem  Vorgange 
zu  folgen? 

Etwas  jedoch  können  wir  von  den  Beyspielen  fordern.  Sie  beweisen 
die  Möglichkeit  der  Sache.  Sie  müssen  also  Aufklärung  geben  über  den 
Widerspruch,  den  wir  im  Begriffe  des  Zusammenhangs  zwischen  Grund 
und  Folge  gefunden  haben.  Die  Folge,  meinten  wir,  müsse  identisch  und 
auch  nicht  identisch  seyn  mit  dem  Grunde,  oder  einem  Theile  desselben. 
Wäre  sie  nicht  identisch,  so  läge  sie  nicht  im  Grunde,  und  wäre  keine 
Folge,    sondern    etwas  Fremdartiges.     Wäre  sie  identisch,    so  unterschiede 

1  fordert  SW. 


•3Q  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

sie    sich   nicht   vom  Grunde,    sondern  fiele  mit  ihm  zusammen,    oder  viel- 
mehr,   sie   käme    gar  nicht  heraus,    sondern  bliebe  liegen  in  dem  Grunde. 

Die  Beyspiele  warnen  uns  nun,  dafs  wir  nicht  einen  Theil  des  Grundes 
für  den  ganzen  Grund  halten  sollen.  Also  mufs  wohl  der  ganze  Grund 
ein  gröfseres  System  von  Begriffen  seyn,  in  welches  man  durch  ein  ge- 
wisses Thor,  das  für  den  Grund  gehal-\_$~~]ten  wird,  hineingeht,  und  zu 
einem  andern  Thore,  das  man  die  Folge  nennt,  wieder  herauskommt. 

Eine  kubische  Gleichung  zum  Beyspiel  ist  ein  System  von  Begriffen, 
das  man  vollständig  so  bezeichnet: 

x3  -j-  ax2  -j-  bx  -f-  c  =  y. 

Nun  gehören  dazu  drev  Wurzeln,  zwey  (mögliche  oder  unmögliche) 
Maxima,  und  ein  Wendungspunct.  Aber  jene  Auflösung  nach  der  Car- 
danischen  Regel,  deren  wir  oben  erwähnten,  geht  durch  dies  System  von 
Begriffen  auf  eine  Weise  hindurch,  wobey  der  gröfste  Theil  desselben  gar 
nicht   berührt   wird;    man   findet   nämlich  nur  Eine  Wurzel  der  Gleichung. 

Wenn  nun  aus  einem  Grunde  die  Folge  soll  gefunden  werden,  so 
wird  dasjenige,  was  man  den  Grund  nennt,  nur  ein  Theil  eines  gröfseren 
Ganzen  seyn;  es  wird  in  einigen  Fällen  zureichen,  um  dies  Ganze  vor 
Augen  zu  stellen,  manchmal  aber  auch  unzulänglich  hiezu  seyn,  daher 
denn  noch  glückliche  Einfälle  hinzukommen  müssen.  Die  Folge  aber  wird 
von  demselben  Ganzen  ein  andrer  Theil  seyn. 

Hieher  gehört  nun  auch  die  Bemerkung,  dafs  aus  einem  Grunde  eine 
Menge  von  Folgen  hervorgehn  kann,  je  nach  der  Beschaffenheit  des  Systems 
von  Begriffen,  wozu  sowohl  Grund  als  Folge  zu  rechnen  sind.  Die  höhern 
Gleichungen,  mit  der  Menge  von  Wurzeln,  die  ihnen  selbst,  und  ihren 
Differentialgleichungen  angehören,  sind  offenbar  gröfsere  und  reichere 
Systeme,  als  die  niedrigem  Gleichungen. 

So  läge  denn  der  obige  Widerspruch  darin,  dafs  man  Grund  nennt, 
was  seiner  Unzulänglichkeit  wegen  diesen  Namen  nicht  verdient.  Dem 
sogenannten  Grunde  ist  die  Folge  nicht  identisch,  aber  sie  fliefst  auch  nicht 
aus  ihm.  Von  dem  wahren  und  ganzen  Grunde  ist  die  Folge  ein  Theil, 
oder  mit  einem  Theile  desselben  iden-[38]tisch;  daher  auch  nur  eine 
Wiederholung  in  einem  abgesonderten  Gedanken. 

Es  könnte  nun  wohl  scheinen,  als  hätten  wir  die  Schwierigkeit  nur 
verschoben.  Dem  sogenannten  Grunde  wollen  wir  die  Kraft,  die  Folge 
zu  erzeugen,  nicht  beylegen.  Wo  bleibt  denn  eben  diese  Kraft?  Ver- 
steckt sie  sich  unter  den  übrigen  Theilen  des  ganzen  Grundes?  Warum, 
wenn  diese  mehr  vermögen,  wendeten  wir  uns  nicht  gleich  an  sie?  — 
Bey  einiger  Überlegung  wird  man  es  ganz  aufgeben,  irgendwo  eine  be- 
sondere Kraft  zu  suchen,  woraus  die  Folge  hervorgehn  könnte.  Kein  Theil 
des  Grundes  hat  im  Allgemeinen  einen  Unterschied,  einen  Vorzug  vor 
den  übrigen  Theilen;  sondern  der  Sinn  unsrer  ganzen  Betrachtung  ist 
dieser:  der  Grund  mufs  zusammengesetzt  seyn;  und  die  Zusammensetzung 
mufs  die  Folge  hervorbringe?!. 

Dasselbe  gilt  aber  auch  von  der  Folge. l  Wäre  sie  ein  Begriff  ohne 
innere  Mannigfaltigkeit,  oder  sollte  auf  das  Mannigfaltige  darin  nicht  Rück- 

1  Dasselbe  gilt  aber  von  der  Folge.     SAV.  (»auch«  fehlt). 


I.  Abschnitt.    Methodologie.      3.  Capitel.     Vom  Zusammenhange  der  Gründe  etc.       31 


sieht  genommen  werden,  so  läge  die  Folge  schon  ganz  fertig  in  dem  Grunde ;. 
sie  wäre  ein  Theil  desselben,  den  man  nur  so  einfach,  wie  er  sich  darin 
befände,  heraushöbe,  ohne  dadurch  irgend  eine  neue  Einsicht  zu  gewinnen. 
Es  ist  das  Wenigste,  was  wir  verlangen  können,  dafs  uns  die  Folge 
eine  neue  Verbindung  solcher  Begriffe  darstellen  solle,  die  einzeln  ge- 
nommen schon  in  dem  Grunde  lagen. 

§•   179- 

Wir  sind  zwar  noch  lange  nicht  am  Ziele;  aber  einen  Ruhepunct 
kann  unsere  Überlegung  sehr  bald  erreichen,  wenn  wir  uns  die  so  eben 
gemachte  Bemerkung  vorläufig  gefallen  lassen.  Nur  mufs  hier  ein  genauer 
Unterschied  gemacht  werden. 

[39]  Soll  die  Folge  lediglich  eine  neue  Verbindung  seyn:  so  nehmen 
die  Materialien,  welche  der  Grund  darbietet,  in  ihr  eine  neue  Form  an. 
Alsdann  aber  unterscheidet  sich  die  Folge  der  Materie  nach  nicht  von  dem 
Grunde.  Hiedurch  beschiänkt  sich  die  Sphäre  miserer  Untersuchung  auf 
etwas  Bekanntes,  das  wir  sogleich  werden  mit  seinem  gewohnten  Namen 
bezeichnen  können. 

In  der  Folge  sind  wenigstens  zwey  Theile  zu  unterscheiden,  die  in 
ihr  eine  Verbindung  eingehn.  In  dem  Grunde,  der  etwas  mehr  enthalten 
soll  (da  in  ihm  die  Folge  liegt,  aber  in  der  Regel  nicht  umgekehrt),  giebt 
es  demnach  wenigstens  drey  Theile  zu  unterscheiden.  Nämlich  aufser  den 
beyden  Bestandtheilen  der  Folge  mufs  noch  ein  Drittes  da  seyn,  welches  mit 
ihnen  in  Verbindung  steht,  und  sie  eben  dadurch  unter  einander  verbindet. 

Unter  der  angenommenen  Beschränkung  unseres  Problems  ist  daher 
der  logische  Syllogismus  die  einfachste  (und  freylich  auch  die  dürftigste) 
Form,  welche  der  Grund  an  sich  tragen  kann. 

Das  Dritte  ist  der  Mittelbegriff;  seine  beyden  Verbindungen  mit  den 
Theilen  der  Folge  sind  die  beyden  Prämissen.  Jede  Prämisse  kann  als  der 
Grund  angesehen  werden;  aber  der  ganze  Grund  liegt  nur  in  beyden  zu- 
sammengenommen. Die  Folge  ist  ein  Theil  dieser  ganzen  Zusammen- 
fassung; sie  liegt,  in  der  That,  in  dem  ganzen  Grunde,  aber  sie  bleibt 
verhüllt,  so  lange  ein  Halt,  ein  Absatz  im  Denken  bey  dem  Mittelbegriffe 
gemacht  wird,  als  ob  derselbe  für  die  beyden  Vordersätze  zweymal  müfste 
gedacht  werden.  Dies  Hindernifs  verschwindet,  indem  der  Mittelbegriff 
we^elassen,    und   hiemit   die  Folge  aus  dem  Grunde  hervorgehoben  wird. 

Co  7  (J  _  — 

Wir  können  diese  eng  beschränkte  Vorstellungsart  [40J  nun  zwar 
dadurch  etwas  erweitern,  wenn  wir  einräumen,  man  möge  sich  jenes  Dritte 
des  Grundes  nicht  blofs  als  einen  einzigen  Mittelbegriff,  sondern,  wie  bey 
Kettenschlüssen,  als  Vermittelung  der  Folge  durch  eine  beliebig  lange 
Reihe  von  Zwischensätzen  denken.  Allein  das  reicht  noch  nicht  weit; 
und  die  erste  beste  mathematische  Substitution  ist  schon  zu  reichhaltig,  um 
in  dem  dürftigen  Svllogismus  einen  passenden  Ausdruck  zu  finden.    Z.  B. 

(a  +  b)» 

7  '        a2  -j-  xab  +  b2 

y  =  1 


->2  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen   etc.      1829. 

Wie  wollen  wir  diesen  Schlufs  in    logischer  Form  ausdrücken? 
v  ist  eine  gewisse  Function  von  x, 
Nun  setze  man   x  gleich   2, 
So  ist  y  die  nämliche   Function   von   2. 
Dieser  Ausdruck  ist  höchst  ungenügend.     Aber  woran  liegt  das?   Im 
Prädicate    des    zuerst    hingeschriebenen    Satzes    mufste  x,    als    Mittelbegriff, 
hervortreten.     Nun    ist   aber   diese    Gröfse   dergestalt   eingewickelt   in   dem 
Werthe  von  y,  dafs  man  den  Ort,  wo  sich  der  Mittelbegriff  befindet,  nicht 
ohne  Umschweife  würde  angeben,  seine  Verbindung  mit  y  nur  mit  Mühe 
würde  in   Worten  beschreiben  können.      Gleichwohl  hängt  von  dieser  Ver- 
bindung   die  Wirkung   der  Substitution    ab;    und    die  Wahl    derselben,    um 
einen    einfachen   Werth    von    y    zu    erhalten,    würde    sich    ohne  die  mathe- 
matische  Bezeichnung  nur  schwer  begreifen  lassen. 

Man  weifs  daher  gewifs  sehr  wenig  vom  Zusammenhange  der  Gründe 
und  Folgen,  wenn  man  nichts  kennt  als  die  logischen  Formen  desselben 
in  Urtheilen.  und  Schlüssen ;  und  man  darf  sich  gar  nicht  wundern,  wenn 
[41]  sich  diese  im  Gebrauch  bey  wichtigen  Untersuchungen  wenig  hülf- 
reich  zeigen. 

§.   180. 

Eine  Bemerkung  über  die  logische  Form  der  Urtheile  läfst  sich  sehr 
bequem  an  das  eben  gegebene  Beyspiel  anknüpfen. 

Es  ist  offenbar,  dafs  Syllogismen  nicht  mehr  leisten  können,  als  Ur- 
theile aus  Urtheilen  bilden.  Nun  klebt  den  logisch  geformten  Urtheilen 
immer  der  Begriff  der  lnhärenz  an;  als  ob  das  Prädicat  ein  Merkmal  wäre, 
<ias  sich  in  dem  Inhalte  des  Subject-Begriffes  entweder  befände,  oder  nicht. 
Allein  in  dem  obigen  Beyspiele,  wo  y  der  t  er  minus  minor,  x  der  ter- 
minus  med  ins  seyn  mufs,  ist  der  Untersatz  (den  wir  zuerst  hinschrieben) 
gar  nicht  dieser  Vorstellung  gemäfs.  Keinesweges  inhärirt  x  dem  y; 
sondern  v  ist  eine  Function  von  x.  Es  bezieht  sich  auf  x;  das  heifst,  es 
ist  mit  ihm  in  nothwendigem  Zusammenhange;  es  empfängt  von  ihm  die 
Bestimmung,  dafs,  und  wie  es  solle  gedacht  werden.  Dieses  Verhältnifs 
der  Beziehung  ist  in  dem  Ausdrucke  Function  nur  durch  den  Begriff  der 
Gröfsen-Veränderung  näher  bestimmt;  den  man  weglassen  mufs,  um  das 
Eigenthümliche  mathematischer  Beyspiele  bey  Seite  zu  setzen.  Aber  die 
Mathematik  ist  hier  bey  weitem  weniger  einseitig,  als  die  Logik,  wenn  wir^ 
nicht  ihren  gangbaren  Ausdrücken  eine  erweiterte  Bedeutung  geben. 

In  gröfseren  Systemen  von  Begriffen,  durch  welche  hindurch  das 
Folgern  seinen  Gang  zu  nehmen  pflegt  (§.  178.),  giebt  es  ohne  Zweifel  eine 
Menge  von  Beziehungen,  die  man  durch  den  Begriff  der  lnhärenz  ganz 
falsch  auffassen  würde.  Jede  Differentialgleichung  bezieht  sich  auf  ihre 
Hauptgleichung;  wer  aber  wird  sagen,  sie  inhärire  derselben,  wie  nach 
gewohnter  An-[42]sicht  das  Prädicat  dem  Subjecte?  Die  kubische  Gleichung 
z.  B.  hat  gewifs  eine  mögliche  Wurzel;  dies  Prädicat  wohnt  in  ihr,  und 
gehört  zum  Inhalte  ihres  Begriffs.  Aber  ihre  Differentialgleichung  hat  ent- 
weder zwey,  oder  keine  mögliche  Wurzel.  Dieses  Haben  oder  Nichthaben. 
was  der  quadratischen  Differentialgleichung  zukommt,  ist  kein  inhärirendes 
Prädicat  für  die  kubische  Gleichung  als  Subject;  dennoch  gehört  beydes  zu 


I.  Abschnitt.     Methodologie.      3.   Capitel.     Vom   Zusammenhange  der  Gründe  etc.       33 

Einem  System  von  Begriffen;  jedes  bezieht  sich  auf  das  andre.  Und  der- 
gleichen Beziehungen  können  eben  sowohl  Prämissen  des  logischen  Schlusses 
abgeben,  als  die   Urtheile,   welche   eine  Inhärenz  ausdrücken. 

Man  kann  nun  allerdings  die  Beziehung  selbst  zum  Prädicate  machen; 
und  die  Logik  ist  hier  nicht  eigentlich  eines  Fehlers  überwiesen;  sondern 
es  wird  nur  Behutsamkeit  gefordert,  damit  man  sich  dem  beschränkten 
Begriffe  der  Inhärenz  nicht  voreilig  hingebe,  und  darüber  den  unentbehr- 
lichen  Begriff  der  Beziehung  nicht  verfehle. 

§.   181. 

Durch  alle  diese  Vorbereitungen  wird  es  nun  endlich  vielleicht  ge- 
lungen sevn,  wenigstens  für  wahrhaft  denkende  Leser  den  Gegenstand 
unserer  Betrachtung  in  hinreichendes  Licht  zu  setzen;  nachdem  eine  frühere, 
präcise  Darstellung  (im  Anfange  der  Hauptpuncte  der  Metaphysik)  ver- 
geblich scheint  gewesen  zu  seyn.  Alles  kommt  ohne  Zweifel  darauf  an, 
dafs  der  Leser  nur  erst  auf  das  Gebiet  der  Frage  hin  versetzt  werde; 
haben  wir  dies  erreicht,  so  wird  seyn  eignes  Nachdenken  unsrer  Dar- 
stellung zu   Hülfe   kommen. 

Man  vergegenwärtige  sich  den  bisherigen  Zusammenhang.  Den  Wider- 
spruch, dafs  die  Folge  dem  Grunde  nicht  Iremd,  und  doch  nicht  gleich 
seyn  darf,  dafs  sie  Nichts  Neues,  und  doch  Etwas  Neues  bringen  soll, 
ha-[43]ben  wir  durch  eine  Auflösung  beseitigt,  die  nur  partial,  nicht  er- 
schöpfend ist;  und  es  kommt  nun  darauf  an,  einzusehen,  dafs  noch  eine 
andre  Auflösung  zu  suchen   übrig  bleibt. 

Allgemein  ist  zwar  so  viel  wahr,  dafs  man  den  ganzen  Grund  in 
zweyen  Zuständen  betrachten  mufs;  einen,  welcher  vorhergeht  vor  dem  Ent- 
stehen der  Folge;  —  in  diesem  Zustande  ist  der  ganze  Grund  als  Vor- 
rath  schon  da,  aber  er  ist  noch  nicht  beysammen,  oder  nicht  gehörig  be- 
arbeitet;  — -  den  zweyten,  worin  die  Folge  hervorbricht;  in  diesem  Zustande 
ist  der  Grund  zum  Begründen  gerade  fertig,  und  die  Folge,  die  jetzt  in 
ihm  liegt,  ist  nun  in  der  That  ein  Theil  des  Grundes,  welcher  nur  noch 
darf  abgesondert  werden. 

Wenn  man  aber  dieses  auf  den  logischen  Syllogismus  deutet,  so  be- 
schränkt man  es  auf  Bedingungen,  die  nicht  darin  liegen.  Dies  läfst  sich 
sogleich  in  der  Frage  erkennen,  die  sich  hier  von  selbst  aufdringt:  Wie 
kommt  denn  der  Grund  aus  dem  einen  Zustande  in  den  andern  ?  Ist  der 
Gedankenvorrath,  den  wir  Grund  nennen,  allemal  so  passiv,  dals  er  warten 
mufs,  wie  die  Prämissen  des  Syllogismus  warten,  bis  ein  ungefähres  Denken 
sie  zusammen  führt?  Liegt  denn  in  dem  Grunde  gar  kein  Trieb  zum  Be- 
gründen? Ist  nicht  zum  mindesten  eine  Wegweisung  in  ihm  zu  finden, 
wodurch  man  in  den  Stand  gesetzt  werde,  sich  des  blofsen  Rathens  zu 
überheben?  Ist  der  Grund  eine  träge  Masse,  ohne  eigne  Bewegung, 
selbst  ohne   Richtung  zum   Fortschreiten? 

Ja  freylich!  antworten  hier  die  Verehrer  der  Seelenvermögen.  ,,Kein 
Gedanke  folgert,  sondern  die  Vernunft!"  Mit  diesen  Worten  hat  man  wirk- 
lich vor  Jahren  die  Lehre,  die  wir  hier  ausführlich  vorzutragen  im  Begriffe 
sind,  zurückweisen  wollen.  Man  dachte  sich  also  ganz  offenbar  die  Ver- 
nunft  gleich   einer  [44]   Göttin,    die   aus   dem  Gedankenstofte  etwas  bilde; 

Herbart's   Werke.     VIII.  3 


,4  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

nach  Belieben  vermuthlich!  Denn  sonst  hätte  man  selbst  bey  dieser 
falschen  Psychologie  noch  fragen  müssen,  welche  Nothwendigkeit  denn  in 
dem  Grunde  liege,  auf  deren  Geheifs  die  Vernunft  nicht  willkührlich, 
sondern   gehorsam    ihrer   Pflicht,    das    Geschäft    des    Folgeins    ausübe    und 

vollziehe. 

Wir  wollen  hier  eben  so  wenig  von  den  höhern  Vorstellungsmassen 
reden,  unter  deren  Einflufs  stehend  sich  die  untergeordneten  verbinden 
(bei  absichtlichem  und  regelmäfsigem  Nachdenken),  als  von  der  neuen 
Gesammtkraft,  die  bey  jeder  Folgerung  entsteht,  und  eine  psychologische 
Gewalt  gegen  die  übrigen  im  Bewufstseyn  vorhandenen  Vorstellungen  aus- 
übt. Das  Alles  gehört  nicht  hieher;  es  mufs  nur  Denen  entgegengestellt 
werden,  deren  unbeugsame  Vorurtheile  sich  überall  einmischen,  wo  neue 
Untersuchungen  mit   Unbefangenheit  wollen   aufgenommen  seyn. 

Aber  oft  genug  haben  wir  von  den  Antrieben  des  Denkens  gesprochen, 
aus  denen  von  jeher  alles  metaphysische  Forschen  wirklich,  nur  ohne 
seinen  eigenen  Ursprung  zu  begreifen,  hervorgegangen  ist. 

Nicht  blofs  da,  wo  ein  paar  Prämissen  mit  gleichem  Mittelbegriff 
einander  glücklich  begegnen,  sondern  auch  da,  wo  ein  Gegebenes  fordert, 
richtiger  gedacht  zu  werden,  als  es  ursprünglich  hatte  aufgenommen  werden 
können,  ist  ein  Grund  vorhanden,  dessen  Folge  in  ihm  liegen  wird,  sobald 
er  mit  seinem  Übergange  aus  seinem  ersten  Zustande  in  seinen  letzten 
fertio-  seyn  wird;  dessen  Folge  jedoch  so  lange  noch  nicht  in  ihm  liegt,  wie 
lange  von  dem  Übergange  entweder  die  blofse  Möglichkeit  oder  die  blolse 
Forderung  vorhanden  ist. 

Giebt  es  nun  Gründe  der  zweyten  Art,  welche  fordern,  überzugehen 
in  die  Folge,  so  kann  man  diese  [45]  Folge  als  ein  Unbekanntes  vor- 
läufig mit  X  bezeichnen;  und  alsdann  sagen:  der  Grund  stehe  in  Beziehung 
zu  diesem  X.  Dabey  geschieht  nichts  Anderes,  als  dafs  wir  nach  mathe- 
matischer Gewohnheit  uns  das  Unbekannte  wie  ein  Abwesendes  denken, 
welches  man  sich  schon  jetzt  vergegenwärtigen  müsse,  um  seinen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Bekannten  und  Gegenwärtigen  dadurch  im  Voraus 
vestzustellen.  Die  Beziehung  liegt  in  diesem  Falle  nicht  vor  Augen, 
sondern  sie  soll  gesucht  werden.  Wird  sie  gefunden,  so  ist  die  Folgerung 
vollzogen.  Giebt  es  ferner  eine  allgemeine  Regel,  um  sie  zu  suchen,  so 
nennen  wir  diese   Regel   die  Methode  der  Beziehungen. 

In  wissenschaftlicher  Strenge  ist  diese  Methode  längst  aufgestellt  worden. 
Sie  bedarf  jetzt  einer  mehr  erläuternden  und  populären  Darstellung.  Man 
hat  bald  den  Anfang,  bald  das  Ende  misverstanden.  Um  den  Misver- 
ständnissen  aus  dem  Wege  zu  gehn  (denn  scharfsinnige  Einwürfe,  die  man 
beantworten  könnte,  fehlen  leider),  wollen  wir  diesmal  die  Darstellung  in 
der  Mitte  anfangen,  und  an  etwas  Bekanntes  anknüpfen. 

§.   182. 

Jedermann  weife,  dafs  oftmals  scheinbare  Widersprüche  vorkommen; 
und  dafs  dieselben  aufgelöset  werden  durch  eine  Distinction.  Wir  nun 
wollen  auch  von  Widersprüchen  reden;  noch  mehr:  wir  wollen  sie  auch 
auflösen  durch   Distinction. 

Aber  dabey  wird  ein  besonderer  Umstand  vorkommen.    Eine  Distinction 


i.  Abschnitt.     Methodologie.     3.  Capitel.     Vom  Zusammenhange  der  Gründe  etc.       35 

ist  leicht  gemacht,  wenn  die  beyden  Gedanken,  die  man  scheiden  soll, 
schon  da  sind.  Schwerer  ohne  Zweifel  sind  solche  Fälle,  in  welchen  der  ge- 
dachte Gegenstand  dergestalt  unvollständig  vorliegt,  dafs  man  dasjenige  erst 
herbey schaffen  mufs,  was  unterschieden  werden  soll.  Von  scheinbaren  Wider- 
[4 6] Sprüchen  kann  in  solchen  Fällen  nicht  die  Rede  seyn;  denn  der  Schein 
liegt  in  einer  Verwechselung;  was  aber  verwechselt  werden  soll,  das  mufs 
schon  vorräthig  seyn. 

Z.  B.  Im  Begriffe  der  Pflicht  wird  der  verpflichtete  Wille  zugleich 
gedacht  als  frey  und  als  gebunden.  Dieser  scheinbare  Widerspruch  löset 
sich  durch  Unterscheidung  zwischen  Sollen  und  Müssen.  Die  Pflicht  weifs 
nichts  vom  Müssen;  insofern  ist  der  Wille  frey,  oder  wird  hier  als  solcher 
vorgestellt.  Aber  die  Pflicht  verkündigt  das  Sollen;  keine  Gegenkraft  wider 
den  wirklichen  Willen,  sondern  ein  unvermeidliches  Urtheil  über  das  Bild 
des  Willens.  So  lange  dies  verwechselt  wird,  hat  man  das  Müssen  vom 
Sollen  nicht  unterschieden,  und  der  Widerspruch  ist  scheinbar  vorhanden. 
Aber  nur  scheinbar!  Denn  man  braucht  Nichts  Neues  zu  lehren,  keine 
Ergänzungen  an  die  vorliegenden  Gedanken  anzufügen.  Man  braucht  nur 
eine  Linie  zu  ziehen  zwischen  dem  schon  Bekannten;  man  hat  nur  nöthig, 
die  dunkel  gedachten  Begriffe  von  Müssen  und  Sollen  zur  Klarheit  und 
Deutlichkeit  zu  erheben. 

Von  derjenigen  Classe  von  Widersprüchen,  wozu  dies  Beyspiel  gehört, 
wollen  wir  jetzt  nicht  reden.  Sondern  uns  beschäfftigt  eine  andre,  die  wir 
wahre  Widersprüche  nennen;  nicht  als  ob  wir  die  Widersprüche  für  Wahr- 
heiten hielten,  sondern  weil  sie  in  der  Beschaffenheit,  wie  man  sie  vor- 
findet, noch  gar  keinen  Punct  darbieten,  wo  die  Distinction  angebracht 
werden  könnte.  Wenn  Eins  sich  als  Entgegengesetztes  darstellt,  dann  ist 
ein  wahrer  Widerspruch  vorhanden ;  sobald  aber  dies  Eine  schon  eine 
Fuge  erblicken  läfst,  worin  die  Entgegengesetzten  der  nöthigen  Sonderung 
Raum  geben,  dann  kann  man  das  gewöhnliche  logische  Messer  gebrauchen; 
und  bedarf  dazu  keiner  besonderen   Methode. 

Von  derjenigen  Methode  aber,  die  wir  hier  lehren,  [47]  oder  viel- 
mehr erläutern  wollen,  ist  das  die  Mute,  dafs  sie  den  vorliegenden  Begriff 
ergänzt,  damit  ein  Punct  der  möglichen  Unterscheidung  in  ihm  entstehe. 
Die  Unterscheidung  selbst  ist  das  Ende;  und  der  Widerspruch  ist  der 
Anfang. 

Von  dem  Anfange  wollen  wir  nun  weiter  reden.  Dabev  kommen  wir 
zurück  zu  dem  Begriffe  des  Grundes.  Denn  im  gegenwärtigen  Falle  ist 
der  Grund   ein  Widerspruch. 

§•   183- 

Der  Grund  ein  Widerspruch  ?  Das  war  es  vorzüglich,  worein  man  sich 
gar  nicht  finden  konnte. 

Ein  Grund  mufs  doch  wohl  eine  Wahrheit  seyn;  aus  einem  Wider- 
spruche aber  können  nur  Unwahrheiten  folgen.  So  lautet  die  gewöhnliche 
Meinung,  die  für  logische  Schlulsformeln  gilt. 

Allein  wenn  man  mit  der  Wahrheit  anfängt,  so  braucht  man  nicht  von 
der  Stelle  zu  gehn.  Nur  in  dem  Irrthum,  den  man  als  solchen  erkennt, 
liegt  die  treibende  Kraft,  weiter  zu  gehn;   nämlich  heraus  aus  dem  Irrthum. 

3* 


Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Es  versteht  sich  von  selbst,  dafs  niemals  die  Absicht  war  noch  seyn 
wird,  Widersprüche  als  logische  Prämissen  zu  gebrauchen,  in  welchem 
Falle  sie  nicht  blofs  neue  Widersprüche  ohne  Zahl  erzeugen  könnten, 
sondern  es  auch  bey  denselben  sein  Bewenden  haben  würde.  Wir  reden 
vielmehr  von  einer  neuen  Art  des  Zusammenhangs  zwischen  Gründen  und 
Folgen,  worin  die  Widersprüche  sich  zwar  auch  Anfangs  vermehren,  aber 
nur,  um  das  Nachdenken  in  eine  andre  Richtung  zu  drängen,  die  ihm  offen 
steht,  und  die  ihm  allein  übrig  bleibt,  um  aus  den  Widersprüchen  heraus 
zu  kommen. 

Die  Folge  soll  in  den  Fällen,  von  denen  wir  jetzt  [48]  reden,  auch  der 
Materie  nach  vom  Grunde  verschieden  seyn.  Das  heifst,  sie  soll  Begriffe 
enthalten  oder  dahin  führen,    die  in  dem    Grunde  noch  nicht  lagen. 

Jetzt  rufe  man  die  Betrachtung  zurück,  von  der  wir  ausgingen.  Die 
Folge  darf  von  dem  Grunde  nicht  abspringen,  sie  soll  in  ihm  liegen.  Aber 
sie  soll  etwas  Neues  lehren;  und  hier  fordern  wir  sogar,  dafs  nicht  blofs 
neue  Verbindung  alter  Begriffe,  sondern  neue  Begriffe  durch  sie  geliefert 
werden  sollen.  Die  Schwierigkeit,  sich  den  Zusammenhang  zwischen  Grund 
und  Folge  zu  denken,  scheint  also  noch  gesteigert! 

Offenbar  fordern  wir  jetzt  von  dem  Grunde,  dafs,  indem  er  die  Folge 
erzeugt,  er  selbst  sich  ändert.  Seine  Materie  soll  sich  verwandeln  in  die 
neue  Materie  der  Folge.  Hier  kann  nicht  Wahrheit  an  Wahrheit  geknüpft 
werden,  sondern,  damit  die  Folge  Wahrheit  enthalte,  mufs  der  Grund  das 
Gegentheil  davon  seyn.  Seine  Verwandlung  darf  nicht  ein  Verlust  an 
Wahrheit  seyn ;  nur  ein  Irrthum,  der  sich  in  *  nothwendiger  Besserung  be- 
findet, kann  hier  den  Grund  abgeben.  Dafs  wir  keinen  ruhenden,  und 
gleichsam  lügenden  Irrthum  gebrauchen  können,  versteht  sich  von  selbst; 
er  muls  sich  verrathen,  sich  laut  anklagen,  sich  selbst  aufheben. 

Darum  sagen  wir:  der  Grund  ist  ein  Widerspruch.  Die  Schärfe  dieser 
Behauptung  abstumpfen,  heifst,  dem  Grunde  seine  Kraft  benehmen.  Denn 
die  vollkommene  Nothwendigkeit,  im  Denken  vorwärts  zu  gehen,  findet 
sich  nur  da,  wo  das,  was  man  schon  denkt,  sich  selbst  aufhebt. 

§.    184. 

Gerade  umgekehrt,  wird  man  uns  zurufen,  wenn  das  Denken  sich  selbst 
aufhebt,   so  steht  es  still. 

[49]  Dergleichen  sehr  populäre  Weisheit  ist  uns  oft  genug  entgegengesetzt 
worden,  obgleich  wir  sie  im  Voraus  dadurch  abgewehrt  hatten,  dafs  von 
gegebenen  Widersprüchen   die   Rede   war. 

Nun  können  wir  gar  nicht  läugnen,  dafs  es  Menschen  genug  giebt, 
deren  Nachdenken  wirklich  auch  sogar  bey  gegebenen  Widersprüchen  still 
steht.  „Ihr  werdet  (sprechen  sie)  die  Natur  doch  niemals  ergründen;  und 
den  Streit  der  Systeme  niemals  schlichten."  Wenn  die  Trägheit  sich  so 
ausspricht,  so  zvill  sie  nicht  von  der  Stelle;  und  dann  ehren  wir  die  Rechte 
dieses  Willens.  Niemand  darf  von  dem  Andern  gezwungen  werden,  zu 
denken. 

In   der    Metaphysik    setzt    man    aber   den  Willen,    zu    denken,    voraus. 

1  der  sich  nicht  in     SW. 


Abschnitt.     Methodologie.     3.  Capitel.     Vom  Zusammenhange  der  Gründe  etc.       37 


Wenn  demnach  ein  Denken  aufhören  mufs,  so  tritt  ein  anderes  an  seine 
Stelle.  Wenn  ein  Gegebenes  nicht  kann  gedacht  werden,  so  ist  es  deshalb 
nicht  verurt heilt,   weggeworfen  zu  werden:  sondern  es  mufs   im  Denken   anders 

gefafst  werden. 

Das  Denken  der  gegebenen  Widersprüche  steht  also  nicht  still,  sondern 
es  rückt  fort.  Wir  lassen  uns  absichtlich  von  dem  Widerspruche  treiben, 
weil  man  das  Gegebene  nicht  wegwerfen  kann. 

Wohin  denn?  fragt  man,  in  der  Meinung,  ein  Widerspruch  treibe  zu 
Nichts,  weil  er  selbst  Nichts  sey.  Nan  hat  nämlich  die  Erinnerung,  dafs 
vom  Gegebenen  die  Rede  ist,  noch  immer  nicht  gefafst;  man  verweilt  viel- 
mehr noch  immer  unter  solchen  Widersprüchen,  die  gleich  dem  viereckigen 
Cirkel  und   dem  kalten  Feuer  willkührlich   ersonnen  sind. 

Und  wie,  wenn  es  gar  nicht  einmal  nüthig  wäre,  dafs  ein  Widerspruch 
gegeben  sey,  um  ihn  vor  dem  Wegwerfen  zu  sichern?  Die  Quadratwurzeln 
aus  negativen  Gröfsen,  sind  sie  etwan  aus  der  Mathematik  [50]  darum 
verschwunden,  weil  der  Begriff  derselben  widersprechend  ist?  Nichts 
weniger;  sie  behaupten  ihren  Platz,  denn  sie  gehören  wesentlich  ins  System 
der  Gröfsenbegriffe. 

Aber  die  Frage,  wohin  uns  ein  Widerspruch  treibe?  wenn  sie  nicht 
ironisch  —  in  der  Meinung,  alle  Widersprüche  seyen  bedeutungslos  und 
kraftlos,  —  sondern  ernstlich  gethan  wird,  um  die  Richtung  zu  erfahren, 
die  man  in  dieser  Art  des  Folgerns  zu  nehmen  habe,  kann  uns  veranlassen, 
an  dem  eben  erwähnten  Beyspiele  einen  wichtigen  Unterschied  zu  zeigen, 
auf  den  wir  in  der  Folge  noch  oft  zurückkommen  müssen. 

Die  Quadratwurzel  aus  einer  negativen  Gröfse  treibt  das  Nachdenken 
gar  nicht  vorwärts,  denn  sie  ist  da,  wo  sie  vorkommt,  vollkommen  an 
ihrer  rechten  Stelle.  Wer  sie  ändern  wollte,  der  würde  die  Rechnung 
verderben. 

Aber  diese  unmögliche  Gröfse  ist  kein  wirkliches  Ding,  und  gilt  nicht 
dafür.  In  den  gegebenen  Widersprüchen  liegt  jedoch  allerdings  eine  solche 
Geltung.  Sie  stellen  uns  Objecte  der  Erkenntnifs  dar,  deren  Realität  die 
allergröfste  Zahl  der  Menschen  nie  bezweifelt;  während  ein  dunkles  Gefühl 
der  Undenkbarkeit  die  Philosophen  aller  Zeiten  stets  mehr  oder  weniger 
warnte,   dem   Scheine   zu  trauen. 

Und  jetzt  noch  einmal  die  Frage:  wohin  treiben  uns  gegebene  Wider- 
sprüche  in   den   Begriffen    ivirklicher  Dinge? 

Die  nächste,  und  so  oft  als  Veranlassung  da  ist,  tviederkehrende  Antwort 
lautet  so:  zur  Trennung  der  Einheit,  die  das  Entgegengesetzte  verknüpfen  soll  und 
nicht  kann.  An  dieser  Einheit  liegt  die  Schuld  des  Widerspruchs.  Nimmt 
man  sie  weg:  so  bleiben  die  gegebenen  Entgegengesetzten,  wie  sie  sollen; 
und  der  Widerspruch   ist  gehoben. 

[51]  Wäre  nun  diese  Antwort  genügend,  so  bedürften  wir  keiner  weitem 
Methode.  Das  contradictorische  Gegentheil  der  Einheit  ist  Nicht- Einheit; 
und  dafs  man  diese,  nämlich  die  Nicht -Einheit,  den  Entgegengesetzten 
zuschreiben  müsse,   sagt  uns  die  gemeinste   Logik. 

In  den  vorausgesetzten  Fällen  ist  jedoch  hiemit  das  Gegebene  nicht 
einverstanden.  Gegeben  war  Entgegengesetztes  als  Eins;  und  Trennung 
läuft  hier  wider  die  Erfahrung. 


og  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1826. 


Was  z.  B.  ist  Magnetismus?  Einheit  entgegengesetzter  Polaritäten. 
Denken  könnten  wir  wohl  einen  blofsen  Südpol,  welcher  andre  Südpole 
abstiefse,  andre  Nordpole  anzöge;  versucht  hat  man  oft  genug,  Magneten 
zu  zerbrechen,  um  blolse  Nordpole  und  blofse  Südpole  zu  haben.  Das 
Entgegengesetzte  liegt  hier  ja  deutlich  getrennt  an  den  äufsersten  Enden 
einer  Linie,  die  fast  so  lang  ist,  wie  der  ganze  Magnet.  Wer  sollte  glauben, 
diese  Entgegengesetzten  seyen  Eins?  Wer  möchte  nicht  den  Magnetismus 
lieber  in  zwey  Arten  eintheilen,  südlichen  und  nördlichen?  Aber  die  Er- 
fahrung ist  eigensinnig.  Nicht  zwey  entgegengesetzte  Arten,  sagt  sie,  sollt 
ihr  unterscheiden,  sondern  wo  ihr  eine  davon  erblickt,  da  soll  sie  Euch 
ein  Zeichen  seyn,  dafs  die  andre  in  der  Nähe  ist;  keine  ist  etwas  für 
sich;   der  Magnetismus  ist  der  eine    Gegensatz  beyder. 

So  macht  es  die  Erfahrung  noch  in  manchen  andern  Fällen.  Der 
Kurzsichtige  tröstet  sich  nun  damit,  das  Entgegengesetzte  sey  doch 
nicht  an  demselben  Orte  vereinigt.  Wir  wollen  ihn  nicht  bis  zu  den 
Schliefsungsdrähten  der  Voltaischen  Säule  verfolgen,  an  welchen  jeder  Punct 
des  Umkreises  beyderley  Polarität  zu  besitzen  scheint;  es  ist  genug  zu 
sagen,  dafs  der  Begriff  der  Ort  ist,  wo  das  Entgegengesetzte  sich  vereinigt, 
trotz  dem,   dafs  wir  es  eben  hier  trennen   wollten. 

[52]  Und  nun  wenigstens  steht  das  Denken  still!  Denn  haben  wir 
nicht  einen  unnützen  Versuch  gemacht?  Und  hat  ihn  die  Erfahrung  nicht 
zurückgewiesen. 

So  spricht  die  Trägheit.      Aber  der  Fleifs   fängt  hier  erst  an. 

§■    185. 

Fast  bey  jedem  Schritte  erblicken  wir  neue  Gegner.  Hier,  wo  die 
Trägheit  umkehrt,  stellt  sich  die  Schwärmerey  uns  in  den  Weg;  oder  viel- 
mehr, sie  setzt  sich.  Denn  eben  hier,  wo  die  Erfahrung  diejenigen  Begriffe 
als  gültig  vesthält,  welche  die  Logik  als  undenkbar  zurückweisen  möchte, 
hier  ist  der  Lieblingssitz  der  Schwärmerey.  Das  obige  Beyspiel  des  Magne- 
tismus ist  deshalb  so  Vielen  höchst  willkommen.  Nicht  etwan,  als  ob  sie 
die  wahre  Natur  des  Magneten  besser  kennten,  als  wir:  aber  er  ist  ihnen 
der  Maafsstab  des  wahren  Wissens.  Alles  Andre,  sprechen  sie,  ist  entweder 
denkbar  auf  gemeine  Weise,  und  dann  ist  es  selbst  gemein;  oder  es  ist 
denkbar  wie  der  Magnet,  also  bewährt  und  vertheidigt  gegen  jede  An- 
fechtung, und  zwar  durch  den  Magneten,  der  ja  vor  Augen  liegt,  indem 
er  der  Logik  zu  spotten  scheint. 

Wir  machen  uns  los  von  den  Schwärmern ;  aber  wir  merken  uns  den 
Standpunct,  welcher  durch  sie  bezeichnet  ist.  Die  Erfahrung,  oder  das 
Gegebene,  vertheidigt ,  was  die  Logik  7'crtvcrfen  mochte.  Ein  leerer,  blo/s 
denkbarer  Begriff  wäre  der  Logik  recht,  aber  ihn  würden  wir  ungültig 
nennen;  weil  im  Gebiete  der  Erkenntnis  das  blofs  Ersonnene  nichts  gilt. 
Nun  betrachten  wir  die  jetzige  Lage  des  Problems.  Ein  Widerspruch 
wurde  als  gegeben  angenommen;  seine  Glieder,  die  beyden  Entgegengesetzten, 
gelten  für  Eins;  diese  Einheit  ist  kein  Urtheil,  sondern  ein  Begriff;  auch 
wenn  der  Wider-[53]spruch  in  der  Form  eines  Urtheils  gegeben  wäre.  Zum 
Beyspiel  A  ist  B,  und  dasselbe  A  ist  non  B.  Hier  sind  zwey  Urtheile, 
deren  keins  allein  einen  Widerspruch  enthält;  sondern  die  Einerleyheit  des 


I.  Abschnitt.     Methodologie.     3.   Capitel.      Vom    Zusammenhange  der  Gründe  etc.       30, 

A   trotz  der  entgegengesetzten  Merkmale   macht  den  Widerspruch,   und   auf 
den  Begiiff  derselben  kommt  es  allein  an. 

Welches  Glied  dieses  Widerspruchs  wir  nun  auch  betrachten  mögen : 
in  ihm  zeigt  sich  die  Vergeblichkeit  unseres  eben  zuvor  angestellten  Ver- 
suchs. Wir  wollten  es  abtrennen  von  der  Einheit;  die  Erfahrung  rief  es 
zurück.  So  ist  es,  um  denkbar  und  gültig  zugleich,  das  heifst,  der  Logik 
und  dem  Gegebenen  zugleich  angemessen  zu  seyn,  in  einen  neuen  Wider- 
spruch versetzt  worden ;  es  ist  Eins,  und  auch  nicht  Eins,  mit  dem  andern 
Gliede.  Jetzt  dringen  wir  abermals  in  den  Sitz  dieses  netten  Widerspruchs; 
■wir  läugnen  die  Einheit  dessen,  was  hier  entgegengesetzt  ist. 
Wir  erklären,  nicht  Ein  und  dasselbe  Glied  könne  jene  entgegengesetzten 
Prädicate  an  sich  tragen,  also:  statt  des  Einen  müsse  man  mehrere 
setzen. 

An  diesem  Puncte  sind  uns,  so  fern  die  Erinnerung  nicht  untreu 
geworden,  keine  Gegner  aufgestofsen.  Warum  nicht?  Vielleicht  hat  ge- 
rade auf  die   Hauptsache   Niemand  geachtet. 

Die  Hauptsache  ist. ohne  Zweifel  die  Veränderung,  welche  der  ge- 
gebene Begriff  im  Denken  erleidet.  Aber  vielleicht  hat  man  geglaubt, 
die  Veränderung  werde  sogleich  allen  Schwierigkeiten  ein  Ende  machen. 
Das  thut  sie  nun  freylich  nicht.  Im  Cegentheil,  es  liegt  unmittelbar  vor 
Augen,  dafs  die  Meinung,  in  welcher  wir  den  letzten  Schritt  thaten,  einer 
Berichtigung  bedarf;   oder  wenigstens   einer  nähern   Bestimmung. 

Sind  die  Glieder  des  Widerspruchs  M  und  N ;  und  haben  wir  meh- 
rere M  statt  des  einen  gesetzt:  so  [54]  kann  man  nicht  sagen,  eins  von 
diesen  M  sey  Eins  mit  N,  das  andre  nicht.  Denn  jedes  M  mufs  denk- 
bar und  gültig  zugleich  seyn;  aber  als  denkbar  ist  es  gesondert  von  N; 
als  gültig  (vermöge  des  Gegebenen)  ist  es  Eins  mit  ihm.  Also  enthält 
nothwendig  jedes  M  den  Widerspruch  ganz,  den  wir  heben  wollten,  als  wir 
das  einfach  gegebene  für  ein   Mehrfaches  erklärten. 

Haben  wir  nun  nicht  unsern  Zweck  verfehlt?  Müssen  wir  nicht  wieder 
umkehren  und  das  Gewebe  auflösen? 

Denn  wenn  wir,  nach  voriger  Art  abermals  vordringend,  jedes  ein- 
zelne M  wiederum  für  ein  Mehrfaches  erklärten,  so  ginge  der  Widerspruch 
in  jedem,  zugleich  gültigen  und  denkbaren  M  von  neuem  hervor;  und 
neue  Spaltung,  neue  Vermehrung  des  Widerspruchs,  ginge  ins  Unend- 
liche! 

Hier  nun  erinnern  wir  uns,  erst  kürzlich  feindliche  Stimmen  ver- 
nommen zu  haben.  „Wozu  kann  es  doch  dienen,  Widersprüche  ins  Un- 
endliche anzuhäufen?  Was  denn  für  ein  stärkeres  Bekenntnifs  vergeblicher 
Speculation  kann  es  geben?" 

§.    186. 

Wir  sind  noch  nicht  am  Ende;  aber  wir  nähern  uns  demselben  mit 
starken  Schritten. 

Die  Frage  ist  zunächst,  was  von  dem  Vorigen  wir  zurücknehmen 
müssen?  Gewifs  die  Meinung,  wenn  wir  sie  jemals  hatten,  dafs  durch 
bloße  Verneinung  der  Einheit,  die  den  Sitz  des  Widerspruchs  ausmacht, 
derselbe  genügend  werde  gehoben  seyn.      Aber  ohne  darüber   entscheiden 


aq  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


zu  wollen,  fanden  wir  nöthig,  das  Nät liste  zu  thun,  zcas  vor  uns  lag,  wenn 
auch  ungewifs,  wie  weit  es  führen  werde.  Uniäugbar  nun  ist  da,  wo  man 
einen  Widerspruch  erblickt,  der  nicht  [55]  bleiben  darf,  allemal  das  Nächste, 
die  Einheit  seiner  Glieder  zu  verneinen.  Wenn  jedoch  dies  geschehen 
ist,   so  steht  es  frey,   nöthigenfalls  noch  mehr  zu  thun. 

Wir  sehn  jetzt  deutlich,  dals  wir  die  Alt  des  Angriffs  verändern 
müssen;  aber  wir  finden  auch  die  Gelegenheit  verändert.1  Wenn  mehrere 
M  statt  eines  einzigen  gesetzt  sind,  so  mag  immerhin  jedes  einzeln  ge- 
nommen mit  N  einen  Widerspruch  bilden;  wir  werden  uns  nicht  bemühen, 
jedes  insbesondere,  wie  wir  uns  zuvor  dachten,  zu  verfolgen  und  zu  zer- 
schlagen. Wir  können  jetzt  die  M  anders  fassen,  als  einzeln,  das  heifst, 
sie  zitsammenfassen.  Da  wir  es  können,  und  überdies  uns  nichts  anders 
übrig  bleibt,  wenn  wir  sie  nicht  wegwerfen,  und  das  Gegebene  damit  eben- 
falls wegwerfen  wollen  (welches  schon  verboten  worden),  so  müssen  wir 
das  thun,  was  wir  können.  Wir  müssen  annehmen,  in  der  Verbindung 
der  M  entspringe  N ;  oder  was  dasselbe  sagt,  jedes  M,  nicht  einzeln,  son- 
dern als   zusammen   mit   den   andern   M,   sey  gleich  N. 

Und  hier,  bey  dieser  Distinction,  sind  wir  am  Ende.  Nicht  mit  der 
Auflösung  irgend  eines  Problems,  sondern  mit  der  allgemeinen  Bezeichnung 
der  Methode,  wie  man  nach  der  Auflösung  suchen  müsse,  in  so  fern  dieses 
blofs  daraus,  dafs  in  dem  Gegebenen  überhaupt  ein  Widerspruch  liegt,  kann 
geschlossen  werden. 

Unbestimmt  bleibt  hier  sogar,  welches  Glied  des  Widerspruchs  in 
jedem  besondern  Falle  dasjenige  sey,  welches  man  als  M  betrachten,  das 
heifst,  vervielfältigen  müsse.  Um  so  mehr  also  bleibt  unbestimmt,  was  denn 
das  Zusammen  der  mehrern  M  bedeute  ?  Dies  mufs  nach  der  Natur  der 
einzelnen  Probleme  weiter  untersucht  werden.  Jedoch  werden  wir  über 
diesen  wichtigen   Punct  tiefer   unten  noch   eine  Bemerkung  machen. 

[56]  §•    187. 

Als  nächstes  und  zweckmäfsigstes  Beyspiel  für  die  Methode  der  Be- 
ziehungen wird  gerade  dieselbe  Untersuchung  gebraucht  werden  können, 
die  uns    in   dem  ganzen  gegenwärtigen  Capitel   beschäfftigt. 

Der  gegebene  Widerspruch  ist  hier  die  Einheit  des  Grundes  und  der 
Folge.  Gegeben  ist  ohne  Zweifel  das  Folgern,  als  eine  häufige  Thalsache 
des  Denkens.  Man  betrachte  nun  den  Grund  als  das  obige  M.  Er  soll 
der  Folge  vorausgehn,  und  ist  daher  weder  ganz  noch  theilweise  ihr.  der 
noch  nicht  vorhandenen,  gleich.  So  wäre  das,  was  wir  Grund  nannten,  an 
sich  etwas  denkbares  ;  aber  es  verdient  diesen  Namen  nicht,  denn  es  be- 
gründet erst  dann,  wann  die  Folge  hervortritt,  und  sie  soll  nur  und  ganz 
durch  ihn  entstehen.  Also  mufs  er  selbst  die  Folge  enthalten,  das  heifst, 
er  mufs  ganz  oder  theilweise  ihr  gleich  seyn.  Er  ist  also  Eins  und  auch 
nicht  Eins  mit  der  Folge. 

Jetzt  kommen  wir  an  den  Punct,  den  wir  im  §.  185.  für  die  Haupt- 
sache erklärten.  Der  Grund  ist  ein  Glied  des  Widerspruchs;  statt  dieses 
einen    Gliedes  sollen    wir  mehrere  setzen. 


1  die  Worte  „aber  wir  finden  auch  die  Gelegenheit  verändert"  fehlen  in  SW. 


I 


i.  Abschnitt.     Methodologie.     3.  Capitel.     Vom   Zusammenhange  der  Gründe  etc.       41 

Was  heifst  das  hier?  Wir  dachten  uns  den  Grund  bis  dahin  als 
Einen  Gedanken;  es  fiel  uns  nicht  ein,  nach  einer  Mannigfaltigkeit  in  ihm 
zu  fragen.  Jetzt  sollen  wir  Gründe  statt  des  Grundes  setzen,  oder  besser, 
wir  sollen  mehrere  zusammengehörige  Gedanken  als  den  ganzen  Grund 
betrachten. 

Warum  das?  Weil,  so  lange  der  Grund  als  ein  ungetheiltes  Eins 
betrachtet  wird,   es  gar  nicht  möglich  ist,   in  ihm  den  Widerspruch  zu  heben. 

Ist  es  denn  jetzt  möglich?  Frevlich  nicht  so,  dafs,  wenn  wir  Gründe 
statt  des  Grundes  setzten,  jetzt  von  diesen  Gründen  Einer  ganz  verschieden 
von  der  Folge,  [57]  ein  andrer  ihr  gleich  wäre.  Wohl  aber  so,  dafs  keiner 
vi  m  den  Gründen  für  sieh  allein  gleich  der  Folge  sey,  hingegen  jeder  in- 
sofern,  als  er  durch  den  andern  ist  umgeändert  worden. 

Diese  Auflösung  ist  noch  ganz  allgemein.  Nennt  man  die  logischen 
Prämissen  nunmehr  Gründe,  so  wird  jede  derselben  gleich  der  Folge,  indem 
sie  sich  mit  der  andern  verbindet.  Aber  die  Verbindung  beyder  durch 
den  Mittelbegriff,  und  dessen  Weglassung  am  Ende,  ist  etwas  dem  logischen 
Syllogismus   Ei<renthümliches. 

Nennt  man  hingegen  die  Glieder  eines  Widerspruchs  nunmehr  Gründe, 
so  ist  es  wiederum  richtig,  dafs  nur  beyde,  durch  gegenseitiges  Wider- 
streben, einander  den  Zwang  anthun,  vermöge  dessen  der  ganze  Grund 
sich  so  verwandelt,   wie  wir  gezeigt  haben. 

Flätten  wir  gleich  im  Anfange  dieses  Capitels  die  Methode  der  Be- 
ziehungen als  bekannt  vorausgesetzt,  so  würde  sie  uns  die  Wegweisung  ge- 
geben haben:  denket  Euch  den  Grund  als  ein  Mehrfaches,  das  sich 
gegenseitig  bestimmt.  Jedes  von  diesem  Mehrfachen  werdet  ihr  in  so  fern, 
als  es  die  Bestimmung  durch  das  Andre  erlitten  hat,  der  Folge  gleich 
achten  können.  Diese  Anweisung  wäre  nicht  hinreichend,  aber  auch  nicht 
unnütz  gewesen.  Wir  hätten  manche  andre  Betrachtungen  damit  verbinden 
müssen;  aber  es  wäre  leichter  gewesen,  sie  zu  finden,  und  weniger  bedenk- 
lich,  sie  zu   benutzen. 

§.  188. 

Gewarnt  durch  häufige  Misverständnisse,  haben  wir  verhüten  wollen, 
durch  Abweichung  von  dem  schon  früher  bekannt  gemachten  Gange  der 
Betrachtung*  den  [58]  Leser  irre  zu  machen.  Jetzt  aber  können  wir 
leicht  das  Gesagte  allgemeiner  darstellen,  obgleich  schwerlich  mit  mehr 
Gewinn  für  den   Gebrauch. 

Soll  ein  Widerspruch  =  A,  dessen  Glieder  M  und  N  heifsen,  nicht 
verworfen,  sondern  durch  Veränderung  dieser  Glieder  denkbar  gemacht 
werden:  so  geschehe  die  nöthige  Veränderung  des  M  durch  X,  und  die 
des  N  durch  Y.  Alsdann  mufs  das  Resultat  seyn,  dafs  M,  als  verändert 
durch  X,  gleich  N  (oder  verbunden  mit  N,  wie  der  Begriff'  A  es  erfordert 
und  mit  sich  bringt),  als  verändcit  durch  Y,  sey.  Soll  aber  der  gegebene 
Grundbegriff"  zugleich  ein  Princip  des  Wissens  seyn,  so  müssen  X  und  Y 
durch  ihn  bekannt  seyn.  Der  einfachste  Fall  ist  X  =  M  und  Y  =  N. 
(Man  darf  nicht    annehmen   X   =   N,    oder  Y  =   M;    denn   erst    aus  der 

*  Hauptpuncte  der  Metaphysik,  erste  Vorfrage  [Bd.  II  vorl.  Ausg.];  und  Psycho- 
logie [Bd.  V  vorl.  Ausg.]  §.  34. 


12  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Verbindung  des  X  mit  einem  gegebenen  Gliede  soll  N,  und  eben  so  des 
Y  soll  M  resultiren,  daher  X  und  Y  gegen  N  und  M  in  dem  Verhältnisse 
der  Gründe  zu  den  Folgen  stehn,  und  nicht  an  sich  selbst  vorausgesetzt 
werden  können.) 

Der  Fall  X  =  M  und  Y  =  N  mufs  aber  tinter  der  Voraussetzung 
angenommen  werden,  da/s  die  Auffassung  des  Begriffs  A  nicht  ursprünglich 
mit  einem  grofscn  Fehler  behaftet  sey.  Denn  eigentlich  hätte  nicht  A  = 
M  -j-  N,  sondern  A  -=  M'  -\-  N'  sollen  gegeben  sevn,  wo  wir  durch 
M'  und  N'  die  durch  X  und  Y  veränderten  Begriffe,  und  durch  das  Plus- 
zeichen nicht  eine  Summe,  sondern  die  Verbindung  der  Glieder  M  und  N 
zur  Einheit  A  andeuten.  Ist  nun  X  =  M  und  Y  =  N :  so  reducirt 
sich  der  ganze  Fehler  der  Auffassung  darauf,  dafs  nur  überhaupt,  und  im 
Allgemeinen,  M  und  N  als  Glieder  des  Begriffs  A  angegeben  wurden,  statt 
von  mehrern,  durch  einander  bestimmten  M,  und  eben  so  von  mehrern  N,  Er- 
wähnung zu  thun.  In  je-[5Q|dem  andern  Falle  wäre  zu  fragen,  wie  es 
denn  möglich  sev,  dafs  X  und  Y  weder  ihre  Gegenwart,  noch  ihre  eigenthüm- 
lichen   Merkmale,   noch  ihren   Einrlufs   verrathen  haben  ? 

In  jenem,  von  uns  angenommenen,  Falle  ist  nicht  sowohl  ein  Fehler, 
als  eine  Lücke,  ein  Mangel,  in  der  Auffassung.  Ein  Beyspiel  wird  dies 
klärer  machen.  Durch  Fernröhre  erkennt  mm  viele  Sterne  für  Doppe!- 
sterne,  die  das  blofse  Auge  für  einfach  hielt.  Hat  nun  das  Auge  fals  h 
gesehen?  Etivcis  falsches  gevvifs  nicht;  vielmehr  hat  es  wirklich  beyde  Sterne 
mit  vereintem  Lichte  leuchtend  gesehen;  es  konnte  sie  nur  nicht  unter- 
scheiden. 

Ein  anderes  Beyspiel!  Manche  Differentialgleichungen  scheinen  un- 
fähig zur  Integration,  bis  sie  mit  einem  gewissen  Factor  maltiplicirt  werden. 
Der  Factor  ist  herausgefallen;  die  Gleichung  blieb  richtig,  sie  konnte  ihn 
entbehren,   so  lange  man  nicht  ihr  Integral  verlangte. 

Eben  so  mangelt  in  unserm  Falle  die  Bestimmung,  dafs  M  und  N 
nur  allgemeine  Begriffe  seyen,  wodurch  eine  Mehrheit  des  Untergeordneten 
solle  angedeutet  werden.  Man  mufs  diese  Mehrheit,  und  was  aus  ihr  ent- 
steht, erst  wieder  hineindenken,  um  den  gegebenen  Begriff  der  Wahrheit 
dergestalt  gemäfs  zu  denken,  dafs  man  sicher  sey,  sie  nicht  unvermerkt  in 
eine  Ungereimtheit  zu  verwandeln.  Aber  rückwärts,  durch  das  Ungereimte, 
in  welches  man  durch  eine  natürliche  Unbcliutsamkeit  verfiel,  ivird  man  erst 
dahin  gebracht,   die  Notwendigkeit   der  richtigen   Auffassung  einzusehen. 

Wie  grofs  nun  der  Fehler  der  Auffassung  sey,  durch  welche  der  Be- 
griff A  gegeben  wurde :  das  läfst  sich  zwar  im  Allgemeinen  nicht  sagen  und 
nicht  einmal  vermuthen.  Aber  sehr  gewifs  mufs  man  im  Anfange  der 
Untersuchung  ihn  lieber  für  einen  blofsen  [60]  Mangel,  als  für  eine  Täu- 
schung ansehen;  um  nicht  unnütze  Schwierigkeiten  da  zu  häufen,  wo  viel- 
leicht die  Wahrheit  ganz  nahe  liegt. 

Also  zeigen  uns  diese  Betrachtungen  immer  den  Weg,  den  wir  zuerst 
■  ersuchen  sollen,  und  auf  welchem  allein  wir  hoffen  können  fortzukommen. 
Denn  was  sollten  wir  anfangen,  wenn  wirklich  der  gegebene  Begriff  durch 
solche  X  und  Y  müfste  verbessert  werden,  die  nicht  durch  ihn  angezeigt 
werden?  Wir  müfsten  dann  wieder  auf  das  gute  Glück  warten;  wie  im 
logischen  Schliefsen  eine  Prämisse  auf  die  andre  wartet. 


I.  Abschnitt.     Methodologie.     4.   Capitel.    Plan   der  bevorstehenden   Untersuchung.       43 


Übrigens  ist  unsre  Voraussetzung  X  =  M  und  Y  =  N  immer  noch 
allgemeiner  als  die  frühere  Betrachtung,  worin  Y  =  o  war;  das  heifst, 
worin   N  selbst  als   resultirend  aus  mehreren  M  x  angesehen  wurde. 

Aber  diese  Allgemeinheit  der  Darstellung  brauchen  wir  gar  nicht  zur 
Anwendung.  Man  könnte  vielmehr  die  Methode  der  Beziehungen  ganz  ent- 
behren, wenn  man  nur  in  den  einzelnen  (sehr  wenigen)  Fällen,  auf  welche 
sie  pafst,  genau  genug  dem  Antriebe  folgt,  der  in  den  Problemen  selbst 
enthalten  ist.  Doch  diene  das  Vorstehende  dem  Leser  zur  Übung,  und 
dem   Verfasser  zur  Rechtfertigung. 

Zum  Schlüsse  noch  eine  Bemerkung!  Die  mehrern  M,  aus  deren  gegen- 
seitiger Modifikation  N  erfolgen  soll,  stehen  zu  demselben  offenbar  im  Ver- 
hältnisse des  Grundes  zur  Folge.  Läfst  sich  also  in  vorkommenden  Fällen 
erkennen,  welches  Glied  eines  gegebenen  Widerspruchs  müsse  als  Grund, 
oder  welches  allein  könne  als  Folge  betrachtet  werden:  so  ist  die  Frage 
entschieden,    welches    man   —   M   setzen,    das  heifst,    vervielfältigen  müsse. 


[61]  Viertes  Capitel. 

Plan  der  bevorstehenden  Untersuchung. 

§•   189. 

Der  Plan  unterscheidet  sich  von  den  Methoden  ungefähr  so,  wie  von 
dem  Gehen,  Reiten,  Fahren  sich  der  Grundrifs  der  Gegend  unterscheidet, 
in  der  man  reisen  will.  Nachdem  jene  Arten  des  Fortkommens  einzeln 
beschrieben  worden,  entsteht  noch  die  Frage,  an  welchen  Orten  der 
Gesend   die  eine  oder  die  andre  nöthig?  wo  besser  zu  gehn,  wo  zu  reiten, 


-c 


wo  zu  fahren  sev?  In  einer  Gebirgsgegend  wird  man  schon  auf  Abwech- 
selungen hierin  gefafst  seyn  müssen. 

Nur  auf  Begriffe,  die  unzweydeutig  aus  dem  Gegebenen  stammen, 
und  die  überdies  Anspruch  machen,  wirkliche  Gegenstände  darzustellen, 
soll  die  Methode  der  Beziehungen  angewendet  werden.  Wir  haben  sie  zwar 
oben  beyspielsweise  auf  den  Zusammenhang  zwischen  Grund  und  Folge 
übertragen;  und  man  mag  sich  in  ähnlichen  Fällen  versuchen:  aber  das 
geschieht  auf  die  Gefahr,  der  Begriff,  dessen  Beziehungen  man  sucht,  sey 
vielleicht  von  der  Beschaffenheit  jener  Quadratwurzeln  aus  negativen  Gröfsen 
(§.  184.),  die  mit  ihren  Widersprüchen  behaftet  bleiben  müssen,  weil  sie  nur 
solchergestalt  die  Stelle  behaupten  können,  wohin  sie  gehören.  Hiegegen 
mufs  anderweitige  Bürgschaft  vorhanden  seyn.  Die  sicherste  Bürgschaft  aber 
gegen  diesen  Verdacht  leistet  die  Realität  des  Gegenstandes,  welche  in 
keinem  Widerspruche  verwickelt  bleiben  darf,  und  nicht  darin  verwickelt 
seyn  kann. 

Wir  erinnern  uns  nun  zwar,  dafs  die  Ontologie,  indem  sie  die  ge- 
gebenen sinnlichen  Dinge  für  real,  oder  doch  für  Erscheinungen  eines 
mannigfaltigen,    von  uns  unabhängigen  Realen   nimmt,    auch    hier  noch    an 


1   aus  den  andern   M.   SW. 


41  Allgemeine  Metaphysik  nebst  deD  Anfängen  etc.      182g. 

der  [62]  Eidolologie  eine  gefahrdrohende  Nachbarin  hat,  die  gern  Alles 
ins  Ich,  und  das  Ich  wiederum  in  ein  reines  oder  absolutes  Ich  versetzen 
möchte.  Allein  wir  kennen  einigermaafsen  diese  Eidolologie  (§.  143,  147.); 
wenn  wir  uns  auch  hier  nicht  auf  die  schon  in  der  Psychologie  geführte 
Untersuchung  über  das  Ich  berufen  wollen.  Also  können  wir,  ohne  uns 
sonderlich  zu  fürchten,  immerhin  solche  Bürgschaft  annehmen,  welche  auf 
der  Realität  der  gemeinen  Erfahrungsgegenstände  beruhet;  mit  dem  Vor- 
behalte zwar,  in  der  Eidolologie  selbst  nöthigenfalls  uns  Berichtigungen 
gefallen  zu  lassen;  aber  voraus  sehend,  dafs  dieser  Vorbehalt  nur  der 
Form   wegen  da  steht,   um  gegen  unnütze   Einwürfe  Wache   zu  halten. 

Dies  alles  vorausgesetzt,  so  wird  die  Methode  der  Beziehungen  in 
der  Ontologie  zuerst,  und  zwar  an  dem  Puncte  zur  Anwendung  kommen, 
wo  das  erste  eigentliche  Princip  der  Metaphysik,  der  Begriff  des  Dinges 
mit  mehrern  Merkmalen,  oder  kurz,  der  Inhärcnz,  seinen  Platz  einnimmt. 
Obgleich  nun  das  Princip  die  erste  Stütze  des  Wissens  ausmacht:  so  kann 
es  doch,  eben  weil  auf  seine  Realität  gerechnet  wird,  nicht  den  Anfangs- 
punet  des  Vortrags  einnehmen.  Ehe  man  Etwas  als  ein  Reales  bezeichnet, 
mufs  der  Begriff  der  Realität  entwickelt  sevn.  Dieses  ist  das  Geschafft  einer 
logischen  Analyse,  wodurch  kein  Gedanke  verändert,  sondern  nur  so  wie 
er  vorhanden  ist,  zur  vollen  Deutlichkeit  erhoben,  und  vor  allen  Ver- 
wechselungen gesichert  wird.      Und   damit  also  werden  wir  anfangen. 

§.    190. 

Diese  logische  Analyse  sey  geschehen;  alsdann  sey  die  Methode  der 
Beziehungen  zur  Anwendung  gekommen :  womit  endigt  sie  ?  W7ir  wissen 
im  Allgemeinen,  dafs  sie  nur  bis  an  einen  Punct  führt,  wo  ein  [63]  Zu- 
sammen mehrerer  M  zu  untersuchen  ist,  und  wo  nun  Distinction  eintrit, 
nicht  dem  einzelnen  M,  sondern  dem  Resultat  aus  mehrern,  komme  es  zu, 
Eins  zu  seyn  mit  N.  So  wenig  wir  nun  hier  schon  voraus  wissen  können, 
was  diese  dunkele  Formel  in  jedem  einzelnen  Falle  bedeuten  möge:  so 
läfst  sich  doch  eine  Vermuthung  desjenigen,  was  zunächst  "weiter  zu  thiui 
sej'n   werde,  daraus  ableiten. 

Es  ist  nämlich  klar,  dafs  jenes  Zusammen  der  mehrern  M,  was 
sie  auch  seyn  mögen,  nicht  in  einer  blofsen  Summe  zu  suchen  sey,  die 
durch  Addition  eines  und  noch  eines  M  entstehn  könnte.  Denn  der  Begriff 
N,  von  welchem  vorausgesetzt  worden,  er  sey  unverträglich  mit  dem  einzelnen 
M,  soll  sich  nun  mit  dem  Resultat  der  mehrern  vertragen;  es  mufs  also 
eine  bedeutende  Veränderung  daraus  hervorgehn,  dafs  die  mehrern  M  in 
Verbindung  gesetzt  werden.  Hierüber  schweigt  die  Methode;  und  über- 
läfst  es  der  weitern  Untersuchung  jedes  einzelnen  Problems. 

Gewifs  mufs  jedes  der  M,  indem  es  mit  den  andern  in  Gemeinschaft 
trit,  so  gefafst  werden,  dafs  in  dem  Begriffe  von  ihm  etwas  sich  ändern 
möge  durch  die  Begriffe  der  andern.  Wir  wollen  nun  zwar  nicht  ent- 
scheiden, ob  dieses  gleich  von  selbst  erfolgen  werde  aus  derjenigen  Vor- 
stellung der  M,  die  man  zu  diesem  Theile  der  Untersuchung  schon  mit- 
bringt. Allein  wenn  es  nicht  von  selbst  erfolgt  (und  davon  sieht  man  im 
Allgemeinen  wohl  kaum  die  Möglichkeit,  indem  ja  die  mehrern  M  als 
mehrere  gleichartige  Exemplare  Eines  allgemeinen  Begriffs  gedacht  werden!), 


t.  Abschnitt.    Methodologie.     4.  Capitel.    Plan  der  bevorstehenden  Untersuchung.      45 

so  müssen  wir  es  nothwendig  veranstalten.  Es  mufs  dahin  kommen,  dafs 
die  blofse  Summe  der  M  sich  vor  unsern  Augen  in  etwas  verwandle,  was 
dem   N  angemessen  sey. 

Also  die  M  müssen  vermuthlich  anders,  als  durch  ihren  ursprünglichen 
allgemeinen  Begriff,  —  dennoch  [64J  aber  der  Wahrheit  gemäfs,  mithin 
auf  eine  Weise,  die  jenem  gleich  gelte,  —  in  treuer  Übersetzung,  aber 
in   einem  andern  Ausdrucke,   vorgestellt  werden. 

Wie  die  Mathematiker  ihre  Gröfsen  nach  dem  Bedürfnisse  transformiren, 
ja  fast  jeden  Augenblick  mit  den  Ausdrücken  wechseln,  —  und  wie  sie 
ohne  solchen  Wechsel  nicht  rechnen  können:  so  werden  wir  eine  ähnliche 
Kunst  nöthig  haben.  Eine  Kunst  der  zufälligen  Ansichten!  Ohne  diese 
möchte  mit  der  Methode  der  Beziehungen  schwerlich  etwas  anzufangen 
seyn. 

Auf  die  zufälligen  Ansichten  haben  wir  den  Leser  absichtlich  schon 
oben1  (§.  174,  176.)  aufmerksam  gemacht.  Zufällig  sind  sie  nur  dem 
Begriffe,  von  welchem  sie  genommen  werden;  wie  wenn  x  =  y  —  z, 
oder  y  =  Xu  gesetzt  wird,  während  man  tausend  andre  Ausdrücke  eben 
so  gut  hätte  wählen  können.  Aber  nothwendig  sind  sie  an  dem  Orte,  wo 
sie  vorkommen;  und  sie  müssen  so  gewählt  werden,  dafs  durch  ihre  Ver- 
mittelung  dasjenige  in  Verbindung  komme,  wovon  Eins  durch  Andre  eine 
neue  Bestimmung  erlangen  soll. 

Wenn  bey  den  Mathematikern  die  zufälligen  Ansichten  als  blofse 
Kunstgriffe  auftreten:  so  liegt  es  daran,  dafs  keine  bestimmte  Weisung 
vorhanden  war,  weder  dafs,  noch  wie  man  sie  wählen  solle.  Uns  aber 
debt  die  Methode  der  Beziehungen  den  Befehl,  dafs  wir  uns  ihrer,  wo 
nöthig,  bedienen  sollen;  bey  der  Wahl  derselben  mufs  der  vorkommende 
Fall  uns  leiten. 

§.    191. 

Logische  Analyse,  Anwendung  der  Methode  der  Beziehungen,  und 
der  zufälligen  Ansichten,  —  dies  Alles  sey  geschehen:  was  wird  weiter  zu 
thun  seyn? 

Die  Frucht  der  Untersuchung  mufs  sich  nunmehr  der  Reife  so  weit 
nähern,  dafs  man  wirklich  in  ein  neues  [65]  Gebiet  der  Begriffe  eintreten 
könne.  Denn  die  gesuchte  Ergänzung  des  anfänglich  widersprechenden 
Begriffs  mufs  nach  Anwendung  der  zufälligen  Ansichten  sich  wenigstens  in 
irgend  einem  Puncte  ergreifen  lassen.  Ist  aber  erst  irgend  ein  wahrhaft 
neuer  Begriff  in  der  Untersuchung:  so  kann  man  erwarten,  dafs  es  nun 
gehen  werde  wie  in  Rechnungen  nach  den  nöthigen  Substitutionen.  Es 
läuft  nämlich  alsdann  gleichsam  von  selbst  eine  Reihe  bekannter  logischer 
Wendungen  ab,  wodurch  der  neue  Gedanke  mit  demjenigen  in  Gemein- 
schaft trit,  was   er  vorfindet. 

Also  an  dem  bezeichneten  Puncte  ist  eine  Reihe  von  Entwickelungen 
zu  erwarten,  denen  wir  im  Ganzen  uns  mehr  überlassen  müssen,  als  wir 
sie  leiten.  Im  Einzelnen  kann  dennoch  Kunst  genug  nöthig  seyn,  um 
vorkommenden  Schwierigkeiten  zu  begegnen. 

Von   welcher  Art   diese   Kunst   seyn   werde,    das    läfst   sich    hier   nur 

1  absichtlich  schon  (§.  174,    176.).  SW.  („oben"  fehlt). 


a()  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

einigermaafsen,  wie  aus  weiter  Ferne,  erblicken.  Es  mufs  eine  Kunst  der 
Constructionen  seyn.  Darauf  deutet  das  Obige  im  §.  163  und  1Ö4.  Die 
sesrebenen  Erscheinungen  sollen  erklärt  werden;  man  mufs  also  von  dem 
Puncte  aus,  wo  man  dem  Realen  am  nächsten  gekommen  war,  ein  Bild 
entwerfen,  welches  die  Umrisse  der  Erscheinungswelt  allmählig  ähnlicher 
und   bestimmter  zeigen   könne. 

Hier,  wie  am  entsprechenden  Orte  der  Psychologie,  ist  es  nöthigr 
dafs  wir  die  Mathematik  berühren;  uns  aber  nicht  ganz  auf  sie  verlassen, 
denn  nach  §.  141.  und  so  weiter,  hat  sie  gewisse  Auslegungen  erlitten, 
denen  wir  vorbeugen  müssen,  damit  sie  nicht  in  unsre  Sphäre  kommen. 
Wir  werden  uns  also  zwar  nicht  einfallen  lassen,  die  Mathematik  zu  ver- 
bessern, wohl  aber  die  wahre  Bedeutung  ihrer  Lehren  sorgfältig  bestimmen 
müssen,  bevor  wir  uns  dieselben  aneignen.  Dies  kann  nicht  anders  ge- 
schehen, als  indem  wir  die  Grundleh-[66]ren  der  Mathematik  gleichsam 
vor  unsern  Augen  entstehen  lassen. 

Das  Alles  liegt  jetzt  noch  weit  aufser  unserm  Gesichtskreise;  allein 
schon  jetzt  sind  einige  allgemeine  Betrachtungen  nöthig,  damit  späterhin 
der  Leser  sich  nicht  überrascht  finde. 

§.    192. 

Zuerst  müssen  wir  auf  gewisse  Personen  Rücksicht  nehmen,  die  mit 
wichtiger,  ja  mit  strenger  Miene  vermuthlich  schon  lange  fragen:  ob  wir 
denn  wirklich  glauben,  durch  unsre  methodischen  Künste  das  Reale  er- 
haschen zu  können?  Ob  denn  das  Künsteln  an  Begriffen  jemals  etwas 
Höheres  zu  Tage  fördern  werde,  als  —  Begriffe? 

Für   solche  Frager  wird   nun   freylich   keine  Metaphysik   geschrieben. 

Das  Reale  soll  ihnen  in  die  Seele,  —  ihnen  in  ihre  Erkenntnifs- 
treten.  Noch  mehr:  dabey  soll  ihnen  zu  Muthe  seyn,  als  ob  sie  hörten 
und  sähen.  Anschauung  wollen  sie,  —  und  niemals  begreifen  sie,  dafs, 
wenn  sie  Anschauung  bekämen,  sie  dann  gerade  so  diese,  wie  alle  andern, 
längst  bekannten  Anschauungen,  ergriffen  von  der  Reflexion,  Preis  gegeben 
dem  Zweifel,  behaftet  mit  Widersprüchen,  wenigstens  mit  dem  Widerspruche, 
dafs  sie,  jeder  in  seinem  Ich,  die  Anschauenden  dieser  Anschauung  wären, 
—  hingeben  müfsten  dem  prüfenden  Denken,  und  anheim  stellen  müfsten 
seiner  Entscheidung. 

Jedoch   läfst  sich  antworten   auf  ihre   Frage. 

Es  ist  ein  Irrthum,  dafs  wir  das  Reale  erhaschen  wollen;  das  ist  nicht 
nöthig;  denn  wir  haben  die1  Realität  niemals  und  nirgends  von  uns  ge- 
lassen, niemals  aus  den  Augen  verloren.  Alles  Gegebene  gilt  ursprünglich 
für  real.  Suspendirt,  aber  nicht  aufgehoben,  wird  [67]  der  Anspruch  des 
Gegebenen  auf  Realität  alsdann,  wann  sich  findet,  es  könne  so,  wie  es 
gegeben  war,  nicht  gedacht  werden.  Darum  sondert  sich  der  Begriff  der 
Realität  ab  von  der  Qualität,  die  ihm  zuerst  im  Anschauen  war  beygelegt 
worden.  Und  nun  mufs,  stets  mit  Vesthaltung  der  Überzeugung,  dafs  ein 
Reales  gegeben  war,  die  Frage,  was  /in  ein  Reales?  dergestalt  beantwortet 
werden,   dafs  immer  noch  die  Antwort  vom   Gegebenen  abhänge,   und  durch 

1  Denn  wir  haben   Realität  .  .  .    SW.  („die"  fehlt). 


i.  Abschnitt.    Methodologie.     4.  Capitel.    Plan  der  bevorstehenden  Untersuchung.      47 

dasselbe  bestimmt,  obgleich  nicht  mit  ihm  unmittelbar  identisch  sey.    Davon 
wird  die  Ontologie  weiter  reden;   und  zwar  gleich   zu   Anfange. 

§,    193. 

Ferner  müssen  wir  des  Causalbegriffs  erwähnen;  nicht  um  ihn  hier, 
in  der  Methodologie,  zu  erklären,  sondern  um  zu  sagen,  dafs  der  Weg 
der  Untersuchung,  den  wir  hier  vorgezeichnet  haben,  in  der  Ontologie  zu 
ihm  führen  wird.  Aus  dem  gegebenen  Erfahrungskreise  stammt  zwar  die 
Notwendigkeit,  ihn  zu  erzeugen;  nämlich  den  Widerspruch  in  der  Ver- 
ändcrung  durch  Hülfe  der  Causalität  zu  heben;  aber  der  gemeine  falsche 
Begriff  der  Ursache,  die  in  ein  andres  Leidendes  wirkt,  darf  auf  unserm 
Wege  gar  nicht  vorkommen. 

Der  Grund,  weshalb  hier  dieses  Begriffs  erwähnt  wird,  liegt  in  der 
dritten  Hauptforderung,  welche  die  Methodologie  erfüllen  soll  (§  164). 
Auf  dieselbe  bezog  sich  zwar  schon  das,  was  vorhin  (§  191.)  von  einer 
Kunst  der  Constructionen  bemerkt  wurde;  welche  andre  Constructionen 
aber  dürften  wir,  in  der  Richtung  vom  Realen  zur  Erscheinung  fortgehend, 
machen,  als  solche,  die  von  dem  wahren  Wirken  der  Dinge  anheben, 
und  deren  Anfangspunct  eben  deshalb  der  Causalbegriff  seyn  mufs? 

[08]  Und  hier  ist  es  nöthig,  auf  die  Länge  des  zu  durchlaufenden 
Weges  aufmerksam  zu  machen. 

Die  Metaphysik  hat  zwey  Pole;  sie  spricht  vom  Seyn  und  vom  Schein. 
Wäre  das,  was  erscheint,  unmittelbar  das  Reale,  so  gäbe  es  keine  solche 
Wissenschaft.  Aber  was  liegt  denn  zwischen  den  Polen?  Gewifs  irgendwo- 
der  Causalbegriff;  denn  wenn  das  Reale  nichts  wirkte,  woher  käme  denn  die 
Erscheinung  ?  —  Diese  sehr  natürliche  Frage  verleitet  aber  gar  leicht  zu 
einer  ganz  irrigen  Meinung  über  Seyn,  Wirken  und  Scheinen;  nämlich  als 
ob  das  Wirken  des  Seyenden  eben  darin  bestände,  unmittelbar  den  Schein 
hervorzubringen.  Das  gäbe  einen  sehr  kurzen  Weg;  und  man  brauchte 
dann   eben  nicht  viel  von  einer  Kunst  der  Constructionen  zu   reden. 

Aber  das  Seyende,  was  und  wie  es  auch  wirken  möge,  kann  nicht 
ein  solches  seyn,  dafs  es  ohne  Weiteres  ein  Blendwerk  von  sich  ausgehn 
liefse.  Sehn  wir  schon  ein,  dafs  die  Dinge  nicht  so  sind,  wie  sie  scheinen: 
so  wissen  wir  hiemit,  dafs  wir  die  Unwahrheit  des  Scheins  fem  halten 
müssen  von  der  Wahrheit  des  Sevenden,  die  nicht  von  sich  selbst  ab- 
weichen  kann.  Es  läge  ja  sonst  im  Seyenden  der  Keim  seines  Gegen- 
theils;  wer  nun  eine  Spur  von  metaphysischer  Besonnenheit  besitzt,  dem 
ist  hierüber  genug  gesagt. 

Also  sind  Mittelglieder  nöthig;  und  die  Metaphysik  mufs  sie  zeigen, 
wenn  es  ihr  gelingen  soll,  den  Schein  aus  dem  Seyenden  zu  erklären. 
Diese  Mittelglieder  kann  sie  nicht  auf  gut  Glück  aussinnen  und  einschalten. 
Sie  mufs  sie  finden  in   dem,  was  denselben   zunächst  vorhergeht. 

Nun  versetze  man  sich  auf  den  Punct,  wo  das  Reale  entweder  er- 
kannt wird,  oder  wo  man  doch  dieser  Kenntnifs  am  nächsten  kommt. 
Dieser  Punct  sey  uns  jetzt  der  erste;  und  der  zweyte  sey  das  wahre 
Wirken  des  [69]  Realen,  die  ächte  Causalität.  oder  das  wirkliche  Geschehen. 
So  mufs  alsdann  auf  diesen  zweyten  Punet  ein  dritter  folgen;  dieser  aber 
darf  nicht  von    selbst,    durch   ein  willkürliches  Denken,    eintreten;    er  darf 


,g  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

auch  nicht  zusammenfallen  mit  der  Erscheinung,  als  ob  sie  eine  Wirhing 
des  Wirkens  des  Realen  wäre,  denn  da  wäre  der  obige  Fehler  zwar  um 
eine  Stelle  weiter  geschoben,  aber  nicht  wahrhaft  vermieden.  Sondern  so- 
bald  wir  das  eigentliche  Wirken  erkannt  haben,  muß  sich  irgend  eine  Art 
von  Bestimmungen  dieser  Kenntnt/s  darbieten,  die  kein  Prädicat  des  Realen 
ist,  und  es  nicht  verunreinigt,  dennoch  aber  wesentlich  dazu  gehört,  um  ein- 
zusehen,  dafs,   und  wie  der  Schein   entstehe. 

Die  Bestimmungen  dieser  Art  sind  die  mathematischen,  deren  eben 
deshalb  die  Metaphysik  gar  nicht  entbehren  kann;  so  dafs  es  schon  aus 
diesem  Grunde  auf  immer  ein  vergebliches  Bemühen  seyn  wird,  Meta- 
physik und  Mathematik  von  einander  streng  absondern  zu  wollen. 

§•  194- 
Die  mathematischen  Constructionen,  so  weit  sie  dienen,  den  Schein 
im  Allgemeinen  herzuleiten  aus  dem  Wirken  des  Realen,  rechnen  wir  nach 
der  schon  oben  (§.  126.)  angegebenen  Benennung  zur  Synechologie ;  und 
eben  dahin  gehört  das  Meiste  von  dem,  was  an  die  Stelle  der  alten  Kosmo- 
logie treten  mufs. 

Allein  indem  die  Synechologie  nur  das  Reale,  und  was  von  ihm  aus- 
geht, unter  mathematischen  Formen  betrachtet:  wird  es  dem  Leser  anfangs 
vorkommen,  als  verfehlte  sie  dabey  den  Umstand,  dafs  der  Schein  nicht 
blofs  hergeleitet  werden  mufs  aus  seinem  Ursprung,  sondern  auch  hinein- 
geleitet werden  mufs  in  Uns!  [70]  Denn  gewifs  sind  Wir  Diejenigen,  denen 
sich  der  Schein  darstellt. 

Diese  Lücke  deckt  erst  die  Eidolologie,  die  zugleich  den  Idealismus 
prüft  und  beseitigt.  Nunmehr  schliefst  sich  das  Ganze,  welches  Ontologie,1 
Synechologie  und  Eidolologie  mit  einander  bilden.  Keiner  von  diesen 
f heilen  der  allgemeinen  Metaphysik  ist  eine  selbstständige  Wissenschaft; 
eben  deswegen  darf  auch  nicht  Synechologie  mit  Naturphilosophie,  nicht 
Eidolologie  mit  Psychologie  verwechselt  werden;  obgleich  es  sich  deutlich 
genug  zeigen  wird,  dafs  allerdings  die  Naturphilosophie  und  die  Psychologie, 
insofern  sie  Wissenschaften  a  priori  sind,  oder  in  Hinsicht  ihres  synthetischen 
Theils,  aus  der  Synechologie  und  der  Eidolologie  entspringen,  und  ihnen 
logisch  untergeordnet  sind. 

So  haben  wir  nun  jenen  bogenförmigen  Gang  der  Metaphysik  (§.  164.) 
so  viel  möglich  im  Voraus  verzeichnet;  wie  es  von  der  Methodologie  ge- 
fordert wurde.  Niemand  wird  jetzt  noch  die  Frage  aufwerfen,  ob  man 
nicht  den  Bogen  vermeiden,  und  dagegen  vom  Gegebenen  zum  Realen, 
und  rückwärts,  auf  Einem  und  demselben  Wege  gehen  könne?  Die  Me- 
thoden für  den  in  die  Tiefe  hinabsteigenden  Bogen  sind  ganz  verschieden 
von  denen  des  Aufsteigens,  weil  das  noch  unerklärte  Gegebene,  wovon 
man  ausgeht,  zwar  das  Nämliche  ist  mit  demjenigen,  dessen  Erklärung 
man  aus  der  Tiefe  heraufholt,  aber  das  Unerklärte  gewifs  nicht  einerley 
ist  mit  der  Erklärung,  deren  es  bedarf;  und  eben  so  wenig  das  Suchen 
nach  den  Gründen,  woraus  man  erklären  könne,  einerley  ist  mit  den,  aus 
diesen  Gründen  allmählig  sich  entwickelnden  Folgen. 


1  welches  die  Ontologie.  SW. 


[;i]  Zweyter  Abschnitt. 

Ontotogie. 


Erstes  Capitel. 
Von  der  Auffassung  des  Realen  durch  Begriffe. 

§■  195- 

Die  logische  Analyse,  mit  welcher  wir  beginnen  sollen  (§  189),  findet 
zwar  hier  nicht  insofern  ein  schweres  Geschafft,  als  welches  ihr  Begriffe 
darbieten  können,  die  eine  Verwickelung  vieler  Merkmale  enthalten.  Denn 
was  kann  einfacher  seyn,  als  der  Gedanke,  dafs  irgend  Etwas  ist  ?  Allein 
die  Schwierigkeiten  des  Unendlich -Kleinen  gelten  bekanntlich  für  nicht 
geringer  als  die  des  Unendlich- Grofsen;  und  den  Begriff  des  Seyenden, 
ohne  irgend  eine  nähere  Bestimmung  in  völliger  Abstraction  gedacht, 
möchte  man  fast  unendlich  klein  zu  nennen  sich  versucht  fühlen ;  so  wenig 
giebt  er  zu  denken.  Wie  soll  man  ihn  fassen?  Und  was  soll  man  mit 
ihm  anfangen. 

Fassen  soll  man  ihn  so,  wie  er  sich  im  gemeinen  Gedankenkreise 
findet.  Denn  die  Metaphysik  mufs  ge-[72]sichert  werden  gegen  den  Ver- 
dacht,  sich   eine  Welt  nach  ihrer  Phantasie  zu  ersinnen  und  zu  beschreiben. 

Anfangen  soll  man  mit  ihm  das,  was  das  Amt  der  logischen  Analyse 
mit  sich  bringt.  Dieses  aber  ist  bekanntlich  ein  zwiefaches.  Erstlich, 
verwandte  Begriffe,  die  leicht  verwechselt  werden  können,  zu  unterscheiden ; 
zweytens,  in  demjenigen  Begriffe,  der  zur  Betrachtung  vorliegt,  die  Merkmale 
zu  sondern. 

Überdies  wissen  wir  aus  der  Geschichte  der  Metaphysik,  wie  wenig  wir 
hier  sicher  sind  vor  solchen  Irrthümern,  die  aus  dem  Sevn  eine  blofse 
Mittelstufe  machen  zwischen  Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  Es  könnte 
sich  demnach  ereignen,  dafs  die  nothwendigen  Vorkehrungen  gegen  den 
Irrthum  unser  Geschafft  weitläuftiger  machten,   als   es  eigentlich  seyn  sollte. 


S. 


5 


196. 


Ontotogie  ist  für  viele  Menschen  ein  Schreckwort,  das  mit  aller  ge- 
bührenden Scheu  vor  wahrem  und  falschem  Tiefsinn  pflegt  ausgesprochen 
zu  werden.  Der  Leser,  der  bis  hieher  kam,  wird  sich  nun  freylich  nicht 
davor  fürchten;  aber  die  Frage  bleibt  merkwürdig,  wie  ein  wissenschaftlicher 
Name,  der  nichts  weiter  ankündigt  als  die  Lehre  vom  Seyn,  in  Übeln  Ruf 
habe  kommen  können. 

Herbart's  Werke  VIII.  4 


;q  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Zwar  nicht  mit  Unrecht  beschuldigt  man  die  Schulen,  dafs  sie  das 
Einfachste  auf  eine  Weise  verworren  haben,  die  dem  gesunden  Verstände 
widersteht.  Aber  die  Schulen  würden  das  nicht  gethan  haben,  wenn  nicht 
in  der  Natur  des  Gegenstandes  Gründe  lägen,  die  es  schwer  machen,  den 
sehr  abstracten   Begriff  vor  Verwechselungen  zu  hüten. 

Man  versetze  sich  auf  ein  Schiff,  welches  schnell  am  Ufer  vorbey  fährt. 
Die  Bäume  scheinen  uns  entgegen  zu  kommen ;  aber  sie  bewegen  sich 
nicht   wirklich.      Hingegen   das  Schiff  bewegt  sich  wirklich. 

[73]  Papier  ist  sehr  verschieden  von  Flachs;  diese  wirkliche  Ver- 
schiedenheit läfst  sich  an  vielen  Merkmalen  nachweisen.  Aber  Papier  ist 
gleichwohl  wirklich  dasselbe  mit  dem  Flachs  und  der  Leinwand,  woraus  es 
gemacht  wurde. 

Hier  sind  schon  drev  verschiedene  Wirklichkeiten ;  die  einer  Bewegung, 
einer  Beschaffenheit,  und  eines  Stoffes;  und  doch  sind  wir  noch  gänzlich 
im   Kreise   der  gemeinsten   Dinge  geblieben. 

Die  Worte  Seyn,  Daseyn  und  Wirklichkeit  werden  oftmals  als  gleich- 
bedeutend gebraucht.  Ohne  Zweifel  müssen  sie  etwas  Gemeinsames  in 
den  Gedanken  haben,  die  sie  ausdrücken;  und  eben  das  gilt  von  jenen 
drey,  freylich  sehr  verschiedenen  Wirklichkeiten.  Auch  versteht  es  sich 
von  selbst,  dafs  in  dem  Vollständig-  Wirklichen,  sobald  wir  es  ganz  so,  wie 
es  ist,  erkennen  wollen,  alle  jene  Wirklichkeiten  in  Verbindung  müssen 
erwartet  werden.      Dennoch   dürfen  wir  die   Begriffe  nicht  vermengen. 

Wir  wollen  deshalb  zuerst  auf  die  Verschiedenheiten  achten.  Gesetzt, 
man  entdecke  an  bekannten  Dingen,  z.  B.  an  den  Metallen,  neue  Eigen- 
schaften: so  sagt  Niemand,  man  habe  mehr  Wirkliches,  sondern  man  habe 
das  Wirkliche  auf  eine  neue  Weise  kennen  gelernt.  Hier  ist  der  Sprach- 
gebrauch strenger  als  sonst;  das  Wirkliche  sollen  nur  die  Dinge  selbst, 
nicht  deren  Eigenschaften  seyn.  Dennoch  nennt  man  die  Eigenschaften 
wirklich;  nur  nicht   das    Wirkliche. 

Gerade  nun  wie  die  Menge  der  wirklichen  Dinge,  die  wir  kennen, 
nicht  wächst,  wenn  auch  die  der  Eigenschaften  wächst;  und  wie  selbst 
ohne  alle  Rücksicht  auf  unsre  Kenntnifs,  wenn  in  der  That  die  Dinge 
neue  Eigenschaften  erhielten,  doch  ihre  Zahl  nicht  wachsen  würde :  eben 
so  wächst  hinwiederum  keinesweges  die  Summe  der  Eigenschaften,  ob  nun 
ein  Ding  sich  be-[j4]wege,  oder  nicht.  Die  blofse  Veränderung  des  Orts 
ist  keine  Veränderung  dessen,  was  das  Ding  wirklich  ist;  es  nimmt  seine 
ganze   Beschaffenheit  mit  sich,   indem   es  den   Platz   wechselt. 

(  »boleich  nun  diese  Arten  der  Wirklichkeit  sich  unter  einander  ent- 
^effengesetzt  sind:  so  stehn  sie  doch  wiederum  in  einem  gemeinschaftlichen 
Gegensatze  gegen  das   Nicht- Wirkliche. 

Jene  Bäume  am  Ufer  bewegten  sich  nicht  wirklich;  es  schien  nur  so! 
Die  bunte  Taube,  deren  Hals  in  der  Sonne  schimmert  und  mit  Farben 
spielt  (ein  Beyspiel  der  alten  Schulen),  wechselt  nicht  wirklich  die  Be- 
schaffenheit, während  wir  bald  diese  bald  jene  Farbe  zu  sehen  glauben; 
das  scheint  nur  so!  Papier  ist  nicht  wirklich  verschieden  vom  Flachs; 
Eis  eben  so  wenig  vom  Wasser;  sondern  die  nämlichen  Substanzen  haben 
nur  ein   anderes  Ansehen  bekommen. 

In  allen   diesen  Fällen  wird   das,   was  Anfangs  ohne  Rückblick  auf  uns, 


2.  Abschnitt.     Ontologie.      i.  Capitel.    Von  der  Auffassung  des  Realen  etc.        cj 

und  auf  unsre  Auffassung  angenommen  war,  redueirt  auf  ein  blofses  Vor- 
stellen. Es  sieht  nur  so  ans!  Es  ist  nichts  an  sich!  In  diesen  Ausdrücken 
erkennt  man   den   Gegensatz,   von   dem  wir  eben  jetzt  redeten. 

§•    197- 

So  leicht  nun  das  Vorstehende  ist:  so  sei  man  doch  vest  überzeugt, 
dafs  schon  hier  die  Verwirrung  in  der  alten  Metaphysik  begonnen  hat. 
Man  verwechselte  die  verschiedenen  Wirklichkeiten  unter  einander,  wegen 
ihres  gemeinsamen  Gegensatzes  gegen  das   Nicht- Wirkliche. 

Der  Satz  des  Spinoza  :  quo  plns  realitatis,  aut  esse,  unaquaeque  res  habet, 
eo  plura  attributa  ipsi  competunt  (ethica  P.  I.  prop.  IX.),  verräth  offenbar, 
dafs  er  die  Wirklichkeit  des  Dinges  nach  der  Wirklich- [7 5]keit  der  Eigen- 
schaften abmafs.    Ein  Fehler,  gegen  den  Kant  seine  ganze  Energie  aufbot. 

Wir  gehen  hier  noch  nicht  ein  auf  die  Sache;  es  kommt  uns  nur 
darauf  an,  die  Wichtigkeit  der  logischen  Analyse  bey  diesem  Gegenstande 
zu  zeigen.  Dazu  veranlafst  der  schon  bemerklich  gemachte  Fragepunct: 
ob  denn  wohl  der  gemeinen  Wirklichkeit  auch  die  Ausdrücke  Daseyn  und 
Seyn  zukommen? 

Wer  noch  nichts  von  Metaphysik  wüfste,  der  würde  diese  Frage 
kaum  begreifen,  und  sich  desto  weniger  bedenken,  sie  zu  bejahen.  Aber 
die  skeptischen  Argumente,  welche  wir  in  der  Methodologie  (§  169)  auf- 
stellten ,  und  die  man  jetzt  aufs  genaueste  ins  Gedächtnifs  zurückrufen 
mufs,  beruheten  auf  der  Scheidung  zwischen  Materie  und  Form  der  Er- 
fahrung. Der  Zweifel,  der  uns  die  Formen  rauben  wollte,  drang  nun  zwar 
nicht  durch;  allein  der  Kinderglaube,  womit  im  gemeinen  Leben  das,, 
was  mit  Augen  gesehen  und  mit  den  Händen  betastet  ist,  für  real  gehalten 
wird,  war  denn  doch  ein  für  allemal  verloren!  Die  gegebenen  Gegen- 
stände waren,  und  blieben,  aufgelöset  in  Materie  uud  Form;  das  heifst,  in 
Empfindung  und  in  gewisse  Arten  und  Weisen  des  Zusammenhangs  der  ver- 
schiedenen Empfindungen.  Das  einzige  Reale,  was  vorläufig  übrig  blieb,  war 
das  Ich.  Denn  die  Empfindungen  sind  im  Ich;  und  die  Formen  sind  nur 
nähere  Bestimmungen  dessen,  wie  die  Empfindungen  im  Ich  seyen.  Damit 
ist  nun  zwar  gar  nicht  definitiv  behauptet,  dafs  das  Ich  das  einzige  wahre 
Reale  sey:  aber  es  wird  doch  darnach  gefragt;  und  es  schwebt  Ungewifsheit 
über  der   Realität  des   Gegebenen. 

Diese  Ungewifsheit  trifft  keine  von  allen  jenen  Wirklichkeiten  der  Be- 
wegung, der  Beschaffenheit,  des  Stoffs.  Das  Gegebene  ist  wirklich  gegeben  ; 
es  fällt  auf  keinen  Fall  in  die  Classe  der  optischen  [76]  Täuschung,  des 
Traums,  der  Dichtung,  des  leeren  willkührlichen  Denkens.  Die  Wirklichkeit, 
gemein  wie  sie  ist,  entreifst  uns  den  Täuschungen,  weckt  uns  aus  Träumen, 
Dichtungen,  Gedanken.  Dennoch  fragen  wir,  ob  Körper,  ob  Seelen,  ob 
Geister  ein  wahres  Daseyn  haben,  oder  nicht?  Wirkliches  Gegebenseyn, 
gleichviel  ob  eines  Stoffes  oder  einer  Beschaffenheit,  gilt  noch  nicht  für  einen 
Beweis  des  Daseyns. 

Und  hier  kündigt  sich  dem  Geübteren  noch  ein  Unterschied  an,  den 
wir  bald  genauer  entwickeln,  hier  nur  anzeigen.  Es  ist  der  zwischen  Seyn 
und  Daseyn.  Wenn  etwas  da  oder  dort  ist,  so  liegt  es  in  Einer  Reihe 
mit  manchem   Anderen,  was  auch  da  ist.     Gesetzt,  diese  Reihe  sey  gänz- 

4* 


5 2  Allgemeine  Metaphysik  nebst   den  Anfängen  etc.      1829. 

lieh  aufgehoben:  so  verschwindet  das  Daseyn;  der  Begriff  des  reinen  Seyn 
aber  enthält  nichts  von  einer  Reihe,  und  kann  durch  dieselbe  weder  ge- 
setzt noch  hinweggenommen  werden. 

§•  198. 

Hier  kommt  nun  ein  Verhältnifs  zum  Vorschein,  das  Viele  seltsam 
finden,  und  dem  sie  gern  durch  einen  Sprung  entkommen  möchten,  selbst 
wenn  der  Sprung  noch  seltsamer,  ja  geradezu  unmöglich  wäre. 

Die  Realität  des  Gegebenen  bezweifeln  wir;  das  Seyende  suchen  wir; 
und  unsre  ganze  Hoffnung,  es  zu  finden,  hängt  dennoch  am  Ge- 
gebenen! Warum?  weil  uns  eben  nichts  anderes  gegeben  ist;  und  würde 
etwas  Neues  gegeben,  es  blofs  die  Menge  der  fraglichen  Gegenstände  ver- 
mehren würde. 

Unsre  ganze  Hoffnung,  uns  dem  Seyenden  zu  nähern,  hängt  auch  dann 
noch  am  Gegebenen,  wann  die  Einsicht  hinzukommt,  dafs  die  Formen  des- 
selben an  innern  Widersprüchen  leiden.  Ja  die  Hoffnung  nimmt  dadurch 
nicht  ab  (wie  es  den  Meisten  bedünkt),  sondern  sie  wächst.  Denn  eben 
in  den  Widersprüchen  lie-[77]gen  die  Antriebe  des  fortschreitenden  Denkens; 
und  die  Berechtigungen,  das  Gegebene  zu  ?^^rschreiten.  Die  Auctorität 
des  Gegebenen,  welche  scheint  durch  die  vorhandenen  Widersprüche  zu 
verlieren,  war  ohnehin  schon  blofs  eingebildet.  Jene  skeptischen  Argumente, 
die  in  einer  idealistischen  Ungewifsheit  endigen  (wie  nur  eben  zuvor  er- 
innert worden),  sind  für  sich  hinreichend,  die  Einbildung  zu  zerstören. 
Oben  (§.  169,  171.)  fanden  wir  sie  ganz  unabhängig  von  der  Nachweisung 
■der  Widersprüche.  Gesetzt,  das  Gegebene  sey  vollkommen  denkbar ;  und  die 
Möglichkeit  sey  gar  nicht  zu  bezweifeln,  dafs  die  Dinge  so  seyn  können, 
wie  uns  die  Erfahrung  dieselben  zeigt:  glaubt  man  denn,  das  Gegebene 
habe  und  behalte  jetzt  eine  solche  Auctorität,  wie  man  von  der  Grundlage 
alles  unseres  Wissens  zu  fordern  pflegt,  weil  man  meint,  diese  Grundlage 
müsse  still  liegen,  wie  ein  träger  Boden,  und  weil  man  über  den  Syllogismus 
hinaus   keinen  Zusammenhang  von  Gründen  und   Folgen  kannte?   — 

Es  steht  nicht  in  unserer  Macht,  die  Auctorität  des  Gegebenen  zu 
verstärken.  Die  Wissenschaft  würde  sich  nur  lächerlich  machen,  wenn  sie 
versuchte,  der  Erfahrung  Gewifsheit  zu  ertheilen;  das  wäre  noch  etwas 
thörichter,  als  Eulen  nach  Athen  zu  tragen.  Der  Wissenschaft  ziemt  Kritik; 
sie  soll  dem  Gegebenen  nicht  mehr  Auctorität  beylegen,  als  es  behaupten  kann. 

§•  199- 

Ist  denn  die  Auctorität,  welche  dem  Gegebenen,  als  dem  Träger  alles 
Wissens,  wahrhaft  zukommt,  und  bleibt,  so  gar  schwer  zu  finden  und  zu 
beschützen?  Nichts  weniger  als  das.  In  der  ganzen  Metaphysik  ist  dies 
das  allerleichteste.  Man  wage  es  nur,  aufrichtig  gegen  sich  selbst  zu  seyn; 
man  gehe  dem  Zweifel  nach,  [78]  so  weit  er  reicht,  er  wird  schon  irgendwo 
von  selbst  ein  Ende  finden. 

Die  Formen  der  Erfahrung  (seyen  sie  nun  widersprechend  oder  nicht) 
haften  an  der  Empfindung.  Aber  die  Empfindungen  sind  nicht  Dinge, 
sondern  Zustände.  Die  Materie  des  Gegebenen  besteht  aus  Empfindungen; 
gegeben    sind   also  keine  Dinge;    nichts  Reales.      Was  wissen  wir    denn   vom 


2.  Abschnitt.     Ontologie.      i.   Capitel.     Von  der   Auffassung  des  Realen  etc.         e^, 

Realen?  Nichts!  Also  wollen  wir  den  Satz  aussprechen:  Nichts  ist!  Es 
giebt  kein  Sern. 

Aussprechen  läfst  dieser  Satz  sich  leicht;  aber  nicht  vesthalten.  Man- 
versenke  sich  in  das  Nichts,  wie  man  will;  der  Lauf  der  Welt  geht  den- 
noch fort.  Nun  kann  man  zwar  recht  gut  von  der  Welt  den  Weg  finden 
zum  Nichts;  aber  alsdann  findet  man  den  Rückweg  verschlossen.  Man 
gelangt  nicht  wieder  vom  Nichts  zu  der  Welt!  Man  kann  zu  jeder  Sache, 
zu  jedem  Ereignifs  sprechen:  du  bist  Nichts  und  du  schaffst  Nichts!  Aber 
die  Sachen  fahren  fort  zu  erscheinen;  und  verwickeln  uns  in  die  Frage, 
woher  denn  wohl  der  Schein   kommen   möge? 

Es  ist  nämlich  klar,   dafs,  wenn  Nichts  ist,   auch  Nichts  scheinen  muls. 

Wer  ein  Vergnügen  darin  fände,  sich  mit  Vernichtungs  -  Gedanken 
zu  tragen,  der  würde  stofsen  an  den  Schein;  und  der  Widerstand  würde 
wachsen  mit  der  Stärke  des  Angriffs.  Der  Schein  läfst  sich  nicht  ableugnen, 
nicht  einmal  vermindern ;  man  mufs  ihn  setzen,  als  ein  recht  eigentliches 
Nicht  -  Nichts.  Damit  erklärt  man  nun  freylich  nicht  dasjenige,  was  da 
scheint,  als  ein  Solches,  Wie  es  scheint,  für  real.  Aber  man  setzt  Etwas; 
und  zwar  dieses  Etwas  wegen  dieses  Scheins;  ein  andres  Etwas  wegen  eines. 
andern   Scheins. 

Diese  Notwendigkeit  wiederholt  sich  durch  das  [79]  ganze  Gegebene 
hindurch  bey  jedem  Schritte.  Damit  wird  über  die  Menge  des  Realen 
noch  nichts  entschieden;  aber  die  Menge  der  Antriebe,  Etwas,  unbekannt 
wie  es  ist,  zu  setzen,  vergröfsert  sich  ins  Unermefsliche.  Wieviel  Schein, 
soviel   Hindeutung  aufs   Seyn. 

Das  nun  ist  die  völlig  genügende  Auctorität,  welche  dem  Gegebenen,. 
—  und  zwar  ganz  aligemein,  das  Gegebene  sey,  was  es  wolle,  —  ver- 
bleibt; denn  nun  mufs  gesorgt  werden,  dafs  man  das  Reale,  was  dem 
Schein  zum  Grunde  liegt,  auf  eine  Weise  bestimme  und  verknüpfe,  wie 
es  den  Verknüpfungen  angemessen  ist,  in  welchen  die  Hindeutungen  aufs 
Seyn  unter  einander  stehen.  Man  kann  diese  Sorge  nicht  ablehnen;  die 
Formen  der  Erfahrring  verwandeln  sich  in  Formen  der  Setzung  des  Realen ; 
dabey  verwickeln  sie  das  Seyende  i?i  ihre  Widersprüche,  wenn  wir  es  nicht 
hindern ;  so   zwingen   sie  utis,   das  Reale  zu  setzen   und  zu  hüten. 

§.  200. 

Wir  haben  nun  das  Gegebene,  als  den  wirklichen  Schein  (sey  es  ein 
Schein  von  Sachen,  oder  Beschaffenheiten,  oder  Bewegungen),  entgegen- 
gesetzt dem  Seyenden,  das  dem  Schein  zum  Grunde  liege.  Dieses  nennen 
wir  unbekannt;  denn  wir  sagen  zwar,  dafs  es  ist,  aber  wir  bekennen,  nicht 
zu  wissen,  was  es  ist.  Das  Unbekannte  ist  die  Qualität;  unser  Begriff 
aber  vom  Seyenden  besteht  aus  Bekanntem  und  Unbekanntem,  dem  Seyn 
und  der    Qualität. 

Darum  nun,  weil  gerade  so  und  nicht  anders  der  Begriff  des  Seyen- 
den hervorgeht  aus  der  nothwendigen  Fundamental-Betrachtung  des  vorigen  §r 
zerfällt  von  hier  an  die  weitere  Analyse  in  zwei  Capitel,  das  eine  vom  Seyn, 
das  andre  von  der  Qualität.  Diese  Sonderung  der  Begriffe,  und  hin- 
wiederum diese  Zusain?nen-\cio]sc/zung  des  Begriffs  vom  Seyenden  aus  den 
beyden   Begriffen   des  Seyn  und   der   Qualität,   ist  nicht  beliebig,   auch   nicht 


za  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfangen  etc.      1829. 

zur  Bequemlichkeit  ersonnen;  vielmehr  mufs  es  genau  bemerkt  werden, 
dafs  eben  an  der  Stelle,  wo  wir  den  Begriff  des  Seyn  zuerst  gewinnen, 
er  in  dem  Gegensatz  gegen  das  Wirkliche,  dessen  Qualität  für  bekannt 
und  gegeben  gilt,  schon  angetroffen  wird,  indem  von  dem  Seyenden  ge- 
sagt wird,    man    ivisse  nicht,    was  es  scv. 

Wie  wenn  man  diesen  Gegensatz  wegnehmen  wollte:  würde  dann 
das  Wirkliche  und  das  Seyende  noch  unterschieden  werden?  Ohne  Zweifel 
würde  beydes  zusammenfallen.  Die  Position ,  in  der  wir  Etwas  setzen, 
während  wir  den  Schein  zwar  nur  für  Schein,  aber  doch  für  Nicht  -  Nichts 
anerkennen,  —  diese  Position  ist  nur  Wiederholung  und  Bekräftigung  der 
früheren,  durch  welche  wir  das  Wirkliche  für  wirklich  hielten.  Nämlich 
vor  allem  Beginn  des  Zweifels  nahmen  wir  die  Dinge  um  uns  her,  und 
uns  selbst,  ganz  unbedenklich  für  wirklich  vorhanden  an.  Später,  als  wir 
alles  Gegebene  für  Empfindung,  und  dessen  Formen  für  widersprechend 
erklärten,  konnten  wir  uns  doch  der  Setzung  nicht  enthalten;  irgend  Etwas 
mufste  bleiben!  Es  blieb  also  dabey,  dafs  man  die  alte,  längst  vollzogene 
Position  beybehalten,  nur  den  Gegenstand  derselben,  seiner  Qualität  nach, 
in  Zweifel  stellen  solle.  Dieses  Bleiben  und  Beybehalten  mufs  schon  des- 
wegen bemerkt  werden,  damit  Niemand  glaube,  man  springe  ab  vom  Ge- 
gebenen, wenn  man  anfängt  vom  Seyenden  zu  reden.  Überdies  ist  der 
nämliche  Umstand  wichtig  für  die  logische  Exposition  des  Begriffs  vom  Seyn. 


[81]       Zweytes  Capitel. 
Vom  Begriffe  des  Seyn. 

§.  201. 

Es  ist  eine  alte  Bemerkung  der  Logik,  dafs  man  einfache  Begriffe 
nicht  deutlich,  sondern  nur  klar  machen  kann.  Das  heifst,  in  ihnen  giebt 
es  nichts  zu  unterscheiden,  aber  sie  selbst  müssen  von  andern  unterschieden 
werden.  Wir  fügen  hinzu:  man  mufs  auch  die  Beziehungen  nachweisen, 
in  denen  sie  zu  andern  Begriffen  stehn.  Ja  man  kann  solche  Beziehungen, 
wo  sie  vorhanden  sind,  benutzen,  um  den  Weg  zu  zeigen,  auf  welchem 
Jedermann  zu  den  Begriffen,  von  denen  die  Rede  ist,  gelangen  kann. 

Ein  Beyspiel  hievon  wird  nicht  überflüssig  sevn.  Was  ist  Eins? 
Diese  Frage  pflegt  wohl  beym  Anfange  der  Arithmetik  autgeworfen  zu 
werden,  in  der  Meinung,  man  müsse  die  Zahlen  erklären  als  zusammen- 
gesetzt aus  Einheiten,  und  folglich  müfsten  diese  vorher  definirt  werden. 
Aber  das  blofse  Eins  ist  einfach;  und  vergebens  bemüht  man  sich  hier 
um   eine   Definition  in  gewöhnlicher  Form. 

Dagegen  mag  man  so  anfangen:  Alle  Gröfse  ist  ein  Zusammen- 
gefafstes.  Läfst  sich  nun  die  Zusammenfassung  ganz  auflösen:  so  sind 
die  Elemente  Einheiten.  Will  man  die  Zusammenfassung  nur  bis  auf  gewisse 
Theile  auflösen,  so  nimmt  man  diese  für  Einheiten.  —  Weiter  und  genauer 
wollen  wir  diesen  Gegenstand,  der  anderwärts  *  schon  berührt  worden, 
hier  nicht  verfolgen. 


*  Psychologie  §.    116.      [Bd.  VI  vorl.  Ausg.] 


2.   Abschnitt.     Ontologie.     2.  Capitel.     Vom  Begriffe  des  Seyn.  55 

Zu  dem  einfachen  Begriffe  des  Seyn  führt  ein  Weg,  den  wir  im 
vorigen  Capitel,  am  Ende  desselben,  be-[82]zeichnet  haben.  Gegenstände 
sind  gesetzt  worden;  diese  Gegenstände  werden  dergestalt  bezweifelt,  dafs 
sie  ganz  verschwinden  sollten.  Sie  verschwinden  aber  nicht;  die  Setzung 
dauert  also  fort;  aber  sie  ist  darin  verändert,  dafs  ihr  Gesetztes  nicht  mehr 
für  einerley  gilt  mit  demjenigen,  worauf  sie  ursprünglich  gerichtet  war  (§.  igt).). 
Die  Qualität  wird  dem  Zweifel  Preis  gegeben;  das  Gesetzte  soll  etwas 
Anderes,  Unbekanntes  seyn.  Hier  bleibt  blofs  der  Begriff  Dessen  übrig, 
dessen  Setzung  nicht  aufgehoben  wird.  Die  blofse  Anerkennung  des  Nicht- 
Aufzuhebenden  nun  ist  der   Begriff"  des  Seyn. 

Als  ursprünglich  Etwas  gesetzt  wurde,  —  in  der  unmittelbaren  Em- 
pfindung, —  da  war  die  Frage,  ob  die  Setzung  auch  wieder  aufzuheben 
sey  ?  noch  gar  nicht  vorhanden.  Es  blieb  also  bey  der  Setzung,  bis  der 
Zweifel  hervortrat.  Das  heifst,  das  Empfundene  wurde  bis  dahin  gerade 
so  gesetzt,  wie  wenn  ihm  der  Begriff  des  Seyn  wäre  zugetheilt  worden. 
Denn  dieser  Begriff  bringt  nichts  anderes,  als  ein  Nicht- Aufheben,  ein 
Bleiben  bevm  Setzen. 

Rückwärts  also:  wenn  man  uns  fragte,  wie  sollen  wir  es  machen,  etwas 
als  seyend  zu  setzen?  so  wäre  die  Antwort:  setzet  es  so,  wie  ihr  ursprünglich 
das  Empfundene  gesetzt  habt.  Und  mischt  nichts  ein,  was  diese  Art  der 
Setzung  stören   konnte. 

Sie  wird  aber  gar  leicht  gestört.  So  eben  sagten  wir  (um  kurz  zu 
sprechen),  sie  bleibe  bis  zum  Zweifel;  das  ist  aber  nicht  genau  richtig. 
Lange  vorher,  und  weit  allgemeiner,  stört  die  Erfahrung  selbst  die  ur- 
sprüngliche Setzung  des  Empfundenen.  Die  Materie  der  Erfahrung,  das 
heifst,  wie  man  schon  weifs,  das  Empfundene,  —  wird  nicht  gegeben  aufser 
der  Form;  sondern  in  derselben.  Die  Empfindungen  sind  gleich,  vom  Augen- 
blicke des  Entstehens  an,  den  psychologi-[83]schen  Gesetzen  der  Ver- 
schmelzung und  der  Complication  unterworfen.  Wie  diese  Verbindungen 
in  jedem  Falle  näher  bestimmt  seyen,  das  hängt  von  der  Art  und  Weise 
ab,  wie  die  Empfindungen  zusammentreffend  oder  gesondert,  —  und  ent- 
weder auf  stets  gleichförmige  Weise,  oder  bald  so  bald  anders  zusammen- 
treffend und  gesondert  erzeugt  werden.  Indem  nun  Gruppen  von  Em- 
pfindungen gegeben  sind,  und  Reihen  von  Vorstellungen  daraus  entstehen, 
bleibt  keine  psychologische  Möglichkeit  übrig,  die  Empfindungen  zu  ver- 
einzeln; sondern  es  ist  nur  eine  wissenschaftliche  Abstraction,  wenn  wir 
sie  als  einzeln  stehend  betrachten;  ja  sogar,  es  ist  nur  Einbildung,  wenn 
wir  meinen,  diese  Abstraction  wäre  wirklich  eine  Vereinzelung;  sie  gilt 
nur  im  Gebrauche  dafür.  Dies  Alles  ist  in  der  Psychologie  weitläuftig 
entwickelt  worden ;  und  wir  erinnern  hier  nur  daran,  um  dem  Leser  die 
Vergleichung  dessen  zu  erleichtem,  was  über  die  Wanderung  des  Begriffs 
des  Sem  dort*   ist  gesagt  worden. 

Hier,  in  diesen  ersten  Anfängen  der  Ontologie,  reden  wir  noch  nicht 
vom  Begriffe  der  Substanz.  Wir  machen  nur  im  Voraus  aufmerksam  darauf, 
dafs,  wenn  einmal  —  gleichviel  wie  und  warum,  —  die  Vorstellungen 
in  unauflösliche  Verbindungen    gerathen  sind   (wie   bey   den  mehrern   Attri- 


*  Psychologie  II.  §.    141.     [Band  VI  vorl.  Ausgabe.] 


c6  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      182g. 

buten  oder  Accidenzen,  die  als  inhärirende  Merkmale  der  Substanzen  an- 
gesehen werden),  dann  die  ursprüngliche,  unumwundene  Setzung,  welche 
Anfangs  im  Empfinden  selbst  lag,  aufhören  mufs.  Denn  aus  der  Ver- 
bindung wird  eine  Bedingimg.  Kann  A  nicht  ohne  B  gesetzt  werden, 
und  rückwärts  B  nicht  ohne  A :  so  ist  keins  von  beyden  schlechthin  ge- 
setzt, sondern  jedes  wird  zur  Bedingung  des  anderen.  Was  wird  nun 
geschehen,  wenn  dennoch,  nachdem  [84]  diese  Verbindung  schon  ein- 
getreten war,  A  wiederum  in  der  Empfindung  gegeben,  also  schlechthin 
gesetzt,  ■ —  zugleich  aber  die  früher  erworbene  gleichartige  Vorstellung  A 
(nach  den  psychologischen  Reproductionsgesetzen),  mit  der  neu  gegebenen 
unmittelbar  verschmelzend,  ohne  Unterscheidung  als  Eins  vorgestellt  wird? 
Natürlich  trit  alsdann  B  mit  hervor;  und  beydes,  A  und  B,  ist  als  ein 
Einziges  schlechthin  gesetzt.  Oder  mit  andern  Worten,  es  wird  so  ge- 
setzt,  wie   es  dem  Begriffe   des  Seyn  angemessen  ist. 

Auf  diesem  Buncte  steht  der  gemeine  Verstand,  welcher  der  Meta- 
physik ihren  Stoff  unmittelbar  darbietet.  Der  gemeine  Verstand  setzt  Ein- 
heiten, die  ihm  auflösbar  erscheinen;  die  Einheiten  sind,  die  Dinge,  und 
die  Auflösung  ergiebt  deren  Merkmale.  Hier  ist  nun  schon  eine  sehr  be- 
deutende Veränderung  geschehen.  Die  Dinge  gelten  für  das  Reale.  Auf 
Einheiten,  welche  sich  aus  den  ursprünglichen  Empfindungen  zusammen- 
setzten, ist  jene  Art  des  Setzens  übertragen,  die  an  sich  den  einzelnen 
Empfindungen   zukam. 

Fragt  man  uns  jetzt,  wie  sollen  wir  es  machen,  etwas  als  seyend  zu 
setzen?  so  antworten  wir:  setzt  es  so,  wie  ihr  gewohnt  sevd,  die  Dinge  in 
der  Sinnenwelt  dann  zu  setzen,  wann  ihr  sie  sehet,  oder  betastet,  oder  deren 
Ton,  Geruch,  1  Geschmack  sinnlich  wahrnehmt.  Die  Empfindung  ist  noch 
immer  nöthig,  um  dasjenige,  was  für  real  gehalten  wird,  vom  blofs  Ge- 
dachten, dem  Gedankendinge,  zu  unterscheiden.  Aber  die  unmittelbare 
Setzung  trifft  dennoch  nicht  insbesondere  die  Farbe,  oder  den  Ton;  nicht 
den  Geruch,  oder  Geschmack;  welches  alles,  sobald  man  es  vereinzeln 
will,  sich  als  blofses  Merkmal  des  Dinges  darstellt.  Was  ist  denn  nun  das 
unmittelbar  Gesetzte?  Wir  können  leicht  antworten:  es  ist  die  Einheit, 
es  ist  die  Complexion  der  Merk-[85]male.  Allein  der  denkende  Leser  mufs 
sogleich  fühlen,  dafs  diese  Antwort  nicht  befriedigt;  und  das  ist  ein  richtiges 
Vorgefühl  vom  Probleme  der  Inhärenz ;  womit  wir  uns  jetzt  noch  nicht 
beschäfftigen  können. 

§.   202. 

War  es  denn  in  der  unmittelbaren  Empfindung  ein  Merkmal  des 
Empfundenen,  dafs  es  sey  ?  Empfunden  wurde  nicht  das  Seyn,  sondern 
der  Ton,  die  Farbe  u.  s.  w. 

Ist  es  auf  dem  Standpuncte  des  gemeinen  Verstandes  ein  Merkmal 
der  Dinge,  dafs  sie  sind?  Was  die  Dinge  sind,  das  lehrt  die  Erfahrung; 
aber  der  Begriff  des  Seyn,  der  zu  Ton  und  Farbe  keinen  empfindbaren 
Zusatz  liefert,  kann  auch  nicht  ein  Ingrediens  der  Einheiten  abgeben,  die 
sich  aus  Ton,  Farbe  u.  s.  w.  zusammensetzen. 

1  oder  deren  Ton,  Geschmack,  sinnlich  wahrnehmt.     SW.     („Genich"  fehlt.) 


2.   Abschnitt.     Ontologie.      2.   Capitel.     Vom  Begriffe  des  Seyn.  c  — 

Gleichwohl  findet  man  in  den  Vorstellungen  der  sinnlichen  Dinge 
das  Merkmal,  da/s  sie  sind.  Wie  geht  das  zu?  Woher  nehmen  diese, 
aus  sinnlichem  Stoße  bestehenden  Einheiten  das  Merkmal  des  Seyn?  — 
Das  Seyn  der  Dinge  kommt  erst  zum  Vorschein  in  ihrem  Gegensatze 
gegen  das,  was  nicht  ist,  sondern  blofs  gedacht  wird.  Die  Frage  mufs- 
erst  erhoben  seyn,  ob  es  bey  dem  Schlechthin -Setzen  sein  Bewenden  haben 
solle,  oder  nicht?  Schatten,  Träume,  Täuschungen  aller  Art  enthalten  die 
Zurücknahme  eines  Setzens,  das  schon  geschehen  war;  hier  beginnt  die 
Frage,  ob  denn  die  Dinge  auch  Träume  seyen  ?  Wird  die  Frage  verneint : 
so  entsteht  nun  aus  doppelter  Verneinung  eine  Bejahung;  und  diese  erst 
giebt  den  Begriff  des  Seyn,  obgleich  dadurch  nichts  Neues  soll  gesagt 
werden,  mithin  vorausgesetzt  wird,  die  Bejahung  habe  sich  von  jeher  von 
selbst  verstanden;  und  es  liege  in  der  Natur  des  Dinges,  da/s  sie  ihm  zu- 
komme. 

[86]  Man  sieht  nun,  dafs  hieraus  leicht  eine  Täuschung  entspringen 
kann.  Der  Begriff'  des  Seyn  bezeichnet  eigentlich  nichts  als  das  Bekenntnifs,. 
dafs  wir  eine,  in  Ansehung  des  Gegenstandes  unnöthige  Frage  aufgeworfen 
haben;  nämlich  die,  ob  es  bey  dem  Setzen  des  Gegenstandes  sein  Be- 
wenden haben  solle?  Statt  nun  zu  begreifen,  dafs  wir  hier  im  Grunde 
mit  uns  selbst  beschäfftigt  sind,  geräth  man  leicht  auf  die  Meinung,  man 
habe  von  dem  Gegenstande  etwas  gesagt.  Der  Gedanke  des  realen  Gegen- 
standes war  vergleichbar  mit  den  Gedanken  andrer  Art;  jener  soll  un- 
beschränkt bleiben,  diese  sollen  im  Zaume  gehalten  werden,  damit  sie,  die 
leeren  Gedanken,  nicht  mehr  gelten,  als  sie  werth  sind.  Nimmt  man  nun 
die  erste  dieser  beyden  entgegengesetzten  Bestimmungen  für  eine  solche, 
die  nicht  blofs  dem  Gedanken  des  Gegenstandes,  sondern  dem  Gegenstande 
selbst  beygelegt  sey:  so  verwandelt  sich  durch  blofse  Verwechselung  das 
Seyn  in  eine  Qualität;  und  der  Irrthum  de*  alten  Schule  kommt  in  vollen 
Gang. 

Dieser  Irrthum  bestand  bekanntlich  darin,  das  Sevn  der  Dinge  so 
anzusehen,  als  ob  es  ihnen  inwohne,  inhärire.  Aus  blofser  Unbehutsamkeit 
und  speculativer  Arglosigkeit  hatte  man  sich  das  Reale  nach  dem  Muster 
der  sinnlichen  Dinge  gedacht,  nämlich  dergestalt,  dafs  die  essentia  jedes- 
Realen  eine  Complexion  von  Essentialien,  wesentlichen  Merkmalen  sey, 
aus  denen  sogar  noch  Attribute  folgen,  und  die  für  allerley  Modificationen 
empfänglich  seyn  sollten.  In  die  Mitte  dieses  inneren  und  erworbenen 
Reichthums  warf  man  nun  auch  die  Existenz;  und  es  blieb  nur  noch  die 
Frage  zu  beantworten,  ob  denn  wohl  die  Existenz  zu  Modificationen,  oder 
zu  den  Essentialien  zu  rechnen  sey?  Jenes  wurde  behauptet  von  den  zu- 
fälligen Dingen,  dieses  von  dem  nothwendigen  Wesen,  dem  ens  realissimum. 
Hie- [8 7] mit  hing  der  sogenannte  ontologische  Beweis  vom  Daseyn  Gottes  zu- 
sammen, von  welchem  Kant  Gelegenheit  nahm,  das  wahre  Verhältnifs  des 
Begriffs,   der  uns  hier  beschäfftigt,   aufzudecken. 

§•  -?03- 

An  die  Empfindung  haben  wir  uns  gewendet;  in  ihr  suchten  wir  eine 
solche  ursprüngliche  Setzung,  wie  sie,  dem  Begriffe  des  Sevn  zufolge,  seyn 
sollte.    Aber  ein  so  abstracter  Begriff'  wird  doch  nicht  an  der  Empfindung 


;8  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


kleben!  Wir  sollen  ja  hier  ausdrücklich  noch  nicht  vom  Seyenden  etwas 
erkennen,  sondern  nur  das  Sevn  denken,  um  den  Begriff  zu  berichtigen  und 
sicher  zu  stellen.  Wozu  denn  das  ängstliche  Halten  an  der  Empfindung, 
oder  dem  unmittelbar  Gegebenen? 

Wohlan!  da  blofs  vom  Begriffe  die  Rede  seyn  soll,  so  wollen  wir 
uns  einmal  durch  eine  Fiction  ganz  ins  Gebiet  der  Begriffe  versetzen. 
Gesetzt,  wir  kennten  nur  Begriffe,  keine  Dinge;  wir  dächten  nur,  und  em- 
pfänden gar  nichts;  wir  könnten  jeden  Gedanken  nach  Belieben  vornehmen 
und  wegwerfen,  ohne  uns  an  irgend  ein  Beharren  unserer  Vorstellungen 
wider  unsern  Willen  gebunden  zu  finden:  was  würden  wir  alsdann  für 
seyend  halten?  —  Gewifs  Nichts!  Denn  unsre  Voraussetzung  ist  nicht 
■etwa  die  des  Traums,  worin  die  vorschwebenden  Bilder  für  wirkliche  Dinge 
gehalten  werden,  weil  sie  sich  eben  so  wenig  zum  Weichen  bringen  lassen, 
als  das,  was  man  wachend  sieht  und  hört.  Wir  versetzen  uns  vielmehr 
ins  willkührliche  Denken,  worin  jeder  Begriff  wie  ein  blofser  Diener  auf- 
trit,   der  wohl  weifs,    dafs   er  sogleich  wieder  fortgeschickt  werden  kann. 

Mitten  im  Gedankenspiel  möchte  uns  dann  wohl  eine  Sehnsucht  nach 
dem  Sevenden  anwandeln;  nach  einem  ruhenden  Setzen,  anstatt  des 
schwebenden  und  [88]  schwindenden.  Es  könnten  Fragen  entstehn,  ob 
denn  von  allen  den  blofsen  Gedanken  keiner  ein  Bild  abgebe  von  einem 
Gegenstande,  welcher  bestehe,  wenn  gleich  der  Gedanke,  sein  Ebenbild, 
komme  und  gehe? 

In  solcher  Lage  nun  sind  wir  in  der  That  in  Ansehung  einiger,  uns 
sehr  wichtiger  Gegenstände.  Der  Zweifler  an  Unsterblichkeit  z.  B.  fragt 
sich,  ob  der  Geist  seines  verstorbenen  Freundes  noch  sey  oder  nicht  sey? 
Und  hier  bietet  sich  eine  neue  Gelegenheit  dar,  zu  beobachten,  was  eigent- 
lich der   Begriff  des  Seyn   bedeute? 

Oder,  um  allgemeiner  zu  reden:  man  lasse  in  Gedanken  irgendeinen  Gegen- 
stand zwischen  Sevn  und  Nichtsevn  schiveben:  so  wird  das  Sevn,  als  der  Punct 
der  Frage,  seinem  Begriffe  nach  in  der  Frage  zu  erkennen  seyn.  Dies  Ver- 
fahren wird  dem  vorigen  zur  Probe  und  Bestätigung  dienen,  indem  es  von 
neuem  dahin  führt,  das  Sevn  bedeute  nichts  anderes,  als  die  absolute  Position. 

Das  eben  gegebene  Beyspiel  enthält  nicht  die  Frage,  -was,  wo,  wie, 
die  Seele  des  Abgeschiedenen  seyn  möge?  Sondern  blofs  darnach  wurde 
gefragt,  ob  sie  sev?  Wenn  sie  nicht  ist,  so  fallen  jene  Fragen  von  selbst 
weg;  ivenn  sie  ist,  dann  erst  treten  jene  hervor,  und  wollen  in  ihrer 
Reihe  auch  beantwortet  seyn. 

Also,  wenn  sie  nicht  ist,  dann  verschwindet  der  Gegenstand  aller 
weitern  Fragen.  Aber  wie  ist  dies  zu  verstehen?  Die  Erinnerung  an  den 
verstorbenen  Freund,  das  Bild  von  ihm,  wird  ja  doch  bleiben!  Je  wahrer, 
treuer,  lebendiger  die  Erinnerung,  desto  vollkommener  ist  ohne  Zweifel 
das  Bild.  Könnte  man  nun  nicht  die  Erinnerung  irgend  einmal  so  hoch 
steigern,  dafs  die  Wahrheit  des  Bildes  sich  verwandelte  in  die  Wahrheit 
des  Gegenstandes?  Dafs  der  Freund  wieder  einträte  ins  Daseyn,  durch 
die  Kraft  unseres  Denkens?  —  Nein!  [89]  hier  ist  eine  unübersteigliche 
Scheidewand.  Alle  Vollkommenheit  des  Bildes  ist  fremdartig  dem  Seyn 
des  Gegenstandes:  jene  mag  wachsen,  wie  sehr  man  will:  dadurch  nähert 
man  sich  dem  Seyn  nicht  im  geringsten. 


2.   Abschnitt.       Outologie.      2.   Capitcl.     Vom   Begriffe  des  Seyn.  50, 


Das  nun  soll  die  Lehre  von  der  Unsterblichkeit  leisten,  dafs  die 
Last  des  Gedankens:  es  ist  nur  ein  Bild!  Er  selbst  ist  nicht  mehr!  — 
abgewälzt  werde.  Er  ist!  dies  soll  gewifs  werden;  man  soll  und  man  will 
daran  glauben. 

Worin  liegt  nun  die  Veränderung?  Keinesweges  in  der  Kenntnifs, 
wer  der  Freund,  von  welcher  Natur  und  Bildung  er  gewesen  sey.  Der 
ganze  Gegenstand  dieser  Kenntnifs  wird  in  der  Frage  vom  Seyn  und 
Nichtseyn  als  unwandelbar  der  Nämliche  betrachtet,  ob  er  nun  sey  oder 
nicht  sey.  Blofs  die  Art  der  Setzung  soll  sich  verändern.  Das  Bild  ist 
nur  in    mir,    es   ist   nichts   an   sich.      Er  selbst  aber  ist  an   sich! 

Man  kann  nun  leicht  andere  Beyspiele  finden.  Die  Frage,  ob  die 
Materie  real  sey  oder  nicht?  führt  auf  gleiche  Weise  den  Sinn  mit  sich, 
dafs,  wenn  nicht,  die  Materie  unsre  Vorstellung,  oder  für  uns  eine  Er- 
scheinung sey.      Im   Falle   des   Gegentheils  ist  sie  an  sich. 

Durch  den  Ausdruck:  An  sich,  wird  gleichsam  der  Gegenstand,  als 
ob  er  einen  Punct  aufser  sich  gesucht  hätte,  um  sich  anzulehnen,  auf  sich 
selbst  zurückgewiesen.  Wollte  man  dieses  ernstlich  nehmen:  so  würde  es 
ähnlich  seyn  dem  alten  Gedanken  der  causa  sui.  Diese  ist  nicht  eher, 
als  bis  sie  sich  schafft;  oder  sie  ist,  weil  sie  sich  schafft;  wobey  ihr  Seyn 
zur  Voraussetzung  seiner  selbst  gemacht,  folglich  für  abhängig  und  selbst- 
ständig zugleich  ausgegeben  wird.  Hat  Jemand  die  causa  sui  lieb  gewonnen, 
und  den  Widerspruch  nicht  sogleich  selbst  erkannt:  so  mag  er  sich  hüten, 
in  jenem  An -Sich- Sern  ein  Geheimnifs  zu  suchen.  Der  Gegenstand  war 
nicht  wirklich  sich  [90]  selbst  entlaufen;  er  mufste  nicht  im  Ernste  an 
sich     zurück    geliefert    werden.      Aber    das    Denken    des     Gegenstandes    hatte 


b 


wirklich  einen  solchen  Weg  hin  und  her  beschrieben.  Man  hatte  sich  gefragt, 
■ob  etwa  die  Position  des  Gegenstandes  eine  solche  sey,  die  zurückgenommen 
werden  müfste,  wenn  sie  nicht  irgendwo  abgelehnt  werden  könnte?  Und 
darauf  war    geantwortet:     setzet    ihn    nicht    aufser  sich,    nicht    ande/zvärls, 


o 

•sondern  an  sich. 


&■  204. 


In  der  Empfindung  ist  die  absolute  Position  vorhanden,  ohne  dafs 
man  es  merkt.  Im  Denken  mufs  sie  erst  erzeugt  werden,  aus  der  Auf- 
hebung ihres  Gegentheils.  Denn  das  Denken  selbst,  losgerissen  von  der 
Empfindung,  setzt  nur  versuchsweise  und  mit  Vorbehalt  der  Zurücknahme. 
Auf  diesen  Vorbehalt  Verzicht  leisten,  heifst,  Etwas  für  seyend  erklären. 
Das  ist  der  kurze  Inhalt  des  bisher  Vorgetragenen. 

Nachdem  nun  sowohl  die  ursprünglich  absolute  Position  in  der  Em- 
pfindung, als  die  künstliche,  mit  Bewufstseyn  und  Absicht  zu  Stande  gebrachte 
im  Begriffe,  beschrieben  ist:  müssen  wir  noch  daran  erinnern,  dafs  auch 
in  der  Urtheilsform  eine  ganz  bestimmte  Art  und  Weise,  etwas  als  seyend 
zu  setzen,  begründet  ist.  Nur  erinnern;  denn  die  Sache  ist  schon  in  der 
Logik*  gelehrt  worden. 

Die  gewöhnlich  sogenannten  kategorischen  Urtheile  zuvörderst,  welche 
unter    der  Form:    A    ist  B,    die   Inhärenz   des   Merkmals   B    im   Begriffe   A 


*  Einleitung  in  die  Philosophie  §.  63.     [Band  IV  vorliegender  Ausgabe.] 


(>0  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfangen  etc.      1829. 

aussagen,  sind  ganz  unfähig,  das  Seyn  auszudrücken.  Durch  eine  gemeine 
Erschleichung  wird  in  ihnen  das  Subject  als  seyend  angesehen;  und  das 
ist  natürlich  genug,  weil  die  Frage,  [91]  ob  A  sey?  im  Urtheile  gar  nicht 
berührt  wird.  Allein  eben  darum  wird  sie  auch  nicht  entschieden;  es  ist 
in  dem  Urtheile  gar  keine  Versicherung  enthalten,  wie  viel  das  Subject 
für  sich  allein  gelte;  als  Subject  steht  es  nur  da,  um  ein  Prädicat  an- 
zunehmen. Und  dieses  Prädicat  seinerseits  lehnt  sich  an  das  Subject; 
es  steht  und  fällt  mit  ihm;  nämlich  in  bejahenden  Urtheilen  (denn  von 
verneinenden  kann  hier,  wo  wir  von  absoluter  Position  sprechen  wollen,, 
gar  nicht  die  Rede  seyn).  In  dem  Urtheile,  A  ist  B,  wird  A  versuchs- 
weise gesetzt;  dann,  insofern  dies  geschehen,  soll  es  gewifs  seyn  {dies  be- 
hauptet das  Urtheil  kategorisch),  dafs  ihm  das  Merkmal  B  beyzulegen  sey. 
Hebt  man  den  Versuch,  A  zu  setzen,  geradezu,  und  ohne  irgend  welche 
Übergänge  zu  durchlaufen,  wieder  auf:  so  mag  zwar  das  Merkmal  B  noch 
andere  Stützen  genug  haben,  auf  die  es  sich  lehnen  kann;  —  es  finden 
sich  vielleicht  unzählige  andere  Gegenstände,  denen  es  angehört;  —  allein 
davon  weifs  das  Urtheil  nichts;  fällt  sein  Subject,  so  fällt  auch  diese  be- 
stimmte Gelegenheit,  das  Prädicat  zu  setzen,  und  dasselbe  trit  zurück  in 
die  Reihe  der  blofsen  Begriffe;  das  Urtheil  läfst  keine  Spur  seines  Daseyns 
übrig. 

Hingegen,  wenn  die  Setzung  des  Subjects  als  eine  logische  Quantität 
betrachtet  wird,  so  erfolgt  aus  ihrem  aUmähligen  Verschwinden  ein  ganz 
anderes  Resultat.  Die  Setzung  trifft  zwar  zunächst  den  Inhalt  des  Begriffs; 
allein  nach  bekannten  logischen  Verhältnissen  ist  hiemit  dessen  Umfang 
im  Zusammenhange  des  umgekehrten  Wachsens  oder  Abnehmens.    Sey  der 

1  1 

Inhalt  =  x;  so  ist  der  Umfang  =  — .  Wird  nun  x  =  o,  so  ist  —  un- 
endlich. Hier  bemerke  man  gelegentlich,  dafs  der  übliche  und  richtige 
mathematische   Ausdruck  —   voraus- [9  2] setzt,    die  Null    sey    enstanden    aus 

einer  verschwindenden  Gröfse.  An  sich  kann  unmöglich  Null  ein  Factor  von 
Eins,  oder  von  irgend  einer  Einheit  seyn;  also  hat  auch  die  Forderung, 
diesen  Factor  daraus  wegnehmen,  oder  damit  dividiren  zu  sollen,  gar  keine 
mögliche  Bedeutung;  und  am  allerwenigsten  läge  darin  irgend  eine  Ver- 
anlassung,  dabey  an  das   Unendlich -Grofse  auch  nur  zu  denken. 

Gerade  eben  so  wenig  nun  würde  das  Prädicat  eines  Urtheils  dabey 
gewinnen,  wenn  sein  Subject  schlechthin  wegfiele.  Allein  indem  das  Sub- 
ject verschwindet,  als  logische  Gröfse,  wird  sein  Umfang  unendlich ;  und 
da  das  Prädicat  in  dem  Urtheile  A  ist  B  stets  für  das  Subject,  also  in 
gleichem  Umfange  mit  ihm,  gesetzt  werden  mufs,  so  wächst  die  Setzung 
des  Prädicats  dergestalt,  dafs  diejenige  Beschränkung  wegfällt,  um  derent- 
willen wir  vorhin  das  kategorische  Urtheil  für  unfähig  erklärten,  den  Be- 
griff des  Seyn  auszudrücken.  Das  Prädicat  war  beschränkt  auf  den  Umfang 
seines  Subjects;  dieser  Umfang  ist  jetzt  keine  Schranke  mehr;  also  wird 
das  Prädicat  zu  einem  Begriffe,  dessen  Schranken  weggenommen  si?td,  das 
heifst,  die  Position  wird  für  unbedingt  erklärt,  und  der  Gegenstand  des 
Begriffs  für  real. 

Unsere  deutsche  Sprache,  in  solchen  Sätzen,  wie:    Gott  ist!  verleitet- 


2.  Abschnitt.     Ontologie.     3.  Capitel.    Vom  Begriffe  der  Qualität.  6l 

uns,  zu  glauben,  der  reale  Gegenstand  sey  Subject  des  Urtheils.  Das  ist 
er  aber  nicht ;  sondern  die  Sprache  selbst  verbessert  sich  in  den  gewöhn- 
lichem Ausdrücken,  wie:  es  ist  ein  Gott.  Hier  steht  die  Stelle  des  Sub- 
jects  deutlich  leer.  Der  reale  Gegenstand  zeigt  sich  als  Prädicat;  dadurch 
ist  angedeutet,  dafs  er  in  die  gewohnte  Beschränkung  jedes  Prädicats  auf 
sein  Subject  allerdings  fallen  würde,  wenn  ein  Subject  da  wäre.  Man  soll 
also  voraussetzen,  es  sey  da  gewesen,  aber  verschwunden;  und  zwar  nicht 
[93]  schlechthin  aufgehoben  (wodurch  das  ganze  Urtheil  weggefallen  wäre), 
sondern  so,  dafs  die  Form  des  Urtheils  unversehrt  bleibe.  Also  der  Form 
nach  ist  selbst  das  Subject  noch  da,  aber  als  eine  leere  Stelle;  leer  an 
Inhalt,  mithin  unendlich  an  Umfang;  blofs  fähig,  zu  erklären,  das  Prädicat 
sey  der  gewohnten  logischen  Hineinsetzung  in  ein  Anderes  enthoben;  es 
sey  an  sich  zu  setzen. 

Das  Prädicat  steht  demnach  an  seiner  Stelle,  als  Prädicat,  nur  des- 
wegen, weil  gesagt  werden  soll,  es  sey  Prädicat  für  kein  Subject,  oder,  es 
sey  nicht  wirkliches  Prädicat.  Hiemit  vergleiche  man  die  alte,  richtige 
Erklärung  der  Substanz;  sie  sey  dasjenige,  was  nur  Subject,  und  nicht 
Prädicat  seyn  könne.  Offenbar  drückt  diese  Definition  den  Versuch  aus, 
einen  gewissen  Begriff  als  Prädicat  zu  gebrauchen;  welches  jedoch  unzu- 
lässig sey  erfunden  worden.  Genau  dasselbe  sagen  jene  Urtheile,  die  den 
Begriff  dem  Scheine  nach  zum  Prädicat  machen,  aber  ihm  kein  Subject 
geben;  also  die  beschränkte  Setzung  blofs  zeigen,  um  sie  aufzuheben,  und 
für  unstatthaft  zu  erklären.  So  verwandelt  sich  die  logische  Copula,  ist, 
in  das  Zeichen  des  Seyn.  Und  je  mehr  Jemand  geneigt  ist,  in  der  Logik 
Stützen  für  die  Metaphysik  zu  suchen:  desto  weniger  darf  ihm  diese  Be- 
merkung entgehen,  deren  übrigens  die  Metaphysik  an  sich  wohl  entbehren 
kann,  da  ohne  alle  Rücksicht  auf  logische  Verhältnisse  der  Begriff  des 
Seyn  schon  vorhin  (§.201  —  203.)  als  der  Begriff  des  Absolut -Gesetzten 
war  erkannt  worden. 


[94]      Drittes   Capitel. 
Vom  Begriffe  der  Qualität. 

§■  205. 

Sehr  leicht  verletzbar  ist  die  absolute  Position.  Wüfste  das  der  ge- 
meine Verstand,  so  hätte  er  nicht  so  viele  Dinge  für  real  gehalten,  von 
denen  sich  hintennach,  findet,  dafs  sie  nur  Erscheinungen  seyn  können.  Ob 
die  Schulen  es  wissen,  dies  zu  überlegen  kann  die  nun  folgende  Unter- 
suchung Anlafs  genug  darbieten. 

Zwar  auf  den  ersten  Blick  führt  der  Begriff  des  Seyn  leicht  zu  der 
Meinung,  als  ob  er  gar  nichts  über  die  Qualität  bestimme.  Denn  was  man 
auch  immer  setze,  —  sey  es  ein  ganz  unbekanntes  x,  y,  z,  —  man  braucht 
es  ja  nur  an  sich  zu  setzen,  so  ist  ihm  der  Begriff  des  Seyn  zugeschrieben ! 
Anders  möchte  es  sich  verhalten,  wenn,  nach  der  Meinung  der  altern 
Schule,   das  Seyn   den  Dingen  inwohnte!      Dann  könnte   man  noch   fragen, 


52  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

ob  denn  diese  Eigenschaft  der  Dinge,  dafs  sie  seyen,  auch  mit  allen  anderen 
Eigenschaften  derselben  sich  gut  vertrage?  Wenn  aber,  wie  wir  gesehen 
haben,  das  Seyn  gar  keine  Bestimmung  Dessen  abgiebt,  ivas  die  Dinge 
sind,  so  wird  ja  wohl  jedes  beliebige  Was  dazu  dienen  können,  dafs- 
man  etwas  habe,   ivovon  sich   aussagen  lasse,   es  sey !   — 

Diese  Meinung  bleibt  so  lange  ganz  richtig,  wie  lange  man  die  Qualität 
des  Seyenden  wirklich  ganz  unbekannt  läfst,  und  gar  nicht  unternimmt, 
sie  irgend  ähnlich  denjenigen  scheinbaren  Qualitäten  zu  bestimmen,  an 
welche  wir  bei  den  Sinnengegenständen  gewohnt  sind. 

Unmittelbar  klar  ist  zuvörderst,  dafs,  wenn  wir  die  absolute  Position 
vesthalten  wollen,  wir  uns  vor  ihren  [95]  Gegentheilen,  den  Negationen  und 
Relationen,   hüten   müssen. 

Dafs  nun  diese  auf  dem  Boden  der  Erfahrung  überall,  gleich  Fufsangeln, 
versteckt  liegen,  weifs  Jeder,  dem  die  Analyse  der  gemeinen  Erfahrungs- 
begriffe einigermafsen  geläufig  ist.  Auffallend  ist  eben  deshalb  die  Un- 
behutsamkeit,  womit  dennoch  so  mancher  Denker  auf  die  gefährlichen  Stel- 
len trit.  Sollen  wir  etwan  hier  schon  an  die  Gränze,  —  oder  vielmehr 
an  die  Kluft  zwischen  Metaphysik  und  Ästhetik  (§.  124.)  erinnern?  Vielleicht 
findet  sich  dazu  eine  noch  besser  passende  Gelegenheit. 

§.  206. 

Eine  Negation  setzen,  heifst  soviel,  als  ein  Gesetztes  aufheben.  Dies 
begriff'  die  alte  Schule  wenigstens  insofern,  dafs  sie  einsah,  ein  ganz  nega- 
tives Ding  könne  nicht  seyn. 

Eine  Negation  setzen,  heifst  ferner,  das  Gesetzte  relativ  bestimmen. 
Denn  non  A  läfst  sich  nicht  denken,  ohne  A  vorauszusetzen.  Mit  andern 
Worten :  A  ist  der  Beziehungspunct  für  non  A ;  und  es  ist  nicht  möglich, 
diese  Relation  des  non  A  aus  ihm  wegzuschaffen;  non  A  leidet  keine 
absolute   Position. 

Hätte  nun  die  alte  Schule  den  Begriff  des  Seyn,  als  der  absoluten  Position 
deutlich  erkannt:  so  hätte  sie  auch  an  die  Dinge  eine  höhere  Forderung 
ergehen  lassen,   als  diese:   omni  cnti  ouaedam1  inest  realitas  (§.    10.). 

Offenbar  konnte  sie,  nachdem  schon  das  ganz  negative  Ding  zurück- 
gewiesen war,  sich  in  Ansehung  einiger  Negationen  nur  der  Hoffnung  über- 
lassen, diese  würden  wohl  mit  durchschlüpfen;  oder  sie  würden  von  den 
mit  ihnen  verbundenen  Realitäten,  wie  von  einem  Korke,  schwimmend  er- 
halten werden.  Denn  an  dem  [90]  aus  beydem,  Negativem  und  Realem, 
gemischten  Dinge  war  doch  nichts  anderes  setzbar,  als  nur  das  Reale; 
und  nur  vermittelst  desselben  mochten  dann  auch  die  Negationen  wieder 
gesetzt  werden. 

Dem  Sprachgebrauche  der  alten  Schule  gemäfs  sind  Realitäten  die- 
jenigen Bestimmungen  in  der  Qualität  eines  Dinges,  welche  durch  eine 
Bejahung  gedacht  werden.  Der  Sprachgebrauch  aber  ist  falsch ;  denn  es 
giebt  in  dieser  Hinsicht  keinen  pluralis,  und  keinen  Gegensatz  gegen  die 
Negationen. 

Wenn    gefragt    wird:    Was    ist    dies  Ding?    so    kann   nicht   geantwortet 

1   „quaedam"  nicht  gesperrt.     SW. 


2.  Abschnitt.     Ontologie.     3.  Capitel.     Vom  Begriffe  der  Qualität.  6^ 

werden:  die  Qualität  desselben  ist  theils  positiv,  theils  negativ.  Denn 
wenn  es  ist:  so  mufs  es,  gemäfs  dem  Begriffe  des  Seyn,  absolut  gesetzt 
werden.  Aber  der  negative  Theil  der  Qualität  würde  an  sich  nicht  gesetzt, 
sondern  aufgehoben.  Er  würde  also  nur  gesetzt,  erstlich,  mit  Relation  auf 
sein  eignes  Gegentheil;  zweytens,  wegen  seiner  angenommenen  Verbindung 
mit  dem  positiven  Theile  der  nämlichen  Qualität.  Keins  von  beyden  ist 
erlaubt.  Non  A  ist  kein  Gegenstand  absoluter  Position,  wegen  seiner  Be- 
ziehung auf  A;  und  eine  mittelbare  Setzung  des  Negativen  wegen  dessen 
Verbindung  mit  dem  Positiven,  das  mit  ihm  in  der  nämlichen  Quelle  liegen 
soll,  ist  das  verbotene  Gegentheil  der  unmittelbaren  Setzung,  die  allein  dem 
Begriffe   des  Seyn  entspricht. 

Nun  wohl,  möchte  Jemand  sagen,  wir  wollen  bey  der  Angabe  der 
Qualität  eine  kleine  Veränderung  anbringen.  Wir  wollen  zuerst  blofs  ihren 
positiven  Theil  setzen,  gegen  welchen  nichts  eingewendet  wird;  alsdann 
wird  der  negative  Theil  schon   hintennach   von   selbst  daraus   folgen. 

Die  Antwort  ist:  Das  wäre  keine  geringe,  sondern  eine  sehr  grofse 
Veränderung.  Denn  alsdann  genügt  der  positive  Theil,  um  die  Qualität 
anzugeben;  er  allein  [97]  wird  nun  der  Gegenstand  der  absoluten  Setzung; 
der  Theil  wird  erhoben  zum  Ganzen.  Übrigens  aber  ist  noch  nicht  zu- 
gestanden, dafs  aus  dem  Positiven,  als  dem  Grunde,  etwas  Negatives  folgen 
könne;  auch  würde  ein  Positives,  worin  sich  eine  Negation  versteckt  hielte, 
eine  Täuschung  seyn.  Ob  nun  das  Folgen  des  Negativen  aus  dem  Posi- 
tiven einen  bessern  Sinn  haben  könne,  dies  zu  untersuchen  gehört  noch 
nicht  hieher,  da  wir  noch  nicht  mit  realen  Folgen  aus  realen  Gründen, 
sondern  blofs  mit  dem  Gegenstande  der  unmittelbaren,  absoluten  Position 
uns  beschäfftio;en. 

Unser  Satz  ist  also  :  die  Qualität  des  Sev enden  ist  gänzlieh  positiv  oder 
affirmativ ;   ohne  Einmischung   vo?i   Negationen. 

§.  207. 

An  diesen  ersten  Satz  knüpft  sich  nun  sogleich  ein  zweyter,  dessen 
Wichtigkeit  vielfältig  anderwärts,  besonders  in  der  Psychologie,  bemerklich 
wurde,  und  dessen  Beweis  schon  in  der  Einleitung  vorläufig  zur  Überlegung 
dargeboten  ist.*  Vollständig  und  im  rechten  Zusammenhange  mufs  der 
Satz  nun   hier  erwogen  werden.      Er  heifst: 

Die   Qualität  des   Serenden   ist  schlechthin   einfach. 

Denn  gesetzt,  sie  sey  mehrfach:  so  enthält  sie  zum  wenigsten  zwey 
Bestimmungen,  A  und  B;  und  es  liegt  in  der  Voraussetzung,  gegen  die 
wir  streiten,  dafs  diese  zwey  sich  schlechterdings  nicht  auf  Eine  (welche 
sonst  die  wahre  Qualität  seyn  würde)  zurückführen  lassen.  So  ist  demnach 
A  ungenügend  ohne  B;  und  B  ungenügend  ohne  A.  Hier  liegt  der  dop- 
pelte Fehler  der  Negation  und  der  Relation  am  Tage.  Die  Ne-[q8]gati<>n 
zeigt  sich  darin,  dafs,  indem  man  A  in  die  Qualität  setzt,  es  mit  dem 
V orbehalte  geschieht,  es  sey  nicht  die  wahre  Qualität,  wenn  es  nicht  mit  B 
verbunden  sey;  und  müsse  für  den  Fall,  dafs  man  A  ohne  diese  Verbindung 
würde   denken  wollen,   zurückgenommen  werden.     Von  solchem  Vorbehalte 


'   Einleitung  in   die  Philosophie,   §.    113.      [Band   IV   vorl.   Ausgabe.] 


£>a  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

■des    Zurücknehmens    haben    wir    oben    (§.   204.)    als    von    demjenigen    ge- 
sprochen, worauf  Verzicht  geleistet  wird   durch   den   Begriff  des  Seyn. 

Dasselbe,  was  von  A,  gilt  auch  von  B.  Beyde  würden  daher  sich 
in  einem  Kreise  gegenseitiger  Abhängigkeit  drehen,  wenn  Eins  nicht  ohne 
das  Andre  die  gesuchte  Qualität  bestimmen  dürfte.  Hier  haben  wir  nicht 
blofs  eine  Relation  in  der  Setzung,  sondern  es  ist  sogar  die  ganze  Setzung 
lediglich  relativ;  und  es  fehlt  gänzlich  an  einem  Puncte,  den  die  absolute  Posi- 
tion treffen  könnte.  Denn  man  versuche  A  zu  setzen;  aber  A  ist  ungültig, 
wenn  nicht  B  vorausgesetzt  wird,  als  das  mit  jenem  Verbundene.  Man 
setze  also  immerhin  B  voraus;  aber  selbst  diese  Voraussetzung  taugt  Nichts, 
wenn  ihr  nicht  schon  die  Setzung  des  A  voran  ging.  Man  setze  demnach, 
als  Voraussetzung  der  Voratissetzung.,  A  voraus:  und  so  fahre  man  fort,  bis 
man  hinreichend  inne  wird,  dafs  man  gar  Nichts  gesetzt  hat,  weil  alle 
diese  Setzungen  ungültig,  und  im  Voraus  zurückgenommen  sind,  da  sie  nicht 
gelten  sollen,  ohne  eine  Bedingung  schon  erfüllt  zu  finden,  an  der  es  stets 
fehlt  und  fehlen  wird. 

Nun  wohl,  möchte  Jemand  sagen,  so  setzet  weder  A  noch  B,  aber  die 
Einheit  beyder.  Worauf  zu  antworten:  erstlich,  dafs  die  verlangte  Einheit, 
welche  nicht  irgend  eine  beliebige,  sondern  gerade  nur  die  Einheit  von  A 
und  B  seyn  soll,  ein  Begriff  ist,  der  sich  bezieht  sowohl  auf  A  als  auf  B. 
Diese  Relation  ist  das  Widerspiel  der  absoluten  Position.  Zweytens,  [99] 
dafs  nicht  einmal  an  diese  Relation  eher  zu  denken  erlaubt  ist,  als  bis  das 
Verbot  aufhört,  A  und  B  zu  setzen,  und  zwar  der  Einheit  voraus,  mithin,  nach 
dem  obigen,  auch  jedes  dem  andern  voraus  zu  setzen.  Also  weit  entfernt, 
dafs  diese  Einheit  einen  Punct  für  die  absolute  Setzung  darbieten  sollte, 
entführt  sie  uns  vollends  von  dem  gesuchten  Puncte. 

So  verbindet  denn,  fährt  man  fort,  die  Einheit  und  den  Zwiespalt 
eures  A  und  B  durch  eine  höhere  Einheit,  in  der  es  keine  Gegensätze 
mehr  giebt. 

Ja  freylich  (antworten  wir),  lafst  uns  einen  Thurm  von  Einheiten  über 
einander  bauen;  bis  Jedermann  deutlich  sieht,  dafs  die  hohem  Einheiten ' 
sich  allemal  beziehen  auf  die  niederen,  und  folglich,  dafs  je  höher  das 
Kunstwerk  in  die  Lüfte  steigt,  wir  desto  weiter  von  der  Sache  abkommen; 
und  endlich  wohl  dahin  gelangen  könnten,  unsre  ganze  Untersuchung  zu 
vergessen. * 

Aber  schon  Spinoza,  wendet  man  ein,  hat  gelehrt,**  dafs  zwey  Attri- 
bute Einer  Substanz,  die  wirklich  gesondert  (realiter  distinclaj,  das  heifst,  eins 
ohne  Hülfe  des  andern,  gedacht  werden,  noch  immer  nicht  zu  dem  Schlüsse 
berechtigen,  sie  seyen  zwey  verschiedene  Substanzen.  Denn  so  liege  es 
nun  einmal  in  der  Natur  der  Substanz,  dafs  jedes  ihrer  Attribute  die  Re- 
alität, oder  das  Seyn  der  Substanz  ausdrücke.  Weit  gefehlt  also,  dafs  es 
absurd  seyn  sollte,  Einer  Substanz  mehrere  Attribute  beyzulegen,  sey  es 
vielmehr  ganz  klar,  dafs  jedes  Ding  unter  irgend  einem  Attribute  gedacht 
werden  müsse,  und  dafs,  je  mehr  Realität  oder  Seyn  es  habe,  ihm  desto 
mehr  Attribute  zukommen. 


*  Man  vergleiche  hier  den  §.    149.  der  Psychologie.     [Bd.   VI  vorl.   Ausgabe.] 
**  Spinozae  cth.  P.  I.  prop.   10.  in  Schot, 


2.  Abschnitt.     Ontologie.      3.   Capitel.     Vom  Begriffe  der  Qualität.  6,S 

Wir  müssen  dem  Spinoza  fast  Dank  sagen  für  [100]  diese  Stelle. 
Denn  es  wäre  uns  ohne  seine  Hülfe  schwerlich  eingefallen,  dafs  Jemand 
in  jedem  einzelnen,  gesonderten  Attribute  das  Seyn  der  Substanz  könnte  er- 
blicken wollen.  Gleich  als  wäre  sie  von  Spiegeln  umgeben,  und  als  wäre 
die  Qualität,  die  aus  den  Attributen  bestehen  soll,  eine  Summe  von  Bildern 
für  irgend  einen  Zuschauer,  oder  von  Ausdrücken  für  irgend  einen  Zu- 
schauer, oder  von  Ausdrücken  für  irgend  einen  Zuhörer!  Ist  es  wohl 
schicklich,  noch  heute  in  dieser  antiken  Rüstung  zu  streiten  ?  Meint  man 
wirklich,  die  Attribute  seyen  Ausdrücke,  Darstellungen,  Übersetzungen,  Offen- 
barungen, mit  einem  Worte,  sie  seyen  Folgen  des  Seyn?  Wir  fordern  nicht 
die  Folge,  sondern  den  Grund;  und  nicht  das  Bild,  sondern  die  Sache. 
Von  der  Qualität  ist  die  Rede;  und  diese  mufs  als  das  Allererste  bereit 
liegen,  um  die  Erklärung  zu  empfangen,  es  solle  bey  dem  schon  geschehenen 
Setzen  derselben  sein  Bewenden  haben.  Nicht  anders  als  so  kann  sie  als  seyend 
gesetzt  werden.  Der  Ernst  der  Untersuchung  ist  nirgends  strenger  als  hier, 
bey  der  Frage,  was  ist  das  Seyende?  wo  er  allen  Schein  zurückweiset;  alle 
Bilder  verwirft;  alle  Vervielfältigung  in  Bildern,  deren  jedes  das  Ganze  zeigt, 
untersagt;  und  von  gar  keiner  Spiegeley,  weder  eines  Attributs,  im  andern, 
noch  des  Ganzen  in  beyden,  etwas  wissen  will. 

Vergleicht  man  jetzt  den  oben  geführten  Beweis  der  Einfachheit,  welche 
der  Qualität  des  Sey enden  zukommt:  so  sieht  man  leicht  den  Punct,  wo 
Spinoza  abweicht.  Wir  fanden  A  ungenügend  ohne  B,  und  dies  ohne  jenes. 
Denn  es  liegt  in  der  Voraussetzung,  dafs  man  das,  'was  absolut  soll  gesetzt 
werden,  nicht  mit  Einem  Worte  aussagen  könne,  also  wenigstens  zwey, 
deren  jedes  das  andre  ergänze,  dazu  nöthig  habe,  Nöthig!  indem  keins 
ohne  das  andre  zu  brauchen  sey.  Spinoza  hingegen  würde  eins  ohne  Hülfe 
des  andern  [10 1]  (unum  sine  ope  allerius)  gebrauchen.  Er  hätte  allenfalls 
genug  an  der  Ausdehnung,  oder  auch  allenfalls  genug  an  dem  Denken,  um 
zu  sagen,  was  die  Substanz  sey.  Lieber  freylich  ist  ihm  der  Reichthum  an 
Attributen,  denn  dadurch  vergröfsert  sich  das  Seyn!  Je  mehr  Realität,  desto 
mehr  Attribute,  und  umgekehrt.  Da  er  nicht  gewohnt  ist,  die  Realität  von 
allen  Attributen  ohne  Ausnahme  zu  unterscheiden,  nicht  bemerkt,  dafs  die 
Realität  blofs  eine  Art  des  Setzens  ist,  worin  von  dem  Realen  noch  gar 
Nichts  bestimmtes  liegt,  so  lange  nicht  gesagt  worden,  ivas  denn  solle  gesetzt 
werden?  so  hat  er  das  Gewicht  der  Frage  nach  diesem  Was?  oder  nach 
der  Qualität,  auch  niemals  empfinden  können.  Ihm  hat  stets  irgend  etwas 
dunkel  vorgeschwebt,  das  er  Substanz  nannte;  und  er  hat  darin  einen 
reichen  Schatz  geahnet,  aus  welchem  die  menschliche  Erkenntnifs  sehr  ge- 
nügsam nur  blofs  zwey  unendliche  Attribute  herausnehme,  während  ja  doch 
Niemand  zweifeln  werde,  dafs  eigentlich  unendlich  viele  darin  liegen.  Diese 
dunkle  Fülle,  verborgen  unserm  Verstände,  schiebt  sich  ihm  zwischen  das 
Setzen  und  das  zu  Setzende;  so  dafs  es  ihm  gar  nicht  in  den  Sinn  kommt, 
zu  untersuchen,  ob  denn  auch  sein  Gesetztes  mit  den  Bedingungen  des  Setzens 
zusammenpasse?  Er  hat  niemals  diese  mit  jenem  genau  verglichen,  genau 
zusammengehalten,  um  beydes  an  einander  zu  messen.  Doch  fällt  ihm 
einmal  gelegentlich  ein,  es  könnte  wohl  Jemand  einwenden,  der  absoluten 
Position  seyen  bey  ihm  zivey  Gegenstände  dargeboten,  und  das  gebe  um 
desto  sicherer  zwey  Reale   oder    zwey   Substanzen,  je    deutlicher   er    eingestehe, 

Hkrbart's  Werke.     VIII.  5 


66  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

die  beydefi  Attribute  seyen  eigentlich  gar  nicht  verbunden,  sondern  jedes  müsse 
für  sich  gesetzt  werden.  Denn  freylich  ist  es  gerade  einer  von  seinen 
Haupt- [102] Sätzen:  u?iumquodque  unius  substantiae  attributum  per  se  conapi 
debet.  Auf  deutsch:  wenn  ihr  auch  wirklich  versprochen  habt,  nur  von  Einer 
Substanz  zu  reden,  so  sollt  ihr  doch  euer  Versprechen  dadurch  vereiteln,  da/s 
ihr  den  Actus  der  absoluten  Position,  auf  dessen  Einheit  die  der  Substanz 
allein  beruhen  könnte,  in  so  viele  Acte  zersplittert,  wie  viele  Attribute  vor- 
handen sind.  Da  ihm  nun  einfällt,  das  hieran  wohl  Jemand  Anstofs  nehmen 
könnte,  so  wirft  er  eine  Anmerkung  hin,  worin  der  Machtspruch  ertheilt  wird, 
jedes  Attribut  sey  ein  Ausdruck  des  Sern  der  Substanz.  Und  er  findet  Gläubige, 
die  ihm  erlauben,  den  eigentlichen  Kern  des  Wesens  in  einen,  oder  be- 
liebig in   mehrere  Ausdrücke  zu  verwandeln. 

Wir  werden  tiefer  unten  noch  genug  von  Ausdrücken  zu  reden  haben, 
die  wir  schon  oben  zufällige  Ansichten  nannten;  eben  deswegen,  weil  sie 
dem  Kern  des  Wesens,  der  Qualität  des  Seyenden,  engegenstehen  wie  Zu- 
fälliges dem  Wesentlichen.  Diese  zufälligen  Ansichten  sind  nicht  zu  ver- 
wechseln mit  spinozistischen  Ausdrücken,  die  zugleich  für  Attribute,  —  mit 
Puppen,    die  selbst  für  Personen  gelten  wollen. 

§.   208. 

Mit  dem  Satze  des  vorhergehenden  Paragraphen  hängen  unmittelbar 
noch  zwey  Folgerungen  zusammen,  die  wir  zugleich  aufstellen,  damit  sie 
einander  durch  den  Gegensatz  erläutern. 

Dritter  Satz:    Die  Qualität  des  Seyenden  ist  allen  Begriffen  der  Quantität 

schlechthin  unzugänglich. 
Vierter  Satz:   Wie  Vieles  sey,    bleibt    durch  den  Begriff  des  Seyn  ganz 
unbestimmt. 

Ein  Ungeübter  würde  vielleicht  meinen,  diese  bey-[i03]den  Sätze  wider- 
sprächen einander.  Der  erste  verbiete  die  Vielheit,  welche  der  zweyte  gestatte. 

Aber  Vielheit  im  Seyenden  ist  nicht  Vielheit  des  Seyenden.  Jene  ist 
verboten,  diese  erlaubt. 

Die  Beweise  für  beydes  fallen  beynahe  in  einen  zusammen.  Gesetzt, 
die  Qualität  sey  ein  Quantum :  so  lassen  sich  darin  Theile  unterscheiden. 
Diese  Theile  können  entweder  getrennt,  und  als  unabhängig  von  einander 
betrachtet  werden,  oder  sie  stehen  in  unauflöslicher  Verbindung.  Nun 
übertrage  man  darauf  die  absolute  Position.  Dies  gelingt  im  ersten  Falle; 
aber  auf  die  Frage:  was  das  absolut  Gesetzte  sey?  erfolgen  soviel  un- 
abhängige Antworten,  als  Theile  in  der  Qualität  waren;  das  heifst,  es  giebt 
eben  so  viel  Reale;  nicht  aber  Eins,  welches  doch  die  Voraussetzung  war. 
Im  zweyten  Falle  hingegen  mislingt  die  absolute  Position;  denn  die  Qualität 
würde  vielfach  seyn;  gegen  den  zweyten  Satz,  in  dessen  Beweise  es  frey 
steht,  A  und  B  als  gleichartige  Theile  einer  Gröfse  zu  betrachten.    (§.  207.) 

Der  dritte  Satz  ist  demnach  enthalten  unter  dem  zweyten.  Der 
vierte  folgt  schon  darans,  dafs  der  Begriff  des  Seyn  ein  allgemeiner  Begriff, 
und  in  der  Forderung  der  absoluten  Setzung  gar  keine  positive  Hinweisung 
auf  die  Natur  des  Gegenstandes,  der  gesetzt  werden  solle,  enthalten  ist. 
—  Ein  sehr  schlechter  Einwurf  würde  folgender  seyn:  Wenn  A,  B,  C 
u.  s.  w.  jedes  für  sich  real  ist,  so  ist  jedes  alles  übrige  nicht;  folglich  wäre 


2.  Abschnitt.    Ontologie.     3.  Capitel.    Vom  Begriffe  der  Qualität.  67 

jedes  mit  Negationen  behaftet,  wider  den  rein  affirmativen  Begriff  des  Seyn. 
Die  Antwort  ist:  man  verwechsele  nicht  das  Seyende  mit  der  Zusammen- 
fassung desselben  im  Denken.  Wer  Häuser,  Briefe  und  Lehrsätze  im 
Denken  zusammenfafst,  der  spricht  freylich,  ein  Haus  ist  kein  Brief  und 
kein  Lehrsatz,  und  umgekehrt;  aber  er  sucht  darum  weder  wirkliche  [104] 
Lehrsätze  in  wirklichen  Häusern,  oder  rückwärts,  noch  behauptet  er  das 
Gegentheil,  die  Unverträglichkeit  dieser  Dinge,  deren  keins  mit  dem  an- 
dern in  irgend  welcher  positiven  oder  negativen  Gemeinschaft  steht.  Es 
gehört  zu  den  ersten *  Übungen,  worin  sich  der  Anfänger  bevestigen  mufs, 
Prädicate  der  Gegenstände  zu  unterscheiden  von  solchen  Bestimmungen, 
welche  nur  aus  zufälliger  Zusammenstellung  derselben  im  Denken  und 
Vergleichen  entspringen.  Jene  Negationen,  A  sey  nicht  B  und  nicht  C, 
u.  dergl.  sagen  gar  nichts  von  den  Gegenständen;  sie  tiennen  blofs  die  Be- 
griffe als  solche. 

§.   209. 

Den  dritten  Satz  müssen  wir  der  Vorsicht  wegen  noch  genauer  be- 
leuchten. Dafs  die  Qualität  eines  Realen  für  eine  discrete  Gröfse  gehalten 
werde,  ist  nicht  leicht  zu  besorgen;  das  Ungereimte  springt  gar  zu  deutlich 
ins  Auge,  sobald  die  Theile  sichtbar  auseinander  fallen,  und  sich  einzeln 
angeben  lassen.  Noch  nie  hat  Jemand  einen  Sandhaufen,  oder  eine  Bücher- 
sammlung, für  Ein  Ding  gehalten;  kaum  ein  Schiff  oder  ein  Haus,  denn 
auch  hier  liegt  die  Zusammensetzung  gar  zu  offen  für  einen  leidlich  acht- 
samen Beobachter. 

Weit  mehr  Schwierigkeiten  macht  das  Continuum.  Sehr  Wenige  sehen 
den  Widerstreit  zwischen  Continuität  und  Realität. 

Entschuldigung  für  den  Irrthum  liegt  hier  in  der  Natur  des  Gegen- 
standes. Das  Continuum  kann  nicht  aus  seinen  Theilen  zusammengesetzt 
werden,  denn  diese  Theile  sind  nicht  zu  finden,  lassen  sich  nicht  verein- 
zeln, und  ergeben,  wenn  man  sie  auch  als  gefunden  voraussetzt,  keinen 
Flufs  der  Gröfse.  Nimmt  man  willkührliche  Theile  im  Continuum:  so  sind 
es  nicht  Bestandtheile,  sondern  Abschnitte,  die  man  eben  so  gut  gröfser 
oder  kleiner  nehmen  konnte;  weil  sie  in  gar  [105]  keinen  natürlichen  Gränzen 
eingeschlossen  sind.  Daher  scheint  die  wahre  und  ursprüngliche  Auffassung 
des  Continuum  nur  die  des  ungctheilten  Ganzen  zu  seyn;  wenn  auch  dieses 
Ganze  unendlich  ist,  und  sich  nicht  zusammenfassen  läfst.  Hier  liegen 
dem  Scheine  nach  gröfse  Geheimnisse  verborgen.  Ursprünglich  soll  das 
Continuum  ein  Ganzes  seyn;  da  müsste  man  es  zusammenfassen,  ohne 
dafs  etwas  übrig  bliebe,  was  der  Auffassung  entschlüpfte.  Aber  es  ist  un- 
endlich, das  heifst,  es  bleibt  immer  davon  etwas  übrig,  wie  viel  man  auch 
zusammenfasse;  man  mufs  stets  noch  etwas  nachholen,  denn  keine  Vor- 
stellung kann  das  Unendliche  erschöpfen.  Je  aufrichtiger  nun  Jemand  ist, 
desto  leichter  bekennt  er,  sich  hier  zu  verwirren;  und  als  natürliche  Folge 
davon  schreibt  er  nun  dem  Continuum  solche  inwohnende  Kräfte  zu, 
welche  von  dieser  Verwirrung  die  zureichende  Ursache  enthalten.  Darum 
hat  der  Anfänger  Mühe,  sich  den  unendlichen  Raum  und  die  unendliche 
Zeit  als  ein  leeres  Nichts  vorzustellen.    Aber  die  Dreisteren  benehmen  sich 

1  gehört  zu  den  Übungen.    SW.  („ersten"  fehlt). 

5* 


68  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

anders.  Je  weniger  sie  gelernt  haben,  mit  Widersprüchen  umzugehen,  um 
desto  sicherer  trauen  sie  sich  die  Kräfte  zu,  leisten  zu  können,  was  ge- 
fordert wird.  Das  Continuum  soll  als  Ganzes  gefafst,  —  nichts  soll  davon 
weggelassen  werden.  So  mufs  es  denn  ja  wohl  möglich  seyn,  das  Un- 
endliche zusammenzuschnüren,  ohne  etwas  übrig  zu  lassen!  Dies  sey  nun 
geschehen :  so  kommt  es  noch  darauf  an,  das  Ganze  vor  aller  Theilung  zu 
fassen.  Dann  enthält  es  kein  Mannigfaltiges;  es  ist  nun  schlechthin  Eins! 
Und  jetzt  steht  der  absoluten  Position  nichts  mehr  im  Wege;  die  Qualität 
des  schlechthin  Einen  ist  einfach,  wie  wir  gefordert  haben.  Also  sind  wir 
nun  damit  fertig,  das  Continuum,  ja  das  Unendliche,  als  ein  Reales  zu  setzen. 

Wie  wurden  wir  denn  fertig?  Durch  ein  Verfall- [1 06] ren,  was  un- 
gefähr so  beschaffen  war,  als  wenn  Jemand  auf  die  Quadratwurzel  von 
Minus -Eins  die  Methode  der  Beziehungen  anwenden  wollte.  Wir  haben 
an  einem  Widerspruche  gekünstelt,  den  wir  blofs  anerkennen,  seinem  ge- 
setzmäfsigen  Ursprünge  nach  erklären,  vom  Realen  aber  aufs  sorgsamste 
fern  halten  sollten.  Das  Künsteln  war  freylich  diesmal  ziemlich  kunstlos; 
es  bestand  blofs  darin,  die  Augen  zu  schliefsen,  um  ein  paar  Sprünge  zu 
wagen.  Das  Unendliche  wurde  zusammengefafst;  aber  es  darf  nicht  zu- 
sammengefafst  werden ;  sein  Begriff  beruhet  auf  einer  wandelbaren  Gränze, 
jenseits  deren  man  künftig  noch  immer  etwas  finden  werde,  was  man  jetzt 
noch  nicht  erreichte.  Die  Mannigfaltigkeit  innerhalb  des  Continuums  wurde 
ausgelöscht:  aber  sie  soll  und  mufs  bleiben,  denn  das  Continuum  ist  eine 
Gröfse,  und  diese  beruhet  auf  dem  Mannigfaltigen,  das  in  ihr  unterschieden  wird. 

Der  Synechologie,  welche  dem  Continuum  sein  Recht  widerfahren  läfsf, 
aber  dies  Recht  auch  gehörig  begränzt,  können  wir  hier  noch  nicht  vor- 
greifen. Unser  Verfahren  ist  für  jetzt  blofs  negativ.  Die  Gröfsenbegriffe, 
gleichviel  ob  stetig  oder  nicht,  müssen  vom  Realen  zurückgewiesen  werden; 
weil  sonst  die  Qualität  zerfällt  oder  zerfliefst;  wovon  eins  so  schlimm  ist 
wie  das  andre.  Das  Zerfliefsen  ist  nur  verführerischer,  weil  man  es  sich 
leichter  verhehlt,  oder  doch,  wenn  das  Denken  aufrichtig  ist,  der  Begriff 
schwerer  vestgehalten  wird.  Im  genauen  Vorstellen  werden  die  Theile  des 
Fliefsendeti  zwar  iinterschieden,  aber  wieder  verschmolzen,  und  folglich  nicht 
gesondert.  Dann  bedingen  sie  einander;  man  kann  keinen  derselben  einzeln 
gebrauchen;  denn  man  setzt  jeden  nur  wegen  des  Übergehens  zum  andern. 
Seyen  zwey  nächste  Theile  A  und  B,  so  ist  weder  A  für  sich,  noch  B 
für  sich  etwas;  der  Flufs  allein,  worin  die  [107]  Sonderung  beyder  ver- 
schwindet, soll  gesetzt  werden.  Er  kann  aber  schon  nicht  mehr  gesetzt  zverden, 
nachdem  die  Sonderung  als  völlig  verschwunden  betrachtet  zvird.  Also  bleibt 
es  dabey,  das  Zusammenschwinden  des  A  und  B  nur  als  bevorstehend  zu 
denken;  es  bleibt  dabey,  dafs  man  A  und  B  unterscheidet,  und  der  Gegen- 
stand des  Setzens  wird  niemals  einfach;  er  besteht  aus  Theilen,  die  sich  auf 
einander  beziehen.  Vergleicht  man  nun  das  Obige  (§.  207.):  so  ist  offenbar, 
dafs  dies  kein  Gegenstand  einer  absoluten  Position  seyn  kann;  und  dafs 
jedes  Continuum  von  der  Realität  ausgeschlossen  ist. 

§.   210. 

Schaut  man  nun  rückwärts,   auf  das  Fundament  des  bisherigen  onto- 
logischen  Vortrags:    so  findet  sich  kein  anderes   als  der  Begriff  des  Seyn. 


2.  Abschnitt.     Ontologie.     3.  Capitel.    Vom  Begriffe  der  Qualität.  60, 


Und  dieser  wurde  gewonnen  durch  blofse  logische  Analyse  derjenigen  Be- 
griffe, die  wir  beym  Anfange  des  Philosophirens  schon  vorfinden.  Hier 
also  sind  wir  noch  gar  nicht  aus  dem  gemeinen  Gedankenkreise  der  Menschen 
herausgetreten;  aber  es  ist  nur  zu  gewifs,  dafs  die  gemeinen  Gedanken  aus 
sich  selbst  heraustreten,  sich  untreu  werden,  und  darum  mit  den  von  uns 
aufgestellten  Sätzen  nicht  im  Einklänge  stehen.  Wir  haben  blofs  vest- 
gehalten,  was  die  gemeinen  Vorstellungsarten  zwar  enthalten  und  mit  sich 
bringen,  aber  wieder  fahren  lassen,  und  nicht  geltend  machen.  Die  Ne- 
gationen und  Relationen,  welche  die  absolute  Position  verderben,  finden 
sich  überall,  von  selbst  in  den  Gegenständen  der  Sinne,  und  durch  Sorg- 
losigkeit in  den  Systemen. 

Die  alte  Schule  liefs  in  den  Dingen  ein  malum  metaphysicum  zu,  was  aus 
den  ihnen  bey wohnenden  Negationen  bestehen  sollte;  jedoch  ist  auch  die  Spur 
eines  bessern  Geistes  zu  bemerken,  die  sich  in  den  paradoxen  [108]  Sätzen 
findet:  omne  ens  est  unum,  verum,  bonnm.  Darin  liegt  ein  zwar  mislungenes, 
und  gar  nicht  vestgehaltenes,  aber  dennoch  beachtenswerthes  Bestreben,  der 
absoluten  Position,  und  der  Einfachheit  der  Qualität,  nahe  zu  bleiben. 

Der  Fehler,  die  essentia  aus  vielen  Essentialien  zusammenzusetzen,  war 
einmal  gemacht.  Man  wufste  mit  wahrhaft  einfachen  Qualitäten  in  der 
Natur -Erklärung  nichts  anzufangen;  man  dachte  gar  nicht  daran,  dafs  eben 
hierin,  das  Bunte  aus  dem  Einfachen  zu  erklären,  die  Aufgabe  der  Meta- 
physik liege.  Allein  man  verkleinerte  den  Fehler,  indem  man  wenigstens 
die  Forderung  aufstellte:  alle  Essentialien  müfsten  unzertrennlich  seyn ;  keines 
dürfte  aus  der  essentia  verschwinden.  Das  hiefs:  omne  ens  est  unum.  Ferner 
sollten  die  Essentialien  gehörig  zusammenpassen;  oder:  omne  ens  est  verum. 
Endlich  soll  es  sogar  einen  Punct  geben,  in  welchem  sie  zusammen  stimmen; 
dieser  Punct  heifst  focus  perfectionis,  und  da  alle  Essentialien  zur  essentia 
zusammenstimmen,  so  ist  deshalb  jedes  Ding  gut;  omne  ens  est  perfectum 
et  bonum   transscendentaliter. 

Diese  Erklärungen,  wie  man  sie  antrifft,  sind  dürftig;  und  Kant  schwächte 
sie  noch  mehr,  da  er  sie  auf  seine  Kategorien  der  Quantität  deutete.* 
Allein  die  Ausdrücke  selbst  sind  kräftig;  und  zeugen  von  dem  Bestreben,  die 
Affirmation  zu  verstärken,  wodurch  jedes  Ding  soll  gesetzt  werden.  Einheit, 
Wahrheit,  Vollkommenheit,  sind  Betheuerungen,  dafs  das  Seyende  ist,  ohne 
zu  zerfliefsen,  von  sich  abzuweichen,  und  zu  verderben.  Schade,  dafs  diese, 
wie  so  manche  Betheue-[ioq]rungsformeln,  leere  Worte  blieben,  weil  nichts 
geschah,  um  das  durchzusetzen,  was  in  ihnen  verheifsen  war. 

Aber  jetzt  wird  man  uns  fragen,  ob  wir  es  durchsetzen  können?  Man 
wird  uns  nachweisen,  dafs  die  Strenge  der  absoluten  Position,  indem  sie 
alle  Relationen  von  sich  ausschliefst,  auch  jedes  Seyende  als  isolirt,  und 
als  entzogen  der  allgemeinen  Verkettung  der  Dinge  darstellt.  Und  sehr 
willig  werden  wir  einräumen,  dafs  eben  deshalb  die  absolute  Position  durchaus 
keinen  hohem  Werth,  als  den  eines  abstracten  Begriffs  hat,  der  erst  durch 
nähere  Bestimmungen  brauchbar  wird.  Ferner  wird  man  uns  erinnern, 
dafs  wir  nur  darum  vom  Seyenden  zu  reden  ein  Recht  haben,  weil  wir 
das  Gegebene  begreiflich  machen  sollen.     Und  abermals  werden  wir   sehr 


*  Kritik  der  reinen  Vernunft,  am  Ende  des  ersten  Hauptstücks  der  Analytik. 


yo  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

gern  einräumen,  dafs  wir  zur  absoluten  Position  gar  nicht  einmal  berechtigt 
seyn  würden,  wenn  wir  nicht  schon  im  Begriff  ständen,  sie  durch  die  re- 
lative zu  ergänzen.  Eben  dies  nun  fordert  man  von  uns.  Man  will  von  keiner 
Theorie,  nach  welcher  Methode  sie  auch  gefunden  sey,  etwas  hören,  die 
sich  nicht  brauchbar  zeigt  im  Gebiete  der  Erfahrung.  Kurz,  man  wird 
uns  erinnern  an  das,  was  wir  schon  längst  (§.  129.)  als  die  Verlegenheit 
bezeichneten,  in  die  wir  gerathen  würden. 

Nun  sind  zwar  vorbeugende  Maafsregeln  ergriffen,  indem  wir  den 
Widersprüchen,  welche  das  Gegebene  wider  sich  selbst  und  wider  unsre 
Sätze  von  der  Qualität  erhebt,  durch  die  Methode  der  Beziehungen  zu 
begegnen,  und  deren  Wirksamkeit  die  zufälligen  Ansichten  (§.  190.)  zu  ver- 
längern beabsichtigen.  Allein  damit  Alles,  was  wir  brauchen,  im  rechten 
Augenblicke  völlig  zur  Anwendung  fertig  liege,  müssen  wir  schon  hier,  ehe 
wir  die  Qualität  des  Realen  verlassen,  uns  auf  zufällige  Ansichten  eben 
dieser  Qualität  einrichten  und  gefafst  machen;  indem  nichts  gewisser  [110] 
ist,  als  dafs  ein  steifes  und  starres  Vesthalten  an  einerley  Vorstellungsart 
in  Fällen,  wo  mehrere  neben  einander  möglich  und  nöthig  sind,  der  Meta- 
physik von  jeher  eben  so  schlecht  bekommen  ist,  als  dagegen  die  Mathe- 
matik sich  bey  ihrer  Geschmeidigkeit  und  Gewandtheit  wohl  befunden  hat. 

§.211. 

Es  sey  A  =  «  -\-  ß,  wo  das  Pluszeichen  nicht  bestimmt  Addition, 
sondern  allgemein  irgend  welche  Verknüpfung  der  Begriffe  a  und  ß  be- 
zeichnet. War  nun  A  denkbar,  ohne  in  ihm  «  und  ß  als  Merkmale  vor- 
zustellen, und  ergiebt  sich  dennoch  aus  ihnen,  wenn  sie  znsammengefafst 
werden,  der,  dieser  Zusammenfassung  genau  gleichgeltende,  Begriff  A:  so 
ist  «  -f-  ß  die  zufällige  Ansicht  von  A. 

Auf  die  Menge  der  Merkmale  kommt  es  nicht  an;  blofs  der  Kürze 
wegen  haben  wir  nur  zwey  angenommen.     In  der  Binomial  -  Formel : 

(a  -f  b)ra  =  am  +  mam  -  »  b  -f-  m  '  Vm~~Ü  am~2b2  -f. . . 

können  unendlich  viele  Glieder  vorkommen;  dennoch  bilden  sie  nur  eine 
zufällige  Ansicht  der  Gröfse,  die  man  auch  ohne  Sonderung  derselben  auf 
einem  ganz  andern  Wege  erhält;  nämlich  indem  man  die  Wurzel  a  -f-  b 
als  eine  einzige,  ungetheilte  Zahl  zur  vorgeschriebenen  Potenz  erhebt. 

Vier  Fälle  kann  man  fürs  erste  annehmen,  in  welchen  zufällige  An- 
sichten vorkommen  möchten;  sie  unterscheiden  sich  nach  ihrem  Verhalten 
zu  unserm  Wissen.  Entweder  wir  kennen  beydes,  sowohl  den  Begriff  A, 
als  auch  die  zufällige  Ansicht  «  -f-  ß-  So  kennen  wir  im  Parallelogramm 
der  Kräfte  sowohl  die  Diagonale,  als  die  Seiten;  wir  kennen  also  die  beyden 
Seitenkräfte,  welche  im  Zusammenwirken  vollkommen  [1 1 1  j  gleich  gelten 
einer  einzigen  ungetheilten,  deren  Begriff  für  sich  klar  ist,  und  keinesweges 
bedarf,  aus  jenen  beyden  zusammengesetzt  zu  werden,  sondern  recht  füg- 
lich auch  ursprünglich  durch  eine  einzige  Kraft  dargestellt  werden  kann. 
Die  Seitenkräfte  sind  eine  lediglich  zufällige  Ansicht,  welche  jedoch  unter 
gewissen  vorkommenden  Umständen  •  nothwendig  mufs  angewendet  werden. 

Oder  zweyiens,  wir  kennen  zwar  den  Hauptbegriff  A,  wir  wissen  auch, 
dafs  es  von  ihm  eine  zufällige  Ansicht  geben  mufs,  aber  wir  können  deren 


2.  Abschnitt.     Ontologie.     3.  Capitel.     Vom  Begriffe  der  Qualität.  71 

Merkmale  nicht  gesondert  aufzeigen.  In  diesem  Falle  befindet  sich  vor- 
läufig der  Anfänger,  der  die  Zerlegung  der  Kräfte  noch  nicht  gelernt  hat, 
so  oft  er  eine  Erscheinung  beobachtet,  die  sich  nur  dadurch  erklären 
läfst.  Sieht  er  einen  Körper  längs  einer  schiefen  Ebene  gleiten:  so  soll 
ihm  die  Frage  einfallen,  wie  doch  das  möglich  sey?  Die  Schwere  treibt 
den  Körper  nicht  schief,  sondern  senkrecht.  Aber  den  senkrechten  Fall 
verhindert  die  Ebene  bey  der  mindesten  Abweichung  vom  Lothe.  Folg- 
lich sollte  der  Körper  sich  gar  nicht  bewegen,  sondern  oben  an  der  Ebene 
gleichsam  hängen  oder  kleben  bleiben.  Das  widerlegt  nun  freylich  die 
gemeinste  Erfahrung,  und  zwang  dadurch  von  jeher  die  Menschen,  hier 
wenigstens  sich  einer  zufälligen  Ansicht  zu  bedienen.  Dieser  nämliche 
zweyte  Fall  begegnete  uns  in  der  Psychologie,  als  wir  an  die  Ver- 
schmelzung vor  der  Hemmung  kamen.*  Jeder  einzelne  Ton,  jede  einzelne 
Farbe,  abgesehen  von  Zeit  und  Raum,  gewährt  eine  völlige  einfache  Vor- 
stellung. Aber  das  Zusammenklingen  zweyer  Töne,  das  Beysammenstehn 
zweyer  Farben,  giebt  keinesweges  eine  blofse  Summe  der  beyden ;  sondern 
zugleich  ein  ästhetisches  Verhältnifs.  Hier  ist  [112]  etwas  in  der  Folge, 
das  auf  den  ersten  Blick  in  dem  Grunde  nicht  kann  gefunden  werden. 
Man  mufs  also  den  Grund  anders  fassen.  Man  mufs  Töne  und  Farben 
zerlegen  in  Gleichartiges  und  Entgegengesetztes.  Alsdann  kann  man  vom 
Ursprünge  der  musikalischen  Verhältnisse  eine  psychologische  Rechenschaft 
geben.  Aber  die  Zerlegung  ist  und  bleibt  nur  eine  Forderung.  Wenn 
wir  die  reine  oder  falsche  Quinte  hören:  so  können  wir  nimmermehr  das- 
jenige sondern,  was  in  ihr  dem  Grundtone  gleich,  und  was  ihm  völlig  ent- 
gegengesetzt ist;  obgleich  soviel  offenbar  ist,  dafs  die  falsche  Quinte,  welche 
dem  Grundtone  näher  liegt,  als  die  reine,  mehr  Gleiches,  oder  besser,  eine 
gröfsere  Gleichheit  mit  ihm  haben  mufs,  als  die  reine  Quinte,  die  um 
einen  halben  Ton  höher  liegt.  Dieser  Umstand  macht  den  einzigen  Unter- 
schied der  beyden  Quinten  aus;  aus  ihm  ganz  allein  mufs  die  ganze  Er- 
klärung folgen;  wie  geheimnifsvoll  auch  dies  erscheint,  so  lange  man  die 
wirkliche  Berechnung  nicht  kennt,  welche  den  notwendigen  Erfolg  deutlich 
macht. 

Oder  drittens:  wir  kennen  weder  den  Hauptbegriff  A,  noch  die  Theile 
«  und  ß  der  zufälligen  Ansicht,  sammt  der  Form  ihrer  Verknüpfung;  wir 
wissen  blofs  soviel:  es  giebt  einen  oder  mehrere  dergleichen  Hauptbegriffe; 
und  es  mufs  von  jedem  derselben  eine  zufällige  Ansicht  möglich  seyn, 
wiewohl  sie  uns  unbekannt  bleibt.  Dieser  Fall  tritt  allemal  dann  hervor,  wenn 
wir  sehen,  dafs  aus  der  Zusammenfassung  zweyer  Begriffe  eine  Folge  ent- 
springen soll,  die  aus  der  einfachen,  ursprünglichen  Vorstellung  der  Gegen- 
stände nicht  entspringen  kann.  Die  Forderung  der  zufälligeu  Ansicht 
ist  alsdann  gerade  so,  wie  im  zweyten  Falle,  vorhanden;  obgleich  wir  uns 
ihrer  wirklichen  Darstellung  nicht  einmal  soweit  annähern  können,  wie  bey 
der  eben  erwähnten  Zerlegung  der  Töne  und  Farben  in  Gleiches  [113] 
und  Entgegengesetztes.  Kaum  bedarf  es  noch  der  ausdrücklichen  Be- 
merkung, dafs  wir  in  diesem  dritten  Falle  uns  hier,  in  der  Metaphysik  be- 
finden werden. 


Psychologie  I.  §.   71,   72,   98,  99.     [Band  V  vorl.  Ausgabe.] 


72  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Oder  endlich  viertens :  wir  kennen  zwar  nicht  den  Hauptbegriff,  wohl 
aber  die  Merkmale  in  der  zufälligen  Ansicht.  Aber  ist  dieser  vierte  Fall 
auch  möglich?  Keinesweges.  Denn  aus  den  Merkmalen  der  zufälligen 
Ansicht  würde,  wenn  sie  bekannt  wären,  sich  sogleich  der  Hauptbegriff 
zusammensetzen,  der  ihnen  völlig  gleichgeltend  seyn  mufs.  Die  unmög- 
liche Ausnahme  dieses  Falles  dient  also  blofs  dazu,  nochmals  auf  das 
Eigenthümliche  der  zufälligen  Ansichten  aufmerksam  zu  machen.  Es  ist 
sehr  wohl  möglich,  dafs  man  die  einfachen  Vorstellungen  (wie  Töne  und 
Farben)  besitze,  ohne  sie  zerlegen  zu  können  gemäfs  dem  Verhältnisse, 
worin  sie  gegenseitig  stehn;  aber  es  ist  nicht  möglich,  eine  Zerlegung  zu 
besitzen,  nebst  der  dazu  gehörigen  Form  der  Verknüpfung,  ohne  dadurch 
sogleich,  wie  im  ersten  Falle,  auf  den  Hauptbegriff  geleitet  zu  werden, 
der  stets  die  Theile  der  zufälligen  Ansicht  so  in  sich  verschlingen,  und 
so  unsichtbar  machen  mufs,  wie  die  Seitenkräfte  von  der  Resultante  ver- 
schlungen werden,  in  welcher  man  ihren  Unterschied  auf  keine  Weise 
mehr  wahrnimmt. 

§.  212. 

Aus  der  Mechanik  nehme  man  die  Zerleguno-  der  Kräfte  hinweg; 
was  bleibt  von  der  ganzen  Wissenschaft  übrig?  So  viel  wie  nichts.  Aus 
der  Metaphysik  lasse  man  die  Forderung  der  zufälligen  Ansichten  hinweg  : 
was  wird  herauskommen?  Solche  Metaphysik,  wie  man  sie  wohl  kennt, 
und  wie  sie   bisher  gewesen  ist. 

Keine  Logik  —  doch  das  ist  kein  Vorwurf,  denn  die  allgemeine  Logik 
hat  keine  Veranlassung,  hievon  zu  reden,  —  aber  auch  keine  Methodenlehre 
hat  bisher  [114]  von  zufälligen  Ansichten  gesprochen.  Bey  dieser  Neuheit 
der  Sache  müssen  wir  denn  wohl  noch  einen  Augenblick  an  jene  vorgeb- 
liche Verlegenheit  wenden,  deren  Schein  wir  oben  (§.  129.)  angenommen 
haben,  um  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers  auf  den  entscheidenden  Punct 
zu  richten. 

Dort  war  von  einer  qualitativen  Atomistik  die  Rede,  in  die  wir  ge- 
rathen  würden.  Um  den  Sinn  des  Ausdrucks  mehr  geläufig  zu  machen, 
wollen  wir  einmal  die  Verlegenheit,  die  er  bezeichnet,  in  Gedanken  auf 
den  Mechaniker  übertragen.  Ein  Körper  liegt  auf  einer  schiefen  Ebene; 
noch  hält  ihn  irgend  eine  Stütze;  man  will  aber  die  Stütze  wegnehmen, 
und  man  fragt  den  Mechaniker,  was  alsdann  geschehen  werde?  Dies  soll 
er  voraussagen  und  erklären.  Was  für  Momente  hat  er  nun  zu  erwägen? 
Hier  die  schiefe  Ebene,  die  nur  senkrecht  auf  sie  selbst,  also  schief  gegen 
das  Loth,  Widerstand  leisten  kann.  Dort  den  Körper,  der  nur  lothrecht 
zu  fallen  durch  die  Schwere  getrieben  wird.  Da  sind  zwey  Kräfte  und 
zwev  Richtungen.  Wären  nun  die  Richtungen  gerade  entgegengesetzt,  so 
könnte  man  leicht  sagen :  sie  müssen  sich  aufheben,  und  der  Körper  bleibt 
in  Ruhe,  da  der  Widerstand  dem  Drucke  gleich  seyn  wird.  Aber  zum  Un- 
glück sind  die  Richtungen  nicht  gerade  entgegengesetzt!  Und  zum  gröfseren 
Unglück  ist  jede  von  diesen  Richtungen,  worin  die  Kräfte  wirken  sollen, 
einfach!  Wie  soll  man  sie  nun  in  Verbindung  setzen?  Wie  fängt  man  es  an, 
herauszukommen  aus  der  geraden  Linie,  in  welcher  der  Körper  fallen  will, 
und  hineinzukommen  in  die  andere  gerade  Linie,  nach  welcher  die  Ebene 


i 


2.  Abschnitt.    Ontologie.     3.  Capitel.    Vom  Begriffe  der  Qualität.  73 


widersteht?  „Diese  geraden  Linien  (möchte  wohl  Jemand  sagen)  gleichen 
zweyen  Atomen,  die  nimmermehr  in  einander  eindringen  können.  Ihre 
Qualitäten  sind  ihre  Richtungen.  Keine  dieser  Qualitäten  [115]  enthält  die 
andre,  keine  kümmert  sich  um  die  andre.  Oder  hat  etwa  der,  welcher 
die  eine  dieser  Richtungen  beschreiben  will,  nöthig,  an  die  andre  zu  denken, 
und  derselben  zu  erwähnen?  Keineswegs  1  Man  kann  die  Richtung  der 
Schwere  zeichnen,  ohne  die  mindeste  Rücksicht  auf  irgend  eine  schiefe 
Ebene  in  der  Welt  zu  nehmen ;  man  kann  auch  den  Widerstand  der  letztern 
seiner  Richtung  nach  genau  bestimmen,  ohne  irgend  Etwas  von  Schwere, 
und  vom  Fallen  dabey  einzumischen.  So  stehen  denn  die  beyden  Kräfte 
und  deren  Richtungen  einander  starr  und  steif  gegenüber;  keine  bietet  der 
andern  einen  Punct  des  Angriffs;  der  Korper  fällt  nicht  und  ruhet  auch 
nicht ;  jenes  nicht,  weil  sein  Weg  nach  dem  Lothe  nicht  frey  ist;  dieses 
nicht,  weil  er,  um  getragen  zu  werden,  einen  lothrechten  Widerstand  finden 
müfste,  den  die  schiefe  Ebene  nicht  leisten  kann." 

Das  ist  qualitative  Atomistik!  Aber  derjenige  ist  sicher  kein  Kenner 
der  Mechanik,  der  in  dieser  lächerlichen  Verlegenheit  sich  nicht  zu  helfen 
weifs.  Freylich  ist  es  wahr,  dafs  keine  von  den  geraden  Linien,  nach 
welchen  die  Kräfte  gerichtet  sind,  auf  die  andre  hinweiset.  Dennoch  sind 
sie  einander  vollkommen  wohl  zugänglich;  und  es  ist  ganz  falsch,  dafs  sie, 
gleich  Atomen,  sich  irgend  etwas  von  Undurchdringlichkeit  entgegensetzen 
sollten.  Jede  ist  willig  und  bereit,  den  Begriff  der  andern  in  sich  auf- 
zunehmen, sobald  man  nur  die  dazu  nöthige  zufällige  Ansicht  richtig  con- 
struirt.  Alsdann  ergiebt  sich  sogleich,  in  wiefern  sie  einander  entgegen- 
gesetzt sind;  und  hier,  in  den  zufälligen  Ansichten,  ist  der  rechtmäfsige 
Sitz  jenes  quatenus,  von  welchem  Spinoza,  wie  oben  bemeikt  (§.  49.)  Mis- 
brauch  gemacht  hat. 

Wir  haben  nun  zwar  gefordert,  dafs  die  Qualität  des  Seyenden 
schlechthin  einfach  seyn  müsse.  Aber  [116]  die  zufälligen  Ansichten 
solcher  Qualität  sind  nicht  ausgeschlossen.  Sie  müssen  nur  in  Wahrheit 
zufällig  seyn,  und  vollkommen  fähig,  wiederum  in  Eins  zusammenzufallen. 
Wenn  eine  gerade  Linie  auf  dem  Papier  gezeichnet  ist:  so  sieht  man  es 
ihr  nicht  an,  ob  sie  die  Seite  eines  Dreyecks,  oder  die  Ordinate  einer 
Curve  seyn  soll.  Wenn  sich  ein  reiner,  einzelner  Ton  hören  läfst,  so  hört 
man  nicht,  ob  er  eine  Octave  oder  eine  Septime  seyn  soll.  Die  Linie, 
der  Ton,  können  dies,  und  noch  manches  andre,  vorstellen;  sie  können 
nach  dieser  oder  jener  Formel  oder  Regel  gewählt  worden  seyn;  aber 
von  der  ganzen  Zusammensetzung  der  Begriffe  in  solchen  Formeln  und 
Regeln  ist  nichts  mehr  zu  spüren,  sobald  man  blofs-  die  Linie,  blofs  den 
Ton  betrachtet.  Einfach,  wie  ein  einfacher  Ton,  soll  nun  jede  Qualität 
jedes  Realen  seyn;  aber  zugleich  fähig,  gleich  dem  Ton  und  der  Linie,  an- 
gesehen zu  werden  als  entsprechend  dieser  oder  jener  Construction,  die  eine 
wie  immer  grofse  Mannigfaltigkeit  von  Bestimmungen  in  sich  schliefsen  mag. 

Und  dies  nun  ist  der  Punct,  wo  die  Metaphysik  aus  dem  Kreise  der 
bekannten  logischen  Vorstellungsarten  heraustritt.  Hier  ist  ein  Verhältnils 
unter  Begriffen,  das  man  in  den  kategorischen,  hypnothetischen  und  dis- 
junetiven  Formen  nicht  darstellen  kann.  Dieses  Verhältnis  ist  kein  Ge- 
gebenes   der  Anschauung,    kein  Product    der   Schwärmerey,    kein   Stoff  für 


74  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Prunkreden,  keine  Zuflucht  des  Empirismus.  Sondern  es  ist  ein  wissen- 
schaftlich klarer,  und  durch  hinreichende  Proben  belegter  Gedanke,  dessen 
die  Speculation  nicht  entbehren  kann,  obgleich  sie  weit  entfernt  ist,  auf 
ihm  allein  zu  beruhen. 


[117]  Viertes  Capitel. 

Vom  Probleme  der  Inhärenz. 

§•  213. 

Alles  bisher  Vorgetragene  enthielt  noch  keinen  Anfang  eigentlicher 
Erkenntnifs.  Es  war  nichts  als  Analyse  von  Begriffen,  ohne  vestes  An- 
knüpfen am  Gegebenen,  von  dem  es  eben  deshalb  auch  noch  nicht  ge- 
tragen wird;  aufser  insofern  man  weifs,  dafs  überhaupt  irgend  etwas  Reales 
mufs  gesetzt  werden  (§.  199). 

Unser  Weg  ist  nun  zwar  längst  (§.  167.)  vorgezeichnet.  Aus  den 
Formen  der  Erfahrung  soll  die  Inhärenz  zuerst  hervortreten,  um  zum 
Gegenstande  der  Untersuchung  zu  dienen.  Allein  dies  gegebene  Problem 
enthält  eine  kleine  Verwickelung,  die  immer  schon  zureicht,  um  dem  An- 
fänger die  Untersuchung  bedeutend  zu  erschweren.  Dem  Dinge  mit  mehrern 
Merkmalen,  wie  es  überall  in  der  gemeinen  Erfahrung  vorliegt,  und  in  den 
Systemen  sich  aus  Achtlosigkeit  wiederholt  (wie  in  Spinozas  ausgedehnter 
und  denkender  Substanz),  diesem  Dinge  inhärirt  nicht  blofs  ein  einziges, 
sondern  jedes  einzelne  seiner  Merkmale.  So  findet  sich  die  Inhärenz,  welche 
den  Punct  der  Frage  ausmacht,  nicht  einzeln,  sondern  gehäuft;  und  die 
vollständige  Auflösung  bekommt  dadurch  eine  besondre  Bestimmung,  welche 
nach  der  Methode  der  Beziehungen  sich  nicht  vorhersehen  liefs. 

Darum  wollen  wir  zuerst  zu  einem  willkührlichen ,  blofs  logischen 
Denken  zurückkehren;  und  in  demselben  uns  das  Problem  in  einer  so 
einfachen  Gestalt  vorlegen,  wie  es  zwar  nicht  gegeben  wird,  aber  gegeben 
werden  müfste,  um  ganz  leicht  der  schon  bekannten  Lehre  angepafst  zu 
werden.  Wer  mit  angewandter  Mathematik  bekannt  ist,  der  hat  sich  längst 
gewöhnt,  [118]  dafs  dort  die  Aufgaben  absichtlich  vereinfacht,  und  von 
erschwerenden  Nebenumständen  befreyet  werden,  damit  nur  erst  der  Haupt- 
gedanke ins  Licht  trete,  bevor  man  alle  vorkommenden  Bestimmungen  mit 
in  Rechnung  nimmt.  So  handelt  man  dort  erst  vom  Fall  der  schweren 
Körper  im  luftleeren  Räume;  und  vergleicht  hiemit  späterhin  die  Wirkung 
des  Widerstandes  der  Luft. 

Die  Aufgabe  sey:  einen  Begriff-  a,  oder  b,  nicht  durch  absolute  Position, 
welche  dem  Esse,  sondern  durch  eine  solche,  welche  dem  In  esse  entspricht, 
zu  denken.  Dasjenige,  dem  das  a  oder  b  inwohnt,  heifse  A.  Nun  soll 
man  zwar  a,  oder  b,  setzen;  aber  nicht  neben  und  aulser  A,  sondern 
darin !  Also  die  Setzung  des  A  soll  nicht  wachsen,  sich  nicht  vermehren, 
durch  jene  des  a.  Sondern  die  letzte  soll  in  der  ersten  schon  liegen. 
Kann  denn  auch  eine  Setzung  enthalten  seyn  in  einer  andern?  —  Die 
andre,    wenn  sie  nicht  etwan  wiederum  liegen  soll  in  einer  dritten  u.  s.  w. 


2.  Abschnitt.    Ontologie.     4.  Capitel.    Vom  Probleme  der  Inhärenz.  75 

(wodurch  die  Frage  nur  verschoben  würde),  mufs  eine  absolute  Position 
seyn.  Dann  ist  ihr  Gesetztes  schlechthin  einfach  (§.  207.);  und  das  absolut 
gesetzte  A  enthält  kein  von  ihm  irgend  unterscheidbares  a  oder  b,  anfser 
in  den  ihm  g/cichgellenden  zufälligen  Ansichten  (§  212).  Unsre  Aufgabe 
führt  also  nicht,  wie  man  vermuthlich  erwartete,  zu  dem  Begriffe  der  Eigen- 
schaft, oder  des  Attributs;  diese  Vorstellungsarten  des  täglichen  Lebens 
sind  durch  das  bisher  Vorgetragene  schon  ausgeschlossen;  dergestalt,  dafs 
der  Weg  unserer  Betrachtung  gar  nicht  zu  ihnen  gelangen  kann,  sondern 
sie  zur  Seite  liegen  läfst.  Die  zufälligen  Ansichten  geben  die  einzige  mög- 
liche Auflösung  der  Aufgabe. 

§.  214. 

Der  Leser  hat  ohne  Zweifel  schon  bemerkt,  dafs  das  Vorstehende 
nur  eine  entfernte  Vorbereitung  seyn  [119]  könne.  Mit  einer  möglichen 
Auflösung  der  Aufgabe,  wie  sie  vorliegt,  ist  bey  den  vorhandenen  meta- 
physischen Problemen  nichts  gedient;  Widersprüche  sind  vorhanden  und 
angekündigt;  dazu  passen  nur  Aufgaben,  die  man  so,  wie  sie  vorliegen,  nicht 
lösen  kann,  und  die  man  eben  deshalb  einer  nothwendigen  Abänderung 
unterwerfen  mufs.     Wir  suchen  jetzt  eine  nähere  Vorbereitung. 

Aus  der  vorigen  Aufgabe  wird  sogleich  eine  unmögliche,  wenn  wir 
den  einzigen  Ausweg  der  Lösung  versperren.  Wir  wollen  also  annehmen, 
aus  irgend  einem  Grunde  sey  es  verböte?!,  a  oder  b  zu  betrachten  als  Theil 
einer  zufälligen  Ansicht  von  A.  Dann  können  wir  es  gar  nicht  in  A  hinein- 
bringen; denn  die  Qualität  A  aus  allerley  a,  b,  c  u.  s.  w.  zusammenzusetzen, 
ist  vollends  durch  den  Begriff  der  absoluten  Position  untersagt.  Wir  suchen 
also  die  Aufgabe  abzulehnen,   da  sie  unmöglich  ist. 

Hiemit  wären  wir  im  willkührlichen  Denken  wirklich  am  Ende.  Allein 
da  alles  dies  zur  Vorbereitung  auf  gegebene  Probleme  dienen  soll :  so  ge- 
hört es  zu  unserer  Voraussetzung,  die  Aufgabe  lasse  sich  gerade  eben  so 
wenig  ablehnen,  als  auflösen.  So  mufs  sie  verändert  werden,  in  dem  Sitze 
des  Widerspruchs;  und  nun  kommt  uns  die  Methode  der  Beziehungen 
zu  Hülfe. 

Geleitet  durch  die  Schlufsbemerkung  des  §.  188.  überlegen  wir  vor- 
läufig: ob  wohl  eins  der  Glieder  des  Widerspruchs  so  beschaffen  sey,  dals 
es  gegen  das  andre  in  die  Stellung  des  Grundes  zur  Folge  treten  könne? 
Und  es  bietet  sich  sogleich  dar,  dafs  A,  der  Gegenstand  der  absoluten 
Position,  sich  zu  dem  inhärirenden  a  oder  b,  nur  als  Grund  zur  Folge 
verhalte;  und  keineswegs  umgekehrt,  da  sich  das  Inhärirende  unmöglich 
dem  absolut  Gesetzten  zum  Grunde  legen  läfst.  Hie-[i2o]mit  für  sich 
allein  ist  jedoch  noch  nicht  das  Mindeste  erklärt;  wir  gewinnen  nur  eine 
Wegweisung,  wie  wir  die  Methode  der  Beziehungen  anbringen,  das  heilst, 
welches  Glied  des  Widerspruchs  wir  M  oder  N  nennen,  und  dem  gemäfs 
in  die  bekannten  Formeln  einführen  sollen.  Die  Methode  sagt  voraus: 
M  werde  sich  vervielfältigen;  die  mehreren  M  werden  durch  gegenseitiges 
In -einander -Greifen  N  zur  Folge  haben;  demnach  müssen  wir  A  =  M 
setzen,  damit  das,  was  in  unsrer  Aufgabe  die  Stelle  des  Grundes  ein- 
nehmen kann,  sie  auch  in  der  allgemeinen  Formel  wiederfinde. 

Jetzt    werde    das    Einzelne    durchlaufen.     Die   Setzung    des   A   soll  a 


jfo  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


enthalten;  nun  liegt  in  A  kein  Mannigfaltiges;  also  müfste  A  =  a  seyn; 
allein  das  soll  nicht  gelten,  denn  beydes  soll  sich  unterscheiden  wie  Ab- 
solutes und  Inhärirendes.  Die  unmögliche,  und  dennoch  prätendirte  Einheit 
des  A  und  a  (oder  b)  ist  demnach  der  gegebene  widersprechende  Hauptbegriff. 
Seine  beyden  Glieder  sind  A  und  a.  Wir  sondern  sie,  damit  sie  denkbar, 
—  wir  verknüpfen  sie,  damit  sie  güliig  seyen.  Diese  Betrachtung  über- 
trägt sich,  in  Folge  der  Methode,  und  gemäfs  der  Vorerinnerung,  insbesondre 
auf  A.  Es  ist  mit  sich  selbst  im  Widerspruche,  da  es  mit  a  identisch  und 
auch  nicht  identisch  seyn  soll.  Nun  kommt  es  darauf  an,  den  Sitz  des 
Widerspruchs  zu  zerstören.  Es  kann  also  nicht  einerley,  nicht  ein  und  das- 
selbe A  seyn,  welches  mit  a  identisch  und  auch  nicht  identisch  seyn  soll. 
Nehmt  mehrere  AI  Dais  aber  hiemit  allein  der  Widerspruch  nicht  aufhören 
würde,  wissen  wir  aus  der  allgemeinen  Darstellung  der  Methode  (§.  186.). 
Die  letzte  Forderung  nun,  da  in  den  einzeln  A  sich  der  Widerspruch  nur 
wiederholen  würde,  lautet  so:  fafst  die  mehrern  A  zusammen  !  Sucht  das  andre 
Glied,  a,  oder  b,  in  keinem  einzelnen  A,  [121]  sondern  nur  im  Zusammen 
der  mehrern!  Soweit  reicht  das  von  der  Methode  vorgeschriebene  Verfahren; 
es  kommt  nun  darauf  an,  über  die  Bedeutung  des  Resultats  nachzudenken. 

Wenn  nicht  von  denjenigen  Merkmalen  eines  Gegenstandes,  die  in 
seiner  zufälligen  Ansicht  unterschieden  werden  könnten,  die  Rede  seyn 
soll;  und  doch  irgend  welche  Bestimmungen  angegeben  sind,  die  ihm  ver- 
meintlich inhäriren:  so  ist  dieses  insofern  ein  Irrthum,  als  man  glauben 
würde,  sie  wohnten  in  ihm  allein.  Das  kann  gar  nicht  seyn;  vielmehr 
deutet  das  anscheinend  inhärirend  allemal  auf  eine  Verbindung  von 
wenigstens  zzvey,  oder  auch  von  noch  mehr  er  n,  Realen;  wobey  die  Be- 
schaffenheit der  Verbindung  fürs  erste  unbestimmt  bleibt.  Man  kann  dies 
Resultat  so  aussprechen:  der  Schein  der  Inhärenz  ist  allemal  die  Anzeige 
eines   mehrfachen   Realen. 

Wünscht  der  Leser  hier  einen  Ruhepunct,  wie  ihn  die  Erfahrung 
darbieten  kann:  so  taugt  dazu  gar  wohl  die  bekannte  Bemerkung,  dafs  die 
Eigenschaften  der  Dinge  unter  äufsern  Bedingungen  stehn.  Die  Körper 
sind  gefärbt;  aber  Farbe  ist  nichts  ohne  Licht,  und  nichts  ohne  Augen. 
Sie  tönen;  aber  nur  im  schwingenden  Medium,  und  für  gesunde  Ohren, 
u.  dergl.  m.  Farbe  und  Ton  bieten  den  Schein  der  Inhärenz  dar;  sieht 
man  näher  zu,  so  findet  sich,  dafs  sie  den  Dingen  nicht  wahrhaft  in- 
wohnen, vielmehr  eine  Gemeinschaft  unter  mehrern  Dingen  voraussetzen. 
Genug  zur  vorläufigen  Erläuterung. 

§•  215. 

Jetzt  ist  es  Zeit,  dafs  wir  ganz  bestimmt  das  Gegebene  hervortreten 
lassen,  damit  das  bisherige  will-[i2  2]kührliche  Denken  seine  gesicherte 
Bedeutung  und  Geltung  erhalte. 

Den  Faden  der  jetzigen  Betrachtung  hatten  wir  in  der  Hand  schon 
am  Ende  des  §.  201.  „Die  Empfindung  (sagten  wir  dort)  ist  nöthig,  um 
dasjenige,  was  für  real  gehalten  wird,  vom  blofs  Gedachten,  dem  Ge- 
dankendinge zu  unterscheiden.  Aber  die  unmittelbare  Setzung  trifft  dennoch 
nicht  insbesondere  die  Farbe,  oder  den  Ton:  nicht  den  Geruch,  oder  Ge- 
schmack;   welches    alles,    sobald    man    es    vereinzeln    will,    sich    als   blofses 


2.  Abschnitt.     Ontologie.     4.  Capitel.    Vom  Probleme  der  Inhärenz.  77 

Merkmal  des  Dinges  darstellt.  Was  ist  denn  nun  das  unmittelbar  Gesetzte  ? 
Wir  können  leicht  antworten;  es  ist  die  Einheit,  die  Complexion  der  Merkmale." 

Nichts  weniger,  hören  wir  einwenden;  das  Ding  ist  keine  Summe  von 
Merkmalen,   sondern   es  hat  diese  Merkmale. 

Also,  fragen  wir  hinwiederum,  ist  das  Ding  doch  wohl  ein  Gedanken- 
ding? Denn  das  Ding  ohne  Merkmale,  welches  hier  vorausgesetzt  wird, 
damit  es  erst  hinterher  die  Merkmale  annehmen,  sich  gleichsam  damit  be- 
kleiden, sie  nunmehr  haben  und  besitzen  könne,  —  ist  offenbar  kein  ge- 
gebenes Ding.  Das  Gegebene  ist  das  Empfundene,  und  dessen  Form; 
sonst  durchaus  gar  nichts. 

Aber  darin  bestand  gerade  die  Betrachtung,  womit  der  angeführte 
Paragraph  schlofs,  dafs  schon  der  gemeine  Verstand  die  absolute  Position 
nicht  da  lasse,  wohin  sie  ursprünglich  fällt,  nämlich  in  der  Empfindung. 
Er  kann  das  auch  gar  nicht.  Denn  das  Empfundene  ist  beysammen  in 
gewissen  Formen.  Es  bildet  Gruppen,  die  wir  Dinge  nennen.  Diese 
Gruppen  bestehen  theils  aus  ei?ifachen  Empfindungen,  wie  Ton,  Farbe, 
Geruch;  theils  aber  aus  Reihen  von  Empfindungen,  und  von  schon  ge- 
bildeten Verknüpfungen  derselben;  da-[i23]hin  gehört  z.  B.  die  Schwere. 
Man  sieht  einen  Körper  fallen;  das  heifst,  man  bildet  eine  Reihe  von 
stets  abgeänderten  Raumbestimmungen,  so  dafs  er  immer  näher  dem  Boden 
gesetzt  werde.  Über  diese  Reihenbildung  kann,  wenn  man  will,  die  Psy- 
chologie nachgesehen  werden;  hier  hat  die  nähere  Bestimmung,  ivas  für 
Merkmale  das  seyen,  welche  zum  Begriffe  des  Dinges  zusammentreten, 
gar  keinen  Einflufs.  Blofs  ihre  Vielheit  kommt  in  Betracht,  sofern  sie  der 
Einheit  des  Dinges  entgegensteht. 

Sollte  die  absolute  Position  in  der  unmittelbaren  Empfindung  bleiben, 
oder  auch  derselben  jetzt  noch  wieder  zurückgegeben  werden;  so  müfste 
es  möglich  seyn,  die  einzelnen  Empfindungen  aus  ihren  Gruppen  heraus- 
zureifsen.  Denn  so  lange  sie  darin  bleiben,  ist  keine  für  sich;  und  keine 
stellt  dar,  was  an  sich  ist.  Jede  wird  unter  der  Bedingung  gesetzt,  dafs 
auch  die  andern,  mit  ihr  verbundenen,  gesetzt  seyen.  Das  Gesetzte  ist 
nur  Eins  für  die  ganze  Gruppe.  Dieses  Eine  macht  den  Gegenstand  der 
Untersuchung  aus.  Was  ist  es?  Ein  Ding,  das  Merkmale  hat?  Nein! 
Denn  ohne  diese  Merkmale,  und  voraus  vor  denselben,  als  deren  von 
ihnen  verschiedener  Besitzer,  ist  es  gar  nicht  gegeben.  Ein  Ding,  das 
aus  Merkmalen  besteht?  Auch  nicht.  Denn  keins  dieser  Merkmale  existirt 
für  sich;  und  die  Summe  derselben  ist  eine  Summe  des  Nichtigen,  mithin 
selbst  Nichts.  Also  wollen  wir  vorläufig  so  sprechen:  das  Ding  ist  das- 
jenige Unbekannte,  und  näher  zu  untersuchende,  welches  dergestalt  gesetzt 
wird,  dafs  seine  Setzung  die  Stelle  aller  der  absoluten  Positionen  vertrete, 
die  ursprünglich  in  den  einzeln  empfundenen   Merkmalen  lagen. 

Mit  Einem  Worte:  Das  Ding  ist  die  Substanz,  welcher  die  Merkmale 
inhäriren.  Denn  hiemit  ist  das  eben  gebrauchte  Kunstwort  erklärt;  Substanz 
ist  [124]  gerade  nichts  anderes,  als  das  unbekannte  Eine,  dessen  Setzung 
alle  diejenigen  Setzungen  repräsentirt,  die  ursprünglich  den  Merkmalen  zu- 
kamen.*    Es  versteht  sich  dabei  von  selbst,    dafs  der  Repräsentant  nichts 

*  Psychologie  II,  §.  139 — 141.  [Band  VI  vorl.  Ausgabe.]  Nicht  des  Beweises, 
sondern  der  Erläuterung  wegen,  wird  diese  Stelle  angeführt. 


_g  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

gilt   ohne   seine  Committenten ;   aber   die  Committenten  sind  hier  von  der 
Art,  dafs  sie  schlechterdings  repräsentirt  werden  müssen. 

§.  216. 

Lassen  wir  jetzt  für  eine  kleine  Weile  das  Gegebene  aus  den  Augen, 
und  überdenken  blofs  den  Begriff,  auf  den  wir  kamen :  so  werden  sich  uns 
die  zufälligen  Ansichten  darbieten.  Soll  eine  Setzung  viele  in  sich  fassen: 
so  mufs  das  Gesetzte  der  einen,  gleichgeltend  seyn  dem  Gesetzten  der 
vielen.  Aber  jenes  ist  unter  Voraussetzung  absoluter  Position,  wie  sie  der 
Substanz  zukommt,  schlechthin  einfach.  Das  Gleichgeltende  dieses  Ein- 
fachen, welches  selbst  ein  Mannigfaltiges  enthält,  bildet  eine  zufällige  Ansicht. 
So  wären  wir  denn  gar  leicht  allen  Schwierigkeiten  entronnen,  und 
die  Untersuchung  wäre  zu  Ende,  noch  ehe  sie  anfing.  Die  Merkmale 
des  Dinges  wären  zusammengenommen  nur  eine  zufällige  Ansicht  desselben; 
woraus  denn  sogleich  die  angenehme  Hoffnung  hervorgehn  würde,  dafs 
wir  ganz  nahe  dabev  wären,  zu  erfahren,  was  das  Ding  an  sich  sey.  Denn 
so  liegt  es  in  der  Natur  der  zufälligen  Ansichten:  kennt  man  sie,  so  ver- 
schmilzt ihr  Mannigfaltiges  von  selbst  zur  ungeteilten  Einheit,  in  welcher 
gar  keine  Vielheit  jenes  Mannigfaltigen  mehr  sichtbar  bleibt  (§.  2 II.). 

Aber  diese  Betrachtung  dient  uns  blofs,  um  die  Aufmerksamkeit  auf  die 
Hauptsache  zu  lenken.  Wären  [125]  die  Merkmale  der  uns  bekannten  Gegen- 
stände der  äußern  und  der  inncrn  Erfahrung  so  beschaffen,  tvie  die  Theile 
ei?ier  zufälligen  Ansicht  es  seyn  müssen:  dann  hätten  sie  nicht  auf  uns  ge- 
wartet, dafs  wir  sie  vereinigen,  und  aus  ihnen  eine  Kenntnifs  der  Dinge 
an  sich  machen  sollten.  Sondern  sie  wären  längst,  ja  von  jeher,  in  allen 
Köpfen  der  Menschen  zusammengeflossen;  und  Jedermann  kennte  die  Dinge 
an  sich,  ohne  Möglichkeit  irgend  eines  metaphysischen  Zweifels. 

Nun  aber  betrachte  man  das  Gegebene  schärfer!  Erstlich  ist  es  in 
keinem  Puncte  vollständig  beysammen.  Jedes  Ding  kann  neue  Merkmale 
bekommen  durch  neue  Erfahrung  und  neue  Versuche.  Zweytens,  die  schon 
vorhandenen  Merkmale  sind  dergestalt  disparat,  dafs  sie  gar  nicht  zusammen- 
fliefsen  können.  Die  unmittelbare  Empfindung  lehrt  jeden,  dafs  aus  Ton, 
Earbe,  Geruch,  schlechterdings  nicht  ein  solches  Eins  entsteht,  welches 
ihnen  gleich  gelten  d ,  und  worin  sie  nicht  mehr  zu  unterscheiden  wären. 
Nicht  einmal  die  Empfindungen  von  einerley  Classe  gehen  in  eine  mittlere 
leicht  zusammen.  Man  kann  wohl  auf  einen  Kreisel  alle  sieben  Farben 
des  Prisma  auftragen;  aber  wenn  man  ihn  nicht  sehr  schnell  dreht,  so 
sieht  das  Auge  die  Farben  alle  gesondert;  und  es  darf  Niemandem  ein- 
fallen, dafs  etwa  die  prismatischen  Farben  für  eine  zufällige  Ansicht  des 
Weifsen  gelten  könnten.  Weder  die  Begriffe,  noch  die  Empfindungen  fliefsen 
hier  so  zusammen,  wie  es  geschehen  müfste;  und  das  Erstaunen  dessen, 
der  zum  erstenmale  aus  dem  weifsen  Sonnenlichte  das  bunte  Spectrum  ent- 
stehen sieht,  widerlegt  jeden  Versuch,  den  man  machen  könnte,  die  Spal- 
tung des  Lichts  auf  eine  zufällige  Ansicht  zurückzuführen. 

Desgleichen:  hätten  die  innern  Erfahrungen  zusammenfliefsen  wollen 
zur  Einheit:  so  wäre  aus  Seelenver-[i2  6]mögen  längst  eine  Seele  geworden. 
Aber  Verstand  und  Wille  sträuben  sich  wie  Ton  und  Farbe;  sie  wollen 
nicht  Eins  werden,  sondern  Vieles  bleiben.     Darum  findet  man  das  Reale 


2.  Abschnitt.     Ontologie.     4.   Capitel.    Vom  Probleme  der  Inhärenz.  jq 

nicht,  so  lange  man  aus  Verstand  und  Wille,  sammt  ihrer  ganzen  Sipp- 
schaft, den  Geist  zusammensetzt. 

Diese  Spaltung  nun,  und  der  Widerstand,  welcher  sich  sogleich  ent- 
gegenstellt, wo  Jemand  ohne  Kunst,  durch  blofsen  Befehl,  Einheiten  her- 
vorzaubern will,  in  denen  das  Mannigfaltige  verschwinden  soll:  diese  starre 
Sonderung  des  gegebenen  Vielen  ist  der  eigentliche  Grund  der  Unter- 
suchung. Die  Natur  im  Grofsen  wie  im  Kleinen  und  Einzelnen  will  zwar 
nicht  zersplittert,  aber  auch  eben  so  wenig  in  Eins  zusammengeprefst  seyn; 
sie  führt  zwar  auf  Einheit;  wenn  wir  aber  fragen:  was  für -Ems?  so  bleibt 
der  Gedanke  leer. 

Die  Wissenschaft  vermag  nun  allerdings  Etwas,  um  diese  Leerheit 
leidlich  auszufüllen.  Aber  nur  langsam;  durch  schrittweise  fortgehendes  Den- 
ken; und  nach  Verzichtleistung  auf  spinozistische  Einheit,  die  vor  meta- 
physischer Prüfung  nicht  besser  besteht,  als  das  gemeinste  sinnliche  Ding. 
Ausdehnung  und  Denken  sind  und  bleiben  zweyerley,  wie  Verstand  und 
Wille,  Ton  und  Farbe;  die  Einheit  beyder  ist  ein  leeres  Wort.  Wäre  die 
spinozistische  Substanz  nicht  ersonnen,  sondern  gegeben:  dann  würde  sie 
zwar  mehr  gelten  wie  jetzt;  aber  sie  wäre  nun  Eins  von  den  gegebenen 
Problemen,  und  man  müfste  sie  eben  so  behandeln,  um  aus  ihr  eine  Er- 
kenntnifs  erst  zu  machen,  dergleichen  sie  von  selbst  nicht  darbieten  könnte. 

Freylich  aber  ist  hier  ein  Punct,  wo  wir  den  Leser  nicht  überreden 
wollen,  sondern  wo  er  selbst  sich  überzeugen  mufs.  Glaubt  er,  Ton  und 
Farbe,  Verstand  und  Wille,  Ausdehnung  und  Denken,  so  zusammensetzen 
zu  können,  wie  man  aus  zwey  Seitenkräften  eine  [127]  mittlere  gleichgeltende 
nach  der  Diagonale  zusammensetzt;  meint  er  wirklich,  in  jenen  Fällen, 
so  wie  in  diesen,  die  Resultante  angeben  zu  können;  —  welches  unseres 
Wissens  noch  niemals  Einer  versucht  hat,  weil  noch  niemals  die  Frage 
aufgeworfen  war;  dann  sind  wir  fertig  mit  unserm  Vortrage,  und  haben 
weiter  nichts  zu  sagen. 

Wer  aber  die  Frage  versteht,  und  aufrichtig  gegen  sich  selbst  ist,  dem 
liegt  jetzt  schon  das  Problem  sammt  der  Auflösung  vor  Augen,  bis  auf 
einen  leichten  Zusatz,  den  wir  beyfügen  werden.  Um  indessen  auch  den 
geringsten  Verdacht  eines  Sprunges  zu  vermeiden,  wollen  wir  selbst  jetzt 
noch  langsam  gehn,  und  unsre  Schritte  zählen. 

§.217. 

Ein  Gegenstand  A  sey  gegeben  durch  disparate  Merkmale  (wie  Ton, 
Farbe,  Geschmack),  die  sich  recht  wohl  mit  einander  vertragen,  und  keines- 
weges  entgegengesetzt  sind.  Aber  sie  bilden  eine  Gruppe;  sie  können 
einzeln  nicht  gesetzt  werden,  aufser  so,  dafs  aus  ihrer  Verbindung  die 
Bedingung  ihrer  Setzung  entstehe;  die  absolute  Position  derselben  kann 
nur  Eine  für  Alle  seyn  (§.  215.).  Hiedurch  gerathen  sie  in  Streit.  Denn 
die  stellvertretende  absolute  Position  soll  einen  jeden  von  ihnen  genügen. 
Aber  sie  lassen  sich  nicht  zusammenfassen  gleich  den  Theilen  einer  zu- 
fälligen Ansicht.  Und  doch  müfste  dies  geschehen,  wenn  das  eine  Gesetzte 
der  absoluten  Position  gleichgeltend  ausfallen  sollte  mit  dem  Vielen,  welches 
wegen  der  streng  und  starr  gesonderten  Vielheit  der  Merkmale  mufs  ge- 
setzt werden. 


80  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Die  gewöhnliche  Schwachheit  oder  Sorglosigkeit  der  Menschen  lälst 
hier  die  eine  Hälfte  des  Gedankens  fahren  über  der  andern.  Die  Acci- 
denzen  öder  Attribute,  [128]  sagt  man,  wohnen  in  der  Substanz.  Wie 
soll  das  zugehn?  Das  wissen  wir  nicht;  verlangen  es  auch  nicht  zu  wissen. 
Was  ist  denn  die  Substanz?  Das  wissen  wir  nicht;  wollen  es  auch  nicht 
wissen. 

Aber  ihr  wifst  sehr  gut,  dafs  ihr  Vieles  vor  Augen  habt,  welches 
nicht  Eins  ist!  Dieses  Viele  der  Merkmale  sollt  ihr  als  Eins  setzen,  in 
allen  den  Fällen,  worin  die  Merkmale  gegeben  sind  als  Ein  Ding.  Hier 
ist  kein  willkührliches  Loslassen  von  der  Aufgabe  erlaubt.  Kein  System, 
kein  Mensch  stellt  ench  die  Aufgabe,  sondern  die  Natur.  Sie  stellt  sie  euch, 
wohin  ihr  nur  blicken  möget,  in  hunderten  von  Dingen  vor  Augen;  und 
ihr  könnt  derselben  nicht  entrinnen. 

Es  ist  nun  nicht  genug,  zu  sagen,  substantia  prior  est  natura  suis  affectio- 
nibus.  Die  Substanz  mag  früher  seyn,  aber  wir  wissen  früher  nichts  von  ihr. 
Unser  Recht  und  unsre  Pflicht,  sie  zu  setzen,  ist  nur  durch  die  Merkmale 
gegeben;  und  unsre  Setzung  derselben  sollte  deshalb  zusammenfallen,  Eins 
seyn  und  Eins  bleiben  mit  den  Setzungen  der  Merkmale.  Es  seyen  n  Merk- 
male gegeben;  nach  gewöhnlicher  Weise  setzen  wir  die  Substanz  dazu, 
oder  voraus;  das  giebt  zusammen  n  -\-  1  Positionen.  Aber  das  ist  falsch. 
Die  Anzahl  der  Positionen  soll  sich,  wie  die  Aufgabe  vorliegt,  nicht  um 
eine  vermehren,  sondern  um  gar  keine.  Die  n  Positionen  sollen  selbst  Eine 
werden. 

Dies,  was  geschehen  soll,  kann  aber  nicht  geschehen.  Es  ist  wider- 
sprechend. Und  zwar  ist  hier  nicht  Ein  Widerspruch,  wohl  aber  einerley 
Art  ton  Widersprüchen,  —  und  von  dieser  Art  sind  so  viele  Exemplare  vor- 
handen,  als  wie  viele  Merkmale  Eines  Dinges  gegeben  vorliegen. 

Jeder  von  diesen  Widersprüchen  besteht  darin,  dafs  [129]  die  Hin- 
deutung aufs  Seyn,  welche  in  jedem  einzelnen  Merkmale  liegt,  gleich  seyn 
soll  mit  der  einen  Hindeutung  aufs  Seyn,  die  insofern  vorhanden  ist,  als 
die  sämmtlichen  Merkmale  sich  wie  Ein  Ding  darstellen.  Die  geforderte 
Gleichheit  ist  unmöglich,  weil  dann  jede  Position  zusammenfiele  mit  allen 
übrigen,  welches  die  disparaten,  zu  keiner  zufälligen  Ansicht  tauglichen  Merk- 
male nicht  gestatten. 

Wenn  diese  Widersprüche  anerkannt  worden:  dann  ist  unser  erster 
Schritt  geschehen. 

Der  zweyte  liegt  im  §.  214.  Was  dort  einmal  geschah,  das  mufs  hier 
so   vielemal  geschehn,   als   -wie  viele  inhärente  Merkmale  gegeben   wurden. 

Damit  der  dritte  Schritt,  den  das  Problem  der  Inhärenz  erfordert,  dem 
Leser  recht  auffallend  werde,  wollen  wir  uns  auf  einen  Augenblick  einer 
kleinen  Achtlosigkeit  hingeben. 

Am  angeführten  Orte  fanden  wir  den  Satz:  Der  Schein  der  Inhärenz 
ist  allemal  die  Anzeige  eines  mehrfachen  Realen.  Also,  fahren  wir  fort,  wie 
vielemal  die  Inhärenz  erscheint,  so  vielemal  setzen  wir  statt  Eines  realen 
Wesens  deren  mehrere.  Das  Ding  heifse  A;  dessen  Merkmale  a,  b,  c,  .  .  . 
Nun  setzen  wir  mehrere  A  statt  des  einen  A;  jedoch  nicht  einmal,  son- 
dern vielemal.  Wegen  des  ersten  Merkmals  a  setzen  wir  A'  -J-  A'  -\-  A'  -{-... ; 
wegen  des  zweyten,  b,  setzen  wir  A"  -\-  A"  -\-  A"  -\-...;  wegen  des  dritten 


2.   Abschnitt,    üntologie.      4.   Capitel.     Vom   Probleme  der  Inhärenz.  8 1 

Merkmals,   c,  setzen  wir  A'"  -f-  A'"  -|-  A'"  -{-...;   und   so  fort,  bis  allen  den 
gegebenen  a,  b,  c,  d,  e  u.  s.  w.   Genüge  geleistet  worden. 

So  weit  ist  noch  alles  richtig.  Wenn  aber  dies  so  verstanden  wird, 
als  sollten  die  sämmtlichen  A'  A"  A'"  u.  s.  w.  unter  einander  verschieden 
seyn:  so  kann  zwar  die  Methode  der  Beziehung  nichts  dagegen  einwen-[i3o] 
den;  man  hüte  sich  jedoch,  sie  deshalb  eines  Fehleis  anzuklagen;  denn 
sie  sagt  nicht,  ob  diese  A  verschieden,  und  ob  ihrer  gerade  so  viele  seyen, 
als  wie  viele   Buchstaben  wir  hingeschrieben  haben. 


o 


§.    218. 

Der  Sinn  der  Auflösung  ist  zwar  allerdings  dieser: 
Die  Substanz   ist  kein  Ding  mit  vielen  Merkmalen;   sie  liegt  auch  diesen 
Merkmalen    nicht    allein    zum    Grunde;    sondern   jedem    derselben    mufs 
eine  Vielheit  des  Realen  vorausgesetzt  werden. 

Aber  hier  scheint  die  gegebene  Einheit  des  Dinges  ganz  zersplittert 
zu  seyn.  Warum?  Weil  noch  eine  nähere  Bestimmung  fehlt;  und  wir 
haben  schon  im  voraus  (§.  213.)  angekündigt,  dafs  sie  anfangs  fehlen  würde. 
Die  Achtlosigkeit,  der  wir  uns  hingaben,  bestand  blofs  darin,  dafs 
wir  so  verfuhren,  als  wäre  die  Methode  der  Beziehungen  eine  Rechnungs- 
formel, in  die  man  nur  gegebene  Gröfsen  substituiren  dürfte,  um  sogleich 
ein  völlig  bestimmtes  Resultat  zu  erhalten.  Darüber  schien  die  Einheit 
des  Dinges ,  die  selbst  eine  Grundbestimmung  des  Problems  ausmacht, 
verloren   zu  gehn. 

Man  halte  sie  nun  vest,  während  man  zugleich  die  Methode  anwendet. 
So  wird  zwar  A  vervielfältigt;  aber  der  Punct,  von  wo  die  Vervielfältigung 
jedesmal   ausgeht,   bleibt  immer  der  nämliche.     Man  setzt  zwar  die  Reihen 

A'  -f-  A'   -f  A'  +  . . . 
A"  -j-  Ä"  -j-  A"  -j-  . . . 
A"'-j-  A"'-j-  A'"-f-  •  •  • 
u.   s.   w. 
Aber  es  versteht  sich  von  selbst,   dafs  das  erste  Glied  in  allen  diesen 
Reihen  dasselbe  sev;   und  dafs  die  Reihen  eigentlich*  wie  Radien  von  einem 
Mittelpuncte  [131]  auslaufen.     Denn  allen  diesen  Reihen  liegt  das  nämliche  A 
zum    Grunde;    es    mufs    nur    so    vielemal    mit    andern    und    wieder    andern 
zusammentreten,    als    nöthig    ist,    damit    kein    einziges    gegebenes    Merkmal 
blofs  und    allein    auf  die  Substanz,    sondern   jedes  auf  ein   Zusammen  von 
mehrern  realen  Wesen  bezogen  werde.    Dies  ists,  was  die  Methode  der  Be- 
ziehungen fordert;   und  dann  ist  es  noch  nöthig,   die  Veränderung  der  Be- 
griffe,   die    sie    hervorgebracht   hat,    mit  dem,    was    unverändert   bleibt,    ge- 
hörig zu  verbinden. 

Hier  können  wir  die  Erinnerung  an  das  Verfahren  der  Integral- 
rechnung benutzen,  um  bemerklich  zu  machen,  dafs  es  kein  Fehler  der 
Methode  ist,  wenn  sie  Zusätze  nach  den  Umständen  gestattet.  Jedem 
Integral  mufs  die  Frage  nach  einer  Constante  beygefügt  werden,  welche  sich 
aus  dem  Differential  nicht  finden  läfst,  sondern  nur  aus  den  Umständen, 
unter  denen  die  Integration  geschieht.  Will  man  gestatten,  dafs  wir  in 
der  Vergleichung  fortfahren,  so  werden  wir  sagen:  Der  Widerspruch  ist  das 
Differential,   die  Vervielfältigung  eines  Gliedes  ist  die  Integration;   aber  die 

Herbart's  Werke.     VIII.  6 


32  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Gleichsetzung    aller    ersten    Glieder   unserer    Reihen    war    die    Hinzufügung 
der  Constante. 

§•   219. 

Die  Veränderung,  welche  in  den  Begriffen  geschehen  ist,  wird  viel- 
leicht sehr  unbedeutend  scheinen,  obgleich  es  die  gröfste  und  für  alle 
Speculation  die  durchgreifendste  ist,  die  sich  irgend  denken  läfst.  Wir 
wollen  es  gar  nicht  scheuen,  sie  vorläufig  den  Bemerkungen  derer  Preis 
zu  geben,   die   eine  blofse   Begriffskünsteley   darin   erblicken  werden. 

„Was  vorhin  für  falsch  erklärt,  und  zurückgewiesen  war"  (wird  man 
sagen),  „das  kommt  nun  doch  unverändert  wieder  zum  Vorschein.  Ver- 
boten war,  [132]  „n  -J-  1  Position  zu  machen,  für  n  Merkmale.  Nun  setze 
man  die  verschiedenen  Exemplare  des  vervielfältigten  A  symbolisch  auf 
die  Peripherie  eines  Kreises,  und  Eins  derselben,  das  in  allen  jenen  Rei- 
hen das  Gleiche  seyn  sollte,  in  den  Mittelpunct.  Offenbar  ist  es  Cber- 
flufs,  wenn  jede  Reihe  mehr  als  zwey  Glieder  hat;  sie  soll  ja  nur  ein 
Zusammen  der  mehrern  A  andeuten,  und  dazu  ists  an  zweyen  genug. 
Folglich  brauchen  wir  auf  die  Peripherie  des  Kreises  nur  so  viele  A  zu 
setzen,  als  Merkmale  des  Dinges  gegeben  sind;  dazu  nehme  man  die 
Substanz  im  Centrum,  so  finden  sich  n  ~\-  1  Positionen,  und  Alles  ist  beym 
Alten  geblieben." 

An  Einwürfe  von  solchem  Gehalte  ist  der  Verfasser  gewöhnt;  sie  sind 
nur  nicht  alle  so  brauchbar,  um  die  Sache  ins  Licht  zu  setzen,  wie  dieser 
hier  seyn  würde. 

Wenn  eine  Substanz  mit  n  Merkmalen  dergestalt  gesetzt  wird,  als 
ob  sie  ihr  gleich  Attributen  oder  Accidenzen  inwohnten,  so  kommen  nach 
gemeiner  Ansicht  n  -J-  1  Positionen  heraus,  in  bestimmter  und  geschlossener 
Anzahl,  so  lange  nicht  etwa  eine  gröfsere  Menge  von  Merkmalen  gegeben 
wird.  Und  darin  liegt  der  Fehler.  Jene  Behauptung  aber,  als  ob  unsere 
Reihen  des  vervielfältigten  A  gerade  nur  zwey  Glieder  nöthig  hätten,  ist 
falsch.  Blofs  das  ist  wahr,  dafs  wir  bisher  noch  keine  Gründe  gefunden 
haben,  um  derentwillen  sie  mehr  Glieder  haben  müfsten.  Allein  hier  ist 
eine  offene  Stelle  für  künftige  Untersuchung  in  besondern  Fällen;  und 
unsre   Zahl  ist   nicht  geschlossen. 

Ferner,  wenn  wir  uns  auch  der  Kürze  wegen  begnügen,  zvenigslcns 
n  -f-  1  Positionen  anzunehmen,  so  ist  doch  der  Sinn,  worin  wir  sie  jetzt 
zulassen,  völlig  verändert.  Oben  redeten  wir  von  dem  gewöhnlichen  Ver- 
fahren, erst  die  Substanz,  und  alsdann  gerade  [133]  in  sie  hinein  ihre 
n  Merkmale  zu  setzen;  mit  der  Einbildung,  dieses  scy  der  richtige  und  zu- 
gleich der  genügende  Ausdruck  des  Gegebenen.  Er  ist  aber  nicht  richtig,  son- 
dern das  Voraussetzen  der  Substanz  gleicht  einer  Erschleichung.  Gegeben 
sind  die  Merkmale;  mit  ihnen  mufs  man  sich  begnügen,  so  lange  man  vest- 
hält  am  Gegebenen,  ohne  sich  auf  dessen  notwendige  Veränderung  im  Denken 
eingelassen  zu  haben.  Dann  giebt  es  nur  n  Positionen;  und  diese  fallen 
nicht  in  eine  vorausgesetzte,  sondern  sie  müssen  unter  sich  zusammenfallen, 
und  indem  dies  geschieht,  die  Position  der  Substanz  bilden;  welches  nicht 
möglich  ist,  und  die  Anerkennung  des  Widerspruchs  erzwingt.  Ganz  an- 
ders  verhält  es   sich,    nachdem   diese  Anerkennung  geleistet  worden.     Nun 


2.  Abschnitt.    Ontologie.    4.  Capitel.    Vom  Probleme  der  Inhärenz.  83 

verändert  man  die  Zahl  und  den  Werth  der  Positionen.  Statt  einer  jeden 
von  den  vorigen  n  Setzungen  geschehen  mehrere;  aber  verbundene.  Keine 
von  allen  fällt  in  die  Substanz,  wie  in  ein  Gefäfs,  hinein;  sondern  einige 
dieser  Positionen  sind  identisch,  und  ihr  Gegenstand  ist  nicht  mehr  noch 
weniger  als  die  Substanz  selbst;  andre  sind  davon  völlig  verschieden,  und 
ihr  Zusammenhang  mit  jenen  ist  für  jetzt  lediglich  angedeutet  durch  den 
dunkeln  Ausdruck  Zusammen;  der  aber,  was  er  auch  bedeuten  möge,  ge- 
wifs  auf  Inhärenz  führen  kann,  indem  alle  diese  Positionen  Vervielfältigungen 
sind  von  A,  welches  von  Anfang  an  als  ein  Reales  gedacht  wurde,  daher 
in  allen  den  Vervielfältigungen  überall  reale  Wesen  gesetzt  werden,  und  keines- 
weges  Attribute,  oder  Accidenzen,  oder  was  sonst  als  inhärirend  mag  an- 
gesehen werden. 

§.   220. 

Wenn  das  Vorige  verstanden  worden,  so  können  [134]  wir  nunmehr 
hoffen,  den  Hauptsatz  deutlich  zu  machen,  der  aus  der  Untersuchung  her- 
vorgeht.    Er  lautet  kurz  so: 

Keine   Substantialität  ohne    Causalitäl ! 

Die  Substantialität,  oder  der  Grund,  weshalb  wir  ein  in  Folge  unserer 
Erfahrung  angenommenes,  reales  Wesen  mit  dem  Namen  Substanz  belegen, 
liegt  ohne  Zweifel  darin,  dafs  sich  dieses  Wesen  verräth,  darstellt,  zu  er- 
kennen giebt,  durch  eine  Menge  von  gegebenen  Merkmalen.  Diese  Merk- 
male werden  nach  alter  Weise  eingetheilt  in  Attribute  und  modi ;  in  der 
Meinung,  jene  lägen  in  demjenigen,  Was  die  Substanz  an  sich  und  ur- 
sprünglich ist,  mit  einem  Worte,  in  ihrer  Qualität.  Alsdann  bleiben  die 
modi  als  dasjenige  übrig,  was  Ursachen  haben  mufs;  dergestalt,  dafs  nach 
der  gemeinen  Meinung,  die  man  in  den  alten  Compendien  ganz  schulgerecht 
durch  Definitionen  und  Divisionen  bestimmt  und  bevestigt  findet,  unser 
obiger  Satz  so  verändert  würde:  Die  Attribute  haben  keine  Ursache,  wohl 
aber  die  modi. 

Wenn  nun  irgend  ein  Ding  an  sich  Substanz  wäre,  so  müfste  es  bey 
dieser  Behauptung,  dafs  die  Attribute  keine  Ursache  hätten,  sein  Bewenden 
haben.     Wir  aber  sagen  : 

Es  giebt  gar  keine  Attribute,   als    Correlaie  der   Substanz. 

Diese  nähmlich  wären  ein  Vieles  in  der  ursprünglichen  i  Qualität,  wel- 
ches wir  oben  (§.  207.)  verworfen  haben.  Und  hiemit  hing  erstlich  unmittel- 
bar unsre  Behauptung,  dafs  das  in  unserer  Erfahrung  Gegebene  sich  in  dem 
Puncte  der  Inhärenz  selbst  widerspricht,  genau  zusammen;  zweytens  folgt 
daraus  sogleich,  dafs  nunmehr  die  Schuld  der  Inhärenz  (gerade  wie  die 
der  Veränderung)   geschoben  werden  mufs  auf  hinzutretende   Ursachen. 

Wenn  wir  wegen  des  Accidens  a  die  erste  Verviel-[i35]fältigung  des 
A  vornehmen,  und  statt  seiner  setzen :  A'  -j-  A'  -f-  A'  -\-...,  so  ist  von  diesen 
A'  das  erste,  wie  schon  gesagt,  die  Substanz,  aber  das  zweyte  und  die  fol- 
genden sind  zusammengenommen  die  Ursache  von  a.  Desgleichen,  wenn 
wir  wegen  des  Accidens  b  die  zweyte  Vervielfältigung  des  A  vornehmen : 
so  ist  zwar  das  erste  der  deshalb  gesetzten  A"  -J-  A"  -j-  A"  -{-...  wiederum 

1  „ursprünglichen"  nicht  doppelt  gesperrt.     SW. 


gl  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

einerley  mit  dem  ersten  A';  ohne  irgend  einen  Unterschied,  denn  wir  sind 
blofs  zum  zweytenmale  veranlafst  worden,  das  Nämliche,  die  Substanz,  zu 
setzen.  Aber  das  zweyte  und  die  folgenden  A"  sind  zusammengenommen 
die  Ursache  von  b.  Eben  so,  wenn  wir  wegen  des  dritten  Accidens  c  zum 
drittenmale  A  vielfach  setzen:  so  wird  nochmals  auf  neuen  Anlafs  dieselbe 
Substanz  gesetzt,  und  sie  erscheint  jetzt  als  der  erste  der  A'"  -f-  A'"  -f- 
A'"  -{-...  Hingegen  das  zweyte  A'",  und  die  folgenden  zusammengenommen 
die  Ursache  von  c.  Und  so  geht  es  fort,  wie  viele  Merkmale  auch  dem 
Dinge  zukommen  mögen. 

Denn   wie  viele  siimliche   Merkmale,   so   viele    Ursachen! 

Ob  diese  Ursachen  jede  einfach  oder  vielfach  seyen,  das  wissen  wir 
jetzt  noch  nicht;  darum  setzen  wir  solche  Reihen  für  dieselben,  die  sich  un- 
bestimmt verlängern  lassen;  es  ist  aber  möglich,  dafs  in  allen  diesen  Reihen 
das  zweyte  Glied  genüge;  dann  ist  jede  Ursach  *  einfach.  Nur  das  erste  Glied 
genügt  niemals;  weil  das  reale  Wesen,  das  wir  Substanz  nennen,  nicht 
von  selbst  Substanz  seyn  kann;  oder  mit  andern  Worten,  weil  es  nicht  selbst 
die  Schuld  tragen  kann,  dafs  in  dem  Begriffe,  welchen  wir  von  ihm  bekomme?i 
haben,   sich    Vielheit  und  Einheit   -widersprechen. 

[136]        §.    221. 

Ist  nun  unser  Hauptsatz,  nach  Kants  Bezeichnung,  analytisch  oder 
synthetisch?  Niemand  wird  ihn  für  analytisch  halten;  und  gerade  deshalb, 
■weil  er  nicht  analytisch  ist,  wird  Jeder,  wenn  er  ihn  zum  erstenmale  hört, 
versuchen,   ihn  für  falsch  zu   erklären. 

„Warum  sollte  es  keine  Substantialität  geben  ohne  Causalität?  Zer- 
gliedern wir  den  Begriff,  so  finden  wir  ja  nur  die  Vielheit  des  Inwohnens 
von  allerley  Bestimmungen,  Accidenzen  und  Attributen;  was  aber  der 
Substanz  nicht  inwohnt,   das  gehört  nicht  zu  ihr,  und  geht  sie   nichts    an." 

So  ungefähr  lauten  die  analytischen  Betrachtungen,  in  denen  mit  der 
alten  Metaphysik  der  gemeine  Verstand  einstimmt.  Darin  findet  sich  aller- 
dings nichts  von  Causalität.  Der  höchste  Punct,  welchen  die  Analyse  er- 
reichen könnte  und  sollte,  wäre  der  Widerspruch,  den  die  alte  Schule  in 
dem  substantiale  wirklich  gefunden  hatte,  obgleich  es  ihr  nicht  einfiel,  ein 
so  hartes  Wort  auszusprechen.  Dasjenige  in  der  Substanz,  dem  die  Acci- 
denzcn  inwohnen  können,  soll  das  substantiale  seyn.  Was  ist  denn  das? 
Ohne  Zweifel  nicht  das  Eine  reale  Wesen  selbst,  sondern  dasjenige  in  dem 
Einen,  was  sich  darbietet,  Vielem  gleich  zu  werden.  Was  bietet  sich  denn 
dazu  dar?  Was  in  dem  realen  Wesen  hat  Lust,  sich  zu  spalten,  und  von 
sich  selbst  abzuweichen? 

Hätte  man  sich  so  gefragt  (und  Platon  sammt  den  Eleaten  kannten 
diese  Frage  sehr  gut!):  so  hätte  man  bald  eingesehen,  dafs  die  Analyse 
blofs  dazu  dient,  den  innern  Fehler  des  Begriffs  aufzudecken.  Dann  wäre 
die  Synthesis  nothwendig  geworden,  welche  zeigt,  dafs  die  Inhärenz,  und 
die  Veränderung  (von  der  wir  im  nächsten  Capitel  sprechen  werden)  gleich 
nothwendig  den  Begriff  der  Ursache  herbeyführen. 

[137]  Unser  Satz  ist  demnach  unstreitig  synthetisch;  das  heifst,  er  kommt 

1  Ursache.     SW. 


2.  Abschnitt.    Ontologie.      4.   Capitel.    Vom   Probleme  der  Inhärenz.  $e 


zu  Stande,   indem   wir  dem  Subjecte,    das   ein  gewisses   Prädicat  nicht  ent- 
hält,   und    gerade    deshalb    sich    innerlich    widerspricht,    die    Beziehung   auf 
dieses   Prädicat  nachweisen. 

§.   222. 

Was  thut  denn  nun  die  Ursache?  Und  was  leidet  die  Substanz? 
Und  wie  hängt  mit  ihr  das  Accidens  zusammen,  das  sie  vermöge  der  Ur- 
sache soll  bekommen  haben?  —  Wenn  wir  das  Alles  noch  nicht  wissen  (und 
freylich  ist  bisher  noch  nichts  davon  vorgekommen),  welche  Aussicht  haben 
wir  denn,  etwas  davon  zu  erfahren?  Oder  sind  hier  die  unübersteiglichen 
Schranken   des  menschlichen  Wissens? 

Wir  wollen  für  einen  Augenblick  annehmen,  die  Untersuchung  ginge  nicht 
weiter;  so  würden  wir  gleichwohl  schon  einige  Berichtigungen  der  gewöhn- 
liehen  Meinung,  wie  sie  sich  in  jenen  Fragen  ausspricht,   anzumerken  haben. 

Die  Ursache  soll  etwas  thun,  und  die  Substanz  soll  leiden?  Die  Unter- 
suchung sagt  davon  Nichts.  Wenn  man  A'  -\-  A'  -|-  A'  setzt:  so  sind  die 
drey  Zeichen  gleich;  weil  sie  gleichen  Begriffen  angehören.  Das  erste  von 
diesen  Zeichen  bedeutet  freylich  die  Substanz,  das  zweyte  sammt  den  fol- 
genden die  Ursache;  weil  das  erste  als  dasjenige  angesehen  wird,  welches 
vervielfältigt  wurde,  indem  der  Irrthum,  es  sey  an  der  Substanz  genug, 
verschwand.  Nämlich  es  fand  sich,  dafs  zwar  wohl  dasjenige  reale  Wesen,, 
welches  wir  Substanz  nennen,  an  sich  selbstständig  seyn  möchte;  dafs  es 
aber  keinen  selbstständigen  Grund  seines  Accidens  a  enthalten  könne.  Darum 
nahm  man  statt  des  einen  mehrere.  Und  so  nahm  man,  um  zu  dem  Acci- 
dens b  hinreichend  Grund  zu  finden,  wiederum  statt  [138]  des  einen 
mehrere;  aber  von  den  mehrern  mufste  nun  eins  zusammenfallen  mit  einem 
von  jenen  mehrern,  die  man  wegen  des  ersten  Accidens  a  gesetzt  hatte. 
Sonst  wäre  die  Einheit  des  Dinges  verloren  gewesen.  Welches  war  nun 
die  Substanz  und  was  litt  sie?  Welches  waren  die  Ursachen,  und  was 
thaten  sie?  —  Man  sieht,  dafs  die  Begriffe  vom  Thun  und  Leiden  hier 
schlechterdings  nicht  passen.  Wenn  man  das  erste  der  A'  und  das  erste 
der  A"  gleich  setzt,  weil  dieses  Zeichen  blofs  auf  verschiedenen  Anlafs 
durch  verschiedene  Accidenzen,  zum  Vorschein  kamen:  so  ist  die  durch  beyde 
bezeichnete  Substanz  nur  eine  und  dieselbe.  Hingegen  das  zweyte  der 
A'  und  das  zweyte  der  A"  können  nicht  eins  und  dasselbe  bedeuten: 
denn  jenes  bezeichnet  die  Ursache  des  Accidens  a,  und  dieses  die 
Ursache  des  Accidens  b.  Aber  a  und  b  sind  verschieden,  vermöge 
der  Voraussetzung;  folglich  müssen  auch  die  Ursachen  verschieden 
seyn,  die  zu  der  Substanz  hinzukommend  jene  Accidenzen  begründen. 
Welches  ist  nun  der  Unterschied  zwischen  Substanz  und  Ursache?  Dieser,, 
dafs  wir  von  der  Substanz  ausgingen,  die  Ursachen  als  mehrere  und 
verschiedene  aber  hinzunahmen.  Sonst  ist  kein  Unterschied  da!  Gerade 
im  Gegentheil:  wir  haben  den  Begriff  A  vervielfältigt,  und  dadurch 
beydes,  sowohl  Substanz  als  Ursache  erhalten.  Jene  war  nur  das 
erste  Glied  in  jeder  Reihe,  und  alle  ersten  Glieder  fielen  zusammen  in 
Eins  (§.  218.);  aber  nimmermehr  konnte  uns  die  blofse  Vervielfältigung 
eines    und    desselben    Begriffs  >   A,    eine   solche   Bestimmung  der  Glieder  in 


1   eines  und  desselben  A.     SW.     („Begriffs"  fehlt). 


86  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      182g. 

unsern  Reihen  hergeben,  als  ob  eine  specifische  Verschiedenheit  unter 
ihnen  dergestalt  bestünde,  dafs  eins  derselben  gerade  seiner  Natur  nach 
Substanz,  und  nur  diese,  das  andre  Ursache,  und  nur  diese,  seyn  müfste! 
Sondern  die  Ausdrücke  bezeichnen  nur  verschiedene  Rücksich-[i3Q]ten, 
in  welchen  wir  im  Laufe  unseres  Denkens  die  einzelnen  realen  Wesen 
unterscheiden.  Übrigens  mögen  wirklich  die  Wesen  verschieden  seyn;  ja 
sogar  im  allerhöchsten  Grade  verschieden/  Es  ist  schon  hier  klar,  dafs  die- 
jenigen, welche  zur  nämlichen  Substanz  als  Ursachen  verschiedener  Acci- 
denzen  hinzukommen,  auf  irgend  eine  Weise  verschieden  seyn  müssen; 
sonst  wäre  der  Grund  gleich,  also  auch  die  Folge  gleich.  Aber  das  sind 
verschiedene  Ursachen;  kein  Unterschied  zwischen  Substanz  und  Ursache; 
dem  Leidenden  und  dem  Thätigen.  Vor  Sprüngen  müssen  wir  uns  hüten, 
denn  wer  weifs,  was  die  fernere  Untersuchung  noch  lehren  mag?  aber 
wir  wollen  uns   doch  merken: 

dafs  bisher  noch  kein  Unterschied  zwischen  Thun  und  Leiden  gefunden, 
sondern  die  Ausdrücke  Substanz  und  Ursache,  blofs  um  verschiedener 
Rücksichten  auf  den  Lauf  des  Denkens  willen,  sind  gebraucht  worden. 
Wenn  nun  der  Leser  klagt,  auf  die  erste  Frage  nur  eine  ausweichende 
Antwort  bekommen  zu  haben,  so  wird  doch  diese  Klage  im  sechsten  Ca- 
pitel  der  Ontologie  schon  erledigt  werden.  x\ber  schlimmer  steht  es  um  jeue 
zweyte  Frage  nach  dem  Zusammenhange  des  Accidens  mit  der  Substanz. 
Davon  kann  nicht  die  Ontologie,  nicht  einmal  die  Synechologie,  sondern 
erst  die  Eidolologie,  hinlängliche  Auskunft  geben.  Warum?  Das  Accidens, 
welches  wir  in  dem  gegebenen  Dinge  finden,  liegt  gar  nicht  in  der  Sub- 
stanz, der  wir  es  zuschreiben;  es  liegt  in  uns;  es  ist  unsre  Vorstellung. 
Wir  gingen  vom  Gegebenen  aus;  und  dachten  zu  den  Merkmalen,  die 
wir  empfanden,  oder  die  zu  den  Formen  gehörten,  unter  welchen  das 
Empfundene  gegeben  wird,  —  die  Substanz  hinzu.  Ist  denn  nicht  auch 
die  Substanz  in  uns?  Vielleicht;  aber  nicht  gewils;  [140]  denn  um  dies  zu 
entscheiden,  mufs  zuvor  der  Idealismus  erwogen  werden.  Hingegen,  was 
wir  empfinden,  und  unter  welcher  Form  wir  es  empfinden,  das  ist  geivifs 
in  uns;  und  sein  Verhältnifs  zu  den  hinzugedachten  Substanzen  hat  die 
Eidolologie  zu  untersuchen. 

§•    223. 

Der  Causalbegriff,  so  wie  ihn  das  Problem  der  Inhärenz  herbeyführt, 
enthält  keine  Zeitbestimmung.  Die  Ursache  ist  weder  früher  noch  später 
als  die  Wirkung.  Sondern  eben  jetzt,  indem  wir  die  Inhärenz  wider- 
sprechend finden,  erklären  wir  die  Substanz  für  unzureichend,  ihre  Acci- 
denzen  zu  begründen;  eben  jetzt  sagen  wir,  dafs  so  viel  Ursachen  vor- 
handen seyn  müssen  als   Accidenzen. 

Hiebey  setzen  wir  allerdings  die  Ursachen  voraus;  aber  wem  voraus? 
Unserm  Denken  und  Finden  derselben.  Unsre  Gedanken  brauchten  Zeit; 
sie  gingen  aus  von  der  Substanz,  und  waren  mit  derselben  früher  be- 
schäfftigt;  sie  langten  an  bey  den  Ursachen,  und  das  geschah  später. 
Diese  Succession  soll  nun  in  der  Sache  nicht  liegen.  Noch  ehe  und  be- 
vor wir  an  Ursachen  dachten,  müssen  sie  da  gewesen  seyn.  Denn  wenn 
wir  im  Denken  einen  Widerspruch  auflösen,  so  ist  doch  der  reale  Gegen- 


2.  Abschnitt.     Ontologie.      5.   Capitel.     Von   der  Veränderung.  37 

stand  des  Denkens  nicht  erst  unmöglich  und  dann  möglich;  sondern  er  war 
und  ist  und  bleibt  immer  möglich.  Darum  setzen  wir  die  Ursachen  vor- 
aus, in  Rücksicht  auf  uns:  jedoch  nicht  in  Rücksicht  auf  das  Accidens, 
was  sie  bewirken. 

Es  verhält  sich  mit  dieser  Zeitbestimmung  eben  so  wie  mit  dem  Thun. 
Wir  rechnen  die  Accidenzen  zur  Substanz;  aber  wir  rechnen  sie  auch  den 
Ursachen  zu;  eine  doppelte  Zurechnung,  die  sich  dadurch  unterscheidet, 
dafs  wir  früher  wegen  der  Gruppe  von  Merkmalen,  die  wir  ein  Ding 
nennen,  die  Substanz  setzten;  [141]  und  später  erst  entdeckten,  man  müsse 
zu  ihr,  der  Einen,  noch  Vieles,  die  Ursachen  hinzufügen,  um  den  Ge- 
danken vesthalten  zu  können.  In  der  zweyten  Zurechnung  heifsen  die 
Accidenzen  nun  Wirkungen ;  und  es  ist  sehr  klar,  dafs  hier  ein  neuer 
Name  nothwendig  war.  Denn  wie,  wenn  Jemand  sagte:  „ihr  rechnet  das 
Accidens  auf  gleiche  Weise  zu  der  Substanz  und  zu  der  Ursache,  also 
könnt  ihr  eben  so  gut  die  Ursache  für  die  Substanz  nehmen;  alsdann  wer- 
den die  Worte  Wirkung  und  Accidens  gleichbedeutend"  — ?  Darauf  wür- 
den wir  ihn  fragen,  ob  denn  die  Ursache  des  Accidens  a  auch  in  Ver- 
bindung stehe  mit  dem  Accidens  b?  Und  er  würde  einsehn,  dafs  die 
Ursachen,  als  fremd  und  zufällig,  herbevkommen,  um  Accidenzen  zu  be- 
gründen,  die  zwar,  ihrer  Beschaffenheit  nach,  einander  gegenseitig  fremd, 
aber  in  der  Form  einer  Gruppe  verbunden,  auf  Eine  Substanz  hinweisen, 
ohne  welche  die  Hindeutung  aufs  Seyn,  die  in  dem  Ganzen  des  gegebenen 
Dinges  liegt,  aus  einander  fallen  würde.  Die  Substanz  repräsentirt  die 
Einheit  der  Gruppe  von  Merkmalen,  die  Ursachen  übernehmen  die  Schuld 
des   Vielen  und   Fremdartigen  in   der  nämlichen   Gruppe. 

Aber  diese  ganze  Unterscheidung  leistet,  wie  wir  im  vorigen  $.  schon 
sahen,  nichts,  um  einen  realen  Unterschied  des  Leidens  und  Thuns  zwischen 
Substanz  und  Ursache  zu  finden.  Eben  so  leistet  das  Voraussetzen  de? 
Ursache,  dergestalt,  dafs  sie  schon  dagewesen  seyn  müsse,  ehe  wir  sie  be- 
merkten, auch  nichts,  um  ein  Vorher  und  Nachher  in  Ansehung  der  Lage 
der  realen  Wesen  vestzustellen.  Sondern  hier  sind  Fälle,  in  welchen  gegen 
die  Verwechselung  des   Denkens  und   Erkennens  mufs  gewarnt  werden. 

Mit  dieser  Zeitbestimmung  wird  es  sich  nun  ganz  anders  verhalten 
im  nächsten  Capitel.  Auch  dort  wer-[l42]den  wir  auf  Ursachen  kommen. 
Das  reale  Verhältnifs  der  Wesen,  die  sich  wie  Substanz  und  Ursache  ver- 
bunden finden,  wird  dort  das  nämliche  bleiben  wie  hier.  Allein  es  wird 
eine  Nebenbestimmung  daran  haften,  die  kein  Prädicat  eines  Realen,  und 
dennoch   für  künftige   Untersuchungen  wichtig  ist. 


Fünftes   Capitel. 
Von  der  Veränderung. 

§.   224. 

Nicht    eben  die  kleinste  Schwierigkeit  des   bisher  Vorgetragenen    liegt 
in  der  geforderten  logischen  Höhe  der  Abstraction.    Gewifs  kostet  es  Mühe, 


38  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfangen  etc.      1829. 

sich  im  Denken  auf  einem  Standpuncte  vestzuhalten,  von  welchem  alle 
Gegenstände  der  gemeinen,  und  die  meisten  selbst  der  wissenschaftlichen 
Kenntnifs  uns  herabzuziehen  streben.  Die  Abstraction  besteht  hier  nicht 
blofs  darin,  von  Vielen  das  Ungleiche  abzustreifen  und  das  Gleichartige 
vestzuhalten:  sondern  sich  eines  natürlichen  Laufes  der  Vorstellungen  zu 
erwehren,  zu  welchem  doch  alle  Beyspiele,  deren  man  gedenken  möchte, 
einladen.  Denn  welche  Dinge  sich  uns  als  Substanzen  darstellen,  dieselben 
zeigen  sich  auch  veränderlich.  Daher  ist  die  Neigung,  die  Substanz  nicht 
blofs  als  zeitloses  Subject  einer  Gruppe  von  Merkmalen,  sondern  sogleich 
auch,  mit  Rücksicht  auf  die  Zeit,  als  das  Beharrliche  im  Wechsel  zu  defi- 
niren,  so  grofs,  dafs  Kant  so  wenig  als  Wolff  sich  dessen  enthalten  hat. 
Und  in  einer  eigentlichen  Ontologie  wenigstens,  ist  dieser  Fehler  keines 
Ersatzes  fähig.  Man  mag  immerhin  den  Abstractionen  wenig  Werth  bey- 
legen;  aber  wenn  man  [143]  sich  auf  sie  einläfst,  so  mufs  man  sie  richtig 
ausarbeiten. 

jetzt  aber,  nachdem  wir  das  Problem  der  Inhärenz,  ohne  an  irgend 
einen  Wechsel  zu  denken,  hoffentlich  deutlich  genug  abgehandelt  haben, 
soll  es  uns  willkommen  sevn,  dafs  wir  dem  Drange  nachgeben  dürfen, 
welchen  alle  unsre  natürlichen  Auffassungen  uns  empfinden  lassen.  Das 
Dauernde,  was  der  Mensch  mitten  in  den  Strömungen  der  Zeit  so  ängst- 
lich sucht,  soll  nun  auch  der  folgenden  Untersuchung  zum  Gegenstande 
dienen. 

Wir  könnten  zwar  sogleich  die  vorigen  Betrachtungen  nach  der  Vor- 
schrift des  §.  190.  fortsetzen.  Was  heifst,  was  bedeutet  das  Zusammen  der 
Substanz  und  der  Ursache?  Was  geschieht  da,  wo  zwey  reale  Wesen  in 
Verbindung  treten?  Das  ist  die  Frage,  zu  der  wir  übergehn  sollen.  Denn 
in  dem  Zusammen  soll,  laut  der  Methode  der  Beziehungen,  das  Geheimnifs 
verborgen  liegen,  was  uns  zu  errathen  aufgegeben  ist.  In  dem  Zusammen 
der  realen  Wesen  mufs  etwas  geschehn,  wodurch,  wenn  nicht  unmittelbar, 
so  doch  mittelbar,  diejenige  Mannigfaltigkeit  entsteht,  welche  sich  unsern 
Augen  als  ein  Vieles  der  Eigenschaften  eines  Dinges  darstellt.  Welches 
Gegentheil  der  mehrmals  erwähnten  qualitativen  Atomistik  ($.  212.)  sollen 
uns  denn  jene  zufälligen  Ansichten  gewähren,  von  denen  wir  schon  vor- 
aussehn, dafs  sie  auf  das  Reale  müssen  übertragen  werden,  um  die  Ge- 
meinschaft der   Wesen  richtig  zu  denken? 

So  dringend  auch  diese  Frage  scheinen  mag,  so  setzen  wir  sie  den- 
noch jetzt  bey  Seite,  und  verschieben  sie  aufs  nächste  Capitel.  Die  Ver- 
änderung wird  uns  nicht  zerstreuen,  sondern  selbst  wieder  dorthin  lenken. 
Denn  sie  ist  gleichsam  gepfropft  auf  die  Inhärenz,  zu  der  sie  nur  die 
neuen  Gegensätze  hinzubringt,  welche  in  der  Succession  liegen.  Der  Wider- 
spruch, den  schon  [144]  die  Vielheit  simultaner  Merkmale  Eines  Dinges 
erzeugt,  springt  noch  klärer  hervor,  wenn  das  Ding  in  den  Spaltungen  der 
Einheit  sich  nicht  einmal  gleich  bleibt.  Man  möchte  die  Inhärenz  mit 
der  gleichförmigen  geradlinigen  Bewegung,  die  Veränderung  mit  der  be- 
schleunigten in  gekrümmten  Bahnen  vergleichen.  Wer  ganz  arglos  die  gerade 
fortrückende  Bewegung  als  einfache  Erscheinuno;  eines  Naturgesetzes  betrach- 
tet,  weil  sie  ja  doch  in  ihrer  Unbeständigkeit  beständig  ist:  der  nimmt  wenig- 
stens so  viel  wahr,   dafs  Geschwindigkeit  und  Richtung  bleiben  sollten,  wie 


2.  Abschnitt.     Ontologie.     5.  Capitel.     Von  der  Veränderung.  8q 

sie  einmal  sind,  und  dafs  man  fragen  müsse  nach  der  Kraft,  wodurch  Be- 
schleunigung und  Krümmung  des  Weges  hervorgebracht  seyen?  So  nun 
auch  hat  die  Veränderung  eher  als  die  Inhärenz  ein  lebhaftes  metaphysisches 
Nachdenken  geweckt,   das  nur  zu   frühzeitig  ermattete,   und   späterhin  lieber 


gemieden  als   erneuert  wurde. 


§•    225. 


Wir  verweilen  einen  Augenblick  bey  diesem  merkwürdigen  Unter- 
schiede in  der  Philosophie  der  Alten  und  der  Neuern.  Bey  jenen  trieb 
Heraklit  die  Sache  auf  die  Spitze,  als  er  vom  allgemeinen  Flusse  der 
Dinge,  und  vom  Seyn.  und  Nichtseyn  redete  (§.  131,  132.).  Der  Stein 
des  Anstofses  war  hiemit  recht  eigentlich  auf  die  Strafse  gewälzt;  und 
man  mufste  Gewalt  versuchen,  um  ihn  wegzuschaffen.  Wer  wird  hier  nicht 
an  Parmenides,  Zeno,  Plato,  denken?  —  Die  Alten  hielten  ihren  Blick 
gerichtet  aufs  Gegebene;  ihre  Sorge  war,  wie  dieses  sich  möge  fassen  und 
halten  lassen. 

Im  sonderbaren  Contraste  dagegen  meinte  die  neuere  Metaphysik 
ihre  Schuld  durch  logische  Bestimmungen  abzutragen.  Sie  unterschied  die 
Essenz  und  die  Existenz.  In  jene,  —  das  heifst,  in  ein  blofses  Gedanken- 
ding, verlegte  sie  das  Unwandelbare,  durch  den  Satz:  [145]  cssential,  essentialia 
et  attributa  sunt  absolute  et  interne  immutabiles.  Nun,  meinte  sie,  könne  die 
Veränderung  den  Dingen  doch  nicht  ins  Herz  dringen !  Die  Existenz  im 
Gegentheil  war  nur  ein  modus;  diesen  konnte  man  geben  und  nehmen 
(§.  9.);  das  Ding  selbst  blieb  unbeschädigt;  es  behielt  ja  die  Bestimmung 
dessen,  Was  es  sey;  wenn  auch  der  geringfügige  Umstand  des  Seyn  ins 
Nichtseyn  überging. 

Das  ist  das  Philosophiren  in  hohlen  Begriffen,  welches  ursprünglich 
die  Protestationen  veranlafste,  die  ganz  neuerlich  in  die  lächerlichen  De- 
clamationen  gegen   „Reflexionsphilosophie"  ausgeartet  sind. 

Unstreitig  wird  alles  Philosophiren  unnütz,  sobald  es  den  Zusammen- 
hang mit  dem  Gegebenen  verliert.  In  derjenigen  Untersuchung,  welche 
uns  im  vorigen  Capitel  beschäfftigte,  war  unsere  Sorge  vorzüglich  darauf 
gerichtet,  dafs  man  sich  nicht  erlauben  solle,  die  Substanz  als  ein  Ge- 
dankending außer  und  neben  den  Accidenzen  zu  setzen,  als  ob  der  Ver- 
stand etwan  aus  eignen  Mitteln  sie  hinzufügen  dürfte  zur  Erscheinung 
(die  bekannte  Weise  der  Kantianer),  während  die  Setzung  der  Substanz 
ursprünglich  nur  insofern  gerechtfertigt  ist,  als  sie  die  Setzungen  der  erfahrungs- 
mäfsig  gegebenen  Accidenzen  repräsentiren,  und  aus  ihnen  zusammenfliefsen 
soll.  Könnte  sie,  was  sie  soll,  so  wäre  an  kein  Hinzufügen  zu  denken. 
Mufs  aber  einmal  hinzugefügt  werden:  so  mufs  man  es  recht  machen,  das 
heifst  so,   dafs   der  im   Problem   liegenden    Forderung   Genüge  geschehe. 

In  demselben  Geiste  nun  soll  auch  das  Problem,  was  in  der  Ver- 
änderung liegt,  behandelt  werden.  Die  Ursache  soll  nicht  aus  einem  Vor- 
rathe  schon  fertig  liegender  Begriffe,  wie  aus  einer  Apotheke  als  Heilmittel 
geholt,  und  nach  Verordnung  gebraucht  werden,  um  die  Veränderung 
unsern  einmal  vorhandenen  Vorstellungsarten  anzupassen.  Wenn  sich  die 
Veränderungen  so  [14Ö]  denken  lassen,  wie  sie  gegeben  sind,  so  soll  nichts 
hinzugefügt  werden.     Wenn   aber    im  Denken    des    Gegebenen    die    Noth- 


OO  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


wendigkeit    einer  Umbildung   des   Begriffs    zu   Tage   kommt,    so    soll    dieser 
gegebene  Begriff  der  Veränderung  überall,  wo  er  vorkommt,   sich  die  Um- 


bildung gefallen  lassen. 


S.    226. 


s 


Indem  wir  uns  nun  anschicken,  in  dem  Geiste  der  vorigen  Unter- 
suchung fortzufahren:  finden  wir  die  Scene  bedeutend  verändert.  Wir 
wissen  schon  voraus,  welches  Resultat  wir  erhalten  werden.  Der  obige 
Satz:  keine  Substantialität  ohne  Causalität,  konnte  befremden.  Der  Satz: 
keine  Vaändernng  ohne  Ursache,  befremdet  Niemanden.  Wer  hat  uns  denn 
hier  vorgearbeitet?  Die  Philosophen  haben  sich  nur  gewundert  über  den 
Causalbegriff,  an  ihm  gezweifelt,  ihn  umgangen,  beschränkt  und  verdorben. 
Der  gemeine  Verstand  war  es,  der  uns  vorarbeitete;  er  fügt  die  Ursache 
als  nothwendige  Voraussetzung  zur  Veränderung.  Warum  thut  er  das?  so 
fragen  die  Philosophen,  und  konnten  sich  in  den  natürlichen  und  noth- 
wendigen   Gang  der  menschlichen   Gedanken  nicht  finden. 

Je  gewisser  nun  hier  unsre  Untersuchung  in  das  Gleis  der  gemeinen 
Vorstellungsarten  hinein  geräth:  desto  mehr  mufs  sie  sich  hüten,  nicht 
unwillkührlich  von  diesem  Gleise  forts;ezo2;en  zu  werden.  Es  könnte  doch 
leicht  begegnen,  dafs  im  gemeinen  Denken  etwas  Voreiliges  läge,  welches 
den  Philosophen,  die  sich  demselben  nicht  fügen  wollten,  zur  Ent- 
schuldigung gereichte. 

Schon  im  vorigen  Capitel  haben  wir  die  Meinung,  dafs  die  Ursachen 
etwas  thun,  und  die  Substanzen  etwas  leiden,  verdächtig  gefunden.  Zwar 
den  Ausdruck  Ursache  hatten  wir  nöthig,  weil  zu  einem  realen  We-[i47]sen, 
das  wir  Substanz  nannten,  ein  anderes,  oder  mehrere  andere  reale 
Wesen  hinzukommen  müssen,  wenn  die  Substanz  nicht  offenbar  unfähig 
seyn  soll,  Accidenzen  zu  tragen,  wie  es  ihr  Name  mit  sich  bringt.  Aber 
man  könnte  es  uns  verdenken,  dafs  wir  ein  bekanntes  Wort,  wie  das  Wort 
Ursache,  nicht  ganz  im  bekannten  Sinne  gebrauchten.  Ursachen,  könnte 
man  sagen,  thun  etwas;  aber  es  ist  überall  noch  nicht  gezeigt,  wie  denn 
die  Ursachen  es  machen  sollen,  den  Substanzen  zu  ihren  Accidenzen  zu 
verhelfen.  Bis  dahin  hätte  der  Gebrauch  des  Worts  Ursache  vermieden 
werden  sollen,   denn   Ursachen,   die  nichts  thun,   sind  keine   Ursachen. 

Bequem  wäre  es,  darauf  blofs  mit  einer  Gegenfrage  zu  antworten. 
Wifst  ihr  denn,  was  die  Ursachen  dann  eigentlich  thun,  wann  sie  Ver- 
änderungen bewirken?  Wollt  ihr  nicht  dem  Gebrauche  des  Worts  Ursache 
so  lange  entsagen,  bis  ihr  das  Wirken  der  Ursachen  mit  eignen  Augen 
gesehen,  und  uns  von  dem,   was  ihr  erblicktet,   benachrichtigt  habt? 

Anstatt  aber  auf  diese  Weise  den  Ball  blofs  hin  und  her  zu  werfen, 
erinnern  wir  lieber  den  Leser,  dafs  Leibnitz,  um  die  causa  transiens  zu 
vermeiden,  sich  die  Schwierigkeiten  der  prästabilirten  Harmonie,  Spinoza 
aus  gleichem  Grunde  die  der  causa  immanens  gefallen  liefs;  dafs  Kant  sich 
sogar  mit  einer  blofsen  Regel  der  Zeitfolge  für  Erscheinungen  begnügte, 
und  dafs  ein  Heer  von  Nachfolgern  diesen  Gedanken  als  einen  Triumph 
der  Willcnsfreyheit  pries  und  feyerte.  So  leicht  nun  der  Begriff  der  Ur- 
sache gewonnen  wird,  so  schwer  ist  es  doch  nach  diesen  speculativen  Er- 
fahrungen,   ihn  vestzuhalten,    und    zu    vertheidigen.      Darum   ersuchen   wir 


2.  Abschnitt.    Ontologie.      5.   Capitel.     Von   der  Veränderung.  qi 

den  Leser  im  Voraus,  genau  beachten  zu  wollen,  ob  denn  in  unserer  Unter- 
suchung sich  die  Ursache  auch  behaftet  zeigen  wird  mit  der  Eigenschaft, 
[148]  dafs  sie  aus  sich  heraus,  in  ein  Leidendes  hineingehe,  um  darin 
etwas,  demselben  Fremdartiges,  zu  schaffen;  wodurch  sie  Widersprüche 
sowohl  im  Thun  als  im  Leidenden  hervorbringen  würde,  die  Niemand  als 
gegeben  nachweisen,  Niemand  vernünftigerweise  einer  speculativen  Methode 
unterwerfen  könnte. 

Die  wahre  Metaphysik  mufs  einen  solchen  Gang  nehmen,  dafs  sie 
den  Schwierigkeiten,  die  nicht  gegeben,  sondern  aus  Fehlgriffen  entstanden 
sind,  vorbey  geht,  sie  zur  Seite  liegen  läfst,  als  etwas,  das  für  sie  eigentlich 
gar  nicht  vorhanden  ist,  und  dessen  sie  nur  gelegentlich  erwähnt,  um  vor 
den  Verirrungen  zu  warnen,  die  aus  Unbehutsamkeit  leicht  begangen  werden. 

§•     22J. 

Es  ist  unmöglich,  dafs  ein  Ding  zugleich  sey  und  nicht  sey.  Diesen 
Satz  räumt  Jedermann  willig  ein.  Wir  werden  hier  einen  bequemen  An- 
knüpfungspunet  der  Untersuchung  finden;  indem  wir  es  in  Frage  stellen, 
ob  das  Zugleich  etzvan  die  Bedingung  und  die  Gränze  der  Unmöglichkeit  an- 
gebe? Man  versuche  also,  das  Zugleich  hinwegzunehmen,  und  überlege,  was 
daraus  folge  ? 

1)  Sollte  ein  Ding  abwechselnd  sevn  und  nicht  seyn:  so  würden  die 
Zwischenzeiten,  in  denen  es  nicht  wäre,  sein  Daseyn  dergestalt  zerbrechen, 
dafs  es  jeden  Zusammenhang  mit  sich  selbst  verlöre.  Die  zweyte  Periode 
seiner  Existenz  wäre  der  erstem  fremd;  und  man  würde  es  nicht  unter- 
scheiden können  von  einem  ganz  neuen,  dem  vorigen  nur  ähnlichen,  nicht 
identischen  Gegenstande.  Wollte  aber  Jemand,  um  das  Äufserste  zu  thun, 
es  dennoch  für  alle  Zeiten  als  dasselbe  vesthalten:  so  müfste  er,  abstra- 
hlend von  der  Zeit,  den  Unterschied  des  Vorher  und  Nachher,  durch 
welchen  die  Perioden  des  verlornen  und  wiedergewonnenen  Daseyns  ge- 
trennt waren,  ganz  weglas-[i49]sen.  Wird  nun  die  Zeitbestimmung  auf- 
gehoben, so  dafs  die  Zeitpuncte  zusammenfallen:  so  fällt  auch  das  Seyn 
und  Nichtseyn,  was  jetzt  nicht  mehr  durch  die  Verschiedenheit  der  Zeiten 
gesondert  ist,  in  Einen  Begriff  zusammen.  In  jedem  Augenblick,  worin  man 
diese  Vorstellung  des  Dinges  vesthält,  setzt  man  es  zugleich,  und  ohne 
Unterschied,  als  seyend  und  nicht  seyend,  welches  der  offenbare  Wider- 
spruch selbst  ist.  Also  die  vorher  gemachte  Zeitbestimmung,  das  Ding 
könne  nicht  zugleich  seyn  und  nicht  seyn,  war  ganz  fruchtlos ;  sie  fällt  aus 
dem  Begriffe  von  selbst  wieder  heraus,  sobald  man  den  Gegenstand  selbst 
als  einerley  Subject  für  die  auf  verschiedene  Zeitpuncte  vertheilten  Be- 
stimmungen auffafst. 

2)  Jetzt  setze  man  statt  eines  Wechsels  im  Dasevn  den  Wechsel  der 
Qualität,  das  heifst,  die  Veränderung.  Das  Ding  soll  beharren  im  Seyn, 
aber  es  soll  bald  ein  solches,  bald  ein  anderes  seyn.  Dem  Scheine  nach 
hält  nun  wiederum  die  Zeitbestimmung  das  Entgegengesetzte  der  Quali- 
täten auseinander;  und  wenn  das  Ding  blofs  am  Seyn  genug  hätte,  ohne 
irgend  Efzuas  zu  seyn,  so  wäre  hiemit  der  Widerspruch  vermieden.  Die 
Identität  würde  sich  halten  an  dem  blofscn  beharrlichen  Seyn ;  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Qualität.    Aber  das  Seyn  ist  gar  keine  Bestimmung  des  Dinges, 


Q2  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.      1829. 

sondern  blofs  der  Art,  wie  wir  es  setzen  (§.  202.).  Hat  es  also  eine  ge- 
wisse Qualität  nur  zuweilen,  mit  Unterbrechungen,  und  in  den  Zwischenzeiten 
eine  andere:  so  ist  ein  und  dasselbe  Ding  höchstens  in  den  Perioden  vor- 
handen, worin  es  sich  selbst  gleich  ist.  Die  Zwischenzeiten  füllt  ein  anderes 
Ding  aus,  das  an  seine  Stelle  trit.  Aber  damit  fallen  wir  dennoch,  und 
sogar  zwiefach,  in  den  vorigen  Fehler  zurück;  nämlich  in  den  Begriff  eines 
unterbrochenen  Daseyns  (worin,  wie  schon  gezeigt  worden,  die  Zeitbe-[i5o] 
Stimmung  ganz  unnütz  ist,  um  den  Widerspruch  abzuwehren).  Denn  sowohl 
das   eine  als  das  andre  Ding  unterbricht  sich   im   Daseyn. 

3.  Der  bekannte  Satz:  /';/  allem  Wechsel  beharre  die  Substanz,  giebt 
eine  ganz  leere  Vorstellung  von  der  Substanz;  als  ob  das  blofse  Seyn,  ohne 
Qualität,  einen  haltbaren  Begriff  darböte.  Eine  bestimmte  Substanz  kann 
nur  gegeben  und  von  der  andern  unterschieden  werden  durch  die  Gruppe 
von  Merkmalen,  um  derentwillen  sie  gesetzt  wird ;  und  eine  Position  der- 
selben, die  nicht  hievon  ausginge,  wäre  gar  keine;  wie  oben  (§.  217.  u.  s.  f.) 
ausführlich  ist  gezeigt  worden.  Wechseln  die  Merkmale,  so  wechselt  die 
Substanz,   die  um  ihrentwillen  gesetzt  wird. 

Wenn  also  ein  Gegenstand  dergestalt  gegeben  wird,  dafs  wir  dessen 
Qualität  als  veränderlich  betrachten  müssen,  so  ist  ein  Widerspruch  ge- 
geben. 

Ob  aber  Gegenstände  mit  veränderlicher  Qualität  gegeben  werden,  das 
wollen  wir  nun  weiter  untersuchen. 

§.    228. 

Niemand  zweifelt,  dafs  Veränderungen  in  der  Erfahrung  gegeben 
werden.     Dennoch  ist  Einiges  hiebey  zu  bemerken. 

Man  unterscheidet  gemeinhin  wesentliche  und  zufällige  Eigenschaften 
der  Dinge,  weil  in  der  Erscheinung  einige  Merkmale  beständiger  sind  als 
andre.  Wenn  nun  das  Gegebene  so  angesehen  wird,  als  gäbe  es  uns 
die  Qualität  der  Dinge  zu  erkennen,  so  liegt  es  am  Tage,  dafs  die  Sub- 
stanz als  beharrlich  im  Wechsel  deshalb  sehr  leicht  betrachtet  werden  konnte, 
weil  man  meinte,  sie  lasse  sich  an  ihren  wesentlichen  Eigenschaften  fest- 
halten, mochten  auch  die  zufälligen  wechseln  wie  sie  wollten.  Wie  das 
zugchen  [151]  solle,  dafs  sich  zum  Wesentliche?/  das  Zufällige,  zum  Einheimischen 
das  Fremde  geselle?  darüber  dachte  man  so  genau  nicht  nach.  Wenn 
einmal  ein  Fremder  im  Wirthshaus  der  Substanz  einkehrte,  so  war  es  ja  kein 
Wunder,  dafs  er  auch  wieder  Abschied  nahm !  Das  Haus  blieb  stehen ; 
unbekümmert  um  die,  welche  aus  und  eingingen ;  es  gehörte  fortdauernd 
seinen  bleibenden  Einwohnern. 

Nun  ist  aber  die  Wirthschaft  schon  geschlossen,  wenn  die  Qualität 
des  Seyenden  für  absolut  einfach  erkannt  wird.  Ja  noch  mehr!  Wir  haben 
darauf  Verzicht  gethan,  die  wahre,  einfache  Qualität  jemals  im  Gegebenen 
zu  erkennen.  Gegeben  sind  Complexionen  von  Merkmalen;  diese  nennt 
man  Dinge.  Eine  solche  Complexion  sey  a,  b,  c,  so  setzen  wir  ihrent- 
wegen  die  Substanz  A;  allein  dieses  A,  in  Hinsicht  seiner  Qualität,  ist  un- 
bekannt. Wenn  nun  im  Gegebenen  sich  die  Veränderung  ereignet,  dafs 
aus  a,  b,  c,  jetzo  die  Complexion  a,  b,  d  wird :  wollen  wir  dann  sagen,, 
es  sey  in  der  Qualität    eine  Veränderung  vorgefallen?     Wir  können   diese 


2.  Abschnitt.    Ontologie.     5.  Capitel.    Von  der  Veränderung.  0,3 

Veränderung  wenigstens  nicht  angeben ;  die  Substanz,  welche  dieselbe  soll 
erlitten  haben,  ist  uns  jetzt  eben  so  unbekannt  als  vormals;  und  wir  sind 
zunächst  auf  einem   blofsen  Wechsel   in  der  Erscheinung  beschränkt. 

Nichtsdestoweniger  liegt  es  am  Tage,  dafs  sich  die  ganze  Position, 
worin  a,  b,  c  vereinigt  seyn  sollen,  sich  ändert,  wenn  statt  ihrer  a,  b,  d 
eintritt. 

Also   1.  Das   Gesetzte   in    der  Complexion   a,    b,    c   und    der  folgenden 
a,   b,   d,   ist  zweyerley,   wiewohl  beydes  unbekannt. 
2.  Das  erste  geht  über  ins  zweyte,  und  dieses  wird  aus  jenem. 

Das  Werden  des  Folgenden  aus  dem  ersten  würde  wegfallen,  wenn  die 
beyden  Complexionen  hiefsen:  a,  [152]  b,  c;  und  m,p,q.  Dann  hingen 
sie  nicht  zusammen.  Der  Faden  des  Zusammenhangs  liegt  in  dem  oder 
den  Merkmalen,  die  unverändert  bleiben.  Er  fordert  überdies,  dafs  wir 
nicht  etwan  veranlafst  werden,  das  Unveränderte  zweymal  zu  setzen.  Wohl 
könnten  sonst  auch,  wie  es  oft  genug  geschieht,  abc  und  abd  zwey  Dinge 
seyn,  die  wir  nur  neben  einander,  oder  tiach  einander  wahrnehmen.  Aber 
hier  liegt  eine  Frage,  mit  der  wir  die  Metaphysik  nicht  belästigen  dürfen; 
es  ist  nicht  ihre  Sache,  die  Kunst  der  Beobachtung  zu  lehren.  Taschen- 
spieler vermögen  uns  dahin  zu  bringen,  dafs  uns  Dinge  als  verwandelt  er- 
scheinen, die  man  bey  genauem  Besehen  als  zwey  verschiedene  erkennt. 
Wer  nun  glauben  möchte,  die  Natur  sey  eine  Taschenspielerin  im  Grofsen; 
sie  schiebe  unsern  Augen  unvermerkt  eins  fürs  andre  unter,  und  es  gebe 
keinen  Übergang  von  der  Knospe  zur  Blume,  von  der  Blume  zur  Frucht, 
sondern  unendlich  vielemal  verschwinde  der  Gegenstand,  den  augenblicklich 
ein  ganz  neuer,  beynahe  gleicher,  wiederum  ersetze:  —  was  sollten  wir 
dem  Ungläubigen  sagen?  Wir  würden  ihm  seinen  Glauben  so  lange  lassen 
müssen,  bis  er  bekennete,  scharf  und  anhaltend  genug  schauend,  aber  nicht 
denkend,  sich  endlich  überzeugt  zu  haben,  dafs  ungeachtet  der  allmähligen 
Veränderungen  ihm  dennoch  ein  identischer  Gegenstand  gegeben  sey,  den 
er,  in  Hinsicht  auf  die  gleichbleibenden  Merkmale,  eben  so  nothwendig 
als  stets  denselben  setzen  müsse,  wie  die  schwindenden  und  kommenden 
ihn  nöthigen,  die  Antwort  auf  die  Frage,  was  und  welcher  Art  ist  der 
Gegenstand?   fortwährend  abzuändern. 

Man  wird  sich  erinnern,  dafs  schon  oben  (§.  171 .),  die  Frage,  wie 
wir  dazu  kommen,  gegebene  Formen  der  Erfahrung  anzuerkennen1,  von  der 
Metaphysik  ist  hinweggewiesen  worden.  Der  Zwang,  den  uns  die  Er-[i53] 
fahrung  anthut,  ist  vorhanden;  dieses  sichere  Grund -Factum  ist  die  Basis 
der  Metaphysik. 

Hier  nun  zwingt  uns  nicht  blofs  die  Complexion  abc,  als  ein  ungetheiltes 
Ganzes,  und  als  eine  bestimmte  Hindeutung  aufs  Seyn,  irgend  ein  Reales 
zu  setzen:  sondern  derselbe  Zwang  beharrt  und  ändert  sich  zugleich  durch 
den  Übergang  des  abc  in  abd.  Das  Gesetzte  des  abd,  als  zweytes, 
angeknüpft  an  das  erste,  ist  kein  absolutes,  wie  jenes  ursprünglich  war. 
Wer  zuerst  Wasser  gekannt  hat,  und  dann  einmal  das  Eis  erblickt,  der  be- 
trachtet Eis  als  gefrornes  Wasser.  Hätte  er  zuerst  Eis  gekannt,  und  es 
dann  aufthauen  gesehen,  so  würde  er  sich  Wasser  vorstellen  als  geschmol- 

1  gegebene  Erfahrung  anzuerkennen.     S\V.      („Formen  der"  fehlt.) 


Q4  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

zenes  Eis.  Dieser  Unterschied  ist  aber  nicht  von  Bedeutung;  indem  die 
Erfahrung  selbst  in  solchen  Fällen  die  Reihen  häufig  umkehrt,  uns  Eis  und 
Wasser  abwechselnd  zeigt,  und  nicht  blofs  den  Saamen  aus  der  Blume, 
sondern  auch  die  Blume  wieder   aus  jenem  hervorgehen   läfst. 

Will  man  indessen  die  Sache  so  einfach  als  möglich  fassen,  so  kann 
man  sich  damit  begnügen,  abc  als  die  erste  Complexion,  abd  als  die 
zweyte  anzusehen.  Alsdann  stellt  jene  ein  Ding  als  seyend,  die  zweyte 
dasselbe  Ding  als  verändert  dar.  Insofern  wird  jenes  betrachtet  als  der 
Stoff,  aus  dem  etwas  werden  konnte,  dieses  als  der  nämliche  Stoff  mit 
veränderter  Form.  Hat  sich  nun  die  Reihe  in  der  Erfahrung  noch  nicht 
umgekehrt :  so  meint  Jeder  den  Stoff  recht  gut  zu  kennen.  Z.  B.  Woraus 
wird  Porzellan  gemacht?  Antwort:  aus  Tkon.  Nicht  eben  so  geläufig  ist 
die  Antwort  in  den  vorigen  Beyspielen.  Woraus  wird  Wasser  ?  Man  zwingt 
sich  wohl  zu  sagen,  ans  Eis ;  aber  lieber  hätte  sich  der  Gefragte  angeschickt,  zu 
antworten:  aus  Wasser  wird  Eis,  weil  diese  Reihenfolge  gewöhnlicher  ist. 
Bey  einiger  Überlegung  kommt  in  Fäl-[i54]len  dieser  Art  das  Bekenntnifs 
zum  Vorschein:  den  Stoff  kennen  wir  nicht.  Die  Veränderung  der  That- 
sache  wird  jedoch  nicht  bezweifelt ;  und  auch  wir  müssen  die  Identität  des 
Veränderten  als  eine  im  Gegebenen  hinreichend  bevestigte  Grundlage  der 


Untersuchung  ansehen. 


§.    229. 


Wir  haben  im  §.  227.  die  Veränderung  als  einen  widersprechenden 
Begriff;  alsdann  im  §.  228.  diesen  Begriff  als  gegeben  betrachtet.  Nun 
vergleiche  man  noch  den  §.  214,  und  versetze  sich  dann  auf  den  Stand- 
punct   der  dortigen   Untersuchung. 

Dort  sollte  blofs  die  Inhärenz  des  a  oder  b  in  A  gesetzt  werden. 
Daraus  wäre  geworden  A  =  a,  oder  A  =  b,  wenn  nicht  der  Unterschied, 
dafs  a  oder  b  blofs  als  inwohnend,  A  als  die  Wohnung  für  jene  gelten 
soll,  die   Gleichsetzung  verboten  hätte. 

Diesmal  findet  sich  dieselbe  Schwierigkeit;  nur  geschärft.  Die  Com- 
plexion abd  ist  gleich  und  auch  nicht  gleich  der  frühern  abc.  Man  möchte 
den  Widerspruch  gern  vermeiden  durch  die  Distinction:  die  Gleichheit 
liege  in  ab,  die  Ungleichheit  in1  c  und  d.  Aber  der  Ausweg  ist  gesperrt, 
denn  man  soll  nicht  theilen;  abc  ist  Ein  Ding,  und  abd  ist  dasselbe  Ding. 
Hier  mufs  die  Setzung  des  veränderten  Dinges  hineinfallen  in  die  des  alten ; 
gerade  wie  bey  der  Inhärenz;  es  kommt  nur  noch  der  Umstand  hinzu, 
dafs  beym  Hineinfallen  das  Gefäfs  nicht  still  hält.  Denn  indem  das  Merk- 
mal d  hinzukommt,  weicht  das  entgegengesetzte  c.  Um  desto  weniger  ge- 
lingt die  Gleichsetzung;  um  desto  offenbarer  ist  der  Widerspruch;  um  desto 
notwendiger  wird  es,  ihn  in  der  Wurzel  zu  zerstören. 

Schon  vorher,  ehe  die  Veränderung  eintrat,  war  wegen  der  Complexion 
abc,  die  wir  als  ungetheilt  betrach-[i55]ten,  irgend  ein  Reales  =  X  ge- 
setzt worden.  Dieses  kann  auf  keinen  Fall  den  Platz  einer  Folge  einnehmen, 
sondern,  wenn  eins  von  beyden  seyn  mufs,  so  gebührt  ihm,  als  dem 
schlechthin  gesetzten,  der  Rang  des  Grundes.   Jetzt  sollte  wegen  der  zweyten 

1  „in"  gesp  erit.     SW. 


2.  Abschnitt.     Ontologie.     5.  Capitel.     Von  der  Veränderung.  gc 

Complexion,  abd,  irgend  ein  anderes  Reales  =  Y  gesetzt  werden;  aber 
diese  Setzung  ist  nicht  schlechthin  zu  vollziehen,  sie  soll  sich  vielmehr  an- 
lehnen an  die  erste,  weil  das  Ding  noch  als  dasselbe  gegeben  ist.  Zu- 
sammenfallen sollte  sie  mit  der  ersten,  es  sollte  seyn  Y  =  X,  aber  die 
Position  ist  eine  andere,  ihr  Gesetztes  also  auch;  so  gewifs  c  nicht  =  d, 
und  folglich  abc  nicht  =  abd  ist.  Hiemit  ist  nun  die  Entscheidung  ge- 
hörig vorbereitet. 

Was  weiter  zu  thun  ist,  wissen  wir  vermöge  der  Methode.  X  wider- 
spricht sich  selbst,  indem  es  dem  Y  gleich  und  auch  nicht  gleich  seyn  soll. 
Es  ist  also  nicht  identisch,  sondern  es  ist  ein  Vielfaches.  Und  nur,  indem 
mehrere  X  zusammengefafst  werden,  kann  Y,  welches  in  keinem  Fall  ein 
Reales,  wohl  aber  die  Zusammenfassung  von  mehrern  Realen  seyn  konnte, 
daraus  hervorgehn. 

Hier  folgt  nun  noch  ein  ähnlicher  Zusatz,  wie  im  §.  218.  Denn  die 
Veränderung  thut  nicht  blofs  einen  Schritt;  sondern  das  Veränderliche 
durchläuft  viele  Stufen,  die  man  genau  genommen  nicht  zählen  kann.  Es 
mufs  also  X  nicht  blofs  einmal,  und  auf  einer  ley  Weise,  sondern  entweder 
vielemal,  oder  unter  vielen  näheren  Bestimmungen  vervielfältigt  werden.  Da- 
bey  darf  dann  nicht  eine  Zersplitterung  vorgeht,  ivobey  die  Einheit  des  ge- 
gebenen Dinges  sich  zerstreute,  sondern  der  Anfangspunct  aller  Vervielfältigungen 
bleibt  nur  Eitler ;  und  ein  X  ist  dasselbe  in  allen  Gruppen,  welche  anstatt 
seiner  sind  angenommen  worden.  Dieses  eine  [156]  ist  wiederum  Substanz, 
die  andern  sind  Ursachen;  wie  wir  diese  Be°;riffe  aus  dem  vorisren 
Capitel  schon  kennen.  Der  Unterschied  ist  nur,  dafs  hier  die  Ursachen 
successiv  kommen  und  gehen ;  denn  ihr  Zusammen  mit  der  Substanz  mufs 
sich  so  vielemal  ändern,  wie  oft  die  Erscheinung  sich  anders  und  wieder 
anders  darstellt.      So  weit  reicht  für  jetzt  die  Untersuchung. 

Und  jetzt  trit  jener  Satz :  bey  allem  Wechsel  der  Erscheinung  beharre 
die  Substanz,  in  sein  wahres  Recht.  Denn  jetzt  ist  die  Substanz  nicht  mehr, 
wie  vorhin,  ein  Wirthshaus  für  Fremde,  welche  aus  und  eingehn;  die  ganze 
Erscheinung  gehört  der  Substanz,  so  lange  sie  allein  steht,  gar  nicht  an; 
oder  mit  andern  Worten:  kein  Reales  ist  an  sich  Substanz;  sondern  wenn 
es  Erscheinungen  tragen  soll,  so  mufs  es  in  Gemeinschaft  mit  andern 
realen  Wesen  stehn;  und  wenn  die  Erscheinung  wechselt,  so  wechselt 
diese  Geineinschaft. 

Aber  worin  besteht  die  Gemeinschaft?  Das  ist  die  nämliche  Frage, 
auf  welche  das  Problem  der  Inhärenz  schon  geführt  hat.  An  ihr  wird 
nichts  verändert,  die  Gemeinschaft  beharre  nun,  oder  sie  wechsele.  Wir 
kommen  darauf  im  folgenden   Capitel. 

Eben  dahin  gehört  die  Frage,  ob  denn  der  Unterschied  des  Thuns 
und  Leidens  den  Ursachen  und  den  Substanzen  wirklich  zukomme?  Bis 
jetzt  war  von  einem  solchen  Unterschiede  noch  immer  nichts  zu  sehn; 
und  man  darf  nichts  übereilen.  Nur  die  Frage  mufs  vestgehalten  werden,, 
bis  sie  sich  löset. 

§•    230. 

Wenn  nun  der  Leser  dieses  Capitel  einer  unnützen  Weitläufigkeit  be- 
schuldigt :  so  ist  der  Vorwurf  insofern  fast  erwünscht,  als  er  Hoffnung  giebt, 


q6  I.   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1828. 

dafs  auch  das  [157]  Nachfolgende  werde  verstanden,  und  nicht  mit  fremd- 
artiger Meinung  vermengt  werden. 

Käme  es  blofs  auf  Resultate  an:  so  hätten  wir  allerdings  die  schon 
geschehene  Verbesserung  des  Begriffs  der  Substanz  hier  als  bekannt  voraus- 
setzen, und  alsdann  ganz  kurz  so  fortfahren  sollen;  man  erweitere  die  Unter- 
suchung über  inhärirende  simultane  Merkmale  auf  successive,  welche  offenbar 
eben  so  wohl  Ursachen  nöthig  haben  als  jene.  Fällt  in  der  Complexion  abc 
das  Merkmal  c  weg,  so  fallen  auch  die  deshalb  angenommenen  Ursachen  weg; 
trit  ein  neues  Merkmal  d  ein:  so  setze  man  dafür  neue  Ursachen.  Dabev 
würde  sich  ein  Satz  von  selbst  verstanden  haben,  den  wir  der  Sicherheit 
wegen  dennoch  aussprechen: 

Im    Causa Ibegriffe   liegt  gar  keine  Zeitbestimmung. 

Dieses  ist  eben  so  wahr,  wenn  wir  von  der  Veränderung  ausgehn,  als 
oben,  wo  wir  die  Inhärenz  zum  Grunde  der  Untersuchung  machten.  Die 
Zeitbestimmung,  dafs  vor  und  nach  der  Veränderung  ein  Ding  sich  selbst 
nicht  gleich  sey,  gehört  dem  Gegebenen;  aber  sie  ist  kein  Merkmal  des 
Verhältnisses  zwischen  Substanz  und  Ursache.  Auch  kann  sie  dem 
Widerspruche  nicht  abhelfen;  sie  fällt  heraus  als  unnütz,  sobald  ge- 
fragt wird  nach  dem  Begriffe,  den  man  sich  von  dem  Dinge  machen 
solle,  indem  die  Beobachtungen,  durch  die  es  gegeben  ist,  zusammen- 
gefafst  werden.  Die  frühem  und  die  spätem  Beobachtungen  haben 
gleich  viel  Anspruch  darauf,  zu  bestimmen,  zcas  für  ein  Ding  man  wahr- 
genommen habe. 

Sie  vertragen  sich  nicht  mit  einander;  und  dadurch  wird  unser  Denken 
über  das  Gegebene  hinaus  getrieben.  Wie  weit  sind  wir  denn  wohl  in 
diesem  [158]  Denken  vom  Gegebenen  abgewichen?  —  Wir  wollen  zurück- 
blicken! Zuvörderst,  wenn  man  ein  Gedankending,  die  Substanz,  welche 
im  Wechsel  beharrt,  in  das  Gegebene  einschiebt,  so  mufs  dies  Einschieben 
nicht  wie  ein  willkührliches  Denken,  auch  nicht  wie  ein  angeborner  Me- 
chanismus, dem  Gegebenen  Gewalt  anthun,  sondern  die  Gewalt  mufs  in 
der  Erfahrung,  die  Nachgiebigkeit  gegen  sie  aber  im  Denken  liegen,  wel- 
ches vollständig,  und  nicht  mit  halber  Besonnenheit,  den  nothwendigen 
Schritt  vollziehen  soll.  So  nun  ist  es  geschehen.  Den  Schritt,  das  Reale 
als  Substanz,  die  Substanz  aber  als  verbunden  mit  den  Ursachen  ihrer 
Accidenzen,  und  die  Verbindung  selbst  als  wechselnd  gemäfs  dem  Wechsel 
der  Erscheinung  zu  setzen,  diesen  Schritt  erzwingt  die  Verletzung  der 
Identität,  die  sich  im  Gegebenen  zeigt.  Darum  mufs  eingeräumt  werden, 
es  sey  von  Anfang  an  zuviel  scheinbare  Identität  in  der  Auffassung  gewesen. 
Das  Ding  mit  vielen  Merkmalen  schien  Ein  Ding  zu  seyn;  man  sah  nicht 
mehrere;  darum  setzte  man  nicht  mehrere.  Auch  das  veränderte  Ding 
schien  ungeachtet  der  Veränderung,  die  nur  einige  Merkmale  traf,  doch 
nur  Ein  Ding  zu  seyn;  man  sah  nicht  mehrere  Dinge,  sondern  nur  eine1 
Abweichung  in  den  Bestimmungen  dessen,  was  es  sey,  und  -woran  man 
es  erkennen  solle. 

Man  sah   nicht    mehrere,    darum    setzte    man    nicht    mehrere.      War    das 


1  sondern  nur  Abweichung.     SW.     („eine"  fehlt). 


2.  Abschnitt.     Ontologie.     5.   Capitel.     Von  der  Veränderung.  07 

ein  Fehler?  Hat  die  Erfahrung  getäuscht?  Mufs  man  sie  einer  Lüge 
beschuldigen?  Weit  entfernt,  uns  zu  täuschen,  macht  sie  uns  in  man- 
chen Fällen,  sofern  dies  im  Gebiet  der  Erscheinungen  geschehen  kann, 
sogar  mit  bestimmten  Ursachen  der  Veränderungen  bekannt.  Aber  auch 
in  den  andern  Fällen,  wo  wir  lediglich  die  Veränderung  beobachten,  kann 
man  doch  nichts  weiteres  ihr  zur  Last  legen,  als  nur  dies:  sie  unterlässt, 
uns  vollständig  zu  un-\l^\terrichten.  Das  oben  Angeführte  (§.  188.),  als 
wir  erinnerten  an  die  Doppelsterne,  die  das  blofse  Auge  für  einfach  hält, 
nicht  als  ob  es  versicherte,  sie  seyen  einfach;  nicht  als  ob  es  leugnete,  es 
seyen  Doppelsteme;  sondern  dergestalt,  dafs  es  nicht  mehr  sagt,  als  es 
weifs:  Dies  Beyspiel  kann  hier  zurückgerufen  werden.  Wir  ergänzen  nur 
die  Lücken  der  Erfahrung,  sobald  wir  dahin  gelangen,  die  Lücken  zu  sehen, 
die  freylich  das  gemeine  Auge  nicht  wahrnimmt.  Und  mit  künstlichen 
Hülfsmitteln  ausgerüstet  im  Beobachten  oder  im  Denken,  kommt  man  aller- 
dings weiter  als  die  Empiristen;  die  selbst  den  dringendsten  Aufforderungen, 
welche  ihre  Göttin,  die  Erfahrung,  an  sie  ergehen  läfst,  nicht  Folge  leisten. 
Unsere  ganze  Abweichung  vom  Gegebenen  war  ein  nöthiger  Zusatz;  indem 
wir  Ursachen  in  Gedanken  hinzuthun,  auch  wo  die  Erfahrung  uns  hiezu 
keinen  besondern  Wink  giebt.  Dabey  berichtigen  wir  unsre  Vorstellung  von 
der  Einheit  des  Dinges  mit  mehrern  simultanen  und  successiven  Merkmalen 
auf  eine  Weise,  wobey  von  der  gegebenen  Verbindung  dieser  Merkmale  nichts 
verloren  geht.  Unser  früherer  Streit  wider  die  Erfahrung  nimmt  also  ein 
ganz  friedliches  Ende;  und  was  von  diesem  Streite  anfangs  in  starken  Aus- 
drücken gesagt  war,  das  galt  nur  dem  Anfänger,  dessen  Nachdenken  zu 
wecken  nöthig  war. 

Wiewohl  aber  jene  Zeitbestimmung,  dafs  vor  und  nach  der  Veränderung 
das  Ding  sich  selbst  nicht  gleich  sey,  auf  dem  Causalbegriff,  der  lediglich 
vom  Xicht- gleich -Sern  abhängt,  keinen  Einfiufs  hat,  so  ist  doch  damit 
nicht  gesagt,  sie  sey  überhaupt  gleichgültig.  Vielmehr  beruht  auf  dieser 
Zeitbestimmung  die   ganze  Synechologie;    wie   sich    weiterhin    zeigen   wird. 

Es  wird  nämlich  die  Gemeinschaft  der  realen  Wesen,  die  wir  Sub- 
stanz und  Ursache  nannten,  jetzt  von  [160]  zwey  sehr  verschiedenen  Seiten 
Gegenstand  der  weiteren  Untersuchung.  Erstlich:  was  bedeutet  diese  Ge- 
meinschaft, dieses  Zusammen?  Was  geschieht  in  ihm?  Ändert  sich 
wirklich  die  Qualität  der  Substanz  durch  die  Ursache?  Oder  worin  liegt 
der  Grund,  dafs  wenigstens  für  uns  die  Erscheinung  sich  ändert?  Und 
was  ist  diese  Erscheinung?  Was  keifst  Ei  Schemen?  Welche  Bestimmungen 
des  Realen  liegen  da  verborgen,  wo  wir  meinen,  veränderliche  Dinge  zu 
erblicken  ? 

Diese  Fragen  enthalten  eine  Mischung  aus  Ontologie  und  Eidolologie; 
die  wir  absichtlich  hier  uns  erlauben,  damit  man  deren  Sonderung,  aber 
auch  deren  Zusammenhang,  als  nothwendig  vorempfinden  möge. 

Zweytens,  was  auch  die  Gemeinschaft  der  realen  Wesen  seyn  oder 
bedeuten,  oder  für  uns  zum  Schauspiel  darbieten  möge,  —  welches  ist  die 
Form  der  Zusammenfassung  im  Denken,  deren  wir  bedürfen,  um  die  Vor- 
stellung auszubilden:  dafs  Substanzen  und  Ursachen  bald  zusammen,  bald 
wieder  nicht  zusammen  seyen?  Diesen  Wechsel  des  Zusammen  und  Nicht- 
Zusammen  sollen  wir  ja  annehmen,    da  wir  aus   dem   Kommen    und  Gehen 

Herbart's  Werke  VIII.  7 


q8  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

der  Ursachen  den  Wechsel  der  Erscheinung  zu  erklären  haben.  Offenbar 
giebt  es  hier  ein  Früher  und  Später,  zwar  nicht  als  Prädicat  der  realen 
Wesen,  aber  ihrer  Gemeinschaft,  die  bald  vorhanden,  bald  getrennt  seyn 
soll.  Die  Zeitbestimmung  trifft  zwar  nicht  das,  was  Ist,  auch  nicht  das, 
was  in  Wahrheit  geschieht ;  aber  sie  beschränkt  sich  auch  nicht  auf  die  blofse 
Erscheinung,  sondern  sie  dringt  ein  bis  zu  dem  formalen,  an  sich  leeren, 
und  gleichwohl  unentbehrlichen  Begriffe  des  Kommens  und  Gehens,  und 
gleichsam  des  Verkehrs  zwischen  den  realen  Wesen,  die  sich  zu  einander 
wie  Ursache  und  Substanz  verhalten.  Dieser  formale  Gedanke  ist  der  [161] 
Stoff  der  Synechologie;  hier  aber  genügt  es,  seine  Verbindung  mit  der 
Ontologie  bemerklich  gemacht  zu  haben. 


Sechstes  Capitel. 
Vom  wirklichen  Geschehen. 

§•  231. 

Wer  zu  der  Pforte  dieses  Capitels  eingeht:  der  lasse  die  Hoffnung 
fahren,  dafs  er  sich  unter  Beybehaltung  seiner  angewohnten  Vorstellungs- 
arten die  Frage  vorlegen  dürfte:  was  thun  die  Ursachen?  um  darauf  zu 
antworten:   sie  bewirken    Veränderungen. 

Stehen  wir  vor  einer  Maschine,  derer  kunstreichster  Theil  verborgen 
ist:  so  suchen  wir  das  Geheimnifs  ihrer  Bewegungen  in  dem  unzugänglichen 
Innern.  Wird  nun  die  Hülle  weggenommen:  so  erblicken  wir  einen 
Mechanismus,  der  nach  bekannten  Bewegungsgesetzen  begreiflich  ist,  und 
unsre  Neugierde  findet  sich  befriedigt.  Denn  die  Ursachen  sind  nun  ent- 
deckt; ein  TJieil  der  Sinnenwelt  enthielt  den  Schlüssel  zu  den  Räthseln, 
die  in  einem  andern  Theile  der  nämlichen  Sinnenwelt  lagen.  Nach  diesem 
Gleichnisse  denken  sich  Manche  auch  das  Verhältniss  der  Metaphysik  zur 
sichtbaren  Natur.  Sie  meinen,  man  könne  mit  denselben  Begriffen  das 
wirkliche  Geschehen  erreichen,  welche  passen  auf  das  scheinbare  Wirken 
der  sinnlichen  Dinge.  Sie  vergessen,  dafs  sie  alsdann  gar  keine  Metaphysik, 
oder  noch  eine  zweyte  Metaphysik  nöthig  hätten.  Gar  keine,  wenn  die  Be- 
griffe gesund,  aber  eine  zweyte,  wenn  die  Begriffe  noch  mit  den  alten 
Krankheiten  behaftet  wären,  und  eben  so  wie  zuvor,  der  Verbesserung 
bedürften. 

[162]  Die  sinnlichen  Dinge  haben  ihre  inwohnenden,  veränderlichen 
Merkmale;  darum  sind  die  Begriffe  derselben  fehlerhaft.  Trägt  nun  Jemand 
diese  Fehler  in  die  wahren  Qualitäten  der  realen  Wesen  hinein,  so  ist 
nichts  verbessert,  sondern  die  alten  Schwierigkeiten  keimen  wieder  hervor. 
Das  ist  das  Schicksal  der  falschen  Systeme ;  und  darauf  gründen  sich  die  Mis- 
verständnisse  des  wahren,  von  dem  man  fordert,  es  solle  noch  die  alten 
bekannten  Meinungen  beherbergen.  Hilft  es  denn  etwas,  wenn  man  die 
gegebene  Sinnen  weit  durch  eine  andre  erdichtete  Sinnenweit  vermehrt? 

Wir  sollen  das  Zusammen  der  mehrern  M  bestimmen;  mit  diesem 
Geheifs  entliefs  uns  die  Methode  der  Beziehungen.    Wir  sollen  sagen,  was 


2.  Abschnitt.     Ontologie.     6.  Capitel.     Vom  wirklichen  Geschehen. 


das  Zusammen    der  realen  Wesen  bedeute?    Denn  darauf  war  sowohl  die 
Inhärenz,   als  die  Veränderung  zurückgeführt  (§.   214,   218,   229). 

So  viel  ist  nun  gewifs:  irgend  Etwas  mufs  geschehen,  was  weder  in 
Einem  realen  Wesen,  noch  in  der  blofsen  Vielheit  derselben,  so  lange  sie 
vereinzelt  ist,  seinen  Grund  hat.  Irgend  etwas  mufs  geschehen,  denn  gar 
Vieles  erscheint;  und  das  Erscheinen  liegt  nicht  im  Sey enden,  insofern 
wir  es  nach  seiner  einfachen  Qualität  betrachten.  Wenn  nichts  erschiene, 
so  würden  wir  in  der  Wissenschaft  nicht  einmal  bis  zum  Seyn  gelangen, 
vielmehr  gäbe  es  dann  gar  keine  Wissenschaft;  gesetzt  aber,  ein  Wunder 
hätte  uns  gerade  auf  den  Punct  gestellt,  wo  wir  eben  jetzt  stehen,  so 
würden  wir  von  hier  aus  auch  nicht  einen  einzigen  Schritt  weiter  vor- 
wärts gehen,  sondern  es  dabey  lassen,  dafs  die  realen  Wesen,  jedes  für 
sich,  und  Alle  insgesammt,  seyen,  was  sie  sind;  ohne  das  Mindeste  daran 
zu  rühren  und  zu  rücken.  Aber  derselbe  Schein,  welcher  uns  zwingt,  an- 
zunehmen, dafs  Etwas  ist  (§.  199.),  eben  [163]  dieser  treibt  uns  noch 
weiter;  er  treibt  vom  Seyn  zum  Geschehen. 

§•  252. 

Was  kann  denn  geschehen?  Die  Qualitäten  der  einfachen  Wesen  sind 
da;  was  kann  ihnen  nun  begegnen?  Oder  was  kann  außer  ihnen  begegnen? 
Gesetzt,  diese  beyden  Fragen  liefsen  sich  beantworten,  so  käme  nun  die 
dritte  an  die  Reihe,  nämlich,  wie  hängt  das,  was  begegnet,  zusammen 
mit  der  Erscheinung,  welche  zu  erklären  aufgegeben  war.  Diese  drey  Fra- 
gen liegen  in  Gedanken  weit  auseinander,  und  so  wesentlich  sie  auch  zu- 
sammengehören, so  sind  es  doch  drey  verschiedene  Arbeiten,  sie  zu 
beantworten. 

Wäre  es  recht,  wenn  man  das  Reale  so  darstellte,  als  ob  es,  so  ge- 
wifs es  ist,  sich  von  selbst  anfmachte,  um  das  vom  Seyn  verschiedene  Ge- 
schehen hervorzubringen,  wodurch  es  von  sich  abweichen  würde;  sich  zu 
äußern,  wodurch  es  aufser  sich  gesetzt  wäre;  sich  in  der  Erscheinung  zu 
offejibaren,    wodurch    es   vielmehr  eine   fremde  Gestalt    annehmen   würde?*) 

Im  wirklichen  Geschehen  kann  das  Seyende  weder  von  sich  abweichen, 
noch  sich  äufsern,  noch  erscheinen.  Das  Alles  wäre  nichts  als  Entfremdung 
semer  selbst  von  innen  heraus;  also  der  Ursprung  dieser  Entfremdung 
wäre  innerer  Widerspruch;  und  dessen  sollen  wir  es  nicht  beschuldigen, 
sondern  es  dagegen  vertheidigen. 

Hinweg  also  von  den  einfachen  Qualitäten!  Wir  dürfen  sie  gar  nicht 
antasten.  Sie  können  mit  dem,  was  geschieht,  nur  mittelbar  zusammen- 
hängen. Sie  können,  indem  Etwas  geschieht,  weder  wachsen  noch  [164] 
abnehmen.  Von  jenem  Satze:  bey  allem  Wechsel  der  Erscheinung  bcharrt 
die  Subslanz,  sollte  die  Fortsetzung  so  lauten:  und  weder  ihre  Qualität 
noch  ihre   Quantität   wird  von   dem    Wechsel  ergriffen. 

Lange  schon  liegt  dasjenige  bereit,  wohin  wir  anstatt  der  währen  und 
eigentlichen  Qualitäten  uns  zu  wenden  haben.  Es  sind  die  zufälligen  An- 
sichten (§.   211,   212). 


*)  Mau  blicke  zurück  auf  §.   71.  im  ersten  Theile. 


joo  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Fassen  wir  zwey  Wesen,  A  und  B  zusammen:  so  ergeben  ihre  ein- 
fachen Qualitäten  eine  blofse  Summe,  aus  der  eben  so  wenig  etwas  Weiteres 
wird,  als  aus  jenen  einfachen  Richtungen  der  Schwere  und  des  Gegen- 
drucks einer  schiefen  Fläche.  Aber  ihre  zufälligen  Ansichten  lassen  sich 
betrachten  als  solche,  die  in  einander  greifen. 

Es  sey  A  =  a  -\-  fi  -f-  y,  und  B  =  m  -\-  n  —  7.  Diese  Zer- 
legung ist  so  gewählt,  dafs  sie  andeutet,  es  verhalte  sich  irgend  etwas  in 
den  Qualitäten,  wie  Ja  und  Nein.  Ein  solches  Verhältnifs  der  Begriffe 
hann  hier  eben  so  gut  angenommen  werden,  als  es  factisch  statt  findet 
in  den  einfachen  Empfindungen  Roth  und  Blau,  oder  eis  und  gis.  Diese 
Farben  und  diese  Töne,  blofs  als  Empfindungen,  oder  noch  besser,  blofs 
als  Empfundenes  betrachtet,  sind  vollkommen  eben  so  einfach,  wie  man 
sich  die  Qualitäten  denken  mufs.  Keins  besteht  aus  Theilen;  aber  jedes, 
verglichen  mit  dem  andern,  erlaubt  die  Unterscheidung  —  nur  nicht  die 
Trennung,  —  dessen,  was  dem  andern  gleich  und  entgegen  sey.  Zu- 
verlässig ist  Blau  dem  Rothen  mehr  entgegen  als  Violett.  Eben  so  gewifs 
ist  gis  dem  eis  weniger  entgegen  als  a,  und  mehr  als  g.  So  nun  sollen 
die  Qualitäten  A  und  B  gedacht  werden,  dafs  dem  A  irgend  ein  drittes  C 
mehr  oder  weniger  entgegen  seyn  könnte  als  B;  und  dafs  zwischen  A 
und  M  oder  N  eine  [165]  ganz  andre  Art  des  Gegensatzes  statt  finden 
könne,  als  zwischen  A  und  B.  Wasserstoff  ist  dem  Sauerstoff,  aber  auch 
dem  Chlor  und  dem  Stickstoff  entgegen;  diese  Gegensätze  können  sowohl 
nach  Beschaffenheit  als  Gröfse  verschieden  seyn. 

Was  geschieht  denn  nun?  —  Diese  Frage  kommt  noch  immer  zu 
früh.  Denn  bis  jetzt  haben  wir  nur  Begriffe  zusammengefafst.  Wir  müssen 
hier,  in  der  Wissenschaft  einen  Procefs  des  Denkens  durchführen.  Aber 
wir  halten  nicht  alle  unsre  Gedanken,  deren  wir  dazu  bedürfen,  für  un- 
mittelbare Ausdrücke  des  Realen.  Wir  müssen  ja  sogar  das  Reale  jedesmal 
durch  zwey  Begriffe  denken;  durch  den  der  Qualität  und  den  des  Seyn; 
dennoch  fällt  es  uns  nicht  ein,  dies  für  eine  wirkliche  Zweyheit  in  dem 
Realen  zu  halten.  Wir  wissen  vielmehr  sehr  gut,  dafs  unser  Begriff  des 
Seyn  blofs  unsre  Art  des  Setzens  bezeichnet  (§.  204);  und  dafs  dieser 
Begriff  nur  dazu  dient,  um  das  Setzen  der  Qualität  gegen  den  Vorbehalt 
des  Zurücknehmens  zu  schützen. 

Was  nun  die  Begriffe  «  +  ß  -f-  y  und  m  +  n  —  y  zusammen- 
genommen ergeben:  das  liegt  vor  Augen.  Das  Entgegengesetzte  hebt  sich 
auf  und  verschwindet;  es  bleibt  «  -f-  ß  -\-  m  -f-  n.  Diese  Zeichen  besagen, 
dafs,  wenn  die  zusammengefafsten,  zum  Theil  entgegengesetzten,  zufälligen 
Ansichten  als  blofse  Begriffe  betrachtet  werden,  nur  diejenigen  Theile 
übrig  bleiben,  welche  vom  Gegensatze  nicht  getroffen  werden.  Dafs  wir 
aber  hiemit  noch  nicht  am  Ende  sind,  sieht  der  aufmerksame  Leser  ohne 
Zweifel  von  selbst. 

§•  233. 

Weit  entfernt,  zu  eilen,  wollen  wir  uns  hier  durch  einen  möglichen 
Einwurf  aufhalten,  der  zwar  nicht  durchaus  nothwendig  berücksichtigt 
werden  mufs,  aber  dien-[i66]lich  seyn  kann,  um  dem  Puncte,  bey  dem 
wir  stehen,  mehr  Nachdenken  zuzuwenden. 


2.  Abschnitt.     Ontotogie.     6.  Capitel.    Vom  wirklichen  Geschehen.  iqi 


Es  kann  Bedenken  erregen,  dafs  wir  B  =  m  -|-  n  —  y  gesetzt, 
also  in  die  zufällige  Ansicht  eines  realen  Wesens  eine  Negation  aufgenommen 
haben.  Die  Ansicht  sey  zufällig,  aber  sie  mufs  doch  wahr  seyn;  sie  soll 
einem  durchaus  positiven  Begriffe  gleich  gelten  (§.  211 ).  Beym  Zusammen- 
fassen des  m  -f-  n  mit  dem  —  y  mufs  also  dieses  Negative  verschwinden. 
Folglich  wird  schon  in  m  -j-  n  ein  -|-  y  versteckt  liegen.  Aber  dann 
ist  die  zufällige  Ansicht  illusorisch.  Man  könnte  aus  ihr  beydes,  sowohl 
-f-  y  als  —  y  wegstreichen;  was  übrig  bliebe,  das  würde  für  sich  allein 
die  wahre  Qualität  von  B  ergeben.  Dann  wäre  aber  die  Zusammenfassung 
mit  A  =  u  -\-  ß  -\~  y  ganz  unnütz.  In  A  würde  nichts  aufgehoben, 
weil   —   y  schon   ohnehin  verschwunden  wäre. 

Die  Antwort  könnte  ganz  einfach  darin  bestehn,  dafs  die  zufälligen 
Ansichten  auf  der  Vergleichung  zwischen  A  und  B  beruhen,  und  nur  relativ 
gültig  seyn  sollen.  Demnach  bedeuten  hier  die  Zeichen  -|-  y  und  —  y 
nicht  nothwendig  zwey  solche  Begriffe,  von  denen  der  eine  nur  positiv, 
der  andre  nur  negativ  zu  fassen  wäre.  Sondern  es  reicht  zu,  wenn  man 
sich  vorstellt,  hier  sey  dasselbe  Verhältnifs,  wie  bey  entgegengesetzten 
Richtungen.  Wenn  positive  und  negative  Abscissen  und  Ordinaten  unter- 
schieden werden  sollen,  so  pflegt  man  die  Abscissen  rechtshin  als  positiv 
zu  betrachten,  und  eben  so  die  Ordinaten,  welche  sich  nach  oben  kehren; 
dann  gehn  die  negativen  Abscissen  links  hin,  und  die  verneinten  Ordinaten 
senken  sich  von  der  Abscissenlinie  herunter.  Aber  Jedermann  weifs,  dafs 
diese  Betrachtungsart  rein  willkührlich  ist.  Vollkommen  eben  so  gut 
können  die  sinkenden  Ordinaten  und  die  links  laufenden  Abscissen  als 
die  positiven  betrachtet  werden;  der  Ge-[i67]gensatz  ist  lediglich  relativ. 
Wenn  nun  dies  auch  bey  -f-  y  und  —  y  Stattfindet:  so  ist  nicht  daran 
zu  denken,  dafs  in  m  -j-  n  etwas  liegen  müfste,  wodurch  —  y  aufgehoben 
würde;   und   der  ganze   Einwurf  verschwindet  von  selbst. 

Man  vergleiche  dies  mit  den  Beyspielen.  Auf  die  Zerlegung  der 
Kräfte  in  der  Mechanik  pafst  unmittelbar  das  Gesagte;  denn  sie  ist  eigent- 
lich eine  Zerlegung  von  Richtungen.  Aber  nicht  minder  Anwendung  fin- 
det es  auf  den  Gegensatz  einfacher  Töne  oder  Farben.  Meint  man,  in 
dem  Tone  eis,  oder  in  dem  Tone  gis,  stecke  etwas  an  sich  Negatives?'* 
In  welchem  von  beyden  sollte  es  doch  stecken?  Man  hat  die  Wahl;  je- 
der von  beyden  kann  mit  gleicher  Leichtigkeit  angesehen  werden  als  der- 
jenige, der  von  dem  andern  in  gewissem  Grade  abweicht.  Geht  man  von 
eis  zu  gis  durch  alle  Mitteltöne:  so  wächst  der  Gegensatz  gegen  eis.  Aber 
geht  man  von  gis  nach  eis,  wiederum  durch  die  Mitteltöne:  so  wächst 
der  Gegensatz  auch;  nämlich  der  gegen  gis.  Wir  haben  nun  schon  gesagt, 
dafs  man  dies  Verhältnifs  zweyer  Töne  als  das  allernächste  Gleichnifs  für 
das  Verhalten  zweyer  realen  Wesen,  in  Hinsicht  des  Gegensatzes  ihrer 
Qualitäten,  nehmen  soll;  daher  soll  man  auch  jeden  Einwurf,  der  sich 
darbieten  könnte,  zuerst  an  diesem  Beyspiele  versuchen;  verschwindet  er 
hier,  so  ist  er  überhaupt  nichtig  und  widerlegt. 

Aber  es  ist  nicht  einmal  nöthig,  dafs  wir  auf  solchem  Wege  dem  zuvor 
aufgestellten  Einwurfe  zu  entgehen  suchen.  Dem  Mathematiker  werden 
sogleich  zufällige  Ansichten  einfallen,  in  welchen  ganz  ausdrücklich  zwey 
Theile  sich   aufheben,   und   die  dennoch  brauchbar  sind.    Wenn  statt  x  in 


102  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

der  Rechnung  1  -J-  x  —  1  gesetzt  wird,  *)  so  kommt  es  nur  darauf  an, 
dafs  man  [168]  die  Gröfse  1  -|-  x,  oder  auch  die  Gröfse  x  —  1  zusammen- 
fasse; und  man  wird  sogleich  ein  Binomium  haben,  dessen  Potenzen  nach 
dem  binomischen  Satze  entwickelt  eine  nach  den  Umständen  anwendbare 
Form  darbieten.  Freylich  mufs  man  nicht  eine  zufällige  Ansicht  so  bilden, 
wie:  ein  Thaler,  plus  dem  Tone  eis,  minus  einem  Thaler.  Und  warum 
nicht?  Weil  hier  der  Ton  mit  der  Münze  nicht  kann  zusammengefafst 
werden,  sondern  das  Ent^eeeno-esetzte  sich  nur  eins  Q:e2:en  das  andre 
kehren  kann,   um  zu  verschwinden. 

Wollte  man  sagen,  Zahlenbeyspiele  seyen  dem  wirklichen  Geschehen 
zu  fremd:  so  erinnern  wir  wiederum  an  die  Mechanik.  Auch  in  ihr  giebt 
es  zufällige  Ansichten,  die  nicht  blofs  brauchbar,  sondern  am  rechten 
Orte  nothwendig  sind,  obgleich  sie  sich  zum  Theil  selbst  zerstören.  Das 
geschieht  bey  allen  Zerlegungen  der  Kräfte  unter  stumpfen  Winkeln. 
Denn  so  wie  unter  spitzen  Winkeln  jedesmal  eine  Zusammenwirkung,  so 
ergiebt  sich  unter  jenen  die  Möglichkeit,  durch  neue  Zerlegung  solche 
Theile  abzusondern,  die  einander  völlig  entgegenstehn  und  sich  aufheben. 
Und  dennoch  wird  oft  genug  Eine  Kraft  in  zwey  solche  zerfället,  die 
einen  stumpfen  Winkel  einschliefsen.  Z.  B.  ein  Balken  stehe  angelehnt 
an  einer  senkrechten  Wand;  man  will  seinen  Druck  gegen  den  Boden 
und  gegen  die  Mauer  wissen.  Hier  sind  zwey  Ruhepuncte;  jeder  sollte 
die  Hälfte  des  Gewichts  tragen;  aber  in  dem  Ruhepuncte  an  der  Mauer 
widersteht  nur  der  horizontale  Gegendruck  der  senkrechten  Wand,  in 
Verbindung  mit  dem  schräg  längs  dem  Balken  aufwärts  wirkenden  Boden. 
Nach  bevden  Richtungen  hin  mufs  das  halbe  Gewicht  zerlest  werden. 
Hier  scheint  es  sich  in  zwey  Kräfte  zu  verwandeln,  die  [169]  zusammen 
gröfser  sind  als  das  Ganze:  und  doch  ist  die  Rechnung  ganz  richtig, 
denn  der  Balken  wirkt  zwiefach;  sein  ganzes  Gewicht  trägt  der  Boden, 
und  seiner  Umdrehung  widersteht  noch  überdies  die  Mauer,  nebst  der 
Widerlage  am  Boden. 

Solche  Beyspiele  können  Jeden  warnen,  der  es  etwa  versuchen  möchte, 
den  zufälligen  Ansichten  zu  enge  Gränzen  vorzuschreiben. 

§•   234- 

In  Begriffen,  sagten  wir,  bleibe,  von  den  zufälligen  Ansichten  a  -f-  ß 
-j-  y  und  m  -)-  n  —  y  nur  übrig  «  -\-  ß  -\-  m  -|-  n.  War  es  denn 
wohl  unsre  Meinung,  dafs  diese  Begriffe,  in  dieser  Gestalt,  das  wirkliche 
Geschehen  ausdrücken  sollten? 

Die  Theile,  oder  besser  die  Glieder  der  zufälligen  Ansichten  wären 
dann  wirkliche  Theile  der  Wesen.  Man  könnte  einige  Theile  davon 
wegnehmen;  die  andern  würden  zurückbleiben. 

Nun  hat  aber  die  wahre  Qualität  der  Wesen  gar  keine  Theile.  Man 
kann  also  nur  das  Ganze  wegnehmen,  oder  gar  Nichts. 

Sollten  denn  wohl  ein  paar  Wesen  sich  so  verhalten  können,  dafs 
sie  sich  gegenseitig  ganz  aufhöben? 


*)  Man  sehe  z.  B.  Klügeis  mathematisches  Wörterbuch,   Theil  3,  S.   561;  wo  so- 
gar der  Ausdruck  [(1  -j- a —  i)n]j^,    als    gebraucht   von    La  Grange,    angeführt   wird. 


2.  Abschnitt.     Ontologie.     6.   Capitel.     Vom  wirklichen  Geschehen.  1 03 

Da  wäre  entweder  eins  positiv,  und  das  andre  das  Negative  dieser 
Position,  folglich  das  letztere  kein  Wesen  (§.  206).  Oder  beyde  wären 
sogar  nur  gegenseitige  Verneinungen,  also  keins  ursprünglich  positiv,  was 
von  realen  Wesen   zu  behaupten  noch  ungereimter  seyn  würde. 

Es  ist  also  gewifs,  dafs  sich  die  Wesen  A  und  B  weder  ganz  noch 
zum  Theil  aufheben. 

Demnach  wird  man  wohl  sich  hüten  müssen,  ihre  Begriffe  einander 
zu  nahe  zu  rücken?  Jenes  zusammenfassende  Denken  war  vielleicht  ein 
falsches  Den-[i  7o]ken;  da  es  uns  die  Wesen  so  darstellte,  als  ob  sich 
in  ihnen  etwas  gegenseitig  aufhöbe? 

Wohlan  denn!  wir  wollen  ihre  Begriffe  wiederum  trennen!  Um  so 
mehr,  da  nichts  gewisser  und  klärer  seyn  kann,  als  dies,  dafs  zwey  Wesen, 
jedes  real,  jedes  absolut  gesetzt,  an  keine  gegenseitige  Beziehung  irgendwie 
gebunden  sind.  Sie  können  ohne  allen  Zweifel  dergestalt  selbstständig  und 
gesondert  verharren,  dafs  unsre  ganze  Entgegensetzung  ihrer  zufälligen 
Ansichten  ein  leerer  Gedanke  wird,  der  in  Ansehung  ihrer  selbst  nicht 
das  Geringste  bedeutet. 

So  wahr  nun  dieses  ist:  eben  so  wahr  ist  es  auf  der  andern  Seite, 
dafs  wir  vorhin,  da  wir  sie  zusammenfafsten,  keinesweges  in  einem  will- 
kührlichen  und  leeren  Denken  beschäftigt  waren.  Wir  sollten  und  mufsten 
sie  zusammenfassen ;  auf  das  Gebot  der  Erscheinung!  In  der  Erscheinung 
finden  sich  Inhärenz  und  Veränderung;   wir  wissen,   was  daraus  folgt. 

Wir  fassen  sie  also  wiederum  zusammen,  obgleich  wir  dies  als  etwas 
den  Wesen  ganz  zufälliges  betrachten,  dafs  sie  zusammen  sind.  Nun 
sollte  sich  ihr  Entgegengesetztes  aufheben.  Aber  es  hebt  sich  nicht  auf, 
denn  es  ist  auf  keine  Weise  für  sich;  nur  in  unauflöslicher  Verbindung 
mit  dem,  was  nicht  im  Gegensatze  befangen  ist,  gehört  es  zu  einem 
wahren  Ausdrucke  der  Qualität  dieser  Wesen.  Sie  bestehen  in  der  Lage, 
worin  sie  sich  befinden,   wider  einander;   ihr  Zustand  ist    Widerstand. 

Wir  könnten  mit  einem  sinnlichen  Gleichnisse  nun  auch  sagen,  was  sie 
thun.  Nämlich  sie  drücken  einander.  Denn  in  der  Sinnenwelt  finden  wir  den 
Widerstand  im  Drucke,  wo  keins  nachgiebt,  obgleich  jedes  sich  bewegen  sollte. 

Druck  ist  Ruhe,  durch  gegenseitiges  Bestehen  vor  einander. 

[171]  Allein  jedes  sinnliche  Gleichnifs  ist  hier  gefährlich.  Von  Raum- 
verhältnissen ist  noch  gar  nicht  die  Rede;  und  man  darf  sie  hier  um  desto 
weniger  einmischen,  je  nöthiger  es  künftig  werden  wird,  sie  gesetzmäfsig, 
und  ganz  anders  gestaltet,  in  diese  Untersuchung  einzuführen. 

Hier  ist  blofs  von  einer  Abänderung  der  Qualität  die  Rede,  die 
jedes  zwar  von  dem  andern  erleiden  sollte,  aber  wogegen  es  sich  erhält 
als  das,  was  es  ist.  Störung  sollte  erfolgen;  Selbsterhaltung  hebt  die  Stö- 
rung auf,   dergestalt,   dafs  sie  gar  nicht  eintrit. 

§•   235. 

Dies  nun  ist  die  ausführliche  Deduction  der  Lehre  vom  wirklichen 
Geschehen,  oder  von  der  wahren  Causalität ;  deren  frühere  kürzere  Dar- 
stellungen man  mit  den  Waffen  der  Vorurtheile  bestritten  hat,  und  noch 
lange  bestreiten  wird. 

Widerstand,    hat  man  gesagt,    ist  schon  Product  von  Kräften.      „Erst 


J04  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


müssen  Kräfte  wirken ;  dann  wird  ihnen  durch  andre  Kräfte  zviderslanden." 
So  redet  man,  um  sich  hintennach  über  den  Widerstand  der  sogenannten 
Trägheit  der  Körper  zu  wundern,  die  man  für  eine  Kraft  hält,  weil  sie 
widersteht;  deren  Maafs  und  Gränze  man  aber  nicht  finden  kann,  indem 
sie  jederzeit  sich  nach  der  Stärke  des  Confiicts  unter  den  Körpern  richtet. 
Es  ist  nämlich  nach  den  gemeinen  Erfahrungsbegriflen  ein  Cirkel  vorhanden, 
worin  die  Begriffe  sich  drehen.  Widerstand  soll  aus  Kräften  entstehen; 
aber  fragt  man:  was  ist  Kraft?  so  erfolgt  die  Antwort:  Kraft  ist  das,  was 
den  Widerstand  überwindet.  Denn  in  der  andern  Erklärung:  Kraft  ist,  was 
den  Zustand  eines  Dinges  zu  ändern  strebt,  enthält  das  Wort  streben  schon 
die  Voraussetzung  der  Anstrengung  gegen  den  [172]  Widerstand.  Das  Maafs 
der  Kraft,  die  in  Thätigkeit  gesetzt  worden,  wird  mehr  in  dem  überwundenen 
Hindemifs,   als  in  der  Wirkung  gesucht. 

Wir  haben  so  eben  gezeigt,  dafs  es  der  innere  Gegensatz  in  den  Quali- 
täten je  zweyer  Wesen  ist,  welchem  beyde  zugleich  widerstehen.  Mit  dem, 
was  man  gewöhnlich  Kraft  nennt,  hat  dieser  Gegensatz  keine  Ähnlichkeit. 
Denn  hier  ist  kein  Angriff  von  einer  Seite,  kein  Leidendes  gegenüber  dem 
Thätigen ;  nichts,  was  darauf  ausginge,  Veränderungen  hervorzubringen.  Der 
Gegensatz  ist  zwischen   beydcn ;  nicht  aber  in  Einem   von   beyden. 

„Aber  so  geschieht  ja  gar  Nichts!  Alles  bleibt  ja  wie  es  ist!  Wie  kann 
denn  da  etwas  geschehen,  wo  das  Reale  lediglich  sich  selbst  gleich  bleibt?'1  So 
redet  man,  weil  man  mit  vollen  Segeln  in  den  Abgrund  hineinfahren  will, 
den  man  vermeiden  soll. 

Wir  haben  vorausgesagt,  dafs  für  das  Seyende,  in  Hinsicht  dessen,  was 
es  ist,  nicht  das  Geringste  verändert  werden  darf.  Es  wäre  die  vollkommenste 
Probe  einer  Irrlehre,  wenn  das,  was  wir  Geschehen  nennen,  sich  irgend 
eine  Bedeutung  im  Gebiete  des  Seyenden  anmaafste. 

Was  würde  es  helfen,  wenn  wir  uns  auf  Einwürfe,  worin  ein  gänzliches 
Verkennen  dessen,  was  der  Metaphysik  Noth  thut.  sich  zeigt,  noch  weiter 
einliefsen?    Besser  ist's,  die  Quelle  anzugeben,  woraus  sie  fliefsen. 

Der  Mensch  lebt  in  unaufhörlicher  Verwechselung  der  beyden  ver- 
schiedenen Gebiete  des  Sejms  und  des  Geschehens.  Keins  von  beyden 
ist  uns  so  zugänglich,  dafs  wir  es  mit  unmittelbarer,  freyer  Beobachtung 
erreichen  könnten.  Unser  Empfinden  ist  das  einzige  ursprüngliche  Geschehen, 
dessen  wir  inne  werden;  aber  wie  dies  geschieht,  sagt  uns  keine  Erfahrung: 
es  ist  [173]  den  Hypothesen  vom  physischen  Einfluß  und  von  der  prä- 
stabilirten  Harmonie  Preis  gegeben.  Vom  eigentlichen  Realen  weifs  der  ge- 
wöhnliche Mensch  vollends  nichts.  Die  Erscheinungen,  die  er  real  nennt, 
liegen  mitten  im  Wechsel;  daher  hat  er  keinen  andern  Erfahrungsbegriff 
vom  Geschehen,  als  diesen,  es  sey  eine  Abänderung  in  dem,  was  ist.  Bil- 
det sich  doch  der  Mensch  sogar  ein,  die  Bewegung  sey  ein  Geschehen;  und 
es  seyen  wahre  Veränderungen  der  Dinge,  wenn  sie  aus  Ruhe  in  Bewegung 
übergehn,  oder  umgekehrt;  obgleich  hier  die  Erfahrung  selbst  warnt  und 
zeigt,  dafs  ein  bewegter  Körper,  so  lange  er  nicht  zerstofsen  wird,  oder 
sonst  Gewalt  leidet,  an  jeder  Stelle  noch  der  nämliche  ist  und  bleibt,  den 
man  in  der  Ruhe  kennen  lernte. 

Dafs  nun  die  Begriffe  des  Seyn  und  Geschehens  völlig  incommensurabel 
sind,  dafs  sie  eben  so  wenig  in  eine  Summe  zusammenpassen,  wie  ein  Kör- 


2.  Abschnitt.    Ontologie.     b.  Capitel.    Vom  wirklichen  Geschehen.  iqc 

per  und  seine  Oberfläche,  oder  wie  Fläche  und  Linie;  dafs  es  im  Reiche 
des  Seyn  gar  keine  Ereignisse  giebt,  noch  geben  kann;  dafs  alle  Triebe 
und  Tendenzen,  alle  realen  und  idealen  Thätigkeiten,  alle  Einbildungen  und 
Rückbildungen,  wodurch  das  Reale  Formen  annehmen  soll,  die  es  nicht 
hat,  immer  nur  den  am  Sinnlichen  vestklebenden  Geist  verrathen,  der 
sich  noch  nicht  im  metaphysischen  Denken  orientirt  hat;  dies  und  vieles 
Andere  wird  vermuthlich  noch  lange  paradox  klingen;  weil  keine  philo- 
sophische Schule,  ausgenommen  die  der  Eleaten,  etwas  gelehrt  hat  vom 
reinen  Seyn;  vielmehr  überall  da,  wo  man  davon  zu  reden  glaubte,  der 
Standpunct  der  Betrachtung  schon  im  Gebiete  des  Geschehens,  ja  nicht 
einmal  des  ursprünglichen  Geschehens  lag,  wovon  wir  hier  sprechen,  sondern 
noch  weiterhin,  wo  das  Geschehen  solche  Modificationen  empfängt,  die  auf 
den   Unterschied  zwischen    Geist  und   Materie  hinweisen. 

[174]  In  der  Psychologie  ist  gezeigt,  wieviel  daran  fehlt,  dafs  das  Ich 
ein  Reales  seyn  könnte.  Und  dennoch,  als  Fichte  von  dem  Ich,  als  von 
dem  letzten  Anker  der  Gewifsheit,  und  vom  einzigen  wahren  Realen  redete, 
wer  unter  den  Zeitgenossen  hat  ihm  in  dem  Puncte  widersprochen,  worauf 
es  ankam?  Man  war  mit  ihm  gemeinschaftlich  von  der  Realität  des  Ich 
überzeugt;  nur  sollte  es  nicht  das  einzige  Reale  seyn.  Und  späterhin,  als 
man  das  Ich  überstieg,  sollte  wenigstens  Geistiges  und  Natürliches  un- 
mittelbar die  zwey  Seiten  darbieten,  welche  das  Absolute  theils  dem  trans- 
scendentalen  Idealismus,  theils  der  Naturphilosophie  zur  Untersuchung  an- 
weise. Aber  das  hiefs  eben  so  wenig  untersuchen,  als  wenn  wir  die  Psy- 
chologie hätten  gründen  wollen  auf  die  Voraussetzung  eines  Geistes,  dessen 
wahre  Qualität  darin  bestehe,  sich  Vernunft  und  einen  Leib  zuzuschreiben, 
und  nach  diesen  beyden  Richtungen  hin  sich  mehr  und  mehr  zu  entwickeln 
aus  ursprünglichem  Triebe.  Leicht  hätten  sich  auf  diese  Weise  die  Vor- 
räthe  der  alten  Psychologie  und  Physiologie  mit  neuem  Kitt  zusammen- 
kleben lassen;  ohne  irgend  Jemandem,  mit  Hemmungssummen,  mit  Ver- 
schmelzungshülfen,  mit  statischen  und  mechanischen  Schwellen,  beschwerlich 
zu  fallen.  Sehr  wohlfeilen  Kaufs  wären  wir  zu  einer  Psychologie  gekommen, 
die  vortrefflich  zu  den  Vorurtheilen  des  Zeitalters  gepafst  hätte.  Statt  dessen 
mufste  pflichtmäfsig  das  erste  Ereignifs  des  Bewufstseyns,  das  Empfinden, 
als  eine  Selbsterhaltung  der  Seele  dargestellt,  und  hiemit  Psychologie  in  die 
richtige  Verbindung  mit  der  allgemeinen  Metaphysik  gesetzt  werden.  Wenn 
es  aber  jetzt  noch  schwer  scheinen  sollte,  beyde  Wissenschaften  gehörig 
zu  verknüpfen,  so  liegt  es  daran,  dafs  die  Lehre  von  der  Materie  noch 
fehlt,  welche,  wie  sich  nun  bald  zeigen  wird,  [175]  mit  der  vom  geistigen 
Leben  aus  Einem  Stamme  hervorgeht. 

§•   236. 

Das  wirkliche  Geschehen  ist  infolge  obiger  Beweise  nichts  anderes  als 
ein  Bestehen  wider  eine  Negation.  Da  nun  die  Negation  in  dem  Ver- 
hältnisse der  Qualitäten  je  zweyer  Wesen  liegt,  so  geschieht  stets  zweyerley 
zugleich;   A  erhält  sich  als  A,   und   B  erhält  sich  als   B. 

Jede  von  diesen  Selbsterhaltungen  denken  wir  durch  doppelte  Ne- 
gation; welche  unstreitig  der  Affirmation  dessen,  was  jedes  Wesen  an  sich 
ist,  völlig  gleich  gilt.    Allein  diese  doppelte  Negation  ist  dennoch  unendlich 


io5  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


vieler  Unterschiede  fähig.  Gesetzt,  mit  A  =>  a  -|"  ß  +  7  sey  zusammen 
C  ==  p  -\-  q  —  ß:  so  wird  auch  jetzt  A  sich  selbst  erhalten;  aber  nun- 
mehr wird  nicht  y,  sondern  ß  die  Art  und  Weise  bestimmen,  wie  es  sich 
erhält.  Der  Gegensatz  zwischen  A  und  C  ist  ein  andrer,  als  der  zwischen  A 
und  B.  Die  zufälligen  Ansichten  sind  nur  die  Ausdrücke,  welche  die  Wesen 
annehmen  müssen,  um  vergleichbar  zu  werden;  aber  indem  wir  durch 
ihre  Hülfe  zwey  Wesen  vergleichen,  finden  wir  sogleich,  dafs  in  der  Ver- 
gleichung  sich  mancherley  Puncte  darbieten,  worin  Störung ^und  Selbst- 
erhaltung ihren  Sitz  haben  können. 

Jedes  Wesen  ist  an  sich  von  einfacher  Qualität.  Aber  die  vielen 
Qualitäten  lassen  sich  vielfach  vergleichen;  jede  mit  allen  übrigen. 

Dabey  braucht  nun  nicht  jede  zufällige  Ansicht  aus  drey  Gliedern, 
u,  ß,  y,  zu  bestehen,  sondern  der  Glieder  können  gar  viele  seyn.  Ferner 
braucht  nicht  jede  Vergleichung  auf  einerley  zufälliger  Ansicht  zu  beruhen; 
sondern  das  Wesen  erträgt  unendlich  viele  Ansichten;  so  wie  seine  Quali- 
tät unendlich   vielen   Vergleichungen  zugänglich  ist. 

[176]  jede  Selbsterhaltung,  oder  jedes  wirkliche  Geschehen,  das  in 
Einem  Wesen  vorgeht,  wenn  es  sich  gegen  ein  bestimmtes  anderes  Wesen 
selbst  erhält,  hat  demnach  einen  eigen thümlichen  Charakter;  aber  diese  Eigen- 
thümlichkeit  gilt  nur  im  Gebiete  des  Geschehens.  Alle  Mannigfaltigkeit, 
welche  darin  liegt,  dafs  A  sich  entweder  gegen  B,  oder  gegen  C,  oder 
ce^en  D  u.  s.  w.  selbst  erhält,  verschwindet  sogleich  sammt  dem  Geschehen 
selbst,  wenn  man  aufs  Seyende,  so  wie  es  an  sich  ist,  zurückgeht.  Denn 
es  ist  in  allen  diesen  Fällen,  A  welches  sich  erhält,  und  A,  welches  er- 
halten wird. 

Gesetzt  jedoch,  ein  Beobachter  stehe  auf  einem  solchen  Standpuncte,  daß 
er  die  einfache  Qualität  nicht  erkennt,  wohl  aber  in  die  verschiedenen  Rela- 
tionen des  A  gegen  B,  C,  D,  u.  s.  w.  selbst  verwickelt  wird,  so  bleibt  ihm 
nur  das  Eigentümliche  der  einzelnen  Selbsterhaltungen,  nicht  die  beständige 
Gleichheit  'ihres  Ursprungs  und  ihres  Resultats  bemerkbar.  Dies  ist  der 
Standpunct  des  Menschen,  dessen  verschiedene  Empfindungen  nichts  an- 
deres sind,  als  die  verschiedenen  Selbsterhaltungen  der  Seele,  die  sich  selbst 
nicht  sieht,  und  nichts  davon  weiis,  dafs  sie  in  allen  ihren  Empfindungen 
sich  selbst  gleich  ist;  und  vollends  nichts  davon,  dafs  diese  ihre  Zustände 
abhängen  vom  Geschehen  in  zusammentreffenden  Wesen  aufser  ihr,  deren 
eigne  Selbsterhaltungen  ihr  auf  keine  Wreise  bekannt  werden  können. 

%  237- 

Gemäfs  dem  wahren  Causalbegrifte,  den  wir  jetzt  kennen  gelernt  haben, 

"  sind  nun  die  Ursachen  weder  transient,  noch  immanent ;  weder  transscenden- 

tale  Freyheilen,   noch  Regeln  der  Zeitfolge;  sie   [177]   liegen  eben  so  wenig 

in  besondern    Vermögen,    als  in    Tendenzen    oder  Kräften;   man  kann    auch 

eben  so  wenig  anstatt  ihrer  ein  absolutes  Werden,   ein  Schicksal,   substituiren. 

Die  Ursachen  sind  nicht  transient.  Denn  die  Wesen  A  und  B,  welche 
sich  gegen  einander  selbst  erhalten,  geben  und  nehmen  einander  Nichts; 
jedes  bleibt,  was  es  ist. 

Die  Ursachen  sind  nicht  immanent.  Denn  jedes  ist  Ursache  der 
Selbsterhaltung  des  Anderen. 


2.  Abschnitt.    Ontologie.     6.  Capitel.    Vom  wirklichen  Geschehen.  \qj 


Die  Ursachen  sind  keine  transscendentalen  Fr'eyheiten.  Denn  die  Selbst- 
erhaltungen erfolgen  unausbleiblich  aus  dem  Gegensatze  der  Qualitäten, 
wenn  die  Wesen  zusammen  sind.  Sie  können  aber  auch  nicht  zusammen  seyn, 
denn  ursprünglich  ist  jedes  selbstständig,  und  ohne  Beziehung  auf  das  andere. 

Die  Ursachen  sind  keine  Regeln  der  Zeitfolge.  Denn  gesetzt,  die  Wesen 
seyen  zusammen:  so  ist  hiemit,  ohne  den  mindesten  Zeitverlauf,  auch  Stö- 
rung und  Selbsterhaltung  gesetzt. 

Die  Ursachen  liegen  nicht  in  besondern  Vermögen.  Denn  die  Causalität 
entspringt  unmittelbar  aus  dem  Gegensatze,  welcher,  wie  schön  gesagt, 
zwischen  den  Wesen,  aber  in  keinem  einzeln  genommen  liegt.  Und  da- 
durch wird  die  Causalität,  unter  Voraussetzung  des  Zusammen,  sogleich 
nothwendig,   und  nicht  blofs  möglich. 

Die  Ursachen  liegen  nicht  in  Tendenzen  oder  Trieben.  Denn  keine 
Qualität  eines  realen  Wesens  ist  mangelhaft,  bedürftig,  und  in  irgend  einem 
Übergange  begriffen. 

Die  Ursachen  liegen  nicht  in  besondern  Kräften.  Sondern  die  Wesen, 
ganz  und  ungetheilt  wie  sie  sind,  werden  Kräfte,  oder  sind  insofern  Kräfte, 
[178]  inwiefern  sie  mit  andern  von  entgegengesetzter  Qualität  zusammen  sind. 

Es  giebt  nicht  anstatt  der  Ursachen  ein  absolutes  Werden.  Denn  an 
sich  ist  jedes  Wesen  blofs  sich  selbst  gleich;  und  die  doppelte  Negation 
in  der  Selbsterhaltung  bekommt  nicht  eher  eine  Bedeutung,  als  bis  die 
einfache  Negation  des  Gegensatzes  zweyer  Wesen  vorausgesetzt  wird. 

Es  giebt  kein  Schicksal.  Sollte  es  ein  solches  geben,  so  müfste  man 
es  in  dem  zufälligen  Umstände  suchen,  dafs  die  Wesen  zusammen  sind. 
Aber  dies  Zusammen  ist  nichts  Reales;  es  ist  eine  formale  Bestimmung 
der  Zweyheit,  die  in  keinem  Einzelnen  liegt. 

§•   238. 

Schon  im  ersten  Theile  machten  wir  aufmerksam  auf  einige  richtige 
Ahndungen  Derer,  welche  die  causa  transiens  vermeiden  wollten.  Die  Leib- 
nitzische  Schule  sagte,  das  Leiden  sey  zugleich  ein  Handeln  der  leidenden 
Substanz  (§.  13).  Diese  Schule  hätte  den  wahren  Begriff  der  Selbsterhaltungen 
finden  können,  wenn  sie  dem  falschen  Gedanken  von  der  Lage  der  Sub- 
stanzen, als  ob  dieselben  aufscr  einander  seyen,  aus  dem  Wege  gegangen 
wäre  (§.  14,  16).  Durch  dieses  räumliche  Trennen  entstand  eine  Sperre, 
welche  die  Substanzen  nicht  überwinden  konnten.  Das  Entgegengesetzte, 
was  die  zufälligen  Ansichten  bezeichnen,  mufs  eins  dem  andern  vollkommen 
zugänglich  seyn;  sonst  ist  der  Gegensatz  der  Qualitäten  ein  leerer  Begriff. 
Die  Wesen  müssen  sich  in  solcher  Lage  befinden,  wie  die  Vorstellungen 
in  der  Seele,  die  einander  hemmen.  Damit  ist  fürs  erste  noch  weiter 
nichts  gesagt,  als  dafs  man  den  Begriff  des  Zusammen  nicht  auf  eine 
Weise  bestimmen  soll,  wodurch  Trennung  in  das  Zusammen  käme,  welches 
einen  Widerspruch  erge-[i7Q]ben  würde.  Die  Synechologie  wird  bald 
deutlicher  sprechen. 

Ferner  machten  wir  auch  aufmerksam  auf  Reinhold  (§.  84.),  der  den 
Stoff  der  Vorstellungen  von  aufsen  gegeben  werden,  aber  ihn  innerlich 
formen  läfst.  Auch  dieser  war  dem  ächten  Causalverhältnisse  nahe;  und 
weit  näher  als  Fichte  glauben  wollte,  der  kein  Nicht -Ich  von  aufsen  ins 


io8  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Ich  einlassen  mochte,  aber  sich  dadurch  ein  innerlich  widersprechendes 
absolutes  Ich  aufbürdete,  wie  schon  in  der  Psychologie  gezeigt,  und  hier, 
in  der  Eidolologie,  noch  ausführlicher  entwickelt  werden  soll.  Reinhold 
hatte  aber  seine  Untersuchung  bey  weitem  nicht  allgemein  genug,  sondern 
ganz  im  Dienste  Kants  angestellt;  welches  nicht  weiter  hieher  gehört;  so 
wenig  als  es  nöthio-  ist,  hier  noch  den  Eintrit  eines  blofsen  Stoffes,  der 
immer  die  Fehler  der  alten  causa  transiens  erneuern  würde,  zu  widerlegen. 
Endlich  erwähnten  wir  die  Selbstbejahungen  Schellings  (§.  102.), 
freylich  aber  verliefen  sich  diese  nicht  blofs  sogleich  in  Selbstverneinungen, 
sondern  auch,  wenn  sie  wären  vorsichtiger  vestgehalten  worden,  so  konnten 
aus  ihnen  doch  nur  leere  Begriffe  werden.  Die  doppelte  Negation  bedeutet, 
wie  schon  oben  bemerkt,  nichts  ohne  die  einfache;  ist  diese  ein  leerer 
Gedanke,  so  ist  es  auch  jene.  Hätte  einer  von  Schellings  Schülern  ver- 
standen, den  unabsichtlichen  Wink  zu  benutzen,  welcher  darin  liegt,  dafs 
sich  das  Unendliche  damit  beschäfftigen  soll,  das  Nichts  zu  verneinen:  so 
würde  der  Misgriff,  der  sich  an  das  Nichts  wendet,  leicht  verbessert  worden 
seyn.  Leider  aber  sollte  Schellings  Lehre  etwas  vorstellen,  was  keine 
Ontologie  seyn  kann;  denn  die  Ontologie  liegt  in  einer  Tiefe,  wohin  die 
Wurzeln  solcher  Bäume,  die  dem  praktischen  Leben  unmittelbar  Früchte 
tragen  sollen,  nicht  reichen.  Schelling  war  von  Spinoza  verführt;  und 
wie  wenig  die-[i8o]ser  seine  Begriffe  zu  ordnen  wufste,  davon  wollen  wir 
sogleich  ein  auffallendes  Beyspiel  in  Betracht  ziehn;  denn  wir  sind  hier 
am  Ende  der  Ontologie;  und  Spinoza  ist  eben  daselbst  am  Ende  des 
ersten  Theils  seiner  Ethik. 

§•   239. 

Ob  früher  vom  Sittengesetze  die  Rede  seyn  müsse,  als  von  Religion 
(wie  Kant  wollte):  das  mag  allenfalls  Manchem  zweifelhaft  scheinen;  aber 
indem  man  irgend  etwas  Religiöses  berührt,  hat  man  unstreitig  eben  da- 
durch auch  das  Sittliche  bezeichnet,  was  im  Religiösen  allemal  enthalten 
ist.     Dies  mufs  Jedem  sein  richtiges  Gefühl  sagen. 

Nichts  destoweniger  hat  Spinoza  lange  von  der  Substanz  gesprochen, 
die  aus  unendlichen  Attributen  bestehe,  deren  jedes  ein  ewiges  und  un- 
endliches Wesen  ausdrücke,  —  ehe  es  ihm  auch  nur  einfällt,  ein  Wort 
vom  Guten  und  Bösen  zu  sagen;  obgleich  sein  Buch  eine  Ethik  werden 
soll.  Aber  im  Anhange  zum  ersten  Theile  findet  er  für  gut,  die  „Vor- 
urtheile"  (praejudicia)  vom  Guten  und  Bösen,  Verdienst  und  Schuld,  Lob 
und  Tadel,  Ordnung  und  Verwirrung,  Schönheit  und  Hässlichkcit,  vor  seinen 
Gerichtshof  zu  fordern.  Damit  vermengt  er  die  Bemerkung,  dafs  die  Men- 
schen sich  für  frey  halten,  weil  sie  den  Mechanismus  ihres  Begehrens 
nicht  durchschauen;  welches  allerdings  wahr  ist.  Dann  führt  er  als  That- 
sache  an,  dafs  die  Menschen  ihren  Nutzen  suchen,  und  sich  dessen  be- 
wufst  sind;  er  vergifst  aber  zu  sagen,  dafs  sie  auch  zuweilen  ihren  Nutzen 
verschmähen,  indem  sie  etwas  Höheres  suchen,  und  sich  dessen  bewufst 
sind.  Vielmehr,  er  vergißt  es  nicht,  sondern  er  leugnet  es;  denn  er  be- 
hauptet: homincs  omni a  propter  finem  agere,  videlicet  propter  utile,  quod  ap- 
[181]  petunt.  Nun  folgert  er,  die  Menschen  sähen  immer  nur  auf  die 
Zwecke,  fragten  nur  nach  den  End- Ursachen;  und  hielten  nur  das  überall 


2.  Abschnitt.    Ontologie.     6.  Capitel.    Vom  wirklichen  Geschehen.  109 


für  das  Wesentliche  in  den  Dingen,  was  ihnen  Nutzen  und  Vergnügen 
brächte. 

Und  was  hatte  denn  Spinoza  dieser  Gemeinheit  der  Menschen  ent- 
gegenzusetzen? Er,  der  das  Recht  der  Gewalt  gleich  setzt,  weil  er  aus 
dem  selbstgesponnenen  Netze  der  notwendigen  Entwicklungen  seiner  causa 
immanens  nach  keiner  Seite  hin  einen  Ausweg  zu  finden  wufste? 

Spinoza  hatte  ihr  Nichts  anderes  entgegenzusetzen,  als  seine  onto- 
Iogischen  Meinungen,  die  er  für  intellectuale  Anschauungen  hielt.  Die 
ästhetischen  und  mit  ihnen  die  wahren  ethischen  Begriffe,  hatte  er  zuerst 
verdorben,  und  dann  als  Vorurtheile  verworfen;  obgleich  sich  diese  ver- 
meinten Vorurtheile  dennoch  an  andern  Stellen  seiner  Ethik  wieder  regen; 
und  daselbst  nicht  geringe  Inconsequenzen  hervorbringen. 

Darum  ist  strenge  Naturordnung  die  einzige  Ordn?mg,  die  er  kennt. 
Und  wer  so  wie  Spinoza,  mit  einseitiger  oder  auch  nur  mit  vorherrschender 
Liebhaberey  die  Ontologie  umfafst,  dem  wird  es  niemals  besser  ergehn. 
Mit  Wahrheit  kann  er  aus  derselben  nicht  einen  einzigen  Gedanken  her- 
nehmen, der  eine  Werthbestimmung  enthielte,  welche,  wie  in  der  praktischen 
Philosophie  gezeigt  worden,  sich  allemal  auf  Verhältnisse  richtet.  Wer 
nun  alle  Werthbestimmung  darum  für  Vorurtheil  hält,  weil  sie  in  der  Onto- 
logie keine  Beweise  findet  (deren  sie  gar  nicht  bedarf),  der  ist  zu  be- 
dauern. Durch  Künstelei  ist  aber  die  Ontologie  oft  genug  gezwungen 
worden,  aus  ihrem  eigenthümlichen  Geleise  herauszugehn.  Das  wird  alle- 
mal von  Denen  geschehen,  die  sich  selbst  nicht  genug  beherrschen,  um 
ihr  speculatives  und  praktisches  Interesse  ge-[i82]hörig  zu  sondern.  In 
dieser  Hinsicht  haben  wir  oft  genug  gewarnt;  und  können  uns  hier  mit 
dieser  kurzen  Erinnerung  daran  füglich  begnügen. 

So  wenig  übrigens  die  blofse  absolute  Position  für  sich  allein  brauch- 
bar seyn  würde  bey  Gegenständen,  die  für  uns  erkennbar  seyn  sollen 
(wenn  man  nicht  in  Fichtes  Ich,  als  in  die  Identität  des  Wissenden  und 
Gewufsten,  demnach  in  vollkommenen  Idealismus  verfallen  will),  eben  so 
wenig  brauchbar  ivürde  die  relative  Position  seyn,  wenn  bey  entgegengesetzten 
Qualitäten  stets  auf  bey  den  Seiten  Alles  gleich  wäre.  Aber  von  der  Un- 
gleichheit, —  die  man  sich  vorläufig  als  eine  nach  zivey  Seiten  ins  Un- 
endliche laufende  Linie  denken  mag,  —  haben  wir  erst  in  der  Naturphilo- 
sophie zu  reden.  Eigentliche  Ontologie  ist  keine  selbstständige  Wissen- 
schaft; und  obgleich  sie  vom  Seyn  redet,  so  geschieht  doch  dies  in  höchst 
allgemeinen  Begriffen,  die  nur  den  Werth  von  Abstractionen  haben.  Selbst 
die  Synechologie,  zu  der  wir  nun  fortschreiten,  wird  sich  begnügen,  uns 
nur  auf  die  Mitte  der  vorerwähnten  Linie  zu  versetzen,  wo  wir  den  starren 
Körper  antreffen  werden. 


[183]  Dritter  Abschnitt. 

Syneehologie. 


Erste  Abtheilung. 

Von  Raum,  Zahl  und  dem  Ursprünge  der  Materie. 

Erstes  Capitel. 
Von  den  verschiedenen  Anfängen  der  Syneehologie. 

§.  240. 

Andere  Gegenstände  fordern  einen  andern  Geist  der  Untersuchung. 
Obgleich  nun  das  Folgende  wesentlich  zum  Vorhergehenden  gehört:  so 
wird  dennoch  die  Vollständigkeit  und  Bequemlichkeit  der  Betrachtung 
dabey  gewinnen,  wenn  wir  einen  Augenblick  den  Faden  loslassen,  der  uns 
von  den  Begriffen  des  Realen  hinführt  zu  den  leeren  Formen,  die  uns 
jetzt  beschäfftigen  sollen.  Schon  in  der  fünften  und  sechsten  Abtheilung 
des  ersten  Theils  wurde  unsre  jetzige  Arbeit  vorbereitet.  Vom  Stetigen 
wurde  gefragt:  ob  es  gegeben  sey?  [184]  Wenn  es  dies  ist,  so  kann  man 
von  ihm  eine  Untersuchung  beginnen;  man  hat  dann  nicht  nöthig,  sie  als 
abhängig  von  etwas  Anderem  darzustellen.  Und  wenn  der  gegebene  Be- 
griff widersprechend  ist,  so  scheint  deshalb  schon  allein  die  Untersuchung 
zur  Metaphysik  zu  gehören.  Wenn  jedoch  der  Begriff  nicht  das  Reale 
trifft,  so  darf  man  ihn  nicht  so  behandeln,  als  ob  man  ein  Recht  hätte  zu 
fordern,  der  Widerspruch  in  ihm  solle  verschwinden;  sondern  es  kann 
alsdann  dahin  kommen,  dafs  man  ihn  für  eine  unvermeidliche  Vorstellungsart 
anerkennt,  die  so  bleiben  mufs,  wie  sie  ist.  Und  dies  wiederum  kann 
zweyerley  Gründe  haben;   einen  psychologischen,  und  einen  wissenschaftlichen. 

1.  Hat  der  psychologische  Mechanismus  widersprechende  Begriffe  ver- 
möge einer  nicht  blofs  subjeetiven,  sondern  allgemeinen  Nothwendigkeit 
erzeugt:  so  gehören  dieselben  zu  der  Welt  des  Scheins,  zum  Gegebenen. 
Alsdann  mufs  die  Psychologie  in  diesem  Puncte  mit  der  Metaphysik  sorg- 
fältig verglichen  werden,  damit  nicht  Verwechselungen  ganz  heterogener 
Untersuchungen  entstehn,  wodurch  zwey  Wissenschaften  auf  einmal  ver- 
dorben werden,  wie  es  leider  bisher  der  Fall  gewesen  ist.  Demnach  ver- 
weisen wir  den  Leser  auf  die  Untersuchungen  über  die  Reihenformen  in 
der  Lehre  von  der  tnittelbaren  Reproduction,  —  und  deren  Fortsetzung 
in  der  Theorie  des  räumlichen  und  zeitlichen  Vorstellens  zu  suchen  ist. 


3.  Abschn.  Synechologie.  i.  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.    i.Cap.  V.  d.  verschied.  Anf.    tii 

2.  Hat  der  widersprechende  Begriff  einen  wissenschaftlichen  Grund: 
so  behält l  er  seinen  Platz  dort,  wo  er  im  Denken,  mit  vollem  Bewufstseyn, 
ohne  irgend  eine  Täuschung,  als  eine  Aufgabe,  die  sich  wohl  bestimmt  ab- 
fassen, aber  nicht  erfüllen  läfst,  hervortrit.  Alsdann  dient  er  zu  Prämissen 
im  richtigen  Schliefsen,  gerade  so  wie  ein  völlig  denkbarer  Begriff.  Die 
Formel : 

[185]         yV^T  .      .  

e  =  cos.  (f   -\-  sin.  r/   \  —  1 

gehört  zu  den  nützlichsten  der  Mathematik,  obgleich  sie  nur  eine  gesetz- 
mäfsige  Verbindung  widersprechender  Begriffe  ausdrückt. 

§•   241. 

Die  Behauptung,  das  Stetige  sey  gegeben,  kann  einen  doppelten  Sinn 
haben.  Entweder  man  meint,  es  lasse  sich  ein  Gegenstand  in  sinnlicher  An- 
schauung nachweisen,  der  stetig  erscheine.  Dieses  müfste  denn  vor  allem 
die  Materie  seyn;  jedoch  so  unbesonnen  wird  nicht  leicht  Jemand  seyn, 
dafs  der  vorgeben  sollte,  die  kleinsten  Theile  der  Materie  wären  deshalb 
zu  verwerfen,  weil  Flüssiges  sowohl  als  Starres  sich  uns  als  zusammen- 
hängend, und  als  theilbar,  wo  man  will,  darstelle.  Man  kann  die  kleinsten 
Theile,  die  Elemente,  freylich  nicht  sehen;  daraus  aber  folgt  nicht,  dafs  sie 
nicht  existiren. 

Oder  man  beruft  sich  auf  die  sogenannte  reine  Anschauung.  Das 
heifst :  wenn  wir  uns  Raum,  Zeit,  oder  was  beyde  erfüllt,  vorstellen  wollen : 
so  begegnet  es  uns  im  Gedanken  allemal,  dafs  solche  Theile,  die  wir  uns 
als  die  nächsten  neben  oder  nach  einander  denken,  in  einander  fallen.  Soll 
ihre  Unterscheidung  gelingen,  so  müssen  wir  etwas  dazwischen  setzen,  das 
keins  von  beyden  sey.  Dieses  nun  kann  wiederum  nicht  als  einfach,  als 
ein  blofser  Punct  vorgestellt  werden;  sonst  hätte  es  das  gleiche  Schicksal 
des  Zusammenfallens  mit  seinen  Nachbaren  wie  vorhin.  Vielmehr  mufs 
auch  das  Zwischengeschobene  sich  darbieten,  beliebig  getheilt  zu  werden, 
wo  man  will;  und  soll  die  Theilung  bestehn,  so  mufs  auch  hier  ein  neues 
Zwischen -Schieben  gestattet  werden,  sonst  fällt  doch  das  Getheilte  an  der 
Gränze  zusammen.  Demnach  ist  jede  Vorstellung  [186]  des  Mehrern  und 
Gesonderten  bedingt  durch  die  Voraussetzung  des  Stetigen,  in  welchem  es 
Plätze  einnimmt,  wie  Porcellan  in  der  Baumwolle,  um  nicht  zusammenzustofsen. 
Denn  wenn  Jemand  durchaus  zwei  starre  Körper,  etwa  Kupfer  und  Zink, 
dicht  an  einander  drängt,  dafs  nichts  dazwischen  bleibt:  alsdann  giebt  es 
geometrische  Puncte,  in  welchen,  als  den  Berührungspuncten,  beydes  zu- 
sammenfällt, so  dafs  wirklich  an  einem,  obgleich  unendlich  kleinen  Orte, 
sowohl  Kupfer  als  Zink  gegenwärtig  ist!  Das  Wort  Aneinander  aber  ist 
ein  leeres  Wort;  man  hat  nur  zu  wählen  zwischen  der  Durchdringung  und 
der  Baumwolle. 

So  ungefähr  meint  es  die  sogenannte  reine  Anschauung.  Ganz  genau 
kann  sie  zwar  nicht  sagen,  was  sie  meine;  denn  es  klebt  ihr  immer  eine 
verdächtige  Ahndung  an,  ihre  Voraussetzung  des  Stetigen  möge  wohl  eine 
Erschleichung  seyn.    Sie  möge  wohl  dasjenige  selbst  machen,  was  sie  zwischen 

1    „so  erhält  er"  SW. 


II2  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


zwey  Nächsten,  die  nicht  zusammenfallen  sollen,  behauptet  zu  finden.  Sie 
möge  wohl  —  indem  sie  Puncte,  soviel  man  will,  auf  jeder  kleinsten  Linie 
unterscheidet,  in  Gedanken  den  Raum,  der  nur  ein  Gedankending  ist,  ver- 
mehren, damit  zwischen  je  zwey  gesonderten  Puncten  eine  noch  kleinere 
Linie  Platz  habe.  Nachweisen  kann  sie  nicht,  dafs  sie  innerhalb  der  an- 
fänglichen Gränzen  geblieben  sey;  denn  es  ist  ja  nicht  von  sinnlich  dar- 
stellbaren Gegenständen  die  Rede,  sondern  nur  von  Gedanken,  die  man 
innerlich  sehen  mufs.  Aber  sie  tröstet  sich  mit  dem  Schutze  der  Geo- 
metrie; diese  beweiset  ja  die  incommensurabeln  Linien!  Freylich  sagt  der 
Beweis  nicht,  dafs  alle  Linien  incommensurabel  seyen;  sondern  er  spricht 
von  gewissen  Constructionen,  wobey  Linien  in  solche  Distanzen  eingeschoben 
werden  sollen,  deren  Endpuncte  schon  vor  den  Linien,  vor  dem  Ziehen 
derselben,  gegeben  und  vestgestellt  waren.  [187]  Wenn  aber  Jemand  wagt, 
die  Geometrie  selbst  als  einen  Gegenstand  schärferer  Untersuchung  zu  be- 
zeichnen, um  die  Gränzen  der  Gültigkeit  ihrer  Begriffe  zu  bestimmen:  dann 
kehrt  der  reinen  Anschauung  ein  stolzes  Selbstbewufstseyn  zurück;  sie  schützt 
nun  die  Geometrie,  denn  sie  hat  ihr  den  Boden  bereitet! 

Dieser  Cirkel,  und  dieser  verzagte  Trotz,  erinnert  uns  an  eine  frühere 
Untersuchung,  welche  zeigt,  wie  es  geschieht,  dafs,  so  oft  man  zwey  Puncte 
in  Gedanken  auseinanderhalten  will,  sich  jeder  von  beyden  gleichsam  strah- 
lend verhält  gegen  den  andern;  daher  die  doppelte  Strahlung  einen  Zwischen- 
raum erzeugt,  in  welchem  man  beyde  Puncte  hin  und  her  bewegen  kann; 
wie  wenn  sie  ein  flüssiges  Element  wäre,  worin  beyde,  sie  mögen  näher 
oder  ferner  stehn,  eine  Art  von  Atmosphäre  besäfsen.*  Wir  wissen, 
warum  es  mislingt,  zwey  nächste  Puncte  ohne  Zwischenraum  dergestalt  an 
einander  zu  denken,  dafs  sie  nicht  zusammenfallen.**  Und  deshalb  kön- 
nen wir  es  uns  gefallen  lassen,  wenn  Jemand  meint,  das  Continuum  sey 
ein  Gegebenes.  Freylich  ist  es  kein  bestimmtes  gegebenes  Ding;  auch 
keine  individuelle  Vorstellung;  sondern  nur  ein  allgemeines  Prädicat,  welches 
unvorsichtig  genug  für  Linien  und  Flächen,  für  Zeiten,  Grade  und  Räume, 
ohne  Unterschied  gebraucht  wird.  Aber  es  ist  wenigstens  eine  Vorstcllungs- 
art,  von  der  sich  Niemand  losreißen  kann;  und  welche  beym  Anfange  des 
metaphysischen  Benkens  vorgefunden  wird,  ohne  Bescheinigung  ihres  Ur- 
sprungs; so  dafs  man  sich  über  das  Vorurtheil,  sie  liege  ursprünglich  im 
menschlichen    Geiste,   eben  nicht  wundern  darf. 

[188]      §   242. 

Sey  nun  wirklich  die  Continuität  für  gegeben  angenommen,  so  wenig 
sie  auch  mit  gegebenen  Veränderungen  und  veränderlichen  Dingen  in  gleichen 
Rang  treten  darf,  —  denn  diese  sind  bestimmt,  und  individuell  gegeben, 
jene  aber  nicht:  —  so  stofsen  wir  dann  zweytens  auf  den  Widerspruch, 
welche  die  logische  Analyse  der  Continuität  sogleich  findet.  Das  Fliefsende 
soll  zusammenhängen,  und  doch  nicht  völlig  in  Eins  fallen.  Man  unter- 
scheidet in  ihm  ein  Hier  und  Dort;  dieser  Unterschied  bleibt  in  den  kleinsten 
Theilen,  die  Jemand  herausheben  möchte;  und  doch  liegt  das  Continuum 


*  Vergl.  Psychologie  II;  die  Anmerkung  zum  §   114.      [Bd.  VI  vorl.  Ausg.] 
**  Ebendaselbst  §   113,  am  Ende. 


3.  Abschn.  Synechologie.    I.  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.    I.  Cap.  V.  d.  verschied.  Anf.    u? 

weder  hier  noeh  dort,  sondern  dazwischen.  Es  ist  Vereinigung  in  der  Schei- 
dung, und  Scheidung  in  der  Vereinigung.  Die  Folge  ergiebt  sich  leicht, 
dafs  in  ihm  unendlich  viele  Theile  vorausgesetzt  werden,  die  man  sondern, 
aber  aus  welchen  man  es  doch  nicht  zusammensetzen  könnte.  Es  ist  eine 
Gröfse,  also  eine  Zusammenfassung;  aber  auf  die  Frage,  was  und  wie  vieles 
zusammengefafst  worden?  erfolgt  keine  Antwort.  Es  ist  eine  endliche  Gröfse, 
wenn  man  es  zwischen  bestimmten  Gränzen  nimmt;  aber  diese  Endlichkeit 
enthält  eine  unendliche  Fülle.  —  Jeder  kennt  diesen  Widerspruch,  aber 
Jeder  scheut  sich,  ihn  beym  rechten   Namen   zu  nennen. 

Die  eigentliche  Hauptfrage  nun,  die  uns  hier  beschäfftigt,  ist  diese : 
kann  der  Widerspruch  in  der  Continuität  als  ein  ergiebiges  Princip  einer  Unter- 
suchung behandelt  iverden?    Die  Antwort  ist  verneinend. 

Denn  die  Continuität  findet  sich  als  ein  ziveifelhaftes  Merkmal  an 
der  Materie,  welche  für  real  gehalten  wird;  und  zugleich  als  ein  sicheres, 
obgleich  näher  zu  beleuchtendes  Prädicat  des  Raumes  und  der  Zeit;  diese 
aber  sind  offenbar  ATichts ;  denn  sie  sind  [189]  die  leeren  Formen  der  Zu- 
sammenfassung des  Realen,  oder  dessen,  was  dafür  gilt. 

Gesetzt  nun  erstlich,  wir  wollten  die  Materie  als  Continuum  der 
Untersuchung  darbieten:  so  würde  der  Widerspruch  fortgeschafft  werden 
müssen,   wofern  die  Materie  für  real   sollte  genommen  werden.     Denn  träte 


ö" 


an  die  Stelle  ihrer  Continuität  irgend  ein  anderer  Begriff;  aber  das  Con- 
tinuum verschwände  darum  nicht!  Sondern  Raum  und  Zeit  würden  sich 
diesen  Begriff  stets  zueignen;  eben  darum,  weil  sie  mir  leere  Formen  sind, 
an  welche  die  Methode  der  Beziehungen  keinen  Anspruch  hat.  Die  Last 
des   Widerspruchs  würde  also  nicht  abgeworfen  werden. 

Glaubt  man  vielleicht,  wir  würden  dadurch  die  Materie  näher  kennen 
lernen?  Dann  müfsten  wir  überzeugt  seyn,  dafs  ihr,  als  einem  Gegebenen, 
das  Merkmal  der  Continuität  zukomme.  Aber  dieser  Umstand,  der  allein 
die  Untersuchung  begründen  und  rechtfertigen  könnte,  ist  gerade  der,  welcher 
nur  durch  Vorurtheile  einen  Schein  der  Wahrheit  erhalten  hat.  Gegeben 
sind  die  kleinern  Theile  der  Materie,  welche  sich  dem  Auge  und  dem 
Mikroskop  entziehen,  ganz  und  gar  nicht;  blofs  die  Einbildung,  die  Materie 
sey  das,  was  den  Raum  erfülle,  — -  und  zwar  den  contiuuirlichen  Raum, 
hat  sich  in  die  Stelle  des  Gegebenen  widerrechtlich  eingedrängt;  und 
wir  werden  in  der  Folge  aufs  Bestimmteste  nachweisen,  dafs  diese  Ein- 
bildung nicht  einmal  von  wahrer  Bekanntschaft  mit  den  Raumbemriffen 
zeugt;   viel  weniger   mit  der  wahren  Natur  der  Materie  übereinkommt. 

Gesetzt  ferner,  wir  wollten  lediglich  von  den  leeren  Formen  des 
Raums  und  der  Zeit  reden:  so  würde  nun  der  Widerspruch  gar  nicht 
angegriffen,  sondern  blofs  analysirt,  und  der  Frage  zugänglich  werden,  ob 
er  überall,  wo  er  vorkommt,  sich  selbst  gleich  sey,  [iqo]  oder  ob  es  für  ihn 
Modificationen   gebe,   die  man   von   einander  sondern   müsse? 

Hier  nun,  bey  diesem  sehr  wichtigen  Puncte,  dessen  Bedeutung  all- 
mühlig  immer  sichtbarer  werden  wird,  hätte  wohl  längst  die  Arithmetik, 
mit  ihren  verschiedenen  Arten  von  Zahlbegriffen, l  den  Metaphysikern  eine 
schärfere  Aufmerksamkeit  auch  für  die  andern  Reihenformen  abgewinnen  sollen. 


1   Zahlenbegriffen  SW, 
Herbart's  Werke.     VIII. 


II  i  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

1)  Die  Zahlen  sind  ursprünglich  gesondert;  die  Continuität  ist  bey 
ihnen  nur  eine  nachgeborne,  künstlich  eingeschobene  Vorstellungsart.  Un- 
streitig sind  die  ganzen  positiven  Zahlen  die  Grundlage  aller  höhern  arith- 
metischen Begriffe.  Aber  ihre  Anwendung  auf  theilbare  Ganze  führt  Brüche 
herbey.  Eine  Volkszahl  läfst  sich  nur  alsdann  dividiren,  wenn  die  Zahl 
nicht  gerade  eine  Primzahl  ist.  Aber  der  Begriff  der  Divisoren,  einmal 
gebildet,  wird  nachmals  wenigstens  versuchsweise  verallgemeinert;  dies  würde 
geschehen,  wenn  auch  nicht  das  Ganze  häufig  genug  ein  Continuum  wäre, 
das  alle  Divisoren  ohne  Ausnahme  zuläfst. 

Die    Gröfse  — ,  oder  — ,   eroiebt  nun  eine  unendliche  Menge  von  Ein- 
x  n        °  ° 

Schiebungen  zwischen  zwey  nächste  ganze  Zahlen;  nachdem  x  alle  Werthe 

von  ganzen  Zahlen  zwischen  Null  und  dem  Unendlich-Grofsen  angenommen 

hat,    oder    für   n    eine   wie    immer   grofse    Zahl    gesetzt,    und    m    wiederum 

durch  alle  Werthe  nach   der  Reihe  hindurchgeführt  worden  ist. 

2)  Aber  die  Grüfse  a  -f-  — ,  wenn  auch  n  jede,  noch  so  grofse  Zahl 

n 

bedeuten  kann,  stellt  uns  dennoch  nur  ein  solches  Continuum  dar,  welches 
rationale  Gröfsen  in  sich  aufnimmt.  Der  Übergang  von  a  zu  a  -f-  1 
mag  stetig  seyn;  dieser  Begriff  sagt  Nichts  von  Gröfsen,  die  man  schlechter- 
dings nicht  erreichen  könne.  [191]  Im  Gegentheil,  alle  unter  jenem  Ausdruck 
enthaltene  Gröfsen  sind  eine  so  möglich  wie  die  andere;  und  zwischen 
je  zwey  nächste  Werthe  noch  neue  einzuschieben,  hat  man  die  unbegränzte 
Erlaubnifs,   weil  n  stets  gröfser  genommen  werden  kann. 

Hiemit  contrastirt  nun  erstlich  überhaupt  das  Irrationale,  als  dasjenige, 
was  sich  jeder  genauen  Bestimmung  entzieht;  und  zvveytens  die  Mannig- 
faltigkeit der  irrationalen  Fortschreitungen.  Man  durchlaufe  continuirlich 
alle  Zahlen  mit  den  zwischen  fallenden  Brüchen:  ihnen  folgt  ein  System 
von  Quadratwurzeln,  welches  ebenfalls  stetig  ist;  ein  anderes  System  von 
Cubikwurzeln ,  die  nothwendig  dichter  gedrängt  liegen;  wiederum  neue 
Svsteme  der  vierten,  fünften  Wurzeln  u.  s.  w.  und,  von  ihnen  allen  ver- 
schieden, unzählige  Systeme  von  Logarithmen,  nach  andern  und  wieder 
andern  Grundzahlen.  Jedes  dieser  Systeme  ist  ein  Contimtnm,  aber  von 
eigner  Art;  und  wo  findet  man  ein  Ende,  wenn  man  die  mannigfaltigen 
künstlichem  Functionen  hinzunimmt,  deren  wiederum  jede  nach  ihrer  Weise 
das  ganze   Zahlengebiet  durchläuft? 

Wie  viel  nun  von  dem  Allen  lehrt  wohl  der  allgemeine  Begriff  des 
Continuums?  Dieser  scheint  sich  immer  gleich;  und  darum  meinte  man 
Raum  und  Zeit  ganz  einfach,  ja  genügend  zu  bezeichnen,  wenn  man  sie 
schlechthin  für  Continua  erklärte. 

Allein  wir  wünschen,  es  möge  den  Leser  nicht  befremden,  wenn  wir 
ihm  bald  eine  Construction  des  Raums  vorlegen,  die  Anfangs  eben  so 
wenig  Continuität  zeigt,  wie  die  ganzen  positiven  Zahlen.  Allmählig  wird 
ihr  eine  Reihe  von  Veränderungen  begegnen,  ähnlich  der,  welche  wir  an 
den  Zahlen  bemerkt  haben.  Und  wenn  wir  einmal  in  den  Flufs  des 
Continuums  «rerathen  sind:  so  werden  wir  doch  selbst  darin  noch  Vn- 
[ig2]terscheidungen  anbringen  müssen,  die  eben  so  wohl  zulässig  sind,  als 
die   verschiedenen  Dichtigkeiten  der  Quadratwurzeln   und  der  Cubikwurzeln. 


3-  Abschn.  Synechologie.   i.  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.   i.  Cap.  V.  d.  verschied.  AnJ.    115 

Aber  wo  liegt  denn  das  Princip  dieser  Untersuchung?1  In  den  Zahl- 
begriffen?  Nein!  Diese  können  nur  aufmerksam  machen  auf  die  Möglichkeit, 
dafs  wohl  die  Continuität  verschiedener  Modifikationen  fähig,  und  dafs  sie 
überhaupt  vielleicht  keine  ursprünglich  einheimische  Bestimmung  des  Gegen- 
standes sey,  an  welchem  sie  bemerkt  wird;  daraus  folgt  jedoch  noch  nichts 
Sicheres,  nichts  Entscheidendes.  —  Noch  weniger  liegt  das  Princip  in  dem 
allgemeinen  Begriffe  der  Continuität,  oder  in  jenen  Vorstellungsarten  der 
sogenannten  reinen  Anschauung.  Diese  erwarten  vielmehr  von  der  Psy- 
chologie die  Erklärung  ihres  Ursprungs;  sie  selbst  können  nichts  begründen, 
und  nichts  widerlegen.  Die  ganze  Untersuchung  mufs  daher  anderswo 
angefangen  werden;  wie  sichs  im   folgenden   Capitel  zeigen  wird. 

§  243- 

Nicht  überflüssig  wird  es  seyn,  hier  eine  frühere  Bemerkung  über 
Raum  und  Zeit  zurückzurufen,   und  mit  dem  Vorigen   zu  verbinden. 

Der  Grundbegriff  der  Zeit  ist  das  Nacheinander.  Darin  liegt  nichts 
von  Continuität;  im  Gegentheil,  das  Jetzt  liegt  zwischen  dem  Vorher 
und  Nachher  dergestalt  in  der  Mitte,  dafs  der  Begriff  der  Gegenwart  sich 
schlechterdings  nicht  mit  Vergangenheit  und  Zukunft  mischen  darf.  Sonst 
würde  ein  Widerspruch  entstehen,  den  Niemand  erträgt,  selbst  wenn  er 
nicht  versteht,  der  Anschuldigung  desselben  auszuweichen.  Das  Jetzt,  in- 
dem wir  es  auffassen,  ist  freylich  schon  vorbey;  aber  eben  deshalb  geben 
wir  es,  uns  verbessernd,  der  Vergangenheit  Preis;  was  sie  erreichen  kann, 
dem  entweichen  wir;  niemals  aber  lassen  wir  die  Vergangenheit  [193] 
bis  ins  Jetzt  sich  ausdehnen;  sie  hört  nicht  erst  auf,  sondern  sie  hat  auf- 
gehört. Die  Zukunft  ereilt  uns  freylich  immer,  ehe  wir  es  merken;  aber 
eben  darum  schieben  wir  sie  weiter  hinaus,  und  wollen  eher  etwas  vom 
Künftigen  mit  zum  Jetzt  rechnen,  als  jetzt  schon  das,  was  noch  nicht  ist, 
beginnen  lassen.  Wenn  wir  fehlen:  so  soll  der  Fehler  liegen  in  der  Er- 
weiterung des  gegenwärtigen  Augenblicks;  nicht  im  Zusammenstofs  dessen, 
was  war,  mit  dem,  was  seyn  wird.  Es  ist  klar,  dafs  wir  sonst  gar  keine 
anschauliche  Vorstellung  von  der  Gegenwart  haben  könnten,  sondern  dafs 
der  Philosoph  sie  künstlich  wie  einen  mathematischen  Punct  zwischen  Ver- 
gangenheit und  Zukunft  eindrängen,  und  fortschieben  müfste,  wenn  über- 
haupt ein  Begriff  von  ihr  vorhanden   seyn  sollte. 

Daher  mufs  man  nicht  zu  dreist  behaupten,  die  Zeit  werde  ursprünglich 
als  ein  Continuum  vorgestellt.  Im  Gegentheil,  diese  Ansicht  entsteht  erst 
dann,  wann  der  Versuch  eintrit,  über  die  Theilung  irgend  einer,  im  Be- 
griffe gedachten.   Zeitgröfse  Rechenschaft  zu  geben. 

Beinahe  eben  so  verhält  es  sich  mit  dem  Räume.  Er  heruht  auf 
dem  Aufsereinander.  Dies  aber  ist  das  Gegentheil  des  Ineinander.  Und  es 
ist  nur  zu  wahr,  dafs  die  Menschen  kaum  einen  andern  Begriff  mehr  scheuen, 
als  den  des  Ineinander.  Was  sie  deutlich  vorstellen  wollen,  das  setzen 
sie  auseinander ;  zweyerley  an  Einem  Orte  scheint  ihnen  eben  so  wider- 
sprechend als  Seyn  und  Nichtseyn  zugleich.  Daher  die  Anhänglichkeit  an 
Atomen  in  alter  und  neuer  Zeit;  daher  das  Vorurtheil  von  der  Undurch- 

1    dieser  Untersuchun«en.    SW. 


jj5  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


dringlichkeit;  desgleichen  von  den  Poren,  durch  welche  Licht  und  Wärme 
gehen  sollen  wie  Gespenster  durchs  Schlüsselloch.  Aber  gesetzt  auch,  die 
Erfahrungen  von  der  veränderlichen  Dichtigkeit  der  Materie,  und  von  den 
chemischen  Auflösungen,  durch  welche,  wenn  sie  vollkommen  sind,  das 
[194]  Licht  mit  unveränderter  Anziehung  hindurchgeht,  —  seyen  mächtig 
genug,  um  endlich  für  die  richtige  Lehre  von  der  Durchdringung  einige 
Bereitwilligkeit  zu  schaffen,  —  was  hat  denn  dieses  für  eine  Beziehung 
auf  den  Raum  selbst?  Mag  in  ihm  das  Materiale  sich  durchdringen;  soll 
denn  dasselbe  auch  für  die  Theile  des  Raumes  selbst  gelten  ?  Wenn  diese 
sich  in  einander  verkriechen,  so  sind  sie  für  den  Raum  verloren;  und  da 
sie  Nichts  an  sich  sind,  so  verschwindet  der  ganze  Gedanke.  Raum,  als 
solcher,  seinem  Begriffe  nach,  ist  gar  Nichts  als  reines  und  vollkommenes 
Aufsereinander.  Nun  mufs  aber  Derjenige  sich  die  Vorstellung  des  Continuums 
sehr  schlecht  analysirt  haben,  der  nicht  gewahr  wird,  dafs  er  das  Fliefsende 
nur  durch  ein  Verschwinden-Lassen  der  Sonderung  denken  kann.  Fliefsen 
die  Theile  des  Raums  nicht  ineinander,  so  fliefsen  sie  gar  nicht;  die  Rede 
von  der  fliefsenden  Gröfse,  von  den  Fluxionen,  mufs  dann  aufhören,  nun 
erstarrt  der  Raum,  das  heifst,  alle  seine  Theile  werden  dergestalt  bestimmte 
und  gleichsam  selbstständige  Theile,  das  eine  Intelligenz,  welche  sie  durch- 
schaute, sie  auch  würde  sondern  können. 

Was  folgt  nun  aus  dem  Allen?  Etwa  dafs  wir  die  Entwickelung  des 
§.  241.  zurücknehmen,  und  das  Continuum  aufgeben  müfsten?  Nichts 
weniger!  Blofs  dies  folgt,  dafs  man  nicht  einseitig  vom  Continuum  so 
reden  soll,  als  ob  dies  die  alleinige,  allgemein  durchgreifende,  und  gleichsam 
angeborne  Form  des  Anschauens  wäre.  Daran  ist  nicht  zu  denken.  Blofses 
Vorurtheil,  auf  gewisse  Verlegenheiten,  die  wir  bald  wegschaffen  werden, 
gestützt,  hoffte  leichtfertiger  Weise  die  Untersuchungen,  welche  man  der 
Metaphvsik  schuldig  war,  umgehen  zu  können.  Der  Wahrheit  nach  hätte 
man  bekennen  sollen,  dafs  die  Wissenschaft  beyderley  Vorstellnngsarten 
[195]  in  den  menschlichen  Köpfen  vorfindet,  sowohl  die  vom  Starren  und 
Undurchdringlichen,  als  die  andre  vom  Fliefsenden,  welches  im  Begriff 
steht,  sich  ineinander  zu  verlieren.  Und  wir  haben  schon  früher  bemerkt, 
dafs  die  Vorstellung  des  Fliefsenden  nur  insofern  einen  Sinn  hat,  als  ihr 
insgeheim  die  des  Ruhenden  und  Starren  zum  Grunde  liegt.  Continuität 
ist  Flufs;  Flufs  ist  Bewegung;  Bewegung  geschieht  in  dem  als  ruhend 
vorausgesetzten  Räume.  Der  Flufs  der  psychologischen  Reproduktionen 
ist  der  ganze  Grund  aller  Raumvorstellung;  aber  die  Distanzen  zwischen 
den  Puncten,  die  räumlich  auseinander  treten  sollen,  sind  dennoch  durch 
bestimmte  Verschmelzungshülfen  vestgestellt;  und  die  Möglichkeit,  dafs 
mehr  als  das  Gegebene  zwischen  diesen  Puncten  gesucht  werden  kann, 
ist  nicht  eine  ursprüngliche,  sondern  eine  später  hinzukommende.  Diese 
psychologische  Bemerkung  soll  sich  aber  nicht  an  die  Stelle  der  meta- 
physischen Untersuchung  eindrängen;  sondern  alles  bisher  Gesagte  soll  nur 
die  Bahn  vorläufig  ebnen,  die  wir  jetzt  zu  durchlaufen  haben. 

§•  244- 

Je   dunkler   und   zweydeutiger   die  Continuität   sich   zeigt,    sobald  wir 
sie   als  ein  Gegebenes  an  Gegenständen,    oder  in  bekannten  Vorstellungs- 


3.  Abschn.  Synechologie.    i .  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  i .  Cap.  V.  d.  verschied.  Anf.      1 1 7 

formen  aufsuchen:  desto  notwendiger  mufs  die  Untersuchung  derselben 
eine  andre  Stütze  haben;  und  die  Hoffnung,  als  ob  von  hier  aus  ein 
neuer,  bequemer  und  sicherer  Eingang  in  die  Metaphysik  hineinführte, 
muls  ganz  aufgegeben  werden. 

Wir  brauchen  aber  auch  keinen  neuen  Eingang.  Nur  einige  Geduld 
ist  nöthig,  um  den  Vorrath,  welchen  die  Ontologie  uns  übrig  gelassen  hat, 
allmählig  zu  verarbeiten. 

Schon  oftmals  haben  wir  scheinbares  und  wir/c-[ig6]liches  Geschehen  ein- 
ander entgegengesetzt,  und  beydes  von  der  wahren  Qualität  des  Seyenden 
unterschieden.  Diese  wahre  Qualität  wächst  zwar  nicht  im  mindesten  durch 
das  wirkliche  Geschehen;  aber  wohl  ist  sie  umgekehrt  die  Grundlage  des 
letzteren;  ihr  Begriff  bestimmt  den  Begriff  der  Selbsterhaltung,  worin  ein 
Wesen  dem  andern  Widerstand  leistet  (§.  234).  Darin  liegt  das  Kenn- 
zeichen des  wirklichen  Geschehens.  Hingegen  das  scheinbare  Geschehen 
empfängt  die  Bestimmung  seines  Begriffs  nicht  von  den  wahren  Qualitäten; 
die  Wesen  mögen  solche  oder  andere  seyn,  was  scheinbar  geschieht,  das 
kann  ihnen  auf  gleiche  Weise  begegnen,  denn  wie  es  auch  begegne,  es 
ist  ihnen  stets  fremdartig,  und  geschieht  überhaupt  nur  in  den  Augen  des 
Zuschauers.  Wir  werden  zwar  in  der  Folge  sehen,  dafs  unter  Umständen 
auch  von  den  wahren  Qualitäten  vermittelst  des  wirklichen  Geschehens 
auf  das  scheinbare  ein  Schlufs  erlaubt  ist;  allein  selbst  solche  Schlüsse  be- 
ziehen sich  zunächst  nur  auf  das  Schauspiel,  was  dem  Beobachter,  wenn 
es  einen  solchen  giebt,  wird  dargeboten  werden;  oder  mit  andern  Worten, 
sie  bleiben  im  Kreise  der  Erscheinung,  insofern  sie  eine  gesetzmäfsig  zu- 
sammenhängende Reihe  von  Ereignissen  darstellen. 

Vermöge  unseres  Standpuncts  in  der  Mitte  der  Erscheinungen  ist 
uns,  als  Menschen,  das  scheinbare  Geschehen  mindestens  eben  so  wichtig 
als  das  wahre.  Von  dem  letztern  würden  wir  ohne  jenes  so  viel  wie 
Nichts  wissen;  auch  haben  ja  überhaupt  die  Dinge  nur  insofern  für  uns 
Werth  und  Bedeutung,  als  sie  uns  erscheinen.  Was  sich  uns»  auf  keine 
Weise  kund  thut,  das  ist  für  uns  nicht  vorhanden.  Daher  darf  die 
Untersuchung  des  scheinbaren  Geschehens  nicht  gering  geachtet  werden. 
Fragt  man  aber  nach  dem  Princip  dieser  Untersuchung,  [197]  und 
sucht  man  dasselbe,  wie  billig,  im  Gegebenen:  so  findet  es  sich  in  der 
Veränderung.  Doch  der  Deutlichkeit  wegen  ist  es  gut,  noch  einen  Schritt 
weiter  rückwärts  zu  gehn. 

Schon  die  Inhärenz  führte  dahin,  ein  Zusammen  von  mehrern  realen 
Wesen  anzunehmen  (§.  213,  214).  Gewifs  aber  wird  jedes  derselben 
durch  eine  absolute  Position  gedacht  (§.  204;,  daher  kann  unmöglich  das 
Zusammen  der  Wesen  eine  Bedingung  ihres  Daseyns  ausmachen,  sondern 
es  ist  ihnen  gänzlich  zufällig.  Sie  könnten  auch  recht  füglich  nicht  zu- 
sammen seyn.  Und  da  das  Zusammen  weiter  nichts  bedeutet,  als  dafs 
ein  Jedes  sich  selbst  erhält  gegen  das  andere  (§.  234):  so  heifst  dies  so 
viel,  als:  es  kann  auch  recht  füglich  statt  finden,  dafs  sie  sich  nicht  gegen 
einander  im  Widerstände  befinden.  Dabey  darf  nur  nicht  vergessen  wer- 
den, dafs  in  der  Reihe  unseres  Denkens  der  Begriff  des  Zusammen  die 
Bedingung  unserer  Annahme  der  Selbsterhaltung  ist;  dergestalt,  dafs,  so- 
bald  wir   das   Zusammen   der  Wesen    einmal    voraussetzen,    dann   auch   in 


Ijg  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


der  Reihe  unseres  Denkens  die  Selbsterhaltung  eines  jeden,  als  noth wendige 
Folge  auftrit;  an  sich  aber  hat  das  blofse  Zusammen  gar  keine  eigne  Be- 
deutung. 

'Wollen  wir  nun  die  Zufälligkeit  des  Zusammen  uns  recht  deutlich 
vorstellen,  so  sa<ren  wir:  die  Wesen  könnten  auch  wohl  nicht  zusammen 
seyn;  hier  aber  liegt  der  Begriff  des  Nicht -Zusammen  ganz  im  Gebiete 
des  willkührlichen  Denkens.  Das  Problem  der  Inhärenz  führte  nicht  hie- 
her,  sondern  eben  zur  Voraussetzung  des  Zusammen. 

Anders  verhält  es  sich  mit  dem  Problem  der  Veränderung.  Dabey 
liegt  nothwendig  eintretendes  oder  aufhörendes  Zusammen  zum  Grunde. 
Schon  oben  (§.  230)  war  vom  Kommen  und  Gehen  der  Ursachen  zu 
sprechen.  Wie  sollte  es  anders  seyn?  Wenn  die  Zu[ig8]stände  der  sinn- 
lichen Dinsie  wechseln,  und  wenn  ein  Zustand  durch  ein  Zusammen  erklärt 
werden  soll,  so  kann  nicht  auch  noch  der  entgegengesetzte,  frühere  oder 
spätere  Zustand  desselben  Dinges  durch  das  nämliche,  unverminderte  und 
unvermehrte  Zusammen  seine  Erklärung  erhalten.  Sondern  der  Wechsel 
der  Erscheinung  zeigt  an,  dafs  ein  Wechsel  in  den  Gründen  statt  findet; 
solchen  Wechsel  darf  man  in  den  wahren  Qualitäten  gar  nicht,  im  wirk- 
lichen Geschehen,  sofern  es  von  ihnen  abhängt,  auch  nicht  suchen.  Also 
mufs  die  Gemeinschaft  unter  den  realen  Wesen  sich  ändern;  sie  müssen 
kommen  und  gehen. 

Hiemit  ist  das  Zusammen  und  Nicht-Zusammen  der  Substanzen  einem 
Wechsel  unterworfen,  der  unmittelbar  eine  Zeitbestimmung  in  sich  schliefst. 
Leicht  sieht  man,  dafs  auch  Bewegung  und  Raum  dabey  vorausgesetzt 
werden;  allein  in  diesem  Puncte  darf  keine  Übereilung  statt  finden.  Ob 
es  erlaubt  sey,  einfache  Substanzen  in  den  sinnlichen  Raum  zu  setzen : 
das  läfst  sich  nicht  sogleich  entscheiden.  Unsere  bekannten  und  aus- 
gearbeiteten Vorstellungen  vom  Räume  hängen  mit  der  Welt  des  Scheins 
so  vest  zusammen,  dafs  wir  fürchten  müfsten,  Schein  und  Seyn  zu  ver- 
mischen, wenn  wir  es  wagen  wollten,  geradehin  zu  behaupten,  jenes  Kom- 
men und  Gehen  der  Substanzen  sey  eine  solche  Bewegung,  wie  die  der 
Körper  um  uns  her.  Vielmehr  steht  eine  weitläufige  Arbeit  bevor,  wo- 
durch der  Begriff,  auf  welchen  die  Untersuchung  geführt  hat,  ganz  unab- 
hängig von  allen  schon  fertigen  Raum -Vorstellungen  so  weit  mufs  ent- 
wickelt werden,  bis  wir  klar  sehen,  wie  und  warum  wir  ihn  mit  Zuversicht 
der  Mathematik  überliefern  können,  damit  sie  ihn  weiter  nach  ihrer  ge- 
wohnten Weise  behandele.  Vorläufig  nennen  wir  denjenigen  Raum,  wel- 
chen wir  zu  dem  Kommen  [199]  und  Gehen  der  Substanzen  unvermeid- 
lich hinzudenken,  den  intelligibeln   Raum. 

Wir  dürfen  nun  voraussagen,  dafs  derselbe  sich  am  Ende  in  ein 
Continuum  mit  drey  Dimensionen,  gleich  dem  sinnlichen  Räume,  ver- 
wandeln wird;  und  dafs  hierin  also  ein  neuer  Anfang  der  Synechologie  zu 
finden  ist,  welcher  zur  Untersuchung  der  Continuität  weit  mehr  Sicherheit 
und  Bequemlichkeit  gewährt,  als  die  oben  erwähnten,  sehr  zweydeutigen 
Berufungen  auf  reine  Anschauung  jemals  darbieten  können.  Wollte  man 
ihren  wahren  Gehalt  erforschen,  so  müfste  es  durch  die  Psychologie  ge- 
schehn;  diese  aber  lehrt  niemals,  wie  man  denken  soll,  sondern  sie  erklärt 
nur  das  vorhandene,  gleichviel  ob  wahre  oder  falsche  Denken;  und  darauf 


ß.Absch.  Synechologie.    i .  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.   2.  Cap.  V.  d.  starren  Linie  etc.    ug 

ist  unsere  jetzige  Absicht  nicht  gerichtet.  Sondern  wir  wollen  wissen,  wie 
man  den  Begriff  der  Continuität  dergestalt  zu  fassen  habe,  dafs  er  zur 
Natur- Wissenschaft  brauchbar  werde;  da  wir  ihn  längst  in  Verdacht  haben, 
dafs  er  derselben  bisher  nach  den  Umständen  bald  nützlich,  bald  schäd- 
lich geworden   sey. 


Zweytes  Capitel. 
Von  der  starren  Linie  und  der  Zahl. 

§•  245. 

Unsre  erste  Sorge  sey  jetzt,  alles  Überflüssige,  was  die  Untersuchung 
nicht  fördern  würde,  bey  Seite  zu  setzen.  Von  Widersprüchen  und  deren 
Behandlung  ist  für  jetzt  nicht  die  Rede;  es  kommt  darauf  an,  einen  Be- 
griff zu  entwickeln,  der  aus  einer  Möglichkeit  entspringt,  und  auf  neue 
Möglichkeiten  hinweiset.  Auch  von  der  wahren  Qualität,  von  ihrer  Zer- 
legung, vom  [200]  wirklichen  Geschehen,  dürfen  wir  abstrahiren.  Nichts 
Anderes  beschäfftigt  uns,  als  der  höchst  einfache  Gedanke:  ein  paar  ein- 
fache Wesen,  die  wir  A  und  B  nennen  wollen,  können  zusammen,  sie  können 
aber  auch  nicht -zusammen  seyn.  Unsere  Absicht,  hiedurch  die  Erklärung 
der  Veränderung,  und  der  Veränderlichkeit  der  gesammten  Sinnenwelt 
näher  zu  bestimmen,  —  die  Natur  der  Materie,  den  Lauf  der  Welt  ken- 
nen zu  lernen,  —  wollen  wir  zwar  nicht  vergessen;  aber  selbst  diese  Ab- 
sicht thut  für  jetzt  nichts  zur  Sache.  Wir  müssen  uns  einmal  einer  blofsen 
Speculation  überlassen,  die  immerhin  so  aussehn  mag,  als  wäre  sie  ledig- 
lich das  Spiel  einer  müfsigen  Stunde.  Die  Folgen  werden  sich  schon 
zeigen. 

1)  Angenommen,  A  und  B  seyen  nicht  zusammen:  so  liegt  nun  die 
Möglichkeit,  dafs  sie  zusammen  seyn  könnten,  nicht  blofs  einfach,  sondern 
zwiefach  vor  Augen.  Dem  A  fehlt  B.  Dem  B  fehlt  A.  Jedes  bietet 
sich  dar,  so  dafs  mit  ihm  das  andre  zusammen  seyn  könnte.  Auf  diesem 
scheinbar  geringfügigen  Umstände  beruht  alles  Folgende.  Der  Aufmerk- 
samkeit kann  hiebey  wohl  ein  Gleichnifs  aus  der  Logik  einige  Unterstützung 
gewähren.  Wir  können  A  das  Subject,  B  das  Prädicat  nennen,  wenn  wir 
annehmen,  jenes  sey  dasjenige,  auf  welches  wir  zuerst  unser  Augenmerk 
gerichtet  haben,   um   späterhin   B   zu  ihm   in   Gedanken  hinzuzufügen. 

Die  Möglichkeit  schwebt  uns  jetzt  schon  vor,  dafs  zu  dem  voraus- 
gesetzten A  sich  B  geselle.  Wir  haben  also  mit  dem  wirklichen  A  den  leeren 
Gedanken  von  B  verbunden.  Diesen  leeren  Gedanken  nennen  wir  das  Bild 
von  B.  Gleichfalls  hängt  an  dem  wirklichen  B  das  Bild  von  A  ;  denn  auch 
B  kann  angesehen  werden  als  wartend  auf  das  hinzukommende,  aber  noch 
nicht   angelangte   A. 

[201]  Aus  den  eben  gebrauchten  Ausdrücken  kann  man  Alles,  was 
eine  Zeit-  oder  Raumbestimmung  andeutet,  weglassen;  nur  zur  Deutlich- 
keit,  zur  bequemern   Rede   dienten  die  Worte  ///'//zukommen  und  Anlangen. 

Aber  wesentlich    ist  es,    zu  bemerken,    dafs  nunmehr  aus  zwe/en   Be- 


120  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

griffen  vier  geworden  sind;  aus  A  und  B  wurden  noch  zwey  leere  Bilder, 
weil  Jedes  von  beyden  einerseits  als  wirklich,  andererseits  aber  als  man- 
gelnd dem  Zusammen  mit  dem  andern,  gedacht  wird.  Die  blofse  Vor- 
stellung dieses  Mangels  ist  selbst  der  Ursprung  des  leeren  Bildes  von  dem, 
was  mit  dem  Andern  verknüpft  seyn  konnte.  Man  denkt  es  hinzu,  eben 
indem  man  es  vermifst.  Man  denkt  es  zu  dein  Andern  hinzu,  bei  welchem 
man  es  vermifst.  Aber  nur  als  ein  leeres  Bild  denkt  man  es  hinzu,  weil 
man  es  vermifst.  Die  leeren  Bilder  dürfen  nicht  verloren  gehn;  sie  sind 
der  eigentliche   Gegenstand  unserer  Betrachtung. 

2)  Wie  nun,  wenn  wir  B  als  Subject  betrachten,  welchem  A  soll  bey- 
crefürrt  werden  ? 

Die  Beifügung  sev  geschehen :  so  verbindet  sich  von  jenen  vier  Be- 
griffen das  wirkliche  A  mit  einem  schon  verbundenen  Paar,  nämlich  mit 
B  und  dem  Bilde  von  A.  Diese  drey  sind  nun  zusammen.  Der  vierte 
Begriff,  welcher  in  diese  Verbindung  nicht  eingeht,  erleidet  gar  keine  Ver- 
änderung; er  mufs  blofs  vestgehalten  werden,  obgleich  er  nur  das  leere 
Bild  ist  von  B;  dasselbe  Bild,  welches  zuvor  in  A  die  Möglichkeit  be- 
zeichnete, mit  ihm  könne  B  zusammen  seyn.  So  nun  gerade,  wie  damals 
A  und  B  nicht -zusammen  waren,  —  und  gleichsam  zum  Andenken  an 
dieses  ehemalige  Nicht -Zusammen,  - —  soll  jetzt  ganz  genau  bewahrt  wer- 
den der  Gedanke  :  das  leere  Bild  von  B  ist  nicht  zusammen  mit  jenen  drey, 
die   tinter   sich   zusammen   sind. 

[202]  3)  Wir  wollen  jetzt  auf  den  Anfang  der  Betrachtung  zurückblicken. 
Dafs  A  und  B  zuerst  als  gesondert  vorgestellt  wurden,  ist  willkührlich; 
man  hätte  auch  beginnen  können  mit  der  Annahme,  sie  seyen  verbunden; 
dann  aber  hätte  man,  um  die  Zufälligkeit  und  Auflöslichkeit  dieser  Ver- 
bindung deutlich  anzuzeigen,   sie  trennen  müssen. 

Gerade  auf  diesem  Punkte  befinden  wir  uns  jetzt.  A  ist  zusammen 
mit  B;  es  braucht  aber  nicht,  dafs  dies  Zusammen  bestehe;  wir  könnten 
es  rückgängig  machen,  indem  wir  in  Gedanken  B  vesthielten,  und  die 
vorige  Beyfügung  des  A  durch  ihr  gerades  Gegentheil,  nämlich  durch  Ab- 
sonderung von  A,   wieder  aufhöben. 

Allein  auch  das  ist  nicht  nöthig.  Um  hier,  wo  alles  willkührlich  ist, 
unsere  Willkühr  an  den  Tag  zu  legen  (und  eigentlich  noch  aus  einem 
andern  Grunde  der  bequemern  Ordnung,  wie  man  weiterhin  von  selbst 
bemerken  wird),  wollen  wir  nicht  B,  sondern  A  in  Gedanken  vesthalten; 
die  Sonderung  aber  soll  geschehen  durch  B.  Alles  Andre  soll  ganz  genau 
bleiben  wie  es  war.  So  erblickt  man  jetzt  dreyerley ;  nämlich  ein  ver- 
bundenes Paar,  ein  leeres  Bild  für  sich  allein,  und  ein  reales  Wesen,  auch 
für  sich   allein. 

Wir  dürfen  an  diesem  Puncte  durchaus  keine  Mühe  scheuen,  um 
uns  deutlich  auszudrücken.  —  Welches  ist  das  verbundene  Paar?  Es  ist 
das  wirkliche  A,  und  ein  leeres  Bild  von  eben  diesem  A.  Wie  kommt 
denn  das  Wirkliche  in  Verbindung  mit  seinem  eigenen  leeren  Bilde?  Da- 
her, weil  dieses  Bild  von  ihm  früher,  und  ursprünglich,  dem  B  anhing ; 
indem  es  in  B  die  Möglichkeit  repräsentirte,  dafs  mit  demselben  wohl  A 
zusammen  seyn  könnte;  jetzt  aber  heben  wir  B  aus  der  Verbindung  heraus, 
in  welche  schon  wirklich   A    war    versetzt  worden.       Welches    aber    ist   denn 


.Abschn.  Synechologie.    i.Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.   2.  Cap.  V.d.  starren  Linie  etc.    121 


jetzt  das  leere  Bild,  das  für  sich  allein  [203]  gedacht  wird?  Es  ist  das 
Bild  von  B.  Dies  wohnte  ursprünglich  in  A;  es  zeigte  dort  die  Möglich- 
keit an,  dafs  mit  A  auch  wohl  B  zusammen  seyn  könne;  es  blieb  aber 
allein  zurück  —  zum  Andenken  des  ursprünglichen  Nicht-Zusammen,  — 
als  A  selbst  gleichsam  zum  Prädicat  wurde  für  das  vorausgesetzte  B,  wel- 
chem wir  es  verknüpften.  Welches  endlich  ist  denn  das  allein  stehende  reale 
Wesen?  Es  ist  B  selbst.  Denn  dies  eben  wird  aus  der  Verbindung  mit 
A  und  mit  dem  leeren  Bilde  von  A,  herausgehoben;  indem  die  verlangte 
Sonderung  durch   B,   und  nicht  durch  A,  geschehen  sollte. 

Aber  hier  wird  nun  das  eigne  Nachdenken  des  Lesers  von  selbst 
finden,  dafs  die  Zahl  von  vier  Begriffen,  welche  bisher  genügte,  jetzt  nicht 
mehr  zureicht.  Denn  was  heifst  das,  B  stehe  allein?  Warum  ist  mit  B 
kein  Bild  von  A  verbunden?  Braucht  denn  nicht  mehr  die  Möglichkeit, 
mit  B  könne  A  zusammen  seyn,  in  B  bezeichnet  zu  werden?  In  der 
That  braucht  nichts  Besonderes,  nichts  Absichtliches  deshalb  veranstaltet 
zu  werden;  denn  das  Geforderte  ist  geschehen;  die  Antwort  liegt  in  der 
Frage.  Gerade  indem  wir  uns  erinnern,  mit  B  den  möglichen  Gedanken 
seines  Zusammen  mit  A  zu  verknüpfen,  ist  eben  schon  dieser  Gedanke 
selbst  ein   neues  leeres   Bild,   welches  wir  unvermerkt  geschaffen  haben. 

Und  so  giebt  es  nunmehr  fünf  Stücke  in  der  Betrachtung;  drey  leere 
Bilder,  und  zwey  reale  Wesen. 

4)  Die  Construction  ist  noch  nicht  am  Ende.  Genau  genommen 
findet  sie  niemals  ein  Ende;  denn  das  Nicht-Zusammen  ist  für  die  realen 
Wesen  A  und  B  eben  so  zufällig  wie  das  Zusammen;  und  nur  ein  be- 
ständig fortgesetzter  Wechsel  dieser  beyden  gleich  möglichen  Voraussetzungen 
stellt  ihre  ganze   Zufälligkeit  ins   Licht. 

Mit  B,  sagten  wir  so  eben,  könne  A  zusammen  [204]  seyn.  Hie- 
durch  schufen  wir  ein  drittes  leeres  Bild,  welches,  angeknüpft  an  B,  zur 
Vorbedeutung  diente,  dafs  A  dereinst  selbst  da  seyn  solle.  Nichts  ver- 
hindert, dafs  wir  diese  Vorbedeutung  zutreffen  lassen.  Wir  machen  also 
wiederum,  wie  vorhin  (2),  B  zum  Subject,  und  behandeln  A  als  Prädicat, 
indem  wir  es  jenem  beylügen.  Da  wäre  nun  Alles,  wie  es  gewesen  ist, 
wenn  nicht  die  leeren  Bilder  von  neuem  unsre  Aufmerksamkeit  forderten. 

Das  dritte  leere  Bild,  welches  ein  zweytes  ist  von  A,  haftet  an  B. 
Hiemit  vereinigen  wir  A  selbst.  Also  heben  wir  es  hinweg  aus  jener 
Verbindung,  in  die  es  mit  seinem  ersten  leeren  Bilde  gerathen  war.  So 
bleibt  denn,  —  weil  alles  Übrige  streng  vestgehalten  werden  mufs,  wie  es 
war,  —  das  erste  leere  Bild  von  A  allein  stehn;  so  gerade,  wie  schon 
zuvor  das  Bild  von  B  allein  blieb,  und  noch  jetzt  allein  ist,  denn  Nichts 
darf  verloren  gehn. 

Hier  wird  nun  schon  eine  Ordnung  unter  den  Bildern  bemerklich, 
die  bald  deutlicher  hervortreten   soll. 

5)  Der  Wechsel  geht  fort.  A  und  B  waren  zusammen;  sie  sollen 
jetzt  wieder  nicht  zusammen  seyn. 

Der  leichtern  Übersicht  wegen  verfahren  wir  genau  so  wie  zuvor 
(in  3).  Also  B  sondert  sich  ab.  Dadurch  entsteht  in  ihm,  weil  es  immer 
mit  A  zusammen  seyn  kann,  wiederum  ein  neues  Bild  von  A,  das  vierte 
der  Bilder  überhaupt,   und  das   dritte  von  A. 


122  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


6)  In  diesem  letzten  Bude  Hegt  die  Vorbedeutung  dessen,  was  nun 
folgen  mufs.  A  vereinigt  sich  wieder  mit  B.  So  bleibt  das  Bild,  mit  wel- 
chem  es  zusammen  war,   allein;   und   vergröfsert   die   Reihe  der  Bilder. 

7)  Diese  Reihe,  deren  Begriff  gleich  näher  zu  bestimmen  ist,  und  die 
den  Zielpunkt  der  Betrachtung  ausmacht,  wächst  immerfort,  indem  sich 
der  vorige  Procefs   wiederholt. 

[205]  Gesetzt,  wir  haben  n  leere  Bilder,  und  das  nte  Bild  sey  zu- 
sammen mit  A  und  mit  B,  --  welche  demnach  auch  unter  sich  zusammen 
sind,  —  so  sondern  wir  wiederum  B.  Damit  entsteht  das  (n  -)-  1  ite  leere 
Bild;  weil  hier,  wie  jedesmal  im  ähnlichen  Falle,  die  Möglichkeit  vorhanden 
ist,  dafs  mit  B  auch  A  zusammen  sein  könne;  und  weil  eben  dieser  blofse 
Gedanke  das  (n  -j-  l)te  leere  Bild  selbst  ausmacht.  Alsdann  vereinige 
sich  abermals  A  mit  diesem  Bilde  und  mit  B,  so  wird  das  verlassene 
nte  Bild  zu  der  Reihe  der  vorigen  blofsen  Bilder  hinzukommen.  Da  nun 
dieser  mögliche  Wechsel  immer  von  neuem  eben  so  möglich  ist  als  zuvor: 
so  entsteht  ein  Zuwachs  nach  dem  andern  für  die  Reihe;  sie  geht  folglich 
ins  Unendliche. 

8)  Es  ist  aber  in  der  Reihe  eine  Ordnung,  die  sich  überall,  wo  man 
will,   auch  umkehren   läfst. 

Erstlich  läfst  sich  die  Reihe  rückwärts  durchlaufen,  so  dafs  man  von 
dem  nten  zum   (n  —  l)ten  leeren   Bilde  in  der  Betrachtung  fortgeht. 

Zweytens  kann  man  sprungweise  rückwärts  so  gut  als  vorwärts,  bald 
dies  bald  jenes  der  Bilder  in  einer  wiederholenden  Auffassung  hervorheben; 
alsdann  aber  weifs  man,  dafs  man  spring/;  das  heifst:  man  ist  sich  der 
Ordnungszahlen  bewufst,  welche  den  einzigen  Unterschied  der  Bilder  aus- 
machen, und   durch  welche  sie   bestimmt  geschieden   sind. 

Derjenige  Unterschied,  welcher  Anfangs  zwischen  einem  Bilde  von  A 
und  einem  Bilde  von  B  gemacht  wurde,  ist  blofs  als  Hülfsmittel  der  deut- 
lichem Darstellung  zu  betrachten;  und  dieses  ist  jetzt  nicht  mehr  nöthig; 
wir  setzen  es  nunmehr  bey  Seite.  Die  Bilder  sind  unter  einander  voll- 
kommen gleich;  denn  in  der  ganzen  Betrachtung  ist  von  der  eigen thüm- 
lichen  Qualität  des  A,  oder  des  B,  gar  nicht  die  Rede.  Der  Begriff  des 
Zusammen,  und  sein  Gegentheil,  das  Nicht-[2o6]Zusammen,  ist  die  einzige 
Quelle  der  Reihe;  hierin  aber  liegt  gar  nichts  von  dem  qualitativen  Unter- 
schiede  zwischen  A  und  B. 

Drittens:  man  kann  auch  jedesmal,  wenn  A  und  B  zusammen  sind, 
B  vesthalten,  und  A  heraussondern. 

Dieses  Verfahren  ist  das  Umgekehrte  des  Vorigen.  Nun  ist  es  zwar 
an  sich,  auch  nachdem  schon  jenes  erste  Verfahren  vollzogen  wurde,  noch 
immer  willkührlich,  ob  man  jedesmal  für  A  ein  neues  leeres  Bild  erzeuge, 
welches  die  Möglichkeit,  dafs  B  mit  ihm  zusammen  sey,  repräsentire ;  oder 
ob  man  A  aus  dem  nten  Bilde  in  das  (n  —  l)te  Bild  setzen  will.  Allein 
dieses  letztere  Verfahren  wird  nothwendig  unter  der  Voraussetzung,  dafs 
man  den  Begriff  der  Umkehrung  genau  vesthalten  wolle.  Denn  unter  den 
Bildern  geht  ohnehin  schon  die  Umkehrung  vom  nten  zum  (n  —  l)ten. 
Und  der  Begriff  der  Umkehrung  bezieht  sich  auf  die  frühere  Ordnung, 
deren  Glieder  eine  der  vorigen  entgegengesetzte  Behandlung  erfahren  sollen. 
Unter  dieser  Voraussetzung  also  darf  man,  wenn  statt  des  B  nunmehr  A 


3.  Abschn.  Synechologie.    i.  Abth.  Von  Raum,  Zahleta   2.  Cap.  V.  d.  starren  Linie  etc.    123 

gesondert  werden  soll,  keine  neuen  leeren  Bilder  erzeugen,  welche  sonst 
eine  andre  Reihe,  und  nicht  ein  Rücklaufen  in  der  schon  vorhandenen 
ergeben  würden. 

9)  Gesetzt  also,  nachdem  schon  vom  nten  zum  (n  -f-  l)ten  Gliede, 
und  so  weiter  ins  Unendliche,  nach  dem  ersten,  stets  gleichmäfsig  bey- 
behaltenen  Verfahren  war  fortgeschritten  worden,  verpflanze  man  beliebig 
wieder  A  und  B  in  das  nte  leere  Bild;  und  beobachte  von  nun  an, 
wiederum  gleichmäfsig,  das  entgegengesetzte  Verfahren,  nämlich  jedesmal  A 
zu  betrachten  als  Dasjenige,  was  aus  der  Gemeinschaft  mit  B  gesondert 
werde:  so  folgt  nothwendig,  damit  die  Entgegensetzung  dieses  und  des 
vorigen  Verfahrens  streng  und  genau  sey,  dafs  nun  A  mit  dem  (n — l)ten 
leeren  Bilde  zusammenfalle;  worauf  B  sich  mit  ihm  hier  vereinige,  als-[207] 
dann  A  wieder  gesondert  werde,  und  B  abermals  nachfolge.  Nun  geht 
aber  bey  dieser  Art  des  Fortschreitens  die  Reihe  der  schon  erzeugten  leeren 
Bilder  nicht  ins  Unendliche,  sondern  A  und  B  gelangen  nach  eben  so 
vielen  Fortschreitungen,  wie  die  Zahl  n  erfordert,  wieder  in  den  Anfang 
der  ganzen  Reihe.  Hier  aber  ist  ihr  Fortschreiten  durch  Nichts  auf- 
gehalten.  Es  entsteht  nur  der  Unterschied,  dafs  jetzt  nichts  Umzukehrendes 
sich  darbietet;  obgleich  der  allgemeine  Begriff  desjenigen  Verfahrens ,  was 
wir  das  umgekelirie  nannten,  noch  immer  die  gleiche  Regel  des  Fortschreitens 
ausmacht. 

Wenn  also  nunmehr  A  und  B  unter  sich,  und  mit  dem  ersten  leeren 
Bilde  zusammen  sind,  so  mufs,  damit  dies  umgekehrte  Verfahren  stets 
gleichmäfsig  befolgt  werde,  A  wiederum  gesondert  werden.  Nur  ist  jetzt 
kein  leeres  Bild  vorhanden,  mit  welchem  es  zusammen  seyn  dürfte;  denn 
an  die  in  der  ersten  Fortschreitung  erzeugten  Bilder  darf  gar  nicht  gedacht 
werden,  weil  sonst  A  dieselbe  Fortschreitung  machen  würde,  die  vorhin  B 
gemacht  hat;  es  soll  aber  nach  der  Voraussetzung. die  umgekehrte  machen. 
Also  erzeugt  jetzt  A  selbst  ein  leeres  Bild,  denn  es  klebt  ihm  die  Mög- 
lichkeit des  Zusammen  mit  B  unvermeidlich  an.  Und  nachdem  dieses 
Zusammen  vollzogen  worden,  schreitet  A,  sich  absondernd,  wiederum  fort; 
und  die  Wiederholung  dieses  Verfahrens  findet  ebenfalls  keine  Gränze, 
sondern  geht,  da  es  nur  die  Bezeichnung  einer  Möglichkeit  ist,  eben  so 
weit  als  diese  Möglichkeit,  das  heifst,  ins  Unendliche.  Die  ganze  Reihe, 
vollständig  zusammengefafst,  ist  also  nun,  vermöge  zweyer  entgegengesetzten 
Fortschreitungen  von  einem  beliebigen   Anfange,   zwiefach   unendlich. 

[208]  §.  246. 

Es  wird  nicht  an  Personen  fehlen,  welche  auf  alle  Weise  versuchen, 
die  vorige  Construction  zu  beschuldigen,  es  lägen  dabey  schon  Raum- 
begriffe, aus  der  wohlbekannten  vorgeblichen  reinen  Anschauung,  —  das 
heifst  eigentlich,  aus  dem  vermöge  des  unwillkührlichen  psychologischen 
Mechanismus  erzeugten  sinnlichen  Räume  —  versteckter  Weise  zum 
Grunde. 

Allein  gerade  umgekehrt  kommen  wir  unsererseits  diesen  Beschuldigern 
mit  dem  Verbot  entgegen,  dafs  sie  nichts  von  bekannten  Raumbegriffen 
einmengen  sollen,  weil  sie  sonst  die  ganze  Construction  unfehlbar  ver- 
derben werden. 


12 4  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Wir  wissen  nur  zu  gut  (denn  es  konnte  nicht  vermieden  werden), 
dafs  gleich  Anfangs,  eben  vermöge  jener  unerlaubten  Einbildung  von  reiner 
Anschauung,  jene  Personen  sich's  bequem  gemacht  haben.  Da  wir  forderten, 
man  solle  A  und  B  nicht  zusammen  denken,  haben  sie  nach  ihrer  ge- 
wohnten Weise  A  und  B  in  eine  beliebige  Weite  auseinander  gerückt, 
gerade  als  ob  schon  Raum  genug  da  wäre,  von  dem  man  eine  beliebige 
Gröfse  zwischen  A  und  B  hineinschieben  könne.  Dieses,  zwar  unvermeid- 
liche, Hineinschieben  nun  verbieten  wir  dennoch.  Alles,  was  irgendwie 
zwischen  A  und  B  seyn  könnte,  wenn  es  nicht  jene  leeren  Bilder  sind, 
die  wir  selbst  erzeugten,  —  soll  verschwinden,  und  mufs  in  Gedanken 
wieder  ausgelöscht  werden. 

Was  hiefs  denn  ursprünglich,  A  und  B  sind  zusammen?  Es  hiefs,  sie 
sind  im  Causalverhältnis.  Nun  aber  kennen  wir  die  Selbstständigkeit  jedes 
realen  Wesens;  A  sowohl  als  B  sind  solche  Wesen;  als  zwey  Selbstständige 
sind  sie  von  keinem  gegenseitigen  Verhältnisse  abhängig.  Sie  können  also 
auch  nicht-zusammen,  das  heifst,  für  einander  nicht  vorhanden  [20g]  seyn; 
wovon  die  Folge  ist,  dafs  alsdann,  ungeachtet  des  Gegensatzes  ihrer 
wahren  Qualitäten,  welchen  Gegensatz  der  Zuschauer  sich  durch  zufällige 
Ansichten  deutlich  macht,  doch  keine  Störung  und  Selbsterhaltung  eintrit. 
Denn  das  wirkliche  Geschehen  der  Selbsterhaltung  jedes  Wesens  gegen 
das  andere  folgt  gar  nicht  aus  den  Begriffen,  dafs  die  Wesen  sind,  oder 
was  die  Wesen  sind;  sondern  der  einzige  Erkenntnifsgrund  eines  solchen 
Geschehens,  ivenn  es  geschieht,  ist  die  Erfahrung.  Und  die  Erfahrung  zeigt 
die  sinnlichen  Dinge  in  Veränderung;  hiemit  zeigt  sie  mittelbar  an,  dafs 
sich  die  nämlichen  realen  Wesen  bald  gegen  einander  selbsterhalten,  bald 
nicht;  oder  dafs  wir  sie  in  unserem  Denken  bald  zusammenfassen  müssen, 
bald  nicht.  Wenn  wir  sie  nun  nicht  zusammen  fassen,  so  haben  wir  darum 
doch  noch  keine  Erlaubnifs,  sie  in  irgend  einen  vorräthigen  Raum  hinein- 
zusetzen. Es  giebt  also  auch  nichts,  was  wir  zwischen  A  und  B  setzen 
dürften.  Nun  begegnet  es  freylich  (wir  wollen  es  aufrichtig  bekennen) 
uns  Allen,  dafs  wir  in  solchen  Fällen  einem  unwillkürlichen  psychologischen 
Mechanismus  nachgeben,  der  uns  einen  Raum  aufdringt,  welchen  wir  nicht 
annehmen  sollen.  Hiegegen  aber  müssen  wir  uns  stemmen;  und  gegen 
die  Bastarde  unserer  Phantasie  eben  so  protestiren,  wie  der  Mathematiker 
gegen  die  Dicke  der  Flächen  und  gegen  die  Breite  der  Linien  protestirt. 
Wir  wollen  keinen  Zwischenraum  zwischen  A  und  B;  sie  sind  nicht  zu- 
sammen, aber  es  ist  Nichts  dazwischen.  Die  Klagen,  man  könne  sich 
das  nicht  vorstellen,  helfen  hier  gar  Nichts.  Der  Begriff  soll  rein  bleiben; 
und  wir  begehren  keine  Bilder,  als  ob  man  sie  anschaue,  sondern  wir 
fordern  Begriffe,  und  deren  Verknüpfungen.  Man  kann  sich  noch  viel 
weniger  eine  Quadrat- Wurzel  aus  einer  negativen  Gröfse  vorstellen ;  diese 
kann  man  nicht  einmal  als  etwas  Denk[2  iojbares,  vielweniger  gleich  einem 
Anschaulichen  fassen;  aber  man  kann  vollkommen  genau  damit  rechnen; 
und  dazu  gehört  nichts  weiter,  als  eine  scharfe  Aufmerksamkeit  auf  die 
Merkmale  und  auf  das  Gesetz  der  Verbindung  derselben  in  dem,  gleich- 
viel  ob  denkbaren  oder  undenkbaren,   Begriffe. 

Hinweg  also  mit  jeder  Frage,  ob  A  und  B  sich  noch  als  nicht  zu- 
sammen   denken   lassen,    wenn    nichts    dazwischen   wäre.       Metaphysik   ist 


3 .  Abchn.  Synechologie.    i .  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.   2.  Cap.  V.  d.  starren  Linie  etc.    125 

nicht  Psychologie;  sie  lehrt  nicht,  was  man  denkt,  sondern,  was  man 
denken  soll;  und  das  Sollen  hängt  weder  hier  noch  in  der  Sittenlehre 
ab  vom  Können. 

§•  247- 

So  wenig  nun  Raumbegriffe  eingemengt  werden  dürfen  in  die  obige 
Construction,  wenn  sie  nicht  von  selbst  darin  entstehen:  eben  so  gewifs 
findet  man  einige  derselben  hier  wieder,  die  man  schon  sonst  kannte, 
und  mit  Namen  bezeichnete. 

Zuvörderst  den  Begriff  des  Orts  oder  der  Stelle.  Dieser  Begriff  läfst 
sich  schon  vor  der  gemachten  Construction  entdecken;  nur  ist  es  ohne 
sie  schwer,  ihn  sichtbar  zu  machen.  A  und  B  seyen  nicht  zusammen: 
so  braucht  man  nur  diesen  Gedanken,  welcher  A  und  B  auf  gleiche  Weise 
umfafst,  so  zu  theilen,  dafs  er  sich  auf  jedes  von  beyden  insbesondere  be- 
ziehe. Alsdann  hat  A  gleichsam  die  Wahl  —  oder  eigentlich  haben  wir 
zu  wählen,  —  ob  A  noch  ferner  nicht  zusammen,  oder  zusammen  mit  B 
seyn  solle.  Dieselbe  Wahl  hat  B  in  Beziehung  auf  A.  Das  Entweder  — 
Oder  in  dieser  Wahl  zeigt  eine  Beweglichkeit  des  Gedankens,  welcher  gar 
nicht  in  der  Qualität  des  A,  oder  des  B,  enthalten  ist.  Gesetzt,  es  gäbe 
gar  kein  B:  so  hätte  A  nicht  diese  Wahl;  sie  entspringt  für  A  aus  dem 
ganz  zufälligen  Umstände,  dafs  B  auch  existirt.  A  mag  [211]  wählen; 
denn  B  hat  etivas  angeboten.  Was  aber  B  anbietet,  das  ist  eine  Art,  wie 
A  könne  gesetzt  werden.  Wie  denn?  Will  man  diesen  Gedanken  voll- 
ständig entwickeln,  so  bedeutet  er,  A  könne  so  gesetzt  werden,  dafs  sowohl 
A  als  B  sich  gegen  einander  selbst  erhalten.  Das  geschieht,  wenn  es  ge- 
schieht, noth wendig  in  beyden.  Aber  die  veränderte  Setzung,  vermöge 
deren  die  Selbsterhaltungen  beyde  zugleich  eintreten,  geht  nicht  not- 
wendig aus  von  beyden.  Man  kann  B  voraussetzen;  man  kann  alsdann  A 
hinzusetzen.  Eben  so  gut  läfst  sich  auch  A  voraussetzen,  und  alsdann  B 
hinzusetzen.  Dies  ist  die  nämliche  Operation,  wie  bey  den  Urtheilen  in 
der  Logik,  wenn  sie  schlechthin  umgekehrt  werden  können,  oder  auch, 
wenn  man  die  nöthige  Abänderung  der  Quantität  nachträglich  beyzufügen 
sich  vorbehält.  Kein  Cirkel  ist  ein  Viereck;  kein  Viereck  ist  ein  Cirkel. 
Zwey  mal  zwey  ist  vier;  und  vier  ist  zweymal  zwey.  Rosen  sind  Blumen; 
und  Blumen  (nämlich  einige  derselben)  sind  Rosen.  Hier  überall  hatte 
man  zwey  vorliegende  Begriffe;  und  nun  konnte  man,  unter  Beobachtung 
nöthiger  Vorsicht,  einen  oder  den  andern  zuerst  hinstellen;  alsdann  den 
andern  hinzufügen.  So  gerade,  wenn  A  und  B  aus  dem  Nicht -Zusammen 
übergehn  sollen  ins  Zusammen,  hat  man  noch  die  Wahl,  entweder  eins 
oder  das  andere  vorauszusetzen,  um  das  andre  nachzutragen. 

Welches  man  voraussetzt,  dieses  bietet  dem  andern  die  Stelle,  oder 
den  Ort,  tvohin  es  könne  gesetzt  werden.  Die  eben  gegebene  Erläuterung 
zeigt  nun  deutlich  das  Verhältnifs  zwischen  dem  Wo  und  dem  Wie.  Nämlich 
das  Wie  ist  ursprünglich  so  allgemein,  dafs  es  auch  das  Wo  unter  sich 
befafst.  So  sagten  wir  oben,  was  B  anbiete,  das  sey  eine  Art,  wie  A 
könne  gesetzt  werden.  Allein  es  entdeckte  sich  gleich  [212]  darauf,  dafs 
man  nicht  nöthig  habe,  das  Wie  im  vorliegenden  Falle  vollständig  zu  ent- 
wickeln:   und    dafs    die    erste    Hälfte    dieser    Kntwickelung    das    Wo    ergebe, 


I2Ö  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


sobald  man  sich  der  Freyheit  bediene,  welche  sich  darbietet.  Die  voll- 
ständige Entwicklung  des  Wie?  führte  bey  den  realen  Wesen  auf  das 
wirkliche  Geschehen  ihrer  Selbsterhaltungen;  ein  zwiefaches,  nothwendiges, 
unzertrennliches  Geschehen,  wovon  kein  Theil  dem  andern  darf  voraus 
oder  nachgesetzt  werden.  Aber  das  vorläufige  Zusammenfassen  des  A 
und  B,  wobey  man  noch  nicht  überlegt,  ob  und  welcher  Gegensatz  der 
Qualität  zwischen  beyden  statt  finde,  gestattet  eine  Willkühr;  man  braucht 
nicht  beyde  auf  einmal  und  auf  gleiche  Weise  zu  fassen;  man  kann  erst 
Eins  fassen,  und  alsdann  ihm  das  andre  bringen.  Und  noch  ehe  man 
es  bringt,  kann  man  die  Möglichkeit  dieses  Bringens  überlegen.  Daraus 
entstand  uns  vorhin  das  leere  Bild  des  A,  welches  geheftet  war  an  B, 
oder  zusammen  mit  B,  noch  ehe  und  bevor  A  selbst  dahin  kam.  Es  ist 
nun  gleichbedeutend  zu  sagen:  B  bietet  dem  A  einen  Ort  an,  wo  es  styn 
könne,  oder:  B  gestattet,  daß  ihm  das  leere  Bild  von  A,  auch  wenn  A  selbst 
nicht  mit  ihm  zusammen  ist,  dergestalt  angeheftet  werde,  als  gäbe  es  ein 
wahres  Zusammen  des  B  mit  dem  leeren  Bilde.  Natürlich  ist  dies  eine 
blofse  Fiction;  denn  gegen  das  blofse,  nichtige  Bild  des  A  wird  B  nicht 
sich  selbst  erhalten.  Aber  wir  sind  hier  in  der  Gegend  der  Fictionen; 
alle  Raumbegriffe  sind  nichts  anderes  als  Gedankendinge. 

§•   248. 

Femer  findet  sich  in  der  gemachten  Construction  der  Begriff  des 
Zwischen. 

Im  Allgemeinen  ist  dieser  Begriff  unläugbar  allent-[2i3]halben  da  zu- 
gegen, wo  die  Ordnungszahlen  unzweideutig  fortschreiten.  Das  nte  leere 
Bild  liegt  zwischen  dem  (n  —  l)ten  und  dem  (n-j-l)ten. 

Wie?  werden  jene  Beschuldiger  ausrufen  (§.  246),  haben  zuir  nicht 
die  Frevhcit,  das  (n  -\-  ljle  Bild  dergestalt  seiticärts,  oberwärts,  hinterwärts 
zu  setzen,  daß  die  Bilder  in  ihrer  Lage  weit  genug  von  der  Ordnung  der 
Zahlen   abweichen  ? 

Nein !  Diese  Frevheit  ist  schon  abgeschnitten.  Es  ist  ein  für  allemal 
verboten,  seitwärts,  oberwärts,  unterwärts  etwas  zu  setzen,  denn  alle  diese 
Begriffe  stammen  aus  dem  als  bekannt  vorausgesetzten  Räume.  Wer  jetzt 
schon  Puncte  in  ein  Dreyeck  stellt,  der  mag  sich  selbst  beschuldigen,  die 
Fläche  einzumengen,  noch  bevor  wir  es  ausgesprochen  haben,  dafs  wir 
von  einer  Linie  reden.  Es  geht  nicht  so  schnell  mit  unserer  Anknüpfung 
des  Bekannten  an  das  Neue. 

Wenn  in  unserer  Construction  B  von  A  gesondert  wird,  so  verliert 
es  sich  damit  nicht  von  demselben,  sondern  es  bleibt  ganz  in  der  Nähe, 
weil  kein  Zwischenraum  vorhanden  ist,  um  welchen  beyde  getrennt  seyn 
könnten.  Es  macht  auch  keine  winklichte  Bewegung,  denn  alsdann  käme 
ein  Begriff  von  gegenseitiger  Lage  zur  Anwendung,  der  aus  der  bisher 
geöffneten  Quelle  nicht  entspringen  kann.  Unsre  Fortschreitung  ist  stets 
gleichförmig.  Indem  wir  von  Bild  zu  Bild  weiter  kommen,  liegt  stets  das 
Vorhergehende  hinter  uns,  ohne  irgend  einen  andern  Unterschied,  als 
welchen  die  Ordnungszahlen  n  —  1,  n,  n  -+-  1,  bestimmt  angeben.  Alles 
Unbestimmte,  Schwankende,  was  Jemand  in  unserer  Construction  meinen 
könnte    zu    finden,    würde    \erschiedene   Möglichkeiten    voraussetzen,    unter 


3-Abschn.  Synechologie.    i.Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.   2.Cap.  V.  d.  starren  Linie  etc.    127 

welchen  zu  wählen  wäre;  aber  wir  wissen  hier  noch  nichts  von  diesen 
Möglichkeiten,  und  können  folglich  [214]  nicht  wählen.  Es  mag  wohl 
seyn,  dafs  Jemand  unzählige  Wege  weifs,  wie  man  von  dem  zwanzigsten 
leeren  Bilde  gelangen  könne  zum  vierundzwanzigsten;  wir  aber  wissen 
nicht  anders,  als  dafs  dieses  letztre  gar  nicht  da  seyn  würde,  wenn  es 
nicht  folgte  auf  das  dreyundzwanzigste;  und  wiederum  dies  nicht  wäre 
ohne  das  zweyundzwanzigste;  und  so  rückwärts.  Daher  können  wir 
schlechterdings  nicht  anders  als  nur  vermittelst  des  ein,  zwey,  dreiund- 
zwanzigsten gelangen  vom   zwanzigsten  zum  vierundzwanzigsten. 

Wir  sagen  demnach  nicht  blofs:  jene  liegen  daziüischcn,  sondern  auch, 
sie  liegen  gerade  dazwischen.  Das  heilst,  ganz,  und  vollständig,  und 
unumgänglich  dazwischen.  Dies  freylich  in  unserer  Unschuld;  denn  wer 
weifs,  welche  Künste  des  Umgehens  wir  künftig  noch  lernen  werden! 
Soviel  aber  ist  gewifs,  dafs  wir  die  Richtigkeit  unseres  Ausdrucks  sehr 
leicht  analytisch  aus   dem  Sprachgebrauche  nachweisen  können. 

Alle  Schwierigkeit,  welche  man  von  jeher  in  der  Erklärung  des 
Geraden  gefunden  hat,  rührt  daher,  dafs  man  daneben  immer  schon  das 
Krumme  in  Gedanken  hatte.  Man  bezog  die  gerade  Linie  immer  nur 
auf  den  Raum;  in  diesem  giebt  es  allerdings  Gerades  und  Krummes. 
Hätte  man  gedacht  an  Zahl,  Grad  und  Zeit:  so  wäre  das  Gerade  sogleich 
erkannt  worden.  Der  siebente  Grad  der  Wärme  liegt  gerade,  und  nicht 
schief,  zwischen  dem  achten  und  dem  sechsten;  eben  so  gerade  als  7 
zwischen  6  und  8,  oder  8  und  6;  denn  es  kann  Niemandem  einfallen 
ihn  zu  umgehen,  wenn  die  Wärme  fallen  oder  steigen  soll.  Die  Zeit 
{liefst  ebenfalls  gerade;  und  Niemand  läfst  sich  täuschen  von  den  Ringel- 
tänzen der  Hören.  Jedermann  kennt  die  Gleichartigkeit  wiederkehrender 
Tagesstunden;  aber  Niemand  hält  die  heutigen  Stunden  für  eine  ächte 
Wiederholung  der  gestrigen. 

[2  1 5]  Vielleicht  aber  meint  Jemand,  das  Gerade  bekomme  erst  im  Gegen- 
satze gegen  das  Krumme  seine  rechte  und  volle  Bedeutung.  Das  wollen 
wir  nicht  ganz  ableugnen;  insofern  aber  können  wir  an  diesem  Orte  noch 
nicht  ausführlicher  sprechen  vom  Geraden,  weil  noch  keine  Quelle  ge- 
öffnet ist,  aus  welcher  das  Krumme,  und  der  Gegensatz  beyder,  hervor- 
gehen könnte. 

§.  249. 

Endlich  dürfen  wir  es  aussprechen;  die  gemachte  Construction  ist  die 
einer  Linie;  aber  nicht  einer  stetigen,  sondern  einer  starren. 

Wäre  sie  keine  Linie:  so  wäre  sie  eine  discrete  Reihe  von  Funden. 
Denn  ohne  Zweifel  sind  die  leeren  Bilder,  jedes  einzeln  genommen,  Puncte. 
Was  sie  abbilden,  das  ist  vollkommen  einfach  in  jeder  denkbaren  Beziehung 
(§.  208,  20g);  sie  selbst,  als  getreue  Bilder,  müssen  eben  so  einfach  seyn. 
Diese  Bilder  des  Einfachen  sind  nun  freylich  nicht  Gränzen  einer  Linie,, 
eben  so  wenig  als  unsre  Linie  die  Gränze  einer  Fläche;  aber  diese  will- 
kührlichen,  wiewohl  beliebten,  Erklärungen  sind  ohnehin  zu  eng.  Die  Zeit, 
die  Folge  der  Grade,  der  Zahlen,  denkt  sich  Jedermann  unter  der  Form 
der  Linie,  und  doch  ist  dabey  nicht  zu  denken  an  begränzte  Flächen.  Eben 
so  wenig  kann  die  Zahl   7    oder    10  als  Gränze   zwischen  dem,  was  unend- 


I28  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

lieh  wenig  Mehr  oder  Weniger  ist,  gedacht  werden,  denn  die  zwischen- 
eingeschobenen Brüche  gehn  nicht  den  ganzen  Zahlen  voran;  sie  folgen 
ihnen  nach.  Die  Zahlen  7  und  10  sind  veste  Puncte;  das  Zwischen- 
geschobene schwankt  und  schwebt. 

Zwischen  unsern  Puncten  darf  bekanntlich  gar  Nichts  eingeschoben 
werden.  Gleichwohl  sind  sie  vollkommen  auf  sei-  einander;  denn  sie  ent- 
stehen aus  dem  Nicht -Zusammen.  Dagegen  bezeichnet  das  Zusammen 
ein  voll-[2i6]kommenes  Ineinander;  weil  darin  nicht  das  Mindeste  liegt, 
was  dem  Aufser  ähnlich  wäre;  vielmehr  das  Nicht- Zusammen  gänzlich  auf- 
gehoben wird  durch  das  Zusammen.  Zwey  Puncte  aber,  zwischen  denen 
nicht  vermöge  der  Construction  andere,  regelmäfsig  im  Denken  erzeugte 
Puncte  liegen,  sind  aneina?ider,  ohne  Spur  des  Zusammenfliefsens  und  des 
Zwischenraums. 

Darum  nun,  weil  das  gewöhnliche  Hülfsmittel  des  Sonderns,  nämlich 
das  Zwischenschieben  in  Folge  des  psychologischen  Mechanismus,  für  zwey 
nächste  Puncte  gänzlich  verboten  ist,  können  wir  unsre  Construction  nicht 
als  eine  Reihe  discreter  Puncte  betrachten;  vielmehr  nennen  wir  sie  eine 
Linie;  und  sagen  mit  der  alten  Metaphysik:  extensio  lineae  ex  numero  puneto- 
rum,  quibus  constat  determinatus \  Allein  wir  hüten  uns  zu  behaupten, 
dafs  diese  Erklärung  auf  alle  Linien  passen  könne.  Was  wir  gefunden 
haben,  das  ist  eine  Art  von  Linien;  nicht  lange,  so  werden  wir  auch  eine 
andere,  geometrische  Art  von  Linien  finden,  in  der  man  vergeblich  die 
Puncte  würde  zählen  wollen.  Der  Unterscheidung  wegen  nennen  wir 
unsere  jetzige  Linie  starr,  weil  sie  strenges  Aneinander  ihrer  Puncte  fordert, 
die  mit  einer  fliefsenden  Gröfse  keine  Ähnlichkeit  haben. 


§■  250. 

Die  construirte  Linie  löset  nun  die  Aufgabe,  das  mögliche  Zusammen 
und  Nicht  -  Zusammen  geordnet,  vollständig,  und  ohne  fremdartige  Bey- 
mischungen   zu   denken. 

Wollte  Jemand  zu  diesem  Zwecke  blofs  abwechselnd  trennen  und 
zusammenfassen:  so  würde  er  bey  der  Zu-[2 1 7]sammenfassung  die  leeren 
Bilder  vergessen  oder  verwerfen,  welche  bevm  Trennen  entstanden,  indem 
jedes  dem  andern  eine  Stelle  darbot  (§.  247).  Dies  ist  der  erste  Grund, 
weshalb  nicht  Jeder  von  selbst  auf  unsre  Construction  kommen  wird.  Die 
leeren  Bilder  scheinen  höchst  unbedeutend;  hintennach  aber  geräth,  wegen 
dieser  Vernachlässigung,  die  Lehre  vom  Raum  dergestalt  in  Verwirrung, 
dafs  man  sie  gar  nicht  mehr  mit  den  Vorstellungen  des  Realen  in  Ver- 
bindung zu  bringen  weifs;  und  dann  sucht  man  vergeblich  nach  einer  Er- 
klärung der  Materie.  Die  Elemente  derselben  haben  zwar  eben  so  wenig 
die  Lage  der  Puncte  in  unsrer  starren  Linie,  als  die  Materie  dem  geo- 
metrischen Continuum  gleicht:  aber  um  zu  bestimmen,  wie  die  Elemente 
liegen,  mufs  man  erst  das  Starre  kennen,  um  alsdann  die  Abweichungen 
von  demselben  gehörig  zu  bestimmen.  Alles  Bisherige  ist  nur  der  Anfang 
einer  weitern  Untersuchung. 


*   Baumgartens   Metaphysik  >;.    287. 


2.  Abschn.  Svnechologie.    i .  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.    2.  Cap.  V.  d.  starren  Linie  etc.    i  2  9 


Nachdem  die  Construction  der  Linie  fertig  ist,  versteht  sich  nun  von 
selbst,  dafs  man  die  Freyheit  hat,  auf  ihr  A  und  B  zu  setzen,  wohin  man 
will,  und  in  jede  beliebige  Entfernung.  Denn  alle  Puncte  der  Linie  bieten 
sich  dar  als  mögliche  Stellen  für  jedes  der  beyden  realen  Wesen,  welche 
eben  so  wenig  irgendwo  vest  kleben,  als  sie  überhaupt,  an  sich,  räumliche 
Prädicate  haben.  Wir  haben  nur  die  Form  der  Zusammenfassung  unter- 
sucht, deren  unser  Denken  bedarf,  wenn  wir  in  Ein  Vorstellen  beyde  ver- 
knüpfen wollen. 

Jetzt  aber  verdient  noch  bemerkt  zu  werden,  dafs  auch  die  Form 
der  Zusammenfassung  nicht  durchaus  von  der  Voraussetzung  einfacher 
realer  Wesen  abhängt.  Dies  ist  sehr  leicht  daraus  zu  erkennen,  dafs  wir 
an  die  Qualitäten  derselben,  und  an  die  absolute  Position,  zwar  hie  und 
da  erinnert,  nirgends  aber  uns  darauf  gestützt  haben.  Man  würde  andre 
Beyspiele  für  die  näm-[2  i8]liche  Construction  finden  können,  wenn  nicht 
alle  bekannten  Gegenstände  schon  ihre  inwohnenden  Bestimmungen  der 
Gröfse  oder  anderer  Beziehungen  mitzubringen  pflegten.  Nicht  die  Realität, 
nicht  den  Gegensatz  der  Qualitäten,  wohl  aber  die  Einfachheit  mufs  man 
dem  A  und  B  lassen,  wenn  diese  Buchstaben  zum  gleichen  Behuf  etwas 
anderes  bedeuten  sollen.  Auch  den  Begriff  des  Ineinander  kann  man 
dabey  nicht  entbehren.  Darum  ist  es  schwer,  gut  passende  Beyspiele 
anderer  Art  zu  geben.  Dennoch  kann  es  nützlich  seyn,  wenn  Jemand 
zur  Übung  etwan  ein  paar  Zahlen  auf  ähnliche  Weise  zu  behandeln  ver- 
suchen will.  Wenn  7  -{-  3  =  10  gesetzt  ist;  und  man,  wie  sichs  gebührt, 
jede  dieser  Zahlen  rein  intensiv  denkt:  so  läfst  sich  wohl  die  7  betrachten 
als  trennbar  von  3,  und  auch  als  zusammenfliefsend  mit  ihr  in  der  10. 
Sind  sie  gesondert:  so  liegt  die  doppelte  Möglichkeit  vor  Augen,  dafs  die 
7  durch  3,  oder  die  3  durch  7  einen  Zuwachs  empfangen  könne.  So 
bietet  jede  der  andern  eine  Stelle  dar;  und  dieser  Raumbegriff  der  Stelle 
oder  des  Orts  erzeugt  sich  wiederum  unter  Umständen,  wo  gewifs  keine 
räumliche  Voraussetzung  in  geheim  war  gemacht  worden.  Allein  um  sich 
davon  ganz  klar  zu  überzeugen,  dafs  wirklich  genau  dasselbe,  was  wir  eine 
Stelle  gewohnt  sind  zu  nennen,  auch  hier  vorkomme:  mufs  man  erst 
solcher  Stellen  mehrere,  und  diese  getrennt  von  den  Gegenständen,  — 
man  mufs  sie  als  leere  Stellen  betrachten,  wie  vorhin  unsre  Bilder  dann 
waren,  wann  wir  sie  bloße  Bilder  nannten,  nämlich  solche,  mit  denen  nicht 
A  oder  B  zusammen  waren.  Um  dies  zu  vollziehen,  füge  man  die  7  zur 
3;  sondere  alsdann  die  3;  bringe  ihr  wieder  die  7;  sondere  von  neuem 
jene,  und  trage  diese  hinzu;  so,  dafs  man  die  Vorstellung  des  Scheidens 
immer  auf  die  nämliche  Zahl,  hingegen  die  des  Hinzutretens  auf  die 
andre  übertrage.  [2  1  q]  Wir  können  dies  rein  arithmetisch  so  ausdrücken : 
von  10  subtrahire  man  3;  zu  dieser  3  addire  man  7;  das  erstemal  blieb 
7,  das  zweytemal  war  das  Bleibend- Vorhandene  die  3,  hingegen  was  vorhin 
blieb,  wurde  nun  Zusatz  zu  jenem.  Man  fahre  eben  so  fort;  wiederum 
bleibt  7,  also  rückt  3 ;  zu  dieser  nämlichen  3  rückt  alsdann  jene,  während 
diese  bleibt.  Man  mag  nun  wollen  oder  nicht:  so  wird  man  endlich  ge- 
wahr werden,  dafs  die  Zahl  10,  obgleich  stets  dieselbe  Zahl,  doch  hiebey 
durch  eine  Reihe  von  Stellen  hindurchwandert,  die  in  Gedanken  entstehn, 
obgleich  sie  im  sinnlichen  Räume   nirgends    zu    finden  sind.     Noch  deut- 

Herbart's  Werke.     VIII.  9 


j^0  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

licher  wird  dies  bey  der  Umkehrung.  Von  der  10  subtrahire  man  jetzt  7; 
es  bleibt  3.  Statt  nun  zu  der  bleibenden  3  wiederum  die  subtrahirte  7 
hinzu  zu  thun,  —  wodurch  die  10  vollkommen  wieder  in  ihren  alten 
Stand  gesetzt  würde:  reflectire  man  auf  die  vorhin  weggenommene  Zahl; 
ihr  gebe  man  die,  welche  blieb.  So  fortfahrend  verliert  immer  3  die  7, 
gewinnt  immer  7  die  3 ;  und  entsteht  immer  10  aus  der  7  durch  Zusatz 
von  3,  während  eben  so  gut  nach  dem  frühern  Verfahren  10  jedesmal 
aus  der  3  durch  Zusatz  von  7  entstehn  konnte.  Was  an  diesem  Bey- 
spiele  fehlt,  das  ist  in  den  leeren  Bildern  zu  suchen,  die  man  hier  nicht 
leicht  vesthalten  kann.  Denn  was  heifst  ein  Bild  von  drey?  oder  von 
sieben?  Entweder  man  stellt  sich  im  eigentlichen  Wortverstande,  grob- 
sinnlich, ein  Bild  vor,  etwa  das  Zahlzeichen  3,  die  Ziffer  7;  oder  man 
bezieht,  wie  es  der  Sache  gemäfs  ist,  den  Begriff  drey,  den  Begriff  sieben, 
auf  drey  oder  sieben  Gegenstände;  im  letztem  Falle  aber  kommt  zum 
Vorschein,  dafs  sieben  mehr  ist  als  drey,  und  beydes  mehr  als  Eins;  kurz, 
die  Intensität  des  Begriffs  von  reinen  Zahlen  geht  verloren,  auf  welcher 
eben  die  Kraft  des  Beyspiels  beruhete. 

Weil  wir  aber  einmal  bis  zum  Grobsinnlichen  her-[2  2o]abgestiegen 
sind,  so  wollen  wir  noch  dem  unauf merk f amen  Leser,  falls  es  einen  solchen 
giebt,  —  eine  Arbeit  zumuthen,  die  er  gewifs  machen  kann,  und  bey 
welcher  ihm,  wenn  er  sie  lange  genug  fortsetzt,  wohl  irgend  einmal  der 
wahre  Sinn  unserer  Construktion  einleuchten  wird. 

Nehmt  einen  grofsen  Beutel  mit  Pfennigen.  Zählt  daraus  zehn  auf 
den  Tisch.  Von  diesen  nehmt  drey  hinweg.  Zu  den  dreyen  fügt  sieben 
aus  dem  Beutel  (denn  die  vorhin  übrig  gebliebenen  7  sollen  liegen  bleiben). 
Nachdem  jetzt  von  neuem  diese  zehn  hingezählt  sind,  nehmt  abermals 
davon  drey  hinweg.  Eben  diese  drey,  verbunden  mit  neuen  sieben  aus 
dem  Beutel,  zählt  wieder  auf  den  Tisch.  Fahrt  so  fort;  und  bald  wird 
der  Tisch  zu  eng  werden,  indem  jedesmal  7  Pfennige  liegen  bleiben. 
Holt  einen  neuen  Tisch;  füllt  ihn  wie  vorhin.  Bald  wird  der  dritte,  vierte 
nöthig  werden;  die  Reihe  der  Tische  wird  im  Zimmer  nicht  mehr  Platz 
haben.  Setzt  also  Eure  Arbeit  in  dem  daran  stofsenden  Gemach  fort. 
Bald  werdet  ihr  die  Strafse,  den  Markt,  ja  das  freye  Feld  zu  Hülfe  nehmen 
müssen.  Das  Bedürfnifs  des  Raums  wird  demnach  fühlbar  werden.  Da 
wir  nun  nicht  so  unhöflich  sind,  Jemandem  hier  eine  wirkliche  Handarbeit 
mit  kupfernen  Pfennigen  und  hölzernen  Tischen  anzusinnen;  sondern  Alles 
nur  in  Gedanken  geschieht:  so  ist  das  Bedürfnifs  des  Raums  unmittelbar 
verbunden  mit  seiner  Befriedigung,  nämlich  in  Gedanken.  Eben  deshalb 
auch  wird  Niemand  in  Versuchung  gerathen,  die  Tische  bald  rechts  bald 
links,  bald  im  obern  bald  im  untern  Stockwerke  des  Hauses  aufzustellen; 
sondern  indem  unsre  Vorschrift  ohne  solche  fremdartige  Einmischungen 
befolgt  wird,  dergleichen  im  wirklichen  Leben  etwa  die  häusliche  Bequem- 
lichkeit —  gewifs  ein  fremdartiger  Grund,  —  herbeyführen  könnte,  wird 
das  Product  der  [221]  Arbeit  ganz  von  selbst  gerade  vorwärts  gehen,  in 
der  nämlichen  Richtung,  worin  es  einmal  begonnen  wurde.  Jetzt  aber 
müssen  wir  doch  bekennen,  in  Einem  Puncte  eine  falsche  Vorschrift  ge- 
geben zu  haben.  Es  sind  nämlich  von  jeder  Auszählung  wirklich  sieben 
Pfennige  liegen  geblieben.      Diese    sollten   nun   blofs    den  Platz   bewachen, 


3.  Abschn.  Synechologie.  i.Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  2.  Cap.  V.d.  starren  Linie  etc.      13  t 

wo  sie  lagen,  damit  man  nicht  zweymal  auf  die  nämliche  Stelle  zähle. 
Mag  also  von  fern  eine  andre  Person  der  Auszählenden  nachgehn,  und 
die  Pfennige  wieder  einsammeln;  das  Metall  brauchen  wir  nicht  mehr, 
wenn  man  uns  nur  die  Stellen  einräumt.  Die  Stellen  aber  brauchen  keinen 
Tisch;  sie  entstehen  dadurch,  dais  zu  dem  Einen  das  Andere  hinzu  gethan 
wird;  und  sie  vermehren  sich,  wenn  nach  geschehener  Sonderimg  das  Hinzu- 
thun  erneuert  wird;  und  sie  bilden  eine  Reihe,  wenn  die  Erneuerung  regel- 
mäßig fortgesetzt  wird;  und  die  Glieder  dieser  Reihe  sind  atifser  einander \ 
weil  sie  die  wiederholte  Sonderung  abbilden;  endlich,  sie  sind  aneinander, 
sobald  jede   fremde  Einmischung  abgehalten  wird. 

§•   251. 

Da  wir  im  Vorhergehenden  gegen  die  Einmischung  des  psycho- 
logischen Mechanismus  protestirt  haben :  so  könnte  wohl  Jemand  fragen, 
ob  denn  in  der  Metaphysik  der  intelligibele  Raum  zu  Stande  kommen 
solle,  ohne  den  psychologischen  Bedingungen  zu  genügen?  Und  ob  wir 
vergäfsen,  dafs  wir  zu  unsern  Vorstellungen  selbst  die  Vorstellenden  seyen? 

Wer  indessen  nur  wirklich  die  Psychologie  gehörig  verglichen  hat, 
der  wird  kaum  noch  so  fragen.  Denn  er  wird  sogleich  einsehen,  dafs 
allerdings  die  Reihe  von  Puncten,  welche  wir  aus  dem  Nicht-  Zusammen, 
in  seiner  beständigen  Abwechselung  mit  dem  Zusam?nen,  [222]  erhielten,  je 
länger  sie  wird,  um  desto  merklicher  dem  psychologischen  Gesetz  ent- 
spricht, dafs  jede  Raum -Vorstellung  auf  abgestuften  Verschmelzungen  be- 
ruhe. Bezeichnen  wir  die  Puncte  unserer  Linie  mit  u,  [i,  y,  ...  so  ver- 
schmilzt die  Vorstellung  von  u.  mehr  mit  ß,  weniger  mit  y,  noch  minder 
mit  S,  und  so  weiter;  die  hintern  Puncte  der  Reihe  machen  sogar  die 
vordem  vergessen,  das  heifst,  sie  treiben  deren  Vorstellung  auf  die  Schwelle 
des  Bewufstsevns.  Es  kostet  also  uns  nicht  die  mindeste  Mühe  zu  zeigen, 
dafs  allerdings  gerade  durch  eben  denjenigen  psychologischen  Verlauf, 
welchen  wir  in  der  Mechanik  des  Geistes  beschrieben  haben,  auch  hier 
die   Vorstellung  der  starren  Linie  möglich  wird. 

Aber  wenn  der  psychologische  Mechanismus  seine  Schuldigkeit  thut, 
warum  ist  denn  gegen  ihn  protestirt  worden? 

Antwort:  darum,  weil  er  nicht  seine  Schuldigkeit  thut.  Das  wirk- 
liche Product,  was  er  in  unserm  Falle  erzeugt,  ist  keine  wahre  Linie,  son- 
dern eine  Reihe  von  Puncten ;  zwischen  welche  sich  immer  noch  hinten- 
nach  etwas  einschieben  läfst.  Sollen  zwanzig  Puncte  bestimmt  unter- 
schieden werden,  so  dafs  die  Linie  aus  ihnen  bestehe,  wir  wir  es  allerdings 
fordern :  so  mufs  gleich  die  erste  der  hiezu  gehörigen  Vorstellungen  neun- 
zehn bestimmt  unterschiedene  Reste  nach  der  Hemmung;  übrig;  lassen, 
mit  welchen  sie  der  zweyten,  dritten,  vierten,  .  . .  Vorstellung  verschmolzen 
sey.  Nun  kann  man  wohl  in  der  einen  Vorstellung  so  viele  Reste  ab- 
theilen ;  man  kann  etwa  sagen,  der  gröfste  Rest  betrage  19/20,  der  nächste 
18/20,  und  so  fort,  der  kleinste  also  Vaoi  m  welchem  Falle  die  ganze  Vor- 
stellung als  bestehend  aus  20  Zwanzigsteln  gedacht  wird.  Aber  keines- 
weges  besteht  die  Vorstellung  aus  diesen  llieilen.  Sondern  die  Theilung 
beruht  auf  der  [223]  Hemmung;  die  Hemmung  aber  ist  für  die  Vor- 
stellung ein  widriger  Zufall,  und  folglich  auch  die  Theilung.    Gesetzt  nun, 

9* 


j,-,  I.   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

die  Verschmelzung  der  Vorstellung  des  ersten  Puncts  mit  denen  des 
zweyten,  dritten  u.  s.  w.  sey  wirklich  so  abgestuft,  wie  jene  Theilung  an- 
zeigt ;  und  nun  frage  Jemand,  ob  denn  zwischen  dem  dritten  und  vierten 
Puncte  Nichts  mehr  zwischen  eingeschoben  werden  könne?  so  bedeutet 
die  Frage  so  viel,  als,  ob  zwischen  18/20  und  17/.20  keine  Brüche  mehr  in 
der  Mitte  liegen?  Allerdings  liegen  unendlich  viele  dazwischen.  Die  erste 
Vorstellung  ist  also  ganz  unstreitig  sehr  wohl  empfänglich  für  eine  neue 
Abstufung;  es  kann  z.  B.  ein  Rest  =  35Ao  mit  irgend  einer  neuen  Vor- 
stelluno- y  verschmolzen  werden.  Wenn  alsdann  die  erste  sich  erhebt, 
und  die  folgenden  reproducirt:  so  wird  der  Rest  18,o0  =  36/40  schneller,  der 
folgende  =  35/40  langsamer,  der  nachfolgende  17/20  =  si/i0  noch  langsamer 
reproduciren.  So  gerät  y  in  die  Mitte  zwischen  dem  dritten  und  vierten 
Puncte,    und   diese   liegen  folglich  nicht  aneinander,    wie   sie  doch  sollten. 

Diese  Unfähigkeit  des  psychologischen  Mechanismus  nun,  das  An- 
einander mit  beharrlicher  Treue  darzustellen ;  dieses  unwillkürliche  Gleiten 
und  Verfallen  in  ein  allmähliges  Zwischenschieben,  welches  erscheint  wie 
eine  successive  Theilung  des  vorgestellten  Gegenstandes  in  immer  kleinere 
Theile,  —  kennen  zwar  die  Anhänger  der  reinen  Anschauung  nicht  nach 
seinen  psychologischen  Gründen;  aber  sie  fühlen  den  Erfolg!  Und  das 
gilt  ihnen  statt  des  Beweises,  die  Vorstellung  des  Stetigen  müsse  die 
herrschende  seyn.  Werden  sie  einmal  mehr  von  der  Sache  erforschen, 
so  wird  ihnen  vor  Augen  liegen,  dafs  in  dem  wirklichen  Vorstellen,  als 
einem  psychologischen  Producte,  eben  so  wenig  das  Stetige  als  das  An- 
einander 'zu  finden  ist.  Denn  dazu  würde  gehören,  dafs  die  einzelnen 
Vorstellungen  wirklich  ihrer  unendlich  viele  in  unendlich  verschie-[2  2  4]denen 
Abstufungen  verschmolzen  wären;  aber  hier,  wie  überall,  bleibt  eine  un- 
übersteigliche  Kluft  zwischen  dem   Unendlichen  und  dem  Wirklichen. 

Eine  höhere  Ausbildung  des  psychologischen  Mechanismus  liegt  dem 
metaphysischen  Denken  zum  Grunde.  Sie  hat  uns  zwar  nicht  eine  Fähig- 
keit gegeben,  zu  leisten,  was  nicht  geleistet  werden  kann.  Aber  sie  bringt 
uns  dahin,  eine  Forderung  anzuerkennen,  die  wir  erfüllen  müfsten,  wenn 
unser  Denken  eine  solche  Form  der  Zusammenfassung  annehmen  sollte, 
wie  sie  passend  ist  für  ein  mannigfaltiges  Reales.  Sie  hütet  uns  vor  der 
Einbildung,  als  ob  wir  dasjenige  aus  dem  Gebiete  des  Wissens,  ja  der 
Untersuchung,  entfernen  müfsten,  was  sich  nicht  geradezu  in  die  Form  des 
Stetigen  fügen  will. 

Was  würde  man  von  Demjenigen  sagen,  der  moralische  Forderungen 
durch  Nachweisung  psychologischer  Beschränktheit  würde  umstofsen  wollen? 
Doch  wir  erinnern  uns :  hier  hat  man  die  Forderung  für  eine  Erkenntnifs 
der  wirklichen  Beschaffenheit  des  Geistes  gehalten !  Und  dort,  gerade  um- 
gekehrt, hat  man  die  geforderte  Vorstellung  des  Aneinander  lieber  ver- 
worfen, und  sich  mit  der  wirklichen  psychologischen  Unfähigkeit  beholfen. 

§•   252. 
Das    Nicht -Zusammen,    welches    sich    schon    in    den    ersten    beyden 
leeren  Bildern,    und    dann    femer    in    je    zwey    nächsten   Puncten   unserer 
Linie    darstellte,    gab   der   gemachten  Konstruction  den  Inhalt.     Die  Ord- 
nungszahlen aber  gaben  die  Form,  indem  sie  bestimmten,  wie  viel  mal  die 


3.  Abschn.  Synechologie.  i.Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  2.Cap.  Von  d.  starren  Linie  etc.    133. 

Fortschreitung  wiederholt,  und  wie  weit  sie  gediehen  sey.  Abstrahirt  man 
von  dem  Nicht -Zusammen,  und  von  dem  gleichzeitigen  Vesthalten  aller 
leeren  Bilder,  wobey  die  frühern  über  den  spätem  [225]  wenigstens  nicht 
vergessen  werden  sollten,  —  so  bleiben  die  blofsen  Ordnungszahlen  zurück. 
Ihre  Reihe  fing  bey  uns  zwar  erst  an  bey  dem  dritten  Gliede;  denn  die 
ersten  zwey  hatten  wir  dergestalt  zugleich,  dafs  in  ihnen  unmittelbar  kein 
erstes  vom  zwevten  konnte  unterschieden  werden.  Allein  bei  der  Um- 
kehrung der  Reihe  kommt  man  allerdings  eher  an  das  zweyte  als  an  das 
erste,  und  dadurch  werden  beyde  erkennbar.  Nur  weiter  rückwärts  können 
die  Ordnungzahlen  nicht  fortgesetzt  werden;  es  giebt  kein  Nulltes  Glied; 
die  Null  würde  kein  vorhandenes  anzeigen.  Dafs  die  Mathematiker  den- 
noch das  erste  Glied  einer  Reihe  mit  o  zu  bezeichnen  pflegen,  hat  übrigens 
seinen  guten  Grund;  sie  zählen  nicht  die  Glieder,  sondern  die  Fort- 
schreitungen. So  pafst  denn  auch  nach  der  entgegengesetzten  Seite  hin  die 
Bezeichnung  —  1,  —  2,  und  so  weiter;  indem  Null  nach  beyden  Seiten  hin 
den  Anfangspunct  des  Fortschreitens  angiebt.  Allein  wenn  man  die  Glieder 
zählt:  so  sind  sie  als  sämmtlich  vorhanden  anzusehen;  und  daher  ent- 
sprechen ihnen  keine  negative  Zahlen;  wederOrdnungs-  noch  Cardinal-Zahlen. 

Gleichwohl  giebt  unsre  Construction  vollständige  Veranlassung,  auch 
über  die  Verbindung  der  Negation  mit  den  Zahlen  (welche  von  dem 
Fundamente  der  Arithmetik  wenigstens  die  Hälfte  ausmacht)  nachzudenken. 
Bey  dem  Umkehren  auf  der  Linie  wird  sie,  vom  Anfangspuncte  an  ge- 
rechnet, offenbar  verkürzt;  es  wird  ihr  etwas  genommen,  nämlich  der- 
jenige Theil,  den  man  rückwärts  durchläuft.  Dieser  also  wird  in  Be- 
ziehung auf  sie  verneint.  Auch  wenn  man  über  den  Anfangspunct  hinweg 
rückwärts  geht,  ist  das  vorhin  Verneinte  im  gleichmäfsigen,  ununterbrochenen 
Wachsthum  begriffen.  Betrachtete  man  nun  vorhin,  bis  zum  Anfangspuncte, 
die  Verneinung  als  aufhebend  das  vorhandene  Positive,  so  [226]  giebt  beydes 
zusammen  Null.  Aber  die  Verlängerung  des  Verneinten,  noch  über  den 
Anfangspunct  hinaus,  hebt  sich  nicht  durch  ein  Positives;  daher  besteht 
sie  als  eine  negative  Gröfse,  gleichsam  wartend,  ob  ein  Positives  kommen 
werde,   sich   mit  ihr  in   Null  zu   verwandeln. 

Dieser  Begriff  der  negativen  Gröfse  hängt  nun  aber  den  Zahlbegriffen 
gar  nicht  als  ihr  Merkmal  an.  Sondern  die  Negation  bezieht  sich  auf  die 
Linie,   welcher  etwas  gegeben  und  genommen  wird. 

Hiemit  mufs  man  Betrachtungen  über  die  Zahlen  selbst  verbinden. 
Das  Gezählte  waren  die  Punkte;  diese,  in  bestimmter  Weite  zusammen 
gefafst,  ergeben  eine  bestimmte  Anzahl ;  denn  es  liegen  deren  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  zwischen  gegebenen  Gränzen,  als  wie  viele  die  Con- 
struction erzeugte,  welche  eben  sowohl  die  einzelnen  zwischenfallenden,  als 
die  Gränzpuncte  gesetzt  hat.  Aber  alle  Puncte  sind  gleichartig;  sie  fallen 
unter  einen  allgemeinen  Begriff  des  Pnncts.  Nun  gehe  man  von  diesem 
Begriff  in  Gedanken  aus;  und  überlege,  welches  Complement  zu  ihm 
kommen  müsse,  um  wiederum  die  Anzahl  hervorzubringen  ?  Es  ist  offenbar 
die  Bestimmung:  wie  viel  mal  der  allgemeine  Begriff  passe  auf  die  Anzahl. 
Kurz  also:  die  Anzahl  wird  nun  angesehen  als  ein  Product ;  dieses  Pro- 
duetes  Multiplicandus  ist  der  allgemeine  Begriff;  der  Multiplicator ,  oder 
das  erwähnte  Complement  des  Begriffs,  ist  die  eigentliche  Zahl. 


1^1  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfangen  etc.      1829. 

Jetzt  zeigt  sich  schon  eine  zwiefache,  und  völlig  verschiedene  Weise, 
Negationen  mit  Zahlen  zu  verbinden.  Man  kann  nämlich  auch  das  Multi- 
pliciren  verneinen ;  und  das  heifst  bekanntlich  Dividiren ;  die  Zahlen 
werden  hiedurch  Divisoren.  Das  setzt  voraus,  man  habe  ein  Product, 
worin  eine  gewisse  Zahl  als  Factor  stecke;  diesen  Factor  als  solchen  ver- 
neinen, [227]  heifst,  ihm  einen  gleich  grofsen  Divisor  entgegensetzen,  und 
ihn  dadurch  aufheben.  Hingegen  jene  erste  Negation  ging  auf  den  Multi- 
plicandus;  sie  begleitete  blofs  die  Zahl,  der  man  ein  Minuszeichen  vor- 
setzte;   und  das  Product  wurde  nun  zur  negativen  Gröfse. 

Will  man  von  hier  aus  einen  Blick  auf  die  bekannten  Regeln  der 
Multiplication  und  Division  mit  entgegengesetzten  Gröfsen  werfen?  Warum 
geben  verschiedene  Zeichen  Minus,  gleiche  Zeichen  Plus?  Jeder  künst- 
liche Beweis  hievon  ist  eine  Künsteley;  der  Grund  darf  gar  nicht  so  dar- 
gestellt werden,  als  wären  die  Zahlen  afficirt  durch  die  Zeichen.  Sondern 
die  Zeichen  gehen  unmittelbar  auf  den  allgemeinen  Begriff  des  Gegen- 
standes ;  darum  zählt  man  sie  paarweise,  um  sie  als  gleichartige  Negationen 
gegenseitig  aufzuheben;  eine  übrig  bleibende  Negation  macht  alsdann  das 
Glied  negativ.  Die  Zahlen,  und  das  Vervielfältigen,  werden  davon  gar 
nicht  berührt;  wissen  davon  Nichts.    Sie  multipliciren  wie  sonst.    So  auch 

—  a  a  a 

~b~  =  —  ~b  =  _  ~b ' 

Denn  dieses  sind  lediglich  verschiedene  Schreibarten;  es  ist  an  sich, 
und  ursprünglich  gleichgültig,  wohin  man  das  Minuszeichen  setze;  es  ver- 
bindet sich  doch  weder  mit  a,  noch  mit  b,  noch  mit  dem  ganzen  Bruche, 
■sondern  es  geht  auf  den  Gegenstand,  dessen  allgemeiner  Begriff  zu  den 
Zahlen  mufs  hinzugedacht  werden.  Dies  Hinzudenken  ist  die  nothwendige 
Ergänzung  aller  Zahlen ;  und  in  der  Vernachlässigung  desselben  liegt  der 
Grund,  wenn  die  höchst  einfachen,  bekannten  Anfänge  der  Arithmetik 
irgend   etwas  Dunkeles   zu  enthalten  scheinen. 

Wenn  in  der  Beziehung  zwischen  der  Zahl  und  dem  allgemeinen 
Begriffe  ihres  Gegenstandes  der  Beziehungspunct  eine  Stufe  höher  gestellt 
wird:  so  entstehn  [228]  die  höhern  arithmetischen  Begriffe.  Man  be- 
trachtet den  Ausdruck:  X  .  am.  Hier  bedeutet  X  den  allgemeinen  Begriff 
eines  Gegenstandes;  er  ist  der  ursprüngliche  Beziehungspunct.  Aber  sein 
Multiplicator  am  enthält  dieselbe  Beziehung  zwischen  Zahl  und  Gegen- 
stand noch  einmal  auf  einer  höhern  Stufe.  Man  soll  X  jetzt  m  mal  mit 
a  multipliciren.  Also  hat  man  von  der  Multiplication  mit  a  wiederum 
einen  allgemeinen  Begriff  gebildet;  und  auf  die  Frage:  wie  viele  mal  soll 
multiplicirt  werden  mit  a?  antwortet  nun  die  Zahl  m  als  Multiplicator  der 
Multiplication. 

Nichts  ist  leichter,  als  hieraus  die  verschiedenen  Exponenten,  die 
Wurzeln,  und  die  Logarithmen  zu  erklären ;  und  überhaupt  zu  der  ganzen 
Arithmetik  die  Eingänge  zu  beleuchten.  Allein  schon  das  Unentbehrliche 
aus  der  Philosophie  der  Mathematik,  ohne  welches  die  Lehre  von  der 
Materie  sich  nicht  begründen  läfst,  war  vielleicht  eine  unwillkommene 
Unterbrechung. 


3.  Abschn.  Synechologie.   i .  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  3.  Cap.  V.  d.  stetigen  Linie  etc.      1 3  g 

Drittes  Capitel. 
Von  der  stetigen  Linie  und  der  Ebene. 

§•  253- 

Wir  beabsichtigen  jetzt,  aus  der  bisherigen  Construction  herauszutreten, 
um  dieselbe  zu  erweitern.  Dazu  liegt  zwar  in  der  Möglichkeit,  dafs  A 
und  B  zusammen  oder  auch  nicht  zusammen  seyen,  keine  Aufforderung. 
Denn  jeder  Punct  unserer  Linie  stellt  die  Möglichkeit  ihres  Zusammen,  je 
zwev  nächste  Puncte  stellen  das  einfache  Nicht -Zusammen,  und  jedes  Paar 
getrennter  Puncte  jede  beliebige  Vervielfältigung  [229]  des  Nicht-Zusammen 
deutlich  vor  Augen.  Umgekehrt,  jede  beliebige  Entfernung  des  A  und  B 
ist  eine  Distanz  auf  der  Linie  A  B  ;  wenigstens  verliert  diese  Linie  alle  Be- 
deutung, und  verwandelt  sich  in  eine  ganz  leere,  beziehungslose  Einbil- 
dung, sobald  man  etwa  annimmt,  B  oder  A,  oder  beyde,  lägen  nicht  in 
dieser  Linie. 

Aber  die  Erfahrungsgegenstände,  mit  ihren  mannigfaltigen  Inhärenzen 
und  ihrem  vielfachen  Wechsel,  deuten  nicht  blofs  auf  zwey,  sondern  auf 
viele  reale  Wesen.  Daher  können  wir  uns  nicht  mit  A  und  B  begnügen; 
wir  nehmen  vielmehr  sogleich  noch  ein   drittes,   C,   hinzu. 

Mit  diesem  C  könnten  sowohl  A  als  B  zusammen  seyn.  Ein  leeres 
Bild,  als  Andeutung  davon,  ist  hiemit  dem  C  angeheftet;  es  braucht  nur 
Eins ;  da  die  eigenthümliche  Qualität  des  A  oder  B  hier  nicht  in  Betracht 
kommt. 

Wo  ist  aber  C?  Sollen  wir  dasjenige  leere  Bild,  das  ihm  anklebt, 
als  einen  der  Puncte  unserer  Linie  A  B  betrachten  ?  Dazu  ist  gar  kein 
Grund :  denn  C  ist  ein  selbstständiges  Wesen,  und  nicht  im  mindesten  ge- 
bunden an  eine  Construction,  deren  Anlafs  von  A  und  B  ausging.  Wir 
setzen  also  C  aufser  der  Linie  A  B  ;  vorausgesetzt,  es  sey  Nicht  zusammen, 
weder  mit  A,  noch  mit  B.  Eigentlich  haben  wir  noch  keinen  Zwischen- 
raum zwischen  C  und  den  andern  beyden;  da  jedoch  schon  der  Begriff 
jeder  beliebigen  Entfernung,  als  eines  solchen  Nicht-Zusammen,  aus  welchem 
der  Übergang  ins  Zusammen  frey  steht,  aus  dem  Vorigen  bekannt  ist;  so 
kann  auch  die  Frage,  ob  C  mit  A  und  mit  B  zugleich  aneinander  seyn 
könne?  umgangen,  und  C  gleich  in  irgend  welche  Entfernungen  von  beyden 
gestellt  werden;  welcher  Zusammenhang  aber  vielleicht  zwischen  diesen 
beyden  zugleich  angenommenen  Entfernungen  seyn  möge,  das  mufs  sich 
künftig  zeigen. 

[230]  In  jedem  Falle  müssen  die  Entfernungen  des  C  von  A  und  B 
fürs  erste  als  starre  Linie  angenommen  werden ;  denn  wir  kennen  noch 
keine  andern   Linien;    und   wir  dürfen  nicht  springen. 

Überhaupt  versteht  sich  von  selbst,  dafs  die  Linie  AC,  oder  die 
Linie  BC,  jede  ganz  für  sich  allein  betrachtet,  alle  die  nämlichen  Be- 
stimmungen besitzen  mufs,  wie  die  Linie  AB.  Denn  C  ist  nur  ein  anderer 
Name;  und  von  der  Qualität  der  realen  Wesen  sprechen  wir  hier  gar 
nicht ;  für  das  Zusammen  und  Nicht-zusammen  ergiebt  sich  genau  einerley, 
ob  nun  die  Zusammenzufassenden  AC  oder  AB  heifsen. 


1^6  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.      1829. 

In  Frage  kommt  dagegen  zuerst  die  Verbindung  zweyer  Linien,  die 
einen  Punct  mit  einander  gemein  haben.  Können  etiva  die  Linien  AB 
und  A  C  noch   aufscr  A   einen   anderen   Pnnct  gemeinschaftlich   besitzen  ? 

Um  diese  Frage  zu  entscheiden,  müssen  wir  zuerst  noch  ein  paar 
Bemerkungen  über  die  Linie  AB,  oder  überhaupt  über  eine  für  sich  allein 
betrachtete,  beyfügen. 

Von  dem  bestimmten  Anfangspuncte  A  fortschreitend,  finden  wir 
auf  der  Linie  AB  jede  mögliche  Entfernung,  die  sich  genau,  und  ohne 
Widerspruch  denken  läfst,  gerade  zweymal ;  nämlich  rechts  und  links,  um 
so,  mit  bekannten  Namen,  die  entgegengesetzten  Fortschreitungen  zu  be- 
zeichnen. Vermöge  der  gemachten  Construction  ist  aber  jede  Entfernung 
bedingt  durch  alle  kleineren ;  denn  der  nte  Punct  ist  ;///;-  vorhanden  als 
nächster  Znsatz  zum  (n  —  l)ten.  Und  aus  dem  nämlichen  Grunde  ist 
wiederum  diese  bestimmte  Entfernung  die  Bedingung  jeder  gröfseren;  bis 
ins  Unendliche.  Rechtshin  ist  also  jede  Entfernung  nur  einmal  auf  der 
geraden  Linie  vorhanden;  nimmt  man  ihr  den  nten  Punct,  so  wird  sie 
vermindert  um  den  [231]  Fortschritt  vom  (n  —  l)ten,  zum  nten  Puncte ; 
das  heifst,  um  ein  einziges  Aneinander ,  welches  das  Element  der  starren 
Linie  ist;  giebt  man  ihr  noch  den  (n  -j-  l)ten  Punct,  so  wird  sie  um 
ein  solches  Element  gröfser.     Eben  so  linkshin. 

Jetzt  kommt  die  Linie  AC  hinzu;  deren  Punct  A  gewifs  beyden 
Linien  gemein  ist.  Und  nun  sind,  wegen  der  völligen  Gleichheit  der 
Construction,  alle  möglichen  Entfernungen  vom  Puncte  A  viermal  vorhanden. 
Eben  so  vielemal  erzeugt  sich  vom  A  aus  der  allgemeine  Begriff  des 
Fortschreitens  vom  nten  zum  (n  -j-  l)ten  Puncte,  wobey  der  Werth  von 
n  nur  um  Eins  gröfser  wird,  wenn  man  denjenigen  Punct,  der  eben  der 
(n  -{-  l)te  hiefs,  jetzt  den  nten  nennt.  Dies  ist  der  allgemeine  Begriff 
der  Richtung,    über    welchen   wir  weiterhin   noch  etwas  beyfügen  werden. 

Man  fasse  nun  zwev  Richtungen  zugleich  auf;  eine  auf  AB,  die 
andere  auf  AC;  jene  sey  rechts,  diese  mag  der  Kürze  wegen  aufivärts 
genannt  werden,  wobey  jedoch  von  einer  bestimmten  Neigung  der  Linien 
für  jetzt  noch  nicht  die   Rede  seyn  darf. 

Unsere  Frage  war:  ob  die  beyden  geraden  Linien  mehr  als  einen 
Punct  gemein  haben  können  ?  Gesetzt,  es  gäbe  einen  zweyten ;  er  heifse  x ; 
so  läge  x  auf  der  Linie  AB  entweder  gleich  entfernt  wie  C  von  A,  oder 
weiter,  oder  näher. 

Gleich  entfernt  kann  er  nicht  seyn.  Denn  die  vorgebliche  gerade 
Linie  AxC  (oder  ACx)  enthielte  zwev  Stücke,  Ax  und  xC.  Allein  nach 
der  Voraussetzung  soll  seyn  Ax  =  AC;  folglich  wäre  xC  =  o;  oder  C 
fiele  zusammen  mit  x,  und  läge  selbst  in  der  Linie  AB. 

Weiter  entfernt  kann  er  auch  nicht  seyn.  Denn  nach  dem  Vorigen 
giebt  es  auf  AB  einen  Punct,  welcher  genau  eben  so  weit,  als  C,  ent- 
fernt ist  von  A ;  er  heifse  y.  Dieser  nun  ist  die  Bedingung  des  Fort- 
schritts [232]  von  A  bis  x;  man  kann  nicht  zu  x  gelangen  aufser  durch 
v;  nämlich  auf  der  Geraden  AB,  wie  vorhin  gezeigt.  Also  müfste  auf 
dem  vorgeblich  geraden  Wege,  ACx,  C  in  y  fallen;  gegen  die  Voraus- 
setzung. 

Minder  entfernt  endlich  kann  eben  so  wenig  x  liegen  als  C.     Denn 


3.  Abschn.  Synechologie.  i.Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  3-Cap.  V.d.  stetigen  Linie  etc.      137 

hier  eilt  wiederum  die  unmittelbar  vorhergehende  Betrachtung,  sobald  man 
nur  die  Linien  verwechselt,  und  auch  die  Buchstaben  C  und  x  vertauscht. 
Daher  steht  der  Satz  vest :  zwey  Gerade  haben  nur  Einen  Punci 
höchstens  mit  einander  gemein.  Von  hier  aus  giebt's  vier  verschiedene 
Richtungen,   die  einander  paarweise   entgegengesetzt  sind. 

§•  254. 
Der  Punct  A  gleicht  vollkommen  allen  andern  Puncten  auf  AB. 
Daher  mufs  es,  vor  näherer  Untersuchung,  als  ganz  zufällig  erscheinen  für 
den  Punct  C,  dafs  er  nun  eben  mit  A,  und  nicht  gleich  gut  auch  mit 
allen  übrigen  Puncten  der  Linie  AB  durch  einen  geraden  Weg  solle 
verbunden  seyn.  Hier  liegen  zwar  verborgene  Klippen,  deren  Nach- 
weisung von  der  höchsten  Wichtigkeit  ist.  Allein  da  sie  verborgen  sind, 
so  können  wir  nicht  hindern,  dafs  man  sich  von  C  aus  so  viele  gerade 
Linien  denke,  als  nur  immer  Puncte  auf  AB  vorhanden  sind.  Heifsen 
demnach  rechts  von  A  an  die  folgenden  Puncte  nach  einander  u,  ß,  y, 
(V,  .  .  .  so  soll  es  Linien  «C,  ßC,  yC,  dC...  geben;  und  sie  sollen 
sämmtlich  gerade  seyn.  Bey  dieser  Annahme  bleiben  wir  so  Zange,  bis 
sich  ein  Irrthum  zeigt;  und  wir  werden  so  viel  davon  behalten,  als  die 
Untersuchung  uns  übrig  läfst.  Die  Sorglosigkeit,  womit  Fries  in  seiner 
Naturphilosophie  den  Satz :  durch  zivey  Puncte  ist  jedesmal  eine  Gerade 
möglich,  als  ein  [233]  Axiom  hinstellt,  dürfen  wir  nicht  nachahmen;  ist 
sie  geometrisch,  so  ist  sie  doch   nicht  philosophisch. 

Es  ist  klar,  dafs  die  Linien  insofern  neben  einander,  immer  weiter 
rechtshin,  liegen  müssen,  als  dies  bey  ihren  Anfangspunkten  a,  ß,  y,  ö  .  .  . 
der  Fall  ist.  Verfolgt  man  sie  weiter  gegen  C  hin :  so  können  sie  ein- 
ander nicht  früher  noch  später  treffen ,  als  eben  in  C  ;  sonst  hätten  sie 
mehr  als  einen  Punct  gemein.  Ihre  Ordnung  und  Folge  bleibt  also  bis 
C  stets  dieselbe,  wie  das  Wort  Rechts  anzeigt,  das  von  der  Folge  und 
Fortschreitung  auf  AB  abhängt.  Zugleich  aber  mufs  ihre  Richtung,  die 
für  jede  Gerade  bekanntlich  nur  Eine  (oder  deren  entgegengesetzte)  ist 
und  bleibt,  auch  aufwärts  gehn ;  denn  sie  müssen  den  Punct  C  er- 
reichen. Diese  Mischung  ihrer  Richtungen  aus  zweyerley  gegebenen  Rich- 
tungen müssen  wir  näher  betrachten. 

Irgend  ein  Punct  Rechts  von  A  auf  AB  heifse  /i.  Statt  nun  gerade 
von  fi  nach  C,  kann  man  ganz  offenbar  auch  die  Wege  (.lA  und  AC 
gehn.  Das  heifst,  man  kann  in  den  zum  Grunde  liegenden  Richtungen 
BA  und  AC  bestimmte  Entfernungen  durchlaufen,  anstatt  in  Einer  Rich- 
tung den  zwischen  bestimmten  Gränzpuncten  liegenden  Weg  fiC  zu 
nehmen.  Demnach  lassen  sich  zwey  Richtungen  so  verbinden,  dafs  sie 
die  Stelle  einer  einzigen  vertreten.  Diese  Verbindung  geschieht  aber  nicht 
successiv,  denn  die  Richtung  fiC  ist  nur  Eine  und  dieselbe  für  alle  Puncte 
auf  der  Linie  /<C.  Sie  ist  der  allgemeine  Begriff  des  geraden  Fortschritts, 
so  dafs  stets  der  nte  Punct  vollkommen  zwischen  dem  ersten  und  dem 
(n  _j_  i)ten  liege;  worüber  im  §.  248.  das  Nöthige  ist  gesagt  worden. 
Da  nun  der  allgemeine  Begriff  hievon  sich  überall  auf  der  Linie  /<C 
gleich  ist,  so  geht  dieselbe  schon  in  ihrem  Anfange  bey  n  zugleich  auf- 
wärts   und    links ;    und    [234]  da  der  Punct  /<  auf  AB  liegen  kann,    wo 


1^8  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


man  will:  so  ist  der  Punct  C  nicht  blofs  vom  Puncte  A  betrachtet  auf- 
wärts; sondern  dieses  Aufwärts  gilt  für  die  Lage  des  Puncts  C  gegen  die 
ganze  Linie  A  B. 

Femer  mufs  nothwendig  ein  gesetzmäfsiger  Zusammenhang  vorhanden 
sevn  zwischen  den  Richtungen  und  den  Gröfsen  der  Linien.  Denn  je 
zwey  nächste  Linien  wie  -/C,  (VC,  ...  «C,  rC,  würden  nur  einerley  Linie 
seyn,  wenn  ihre  Anfangspunkte  y  und  (V,  tt  und  v,  zusammenfielen.  Der 
Unterschied  dieser  Puncte  wiederum  beruht  blofs  auf  ihrer  gröfsern  oder 
geringern  Entfernung  v.,n  A.  Xun  ist  AC  immer  nur  einerley  Linie, 
aber  u  A  wird  verschieden,  je  nachdem  u  näher  bey  A,  oder  ferner  ge- 
nommen ist;  und  von  eben  diesem  Umstände  hängt  die  Richtung  iiC 
ab.  In  die  Mischung  von  Richtungen,  die  nöthig  ist,  um  die  Richtung 
iiC  zu  bestimmen,  geht  also  mehr  oder  weniger  ein  von  der  Richtung  AB, 
und  stets  gleichviel  von  der  Richtung  AC;  wobey  wir  die  Gröfse  des 
Beytrags,  und  dessen  Wichtigkeit,  in  Hinsicht  der  Linie  und  Richtung  AB 
soo-ar  bis  ins  unendliche  steigern  müssen,  wenn  u  ein  unendlich  entfernter 
Punct  seyn  soll. 

Könnte  endlich  das  Rechts  und  das  Aufwärts  sich  ganz  aufheben : 
so  wäre  man  nicht  sicher,  ob  beydes  sich  in  der  gemischten  Richtung 
wirklich  als  mit  einander  bestehend  erhielte;  allein  man  weifs  aus  dem 
Vorigen  so  viel,  dafs  sie  wenigstens  nicht  gänzlich  entgegengesetzt  sind; 
daher  sich  in  jeder  Richtung  «C  gewifs  sowohl  vom  Rechts  (oder  Links) 
als  vom  Aufwärts  etwas  findet.  Die  nähern  Bestimmungen  hievon  haben 
wir  jetzt  erst  zu  suchen. 

Nämlich  wenn  es  einmal  in  der  Folge  unserer  Linien  eine  Zusammen- 
setzung von  Richtungen,  und  ein  Mehr  oder  Weniger  der  Wichtigkeit  des 
Beytrags  giebt,  den  die  zum  Grunde  gelegten  Richtungen  [235]  in  der 
Mischung  liefern:  so  entsteht  die  Frasre :  ob  denn  auch  AC  eine  solche 
reine  Richtung  sey,  dafs  sie  nicht,  wie  ihre  Nachbarn,  etwas  von  der  Rich- 
tung AB  in  sich  trage?  Oder  wie  man  zu  AB  eine  davon  völlig  ver- 
schiedene, weder  durch  Gleichheit  noch  durch  Gegensatz  verwandte,  Rich- 
tung finden  könne  ? 

§•  255- 
Gesetzt,  AC  sey  selbst  schon  eine  unreine,  gemischte  Richtung,  und 
sie  enthalte  etwas  von  AB,  oder  vom  Rechts:  so  kommt  es  darauf  an, 
sie  hievon  zu  reinigen.  Das  kann  nur  geschehen  durch  gleich  starke  Zu- 
mischung des  Links.  Nun  giebt  es  ganz  unstreitig  auf  der,  durch  die 
Puncte  A  und  B  bestimmten,  Linie  für  jedes  Quantum  Rechts  ein  gleiches 
Quantum  Links.  Auch  haben  wir  die  Voraussetzung  zum  Grunde  gelegt, 
der  Punct  C  könne  mit  jedem  Puncte  der  Linie  AB  gleich  gut  durch 
eine  Gerade  verbunden  werden.  Demnach  mufs  es  nothwendig  für  AC 
eine  andre,  ihr  entsprechende  Linie  x\'C  geben,  welche  gleich  viel  Links, 
wie  jene  Rechts,  enthält;  ein  dazu  nöthiger  Punct  A'  muls  sich  finden 
lassen.  Dann  beruht  auf  der  Entfernung  AA'  der  ganze  Unterschied  der 
Linien  AC  und  A'C.  Man  vermindere  diese  Entfernung  gleichmäßig  von 
beyden  Endpuncten  her;  die  Zumischungen  müssen  demgemäfs  in  gleichem 
Grade   abnehmen;    und   in    der    Mitte   mufs    sich    der   Eine  Punct  finden, 


3.Abschn.  Synechologie.  i.  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  3.  Cap.  V.  d.  stetigen  Linie  etc.    139 

welcher  mit  C  gerade  verbunden  die  reine  Richtung  giebt,  die  nichts  vom 
Rechts  auf  Links  auf  AB  enthält.  Diese  Richtung  heifst  bekanntlich  die 
senkrechte ;  und  es  giebt  nur  Ein  Loth  vom  Punct  auf  die  Linie.  Denn 
jene  gleichmäßig  von  beyden  Seiten  her  abnehmende  Entfernung  ver- 
schwindet nur  einmal;    indem  die   Endpuncte  einander  begegnen. 

Will  man  nun  die  Mischungen  aus  ihren  asten  [236]  Bestandtheilen 
zusammensetzen,   so  wird  man  sich   allemal  des  Lothes   dazu  bedienen. 

Dafs  nur  Ein  Loth  zwischen  dem  Puncte  C,  und  dem  so  eben  be- 
stimmten Endpuncte  auf  AB,  möglich  ist,  beruht  auf  dem  Satze,  daß 
zwischen  zivey  Punclen  nur  Eine  Gerade  möglich  ist.  Dieser  aber  folgt  un- 
mittelbar aus  dem  oben  (§.  253.)  geführten  Beiveise ,  dafs  zwey  Gerade 
nur  Einen  Punct  gemein  haben.  Als  Axiome  dürfen  dergleichen  Sätze  in 
einer  Philosophie  der  Mathematik  nicht  auftreten. 

§•   256. 
Zur  Aufklärung   der  Begriffe  über  die  Mischung  der  Richtungen  ge- 
hört nun  noch  sehr  wesentlich  der  Beweis  des  Satzes :    dafs  zwischen  zwey 
Puncten   die   Gerade  zugleich  die  kürzeste   ist. 

Wenn  wir  diesen  Satz  zu  beweisen  unterliefsen :  so  würde  aus  dem 
Vorigen,  oder  überhaupt  aus  der  Zusammensetzung  der  Richtungen,  das 
ganz  natürliche  Misverständnifs  hervorgehn,  als  ob  die  zusammengesetzte 
Richtung  mit  einer  Addition  der  Gröfsen  einerley,  und  eine  Linie  in  der- 
selben zugleich  die  Summe  derjenigen  Linien  seyn  solle,  aus  deren  Rich- 
tungen jene  gemischt  wurde. 

Wie  kann  man  denn  wohl  den  Beweis  führen:  dafs  zwischen  zwey 
Puncten  die  Gerade  zugleich  die  kürzeste  ist?  Natürlich  mufs  gezeigt 
werden,  dafs  Derjenige,  welcher  den  krummen  oder  winklichten  Weg  vor- 
zieht, etwas  Überflüssiges  thut  in  Hinsicht  des  Kommens  vom  Anfangs- 
puncte  zum  Endpuncte.  Wenn  nun  etwas  Überflüssiges  gethan  wird,  und 
am  Ende  sich  doch  genau  nicht  mehr  noch  weniger  im  Resultate  ergiebt 
als  das  nämliche,  was  auf  dem  kürzeren  Wege  geschieht:  so  mufs  noth- 
wendig  das  Überflüssige  sich  [237]  selbst  aufgehoben  haben;  sonst  wäre 
es  im   Erfolge  sichtbar. 

Um  uns  leichter  auszudrücken,  wollen  wir  die  Linien  von  gemischter 
Richtung  jetzt  Hypotenusen  nennen ;  die  von  ursprünglich  und  rein  ver- 
schiedener  Richtung  aber,   aus  denen  jene   Richtung  entstand,   Katheten. 

Nun  kann  jede  Hypotenuse,  sofern  blofs  von  der  Richtung  gesprochen 
wird,  auch  eine  ursprüngliche  Richtung  darstellen.  Denn  unsre  Annahme 
(§.  254.)  war  die,  dafs  der  Punct  C  gleich  gut  mit  jedem  Puncte  auf  AB 
könne  geradlinig  verbunden  werden;  und  es  leidet  keinen  Zweifel,  dafs 
die  Construction  eben  so  gut  von  C  hätte  ausgehen  können,  als  von  A 
oder  B. 

Die  Katheten  stehen  ferner  gewifs  nicht  senkrecht  auf  der  Hypotenuse ; 
das  liegt  in  ihrem  Begriff.  Soll  also  jetzt  als  eine  ursprüngliche  Richtung 
die  der  Hypotenuse  betrachtet  werden :  so  haben  die  Katheten  gemischte 
Richtungen.  Dazu  gehört  ein  Loth  aus  dem  Puncte,  welchen  die  Katheten 
gemein  haben,  auf  die  Hypotenuse.  Aber  wohin,  auf  dieser  letztern,  wird 
der  andere  Endpunct  des  Loths  fallen? 


IAO  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Um  dies,  sofern  es  nöthig  ist,  zu  finden,  bedarf  man  keiner  Con- 
structionen,   sondern  nur  entwickelter  Begriffe. 

Man  durchlaufe  in  Gedanken  die  beyden  Katheten  /ti  A  und  A  C ; 
indem  wir  jetzt  voraussetzen,  AC  sey  ein  Loth  auf  AB  (§.  254  und  255). 
Wer  nun  zuvörderst  die  erste  Kathete  durchlief:  der  kann  in  Ansehung 
der  stellvertretenden  Richtung  11 C  nicht  still  gestanden  haben ,  und  noch 
weniger  rückwärts  gegangen  seyn.  Denn  in  die  Bestimmung  der  ge- 
mischten Richtung  gehen  als  positive  Bestimmungen  die  Richtungen  bevder 
Katheten  ein;  und  zwar  im  Allgemeinen  auf  gleiche  Weise;  [238]  so  dafs, 
wäre  er  bey  A  dem  Endpuncte  C  noch  gar  nicht  näher  gekomfnen,  als  bcv 
fi,  alsdann  auch  die  andere  Kathete  A  C  ihn  durch  kerne  ihr  insbesondere 
eigene  Fähigkeit  nach  C  hin  fördern  würde.*  Daher  gehört  zum  Durch- 
laufen der  ersten  Kathete  eine  bestimmte  Strecke  des  Zugleich  -  Fort- 
kommens auf  der  Hypotenuse ;  und  folglich  mufs  der  Endpunct  des  Loths, 
welcher  diese  Strecke  abschneidet,  an  einem  bestimmten  Puncte  zwischen 
f(   und   C  liegen. 

Aus  diesem  Lothe  und  der  Richtung  /<C  ist  nun  die  Richtung  fiA 
zusammengesetzt.  Jetzt  werde  die  zweyte  Kathete  durchlaufen.  Woraus 
ist  denn  ihre  Richtung  zusammengesetzt  ?  Ebenfalls  aus  der  Richtung  //  C 
und  dem  Lothe.  Aber  dann  wäre  dieselbe  gleich  der  vorigen  Richtung 
,«A;  wenn  nicht,  wie  ohnehin  klar  ist,  auf  dem  Lothe  jetzt  die  entgegen- 
gesetzte Richtung  genommen  werden  müfste. 

Es  liegt  also  am  Tage,  dafs  der  Gang  durch  die  Katheten  in  An- 
sehung des  Loths  erst  vorwärts,  dann  rückwärts  führt;  wodurch  dem  Gange 
von  /t  nach  C  etwas  Überflüssiges  beygemischt  wird,  das  sich  aufhebt. 
Ein  Gehen  ist  aber  für  sich  allein  betrachtet  ein  beständiges  Fortschreiten 
von  jeder  Stelle  zur  nächsten.  Da  nun  der  Gang  auf  der  Hypotenuse 
das  Überflüssige  vermeidend  doch  bey  demselben  Ziele  anlangt :  so  ist  er 
kürzer  als  jener  durch   die   Katheten. 

Unser  Satz  ist  also  vorläufig  in  einem  speciellen  Falle  bewiesen, 
nämlich  in  dem  Falle  des  Umwegs  durch  zwey  lothrechte  Linien. 

Der  Gegenstand  der  Betrachtung  aber  ist  noch  nicht  erschöpft.  Erst- 
lich erweitert  sich  der  geführte  Beweis  [239]  ganz  von  selbst  auf  alle 
Fälle,  in  denen  ein  Loth  kann  nachgewiesen  werden,  in  Ansehung  dessen 
man  für  den  Zweck,  von  einem  Puncte  zum  andern  zu  gelangen,  über- 
flüssiger Weise  rückwärts  und  vorwärts  geht.  Zweytens  können  wir,  ohne 
diese  Fälle  schon  jetzt  durch  Constructionen  zu  verfolgen,  die  Betrachtung 
des  rechtwinklichten  Dreyecks  noch  für  einen  andern  Satz  benutzen,  nämlich 
für  den :  dafs  die  Hypotenuse  größer  als  jede  Kathete  einzeln  genommen, 
oder,  was  dasselbe  sagt,  dafs  vom  Puncte  auf  die  gegenüberstehende  Linie 
das  Loth  der  kürzeste  Weg  ist.  Der  Beweis  dieses  Satzes  liegt  schon  im 
Vorigen ;  indem  wir  ihn  aber  noch  besonders  herausheben,  wird  dies  zu- 
gleich die  Allgemeinheit  des  ersten  Satzes  am  besten  ins  Licht  setzen. 

Man  gehe  von  A  durch  C  nach  11 ;  dadurch  gelangt  man  von  A 
nach  fi ;  oder,  der  Gang  durch  die  eine  Kathete  und  durch  die  Hypotenuse 
vertrit   die  Stelle   des   Ganges    durch   die   andere    Kathete.     Aber   wie   ist 


*  Hierin    liegt   ein   anderer  Satz,    dessen    wir   gleich  weiterhin  erwähnen  werden. 


3-Abschn.  Synechologie.  i.Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  3-Cap.  V.  d.  stetigen  Linie  etc.      141 

diese  Stellvertretung  beschaffen?  Die  Richtung  AC  enthält  nichts  von  der 
Richtung  A/ti.  Man  kommt  also  in  der  letztern  gar  nicht  vorwärts,  indem 
man  bis  C  vorschreitet.  Dagegen  macht  man  einen  Gang,  der  ganz  und 
sar  wieder  aufgehoben  werden  mufs,  weil  auf  dem  Lothe  AC  die  ent- 
gegengesetzte  Richtung  CA  zu  nehmen  ist,  um  diejenige  zu  finden,  welche 
in  die  Bestimmung  der  Richtung  Cfi  eingeht.  Wer  sich  bey  C  befindet, 
der  hat  nichts  vollbracht,  sondern  sein  Geschafft  vergröfsert.  Das  heifst, 
er  hat  nun  weiter  zu  gehen  bis  11,  als  Anfangs;  und  dies  um  desto  mehr, 
je  länger  die  Linie  AC  genommen  wurde.  Also  umgekehrt:  das  Loth  /<A 
ist  der  kürzeste  Weg  von  /<  auf  die  Linie  AC. 

Nachdem  dies  bewiesen :  kehren  wir  zum  vorigen  Satze  zurück.  Jeder 
Punct  eines  Umwegs  läfst  sich  denken  als  liegend  in  irgend  einer  Linie, 
worauf  der  [240]  gerade  Weg  senkrecht  ist.  Dadurch  zerfällt  dieser  gerade 
Weg  in  zwey  Lothe,  welche  die  kürzesten  Wege  im  Gegensatz  gegen  die 
Umwege  anzeigen.  Auf  derjenigen  Linie  aber,  welche  den  geraden  Weg 
senkrecht  durchschneidet,  stellt  sich  das  Überflüssige  dar,  das  die  Umwege 
mittelbar  (obgleich  nicht  der  bestimmten  Gröfse  nach)  vorwärts  und  rück- 
wärts durchlaufen.  Und  dies  nun  ist,  wie  es  scheint,  die  vollständige  Be- 
trachtung des  vorliegenden  Gegenstandes ;  so  weit  nicht  veste  Grofsen  ge- 
sucht werden,  sondern  blofs  unbestimmt  Längeres  und  Kürzeres  ver- 
glichen wird. 

§•  257- 

Jetzt  aber  durchlaufe  man  alle  Hypotenusen  rechtshin  abwärts  vom 
Lothe.  Ihre  Gröfse  wächst,  nach  dem  so  eben  geführten  Beweise,  mit 
der  Zumischung  des  Rechts  in  ihrer  Richtung.  Sie  werden  unendlich, 
indem  diese  Zumischung  unendlich,  und  neben  ihr  die  Beymischung  der 
stets  gleichbleibenden  Richtung  des  Loths  unvergleichbar  wird.  Diese  Rich- 
tungen, deren  Anfangspunct  C,  und  deren  Ziel  zwar  zu  suchen  ist  auf 
AB,  aber  so  dafs  er  nirgend,  wie  weit  man  auch  gehe,  gefunden  werden 
kann,  sind  gleich  den  Richtungen  auf  AB  selbst;  denn  in  ihrer  Mischung 
verschwindet  Endliches  neben  Unendlichem.  Und  dies  geschieht  eben  so 
linkshin  wie  rechts. 

Hiemit  erweitert  sich  der  Begriff  der  Richtung;  und  wir  müssen  ihn 
bey   dieser  Deduction   der  Parallelen  näher  betrachten. 

Zwar  kann  keine  Richtung  ursprünglich  gegeben  werden,  ohne  ein 
Von -Wo  und  Wohin.  Aber  wenn  nun  beydes  durch  zwey  Puncte  be- 
stimmt ist:  so  ergiebt  sich  die  gerade  Linie,  welche  durch  dieselben  die 
einzige  ist,  dergestalt,  dafs  je  zwei  andre  Puncte  der  nämlichen  Linie  auch 
die  nämliche  Richtung  würden  er-[24i]geben  haben.  Es  ist  also  dem 
Begriffe  der  Richtung  zufällig,  durch  welche  zwey  Puncte  sie  gegeben 
wird;  und  von  ihnen  mufs  man  abstrahiren,  um  den  Begriff  rein  zu  haben. 
Eben  so  mufs  man,  wie  wir  jetzt  sehn,  auch  sogar  von  der  ganzen  Linie 
abstrahiren,  denn  es  giebt  auch  durch  einen  gegenüberstehenden  wieder 
eine  Linie  von  gleicher  Richtung  und  Länge  nach  beyden  Seiten  ins  Un- 
endliche. 

Der  ganze  Unterschied  dieser  Linien  liegt  demnach  in  ihrer  Ent- 
fernung von  einander;    ohne  diese  würden  sie  gänzlich  zusammenfallen. 


Y*2  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Die  stets  gleiche  Entfernung  mag  man  geometrisch  aus  dem  all- 
gemeinen Satze  beweisen,  dafs  Parallelen  zwischen  Parallelen  gleich  sind. 
Dieser  folgt  bekanntlich  daraus,  dafs  die  Diagonale  des  Vierecks,  welches 
zwey  Paar  Parallelen  bilden,  auch  wegen  zweyer  Paare  von  Wechsel- 
winkeln, zwey  congruente  Dreyecke  schneidet.  Die  Gleichheit  aber  der 
Wecliselwinkel  folgt  theils  aus  der  Gleichheit  der  Scheitelwinkel  —  die  nur 
denselben  Unterschied  der  Richtungen  doppelt  darstellen,  —  theils  daraus, 
dafs  zwey  Parallelen  von  einer  drillen  Geraden  tinter  gleichen  Winkeln  ge- 
schnitten zverden;  welches  sich  von  selbst  versteht,  sobald  einmal  der  Begriff 
der,  für  beyde  Parallelen  gemeinschaftlichen,  Richtung  in  seiner  logischen 
Allgemeinheit,  für  die  man  gar  keine  anschaidiche  Construction  verlangen 
sollte,  gehörig  gefafst  ist. 

Bekanntlich  hängt  mit  diesen  Sätzen  unmittelbar  die  stets  gleiche 
Summe  aller  Winkel  im  ebenen  Dreyecke,  welche  zwey  Rechte  beträgt, 
zusammen ;    wobey  wir  uns  nicht  aufhalten  wollen. 

Auch  die  Ähnlichkeit  der  Dreyecke  brauchen  wir  nur  zu  berühren. 
Zwischen  den  Parallelen  AB  und  PQ  [242]  werde  der  Abstand  durch 
ein  Loth  bestimmt.  Wie  viele  Puncte  in  diesem  Lothe,  als  einer  starren 
Linie,  zu  unterscheiden  sind,  so  viel  Parallelen  liegen  zwischen  AB  und 
PQ  aneinander ;  weil  ihr  gegenseitiger  Abstand  sich  nicht  ändern  darf. 
Eine  dritte,  Gerade,  welche  AB  und  PQ  schneidet,  mufs  alle  zwischen 
liegenden  schneiden  ;  auch  mufs  dies  für  jedes  Paar,  welches  aneinander 
liegt,  völlig  auf  gleiche  Weise  geschehn,  weil  alle  Umstände  gleich  sind. 
So  wird  die  Dritte  in  eben  so  viele  unter  einander  gleiche  Theile  zer- 
schnitten, als  wie  viele  Aneinander  vorkommen.  Vergleicht  man  nun  die 
Dreyecke,  welche  die  Dritte  mit  den  einzelnen  Parallelen  und  dem  Lothe 
bildet,  so  sind  deren  Winkel  gleich ;  und  die  Seiten,  welche  man  auf  dem 
Lothe  und  der  dritten  unterscheiden  kann,  sind  proportional,  weil  sie  von 
gleichen  Anzahlen  solcher  Theile  abhängen,  die  sowohl  auf  dem  Lothe 
gleich  grofs,  als  auch  auf  der  dritten  gleich  grofs  sind.  Es  lohnt  nicht, 
so  leichte  Sachen  genauer  zu  entwickeln. 

§•   258. 

Alles  Bisherige  war  nur  Vorbereitung ;  denn  bis  jetzt  hatten  wir  nur 
das  Starre,  noch  nicht  das  Stetige  im  Auge.  Oder  vielmehr,  wir  sahen 
wohl  das  Stetige ;    nur  war  nicht  Zeit  davon  zu  reden. 

Jetzt  aber  mag  vorantreten  die  Frage,  was  aus  den  Proportionen  im 
Dreyeck  werden  möge,  wenn  die  Grundlinie  auf  ein  einziges  Aneinander 
beschränkt,  oder  überhaupt,  wenn  sie  kleiner  ist,  als  die  Höhe?  Die 
Parallelen  zur  Grundlinie,  welche  im  Dreyecke  Platz  haben  müssen,  richten 
sich  nach  der  Zahl  der  aneinanderliegenden  Puncte  auf  dem  Lothe;  wie 
können  sie  nun  der  Höhe  proportional  abnehmen,  wenn  die  Grundlinie 
nicht  eben  so  oft  das  Aneinander  enthält  ? 

Damit  aber  Niemandem  gelüste,  dergleichen  Fragen  [243]  durch  ein 
Zickzack  von  Gehege  um  die  Figur,  statt  ächter  gerader  Linien,  zu  be- 
antworten, so  müssen  wir  zur  Eniwickelung  eines  Begriffs  fortschreiten, 
der  zu  solchem  Spiele  keinen  Anlafs  giebt,  und  dessen  genauere  Be- 
stimmung ohnehin  an   der  Reihe  war. 


3.  Absch.  Synechologie.  i.  Abth.  VonRaum,  Zahletc.  3-Cap.  V.d.  stetigen  Linie  etc.      143 

Das  Gegenstück  des  Parallelismus  ist  der  Winkel.  Bisher  haben  wir 
denselben  blofs  überhaupt  als  einen  Unterschied  zweyer  Richtungen  be- 
trachtet; ohne  zu  fragen,  ob  es  denn  auch  ein  Maafs  für  den  Winkel 
gebe?  Unsre  Construction  (§.  254)  zeigte  zwar  sehr  bestimmt,  dafs  die 
Hypotenusen  durch  den  Punct  C  in  derselben  Reihenfolge  liegen,  wie  die 
Puncte  auf  der  Linie  AB.  Sie  zeigte,  dafs  der  Unterschied  der  Rich- 
tungen eine  wachsende  Gröfse  ist;  und  dafs,  wenn  wir  vom  Lethe  an- 
fangen zu  zählen,  die  nte  Hypotenuse  von  demselben  eine  solche  Abweichung 
bildet,  worin  die  zwischenfallenden  Hypotenusen  sämmtlich  eingeschlossen 
sind.  Allein  wenn  Jemand  sich  fragte,  welches  wohl  der  kleinste  mögliche 
Winkel,  und  das  Element  sey,  wovon  jeder  gröfsere  Winkel  nur  eine  Ver- 
vielfältigung darstelle,  ähnlich  der  starren  Linie,  worin  sich  das  Aneinander 
vielfach  zeigt:  —  so  würde  ein  solcher  in  unserer  Construction  selbst  die 
allerdeutlichste  Zurückweisung  der  Frage  finden.  Denn  wie  viele  Hypo- 
tenusen mufs  man  durchlaufen,  bis  die  Umdrehung  um  den  Punct  C  vom 
Lothe  bis  zur  Parallele  fortschreitet?  Offenbar  alle  Puncte  der  Linie  AB 
müssen  mit  C  geradlinig;  verbunden  werden.  Deren  sind  aber  unendlich 
viele;  so  dafs  man  eine  Unendlichkeit  vollenden  mufs,  um  zur  Parallele 
zu  gelangen.  Also  besteht  der  ganze  Quadrant  aus  unendlich  vielen  kleinen 
Winkeln.'  Aber  noch  mehr;  diese  kleinen  Winkel  sind  unter  einander 
keinesweges  gleich.  Es  ist  leicht  zu  sehen,  dafs  der  halbe  Quadrant,  der 
Winkel  von  45°,  durchlaufen  ist,  wenn  [244]  beyde  Katheten  gleich  sind 
(dies  sieht  man  schon  aus  der  gleichen  Abhängigkeit  der  Winkel  von  den 
gegenüberstehenden  Seiten),  hingegen  die  zweyte  Hälfte  des  Quadranten 
erfordert  die  Verlängerung  einer  Kathete  bis  ins  Unendliche.  Da  nun 
der  Fortschritt  auf  A  B  stets  gleichförmig,  und  die  Abhängigkeit  des  gegen- 
überstehenden Winkels  von  diesem  Fortschritte  im  Allgemeinen  stets  die- 
selbe bleibt:  so  mufs  es  ein  allgemeines  Gesetz  geben,  nach  welchem  der 
Winkel  immer  weniger  zunimmt,  während  man  seine  Tangente  gleichförmig 
durchläuft.  An  ein  kleinstes  Element  des  Winkels  ist  also  gar  nicht  zu 
denken;  wer  da  glaubte,  es  erreicht  zu  haben,  der  dürfte  nur  auf  der 
Tangente  noch  ein  einziges  Aneinander  mehr  zurücklegen,  und  er  fände 
einen  kleineren  Winkel.  In  der  That  ist  jeder  endliche  Winkel  als  ein 
Integral  zu  betrachten;  aber  eben  deshalb  mufs  man  nicht  fordern,  das 
integrirte  Differential  solle  irgend  eine  bestimmt  angebliche  Gröfse  seynr 
welches  gegen  die  Natur  des  Differentials  streitet. 

Zu  dem  Winkel  gehört  die  Kreislinie.  Sie  entsteht  bekanntlich  aus 
den  zusammengefafsten  Endpuncten  der  Radien,  welche  wir  sehr  leicht 
auf  den  immer  wachsenden  Hypotenusen  (§.  257),  die  wis  jetzt  Secantcn 
nennen  wollen,  abschneiden  können.  Die  Kreislinie  enthält  nun  gewifs  so 
viele  Puncte,  als  wie  viele  Radien,  oder  wie  viele  Secanten  es  giebt;  deren 
sind  unendlich  viele.  Aber  nicht  blofs  unendlich  viele  Puncte  enthält  der 
Bogen  des  Quadranten,  sondern  selbst  diese  nicht  gleich  dicht,  weil  die 
Secanten  immer  dichter  liegen,  wie  so  eben  gezeigt  worden.  Hier  ver- 
geht gewifs  jeder  Gedanke  an  Zusammensetzung  eines  endlichen  Kreis- 
bogens aus  einer  endlichen   Zahl  von  an  einanderliegenden   Puncten. 

Da  jedoch  die  ungleiche  Dichtigkeit  der  Puncte  auf  dem  Bogen  ledig- 
lich davon  abhängt,  welchen  Radius   [245]   man  als  den   ersten,   oder  als 


j  i  i  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfangen  etc.      1829. 


Loth  auf  die  Tangente  betrachte ;  und  dies  bey  allen  Radien  gleich  mög- 
lich ist:  so  versteht  sich  von  selbst,  dafs  man  jene  ungleiche  Drehung, 
welche  aus  dem  gleichmäfsigen  Fortschritte  auf  der  Tangente  entsteht, 
durch  Abstraction  bey  Seite  setzt:  und  den  Winkel  sich  gleichförmig  öffnen 
läfst.  Gewifs  aber  ist  nun  keine  Öffnung  die  kleinste ;  sondern  jede  solche 
Drehung,  welche  einem  bestimmten  Aneinander  auf  der  Tangente  entspricht, 
ist  schon  zu  grofs,  und  mufs  als  ein  Sprung  angesehen  werden.  Die  Kreis- 
linie besteht  also  gar  nicht  aus  Puncten,  wenn  sie  auch  daraus  entsteht; 
denn  diese  Puncte  tiiefsen  so  vollkommen  in  einander,  dafs  an  gar  keine 
Sonderung  derselben  zu  denken  ist.  Dieser  Umstand  ist  sehr  merkwürdig; 
denn  wir  werden  in  der  Folge  sehen,  dafs  in  andern  Fällen  ein  gewisser 
Grad  von  Dichtigkeit  zusammenfliefsender  Puncte  mufs  angenommen  wer- 
den;  bey  der  Kreislinie  aber  verschwindet  jeder  Begriff  dieser  Art  ganz 
und  gar;  und  man  hat  hier  das  eigentlichste  Continuum,  das  nur  irgend 
vorkommen   kann. 

§•   259- 

Wir  sehn  nun  aber  auch  die  ganze  Ungereimtheit  des  Continuums 
vor  Augen,  welches  uns  nöthigt,  einfache  Puncte  weder  aneinander  noch 
in  einander  zu  setzen,  sondern  sie  dergestalt  schwinden  zu  lassen,  dafs 
sie  nicht  Eins,  nicht  Zwey,  vielmehr  ein  unendlich  theilbares  Ganzes,  und 
doch  nicht  streng  aufser  einander  seyen. 

Hier  ist  nöthig,  zurückzuschauen  auf  den  Weg,  den  wir  gekommen 
sind;  und  insbesondere  auf  den  gewagten  Schritt,  durch  den  wir  den 
Punct  C  mit  allen  Puncten  der  Linie  AC  geradlinig  verbanden;  denn  hier 
begann,  wie  es  scheint,  das  Unheil  (§.   254). 

[246]  Um  die  dortige  Untersuchung  bequem  wieder  aufzufassen, 
nehmen  wir  an  (was  erlaubt  ist),  die  Linie  AC  sey  selbst  das  Loth  auf 
AB;  und  nun  komme  in  Frage,  ob  denn  auch  wirklich  alle  die  Hypo- 
tenusen möglich  seyen,  deren  Richtungen  durch  C  und  durch  die  Puncte 
auf  AB  nach  der  Reihe  gegeben  wurden.  Die  Frage  zerfällt  in  zwey 
verschiedene.  Erstlich:  ist  jede  einzelne  Hypotenuse  an  sich,  und  für 
sich  allein,  möglich?    Zweytens,  können  sie  neben  einander  bestehn  ? 

Um  das  Gewicht  der  ersten  Frage  zu  würdigen,  mufs  man  bedenken, 
dafs  wir  jede  Hypotenuse  zwischen  gegebenen  Endpuncten  hineingeschoben 
haben  ;  als  ob  wir  überzeugt  wären,  man  werde,  in  der  gegebenen  Rich- 
tung von  jedem  Endpuncte  zum  andern  hin  eine  Reihe  von  Puncten  starr 
an  einandersetzend,  irgend  einmal  ganz  genau  den  andern  Endpunct  treffen. 
Wenn  dies  sich  bestätigt,  so  ist  unstreitig  die  gesuchte  Linie  vorhanden. 
Wie  aber,  wenn  wir,  Punct  an  Punct  setzend,  am  Ende  nicht  genau  zum 
Ziel  gelangten  ?  Offenbar  mufs  der  letzte  Punct,  den  wir  setzen,  völlig  zu- 
sammenfallen mit  dem  schon  bestimmten,  welcher  die  Linie  begränzen 
soll.  Gingen  wir  z.B.  von  11,  welcher  Punct  auf  AB  liegen  soll,  gerade 
nach  C ;  so  müfsten  wir  in  der  starren  Linie  durch  den  letzten  Fortschritt 
ganz  genau  C  erreichen.  Und  wer  konnte  daran  zweifeln  ?  So  lange  wir 
nicht  völlig  in  C  eintrafen,  war  ja  immer  noch  Raum,  wenigstens  für  einen 
untheilbaren,  einfachen  Punct,  der  selbst  gar  keinen  Raum  einnimmt,  vor- 
handen.   Denn  wir  wissen,  das  Element  des  Raums  ist  nicht  der  einzelne 


3.Abschn.  Synechologie.  i.Abth.  Von  Raum,  Zahletc.  3.  Cap.V.d.  stetigen  Linie  etc.      14c, 

Punct,  sondern   das  Aneinander   zweyer    Puncte,    welches    das    einfachste 
Anfser  darstellt;  ohne  dieses  aber  ist  kein  Raum  denkbar. 

Nun  aber  sind  uns  so  seltsame  Begriffe  entstanden,  [247]  dafs  aller- 
dings in   Frage   kommt,   was  vorhin  keiner  Frage  werth  schien. 

Der  einfache  Punct  soll  zum  Thal  zusammenschwinden  mit  seinem 
nächsten.  Also  mufs  er  Theile  haben!  Wenn  dies  auch  von  unserm 
Puncte  C  gefordert  wird,  so  kann  es  leicht  begegnen,  dafs  wir  ihn  am 
Ende  nur  thcil weise  mit  dem  letzten  Puncte,  den  wir  setzen  werden, 
zusammenfallen  sehen.  Dann  aber  ist  die  Linie,  die  wir  gerade  zwischen 
ft  und  C  setzen  wollten,  mit  einer  Ungereimtheit  behaftet;  sie  enthält 
einigemal  das  Aneinander  vollständig,  aber  sie  schliefst  mit  einem  Bruch 
des  nämlichen  kleinsten  Raumtheils,  welcher  Bruch  sich  nicht  denken  läfst. 

Um  nun  hierüber  Gewissheit  zu  erhalten,  müssen  wir  ihre  Länge 
suchen.  Ist  sie  frey  von  der  eben  erwähnten  Ungereimtheit,  so  läfst  sie 
sich  wenigstens  durch  das  Aneinander,  als  durch  das  kleinste  und  ur- 
sprüngliche Maafs,  genau  messen;  und  da  wir  dasselbe  bey  den  Katheten, 
als  starren  Linien,  voraussetzen,  so  ist  alsdann  die  Hypotenuse  mit  ihnen 
commensurabel. 

Jedermann  weifs  längst  das  Gegentheil,  wenn  man  seltene  Ausnahmen 

abrechnet. 

Wir  haben  gewifs  nicht  nöthig,  hier  noch  für  unsre  Construction 
den  Pythagoräischen  Lehrsatz  zu  beweisen;  ohnehin  ist  es,  genau  so,  wie 
der  Beweis  recht  gut  hieher  pafst,  schon  beyläufig  oben  (§.  175)  geschehn. 
Weil  aber  dort  Differentiale  gebraucht  sind,  so  möchte  einem  minder  ge- 
übten Leser  die  Erinnerung  willkommen  seyn,  dafs  Differentiale  nicht  zu 
verwechseln  sind  mit  dem  Aneinander  im  Räume.  Denn  jedes  Anein- 
ander ist  ein  wirkliches  Element  des  Raums;  es  ist  also  unvergleichbar 
mit  Differentialen,  die  nur  das  Wachsen  und  dessen  Regel,  keinesweges 
aber  wirkliche  Theile  der  gewachsenen  Gröfsen,  anzeigen.  Kein  [248] 
Integral  ist,  streng  genommen,  eine  Summe  von  Differentialen;  aber  eine 
starre  Linie  ist  allerdings  durch  Addition  des  Aneinander,  als  dessen 
Summe,   entstanden. 

Der  Pythagoräische  Lehrsatz  entscheidet  nun  ganz  deutlich,  die 
Hypotenuse  sey  in  den  allermeisten  Fällen  incommensurabel  mit  ihren 
Katheten.  Also  wenn  diese  theilbar  durch  das  Aneinander,  so  läfst  sich 
jene  nicht  dadurch  messen  oder  dividiren.  Sie  mufs  demnach  zwischen 
zwey  nächste  Vielfache  des  Aneinander  fallen;  und  zwar  jedesmal,  man 
mag  die   Figur  gröfser  oder  kleiner  zeichnen. 

So  sind  denn  unsere  Hypotenusen  wirklich  mit  einem  sehr  wichtigen 
Fehler  behaftet!  Aber  näher  besehen  ist  dieser  Fehler  doch  nicht  von 
der  Art,  dafs  wir  darum  die  gemachte  Construction  zurücknehmen  dürften. 
Denn  es  fehlt  nicht  an  den  Linien,  sondern  an  ihrer  Begränzung.  In 
die  Richtung  /uC  fällt  eine  Linie;  nur  ist  sie,  als  ein  achtes  Quantum  des 
Aufst 'reinander,  um  eine  undenkbar  kleine  Gröfse  zu  klein  oder  zu  grofs 
für  die  bestimmten  Gränzpuncte,  wozwischen  sie  passen  soll.  Selbst  aber 
innerhalb  dieser  Gränzen  ist  der  Begriff,  wie  grofs  sie  seyn  sollte,  arith- 
metisch   genau    bestimmt;    sie    ist  eine   Function    der   Katheten.      Also    ist 

Herbart's  Werke.     VIII.  1° 


146  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

hier  im  Denken  ein  Begriff  erzeugt,  welcher  beybehalten  werden  mufs, 
da  er  mit  andern  bekannten  Begriffen  in  einem  vesten  Zusammen- 
hange steht. 

§.   260. 

Die  zweyte  Frage  war:  können  die  verschiedenen  Hypotenusen 
neben  einander  bestehn? 

Angenommen,  sie  könnten  es  nicht:  so  entstünde  die  Frage:  welche 
soll  man  behalten,  und  welche  wegweifen?  Denn  wenn  jede,  einzeln  ge- 
nommen, und  für  sich,  möglich  ist:  wo  ist  denn  ein  Grund  [249]  des 
Vorzugs,  den  eine  vor  der  andern  gelten  machen  könnte?  Jede  ist  in 
diesem  Falle  unbekümmert  um  die  andre;  das  heifst,  man  denkt  sich 
jede  einzeln,  und  so  lange  vergifst  man  oder  ignorirt  die  andern;  man 
giebt  aber  keiner  ein  ausschliefsendes  Recht,  sondern  hütet  sich  nur,  sie 
in  ein  gleichzeitig  vorhandenes  System  zu  verknüpfen. 

Nun  wissen  wir  schon,  dafs  ein  Paar  nächste  Hypotenusen  oder 
Secanten  sich  gleichsam  klemmen,  und  nicht  Platz  haben,  indem  sie  von 
ihren  Endpuncten,  wie  nahe  diese  auch  schon  liegen  mögen,  gegen  das 
Centrum  hin  immer  noch  dichter  zusammenlaufen  sollen.  Und  eben 
deshalb  denkt  sie  sich  Jedermann  wirklich  so,  wie  wir  es  eben  nöthig 
fanden.  Indem  man  übergeht  von  der  einen  zu  ihrer  Nachbarin  und  so 
weiter,  bemüht  sich  nicht  leicht  Jemand,  sie  gleichmäfsig  in  Einen  Ge- 
danken zusammenzufassen;  sondern  die  frühere  wird  im  Übergange  zur 
folgenden  vergessen;  die  Linien  werden  als  hinüberfliefsend  eine  in  die 
andere,  oder  als  wäre  es  Eine,  die  sich  fortbewegte,  wie  eine  Welle,  — 
vorgestellt  und  beschrieben.  Durch  diese  Kunst  —  wenn  es  eine  ist,  — 
verbirgt  man  sich  das  Ungereimte  in  der  Zusammenfassung  und  Sonderung. 
Dabey  verschwindet  nun  auch  die  Bestimmtheit  des  Aneinander  auf  der 
Tangente;  und  wir  können  es  für  jetzt  auch  füglich  fahren  lassen,  wenn 
wenigstens  de?-  Begriff  von  dem  Hinüberfliefsen  der  Secanten  in  einander, 
das  heifst,  von  der  Drehung,  oder  von  der  Eröff?iung  des  Winkels,  in 
einem  bestimmten  Zusammenhange  steht  mit  dem  Fortschreiten  auf  der 
Tangente  ? 

dt 

Durch   die   bekannte  Formel   d<i   = ; —    ist     auch     diese     Frage 

'  1-j-tt 

längst  beantwortet.  Wir  erwähnen  ihrer  nicht  sowohl,  um  zu  erinnern, 
dafs  die  Formel  sich  [250]  aus  der  Ähnlichkeit  zweyer  Differential-Drey- 
ecke  sehr  leicht  finden  läfst,  als  vielmehr  deshalb,  damit  der  Zusammen- 
hang derselben  mit  dem  Pythagoräischen  Lehrsatze  bemerkt  werde.  Beydes 
sind  die  Lösungen  zweyer  Probleme,  die  nothwendig  zugleich  hervor- 
treten. Nämlich,  wenn  wir  auf  der  Tangente  gleichmäfsig  fortgehn,  wie 
ändert  sich  alsdann  erstlich  die  Secante,  und  zweytens  der  Winkel? 
Wenn  die  Differentialformeln  dafür  gefunden  sind,  und  dann  integrirt 
werden,  so  findet  sich  der  Pythagoräische  Satz  dicht  neben  der  Rectifica- 
tion  des  Kreises.  Und  beydes  sind  so  nothwendige  Elemente  der  Geo- 
metrie, als  es  aus  unserm  Vortrage  offenbar  hervorgeht,  dafs  man  sogleich, 
indem   man  der  Linie  einen  Punct   gegenüber   stellt,  auf  sie  geführt  wird. 


ß.Abschn.  Synechologie.  i.Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  3.  Cap.V.d.  stetigen  Linie  etc.       147 

Dieser  Zusammenhang  der  Begriffe  ist  vorhanden,  wenn  gleich  die  äufsern 
Bequemlichkeiten  des  Vortrags,  wie  er  Anfängern  pflegt  gehalten  zu 
werden,  ihn  verdunkeln;  schon  durch  die  Verschiedenheiten  der  Beweis- 
art, welche  bey  so  eng  verwandten  Problemen  möglichst  gleichförmig  seyn 
sollte,  und  es  hier  so  leicht  seyn  kann. 

§.   261. 

Die  vorstehenden  Lehrsätze  der  Geometrie  lassen  nicht  den  mindesten 
Zweifel  übrig,  dafs  auch  diejenigen  Begriffe,  in  welchen  das  Wider- 
sprechende der  Continuität  seinen  Sitz  aufschlägt,  noch  eben  so  vest  und 
regelmäfsig  zusammenhängen,  als  andre,  die  keinem  Bedenken  unterliegen. 
Daher  nun  ist  das  Continuum,  wenn  nicht  dessen  Ansprüche  über  die 
natürlichen  Gränzen  hinaus  getrieben  werden,  auch  gar  kein  Gegenstand 
des  Tadels;  vielmehr  eine  für  Geometrie  und  Metaphysik  ganz  unent- 
behrliche Vorstellungsart. 

Aber   wo   denn   hat   diese  Vorstellungsart  ihre   natürlichen  Gränzen? 

[251]  Keinesweges  darf  ihr  in  dem  ursprünglichen  Begriff  des  Aufser- 
einander,  welcher  wenigstens  zwey  gesonderte  Puncte  erfordert,  der  Platz 
angewiesen  werden,  als  ob  ihr  derselbe  mit  Recht  zukäme.  Vermöge  des 
psychologischen  Mechanismus  bemächtigt  sie  sich  zwar  dieses  Platzes; 
allein  dagegen  haben  wir  längst,  als  gegen  eine  ganz  unzulässige  Usur- 
pation, protestirt.  Das  Aufsereinander  ist  der  Begriff  der  bestimmten 
Sonderung;  und  damit  verträgt  sich  kein  Zusammenfliefsen.  Dieses  gilt 
immer,  wie  lang  auch  die  Linie  seyn  möchte,  die  man  zwischen  die  ab- 
zusondernden Puncte  stellt.  Jede  Linie  mufs  entiveder  starr  seyn,  oder 
zwischen  ohnehin  schon  vestgestcllten  Puncten  eingeschoben  seyn;  sonst  ver- 
hindert nichts,  dafs  man  der  Forderung  nachgebe,  sie  solle,  da  sie  ein- 
mal fliefst,  und  in  ihr  Nichts  vom  Nächsten  streng  getrennt  ist,  allmählig 
in   Einen   Punct   zusammenfliefsen. 

Demnach  ist  keine  reine,  selbstständige  Linie  als  ein  Continuum  an- 
zusehen. Sondern  nur  die  abhängige  Linie,  welche  Function  von  andern 
Gröfsen  ist,  soll  man  als  stetig  betrachten.  Ihre  Grölse  ist  alsdann 
bestimmt,  indem  der  Werth  der  Function  bestimmt,  obgleich  irrational, 
ausfällt. 

Nicht  blofs  die  Hypotenusen  sind  solche  Functionen,  sondern  auch 
die  Kreislinie  ist  es.  Denn  ihr  Ursprung  setzt  Linie  und  Ebene,  oder 
von  der  Ebene  wenigstens  Einen  Punct  aufser  der  Linie,  voraus.  Sobald 
aber  Linie  und  Punct  gegeben  sind,  erfolgt  unaufhaltsam  die  ganze 
Construction ,  welche  wir  gemacht  haben;  und  in  ihr  auch  der  Kreis, 
aber  in  Beziehung  auf  seine  Tangente,  durch  welche  erstlich  Richtungen 
in  geordneter  Folge  vom  Puncte  aus  bestimmt  werden  müssen,  ehe  durch 
eine  Abstraction  hievon  der  spätere  allgemeine  Begriff  der  Drehung  konnte 
erzeugt  werden. 

Befremdet,  und  vielleicht  mit  Ironie,  wird  man  uns  [252]  die  Frage 
vorlegen,  warum  denn  unsere  Behauptungen  über  so  bekannte  Dinge, 
wenn  sie  gewifs  und  klar  sind,  nicht  längst  eingeleuchtet  haben?  Warum 
sie  erst  jetzt  zum  Vorschein  kommen? 

10* 


J48  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Statt  unserer  mögen  darauf  die  bekannten  Erklärungen  Antwort 
geben:  Fläche  ist  Gränze  des  Körpers;  Linie  ist  Gränze  der  Fläche; 
Punct  ist  Gränze  der  Linie. 

Man  fing  also  an  vom  körperlichen  Räume;  natürlich  vom  sinnlichen, 
denn  an  den  intelligibelen ,  den  wir  zu  construiren  angefangen  haben, 
dachte  Niemand.  In  dem  körperlichen  Räume  nahm  man  Puncte  beliebig 
an;  zwischen  diese?/  zog  man  Linien.  Waren  denn  die  Puncte  schon  vest, 
ehe  die  Linien  dazwischen  traten  ?  Warum  sollten  sie  nicht  ?  Sie  waren 
ja  irgendwo  im  Räume!  Der  Raum  beschützte  alle  Orte,  die  in  ihm 
lagen;  die  Puncte  bezeichneten  eigentlich  nur  —  sie  machten  nicht,  erzeugten 
nicht  die  Orte,  wo  sie  standen.  Wenn  man  uns  nun  zuerst  zwey  veste 
Puncte  giebt,  und  wir  sollen  eine  Linie  dazwischen  schieben:  so  werden 
wir  uns  hüten,  zu  rühmen:  wir  wüfsten,  wie  vielemal  auf  dieser  Linie 
das  Aneinander  sich  wiederhole.  Die  Puncte  können  ja  die  Endpuncte 
gewisser  Katheten  seyn,  zu  welchen  die  einzuschiebende  Linie  als  Hypo- 
tenuse passen  mufs !  Auch  sey  es  ferne,  im  sinnlichen  Räume  die  Puncte 
abzählen  zu  wollen.  Liegen  die  Puncte  einmal  vest;  ohne  unser  Zuthnn 
vest:  dann  vermuthen  wir  irgend  ein  unbekanntes  Gesetz,  von  dem  sie 
gehalten  werden;  und  machen  nicht  Anspruch  auf  die  Möglichkeit,  in  die 
vorgeschriebene  Distanz   eine  starre  Linie  hinein  zu  bringen. 

Will  man  übrigens  auf  Linien  im  sinnlichen  Räume,  die  ursprünglich 
als  Distanzen  vester  Puncte  gegeben  werden,  ohne  deutlichen  Grund 
dieser  Vestigkeit,  —  den  Begriff  eines  bestimmten  Quantum  der  Exten- 
[2  53]sion,  oder  einer  bestimmten  Summe  des  Aufsereinander,  übertragen: 
so  mufs  auch  hier  eine  starre  Linie  in  Gedanken  zum  Grunde  gelegt 
werden,  von  welcher  die  gegebene  Distanz  eine  Function  in  sich  auf- 
nehmen könne.  Diese  Function  beträgt  als  Gröfse  im  Räume  jedesmal 
eine  endliche  Menge  des  Aneinander,  und  sie  soll  noch  aufserdem  einen 
unendlich  kleinen  imaginären  Theil  enthalten.  Wo  nun  auf  der  ganzen 
Linie  dieser  letztere  Theil  zu  finden  sey,  ist  unbestimmt;  man  kann  ihn 
überall,  auf  der  Linie,  suchen;  und  eben  deshalb  giebt  es  auf  ihr  keinen 
Theil,  wohin  man  ein  achtes  Aneinander  zweyer  Puncte  mit  Sicherheit 
setzen  könnte.  Daher  wird  die  ganze  Linie  an  jeder  Stelle  als  fliefsend 
zu  betrachten  seyn.  Das,  was  sie  zu  einer  bestimmten  Raumgröfse 
macht,  ist  auf  ihr  nur  schwebend  vorhanden,  zwischen  gegebenen  Gränzen. 
Jene  starre  Linie  aber,  welche  den  geometrischen  Functionen  zum  Grunde 
liegend  gedacht  werden  soll,  gehört  eben  so  wenig  in  die  Geometrie,  als 
der  logisch  allgemeine  Begriff  des  zu-Vervielfältigenden  (§.  252)  in  die 
Arithmetik;  beydes  sind  nur  Beziehten g  spunde  für  die  beyden  Wissen- 
schaften; deren  Lehrer  sich  darum  nicht  zu  bekümmern  pflegen,  weil  ihnen 
die  Denkbarkeit  der  Begriffe  wenig  Sorge  macht,  wenn  sie  nur  construiren 
und  rechnen  können. 

§.   262. 

Noch  einige  Worte  über  den  Begriff  der  Ebene,  obwohl  derselbe 
schon  im  Vorigen  liegt. 

Das  Ebene  samrat  dem  Geraden  bildet  bekanntlich  einen  Gegensatz 
gegen  das   Krumme,  der  nur  dadurch  eine  nähere  Bestimmung  bekommt, 


3.  Abschn.  Synechologie.  i.  Abth.  VonRaum,  Zahletc.  3.  Cap.V.d.  stetigen  Linie  etc.       14g 

dafs  er  zwey  Dimensionen  des  Raums  zugleich  treffen  soll.  Um  diese 
Bestimmung  zu  finden,  müssen  wir  die  Ausbildung  des  Kreises  weiter 
verfolgen. 

[254]  Es  bedarf  keiner  langen  Erörterung,  dafs,  wenn  die  Richtungen 
des  ersten  Quadranten  gemischt  sind  aus  Unterwärts  und  Rechts,  dann  die 
des  zweyten  werden  aus  Oberwärts  und  Rechts,  die  des  dritten  aus  Ober- 
wärts  und  Links,  endlich  die  des  vierten  aus  Links  und  Unterwärts 
gemischt  seyn.  Denn  fangen  wir  an  bey  dem  vollkommenen,  ungemischten 
Unterwärts:  so  mischt  sich  ihm  allmählig  mehr  vom  Rechts  bey;  und  in 
der  Parallele  mit  der  ersten  Tangente,  also  am  Ende  des  ersten  Qua- 
dranten, wird  das  Rechts  unendlich  gegen  das  Unterwärts,  welches  letztere 
demnach  gegen  jenes  verschwindet;  so  dafs  hier  das  reine  Rechts  ein- 
tritt. In  der  weitern  Fortsetzung,  oder  im  Anfange  des  zweyten  Qua- 
dranten, wird  das  Unterwärts  negativ,  das  heifst,  es  verwandelt  sich  in 
Oberwärts.  Aber  dem  Rechts  ergeht  es  nun  wie  vorhin  dem  Unterwärts; 
es  verliert  sich  mehr  und  mehr  gegen  das  Oberwärts;  welches  am  Ende 
des  zweyten  Quadranten  allein  übrig  bleibt.  Und  so  geht  es  fort;  mit 
der  anfänglichen  Richtung  in  jedem  Quadranten  verbindet  sich  die  ent- 
gegengesetzte der  eben  verschwundenen  mehr  und  mehr;  sie  erlangt  das 
Übergewicht,  und  die  anfängliche  verschwindet  am  Schlüsse  des  Qua- 
dranten.     Hiemit  vergleiche  man  §.   254. 

Es  ist  nun  klar,  dafs  der  Mittelpunct  des  Kreises  zwiefach  einge- 
schlossen ist.  Er  liegt  mitten  auf  zwey  Durchmessern  zugleich,  nämlich 
auf  den  bevden,  deren  einer  das  Rechts  und  Links,  der  andre  das  Unter- 
wärts und  Oberwärts  darstellt.  Er  liegt  also  auch  mitten  zwischen  den 
vier  Endpuncten;  und  überhaupt  zwischen  je  zwey  Puncten,  die  man 
Rechts  und  Links,  Oben  und  Unten,  annehmen  möchte.  Es  ist  aber  leicht, 
dieses  von  zweyen  Durchmessern  auf  unendlich  viele  auszudehnen;  man 
braucht  nur  einen  Durchmesser,  das  heifst,  beyde  Radien  zugleich,  aus 
denen  er  besteht,  [255]  zu  drehen,  so  zeigen  die  vorigen  Entwicklungen, 
dafs  der  Mittelpunct  noch  immer  gerade  zwischen  den  Endpuncten  liegt,  in- 
dem, von  ihm  angefangen,  die  beyden  Richtungen  auf  dem  Durchmesser 
vollkommen  entgegengesetzt  bleiben.  Dreht  man  nun  zugleich  beyde, 
auf  einander  senkrechte  Durchmesser:  so  bleibt  auch  jenes  doppelte 
Zwischen  für  den  Mittelpunct  in  Hinsicht  der  vier  Endpuncte  stets 
dasselbe. 

Aber  der  Kreis  ist  ein  geschlossenes  Ganzes;  er  enthält  alle  Com- 
binationen  zwever  Richtungen  mit  ihren  Gegentheilen ;  seine  Construction 
läuft  in  sich  selbst  zurück.  Das  Nämliche  mufs  der  zu  ihm  gehörigen 
Kreislinie  (§.  258)  begegnen;  und  zwar  so  vielemal,  als  sie  entsteht  bey 
willkührlicher  Verkürzung  des  Radius :  wodurch  unendlich  viele  Kreislinien 
concentrisch,  und  jede  ganz  zwischen  zwev  andern,  gelagert  werden.  Das 
Zwischen  beruht  hier  unmittelbar  auf  der  Lage  jedes  Puncts  in  jedem 
Radius  zwischen  andern  Puncten  desselben  Radius.  Der  Mittelpunkt  ist 
nun  flächenförmig,  das  heifst,  nach  allen  von  ihm  aus  möglichen  Rich- 
tungen, welche  sich  auf  zwey  Grund  -  Richtungen  zurückführen  lassen,  ein- 
geschlossen. 

Jetzt  betrachte  man  eine  Sehne  im  Kreise.    Diese  befindet  sich  gegen 


I  ^o  !•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

den  Mittelpunct  in  dem  Verhältnifs  der  Linie  A  A'  gegen  den  Punct  C, 
nach  der  obigen  Darstellung  im  §.  255.  Denn  dort  erkennt  man  ohne 
Mühe  ein  gleichschenklichtes  Dreyeck,  weil  von  beyden  Seiten  des  Loths 
Alles  unter  ganz  gleichen  Umständen  auch  ganz  gleich  ausfallen  mufs, 
nur  mit  Vertauschung  des  Rechts  und  Links.  Man  weifs  also  schon,  dafs 
mitten  auf  die  Sehne  ein  Loth  aus  dem  Mittelpuncte  fallen  mufs,  welches 
die  kürzeste  Linie  von  dorther  ist.  und  von  welchem  angerechnet  nach  beyden 
Seiten  hin  immer  längere  folgen,  bis  an  die  Radien,  welche  den  Sector 
einschliefsen  (§.  257).  Die  Sehne  also  [256]  schneidet  alle  in  den  Sector 
fallende  Radien,  denn  alle  geraden  Wege  von  ihr  in  den  Mittelpunct  sind 
kürzer  als  die  Radien;  die  ganze  Sehne  aber  lieaft  gerade  zwischen  ihren 
Endpuncten;  die  Radien  liegen  ebenfalls  gerade  zwischen  einander,  denn 
sie  sind  die  verkürzten  Secanten  (§.  254),  aus  deren  Ursprung  wir  wissen, 
dafs  sich  in  ihrer  Lage  zwischen  einander  das  Zwischen,  und  zwar  das 
vollkommene,  gerade  Zwischen,  auf  der  Tagente,  wieder  darstellt.  So  liegt 
jede  Sehne  innerhalb  des  Kreises;  und  dieses  Innerhalb  ist  der  Begriff 
der  Ebene. 

Um  das  noch  deutlicher  zu  machen,  wollen  wir  zuerst  im  Kreise  eine 
Figur  zeichnen,  die  aus  mehrern  Sehnen,  zum  wenigsten  aus  dreyen,  be- 
stehen wird,  wenn  man  nicht  die  Endpuncte  zweyer  Sehnen  anders  als 
gerade  verbinden  will.  Nun  liegen  die  Radien  des  Kreises  unendlich  dicht 
(§.  258).  Wählt  man  also  auf  einer  Sehne  irgend  einen  Punct,  so  geht 
durch  diesen  irgend  ein  Radius.  Verbindet  man  diesen  Punct  mit  irgend 
einem  Puncte  einer  andern  Sehne  durch  eine  gerade  Linie :  so  hat  man 
zwev  Puncte  zwever  Radien  verbunden.  Aber  diese  Verbindung  war  ent- 
weder  schon  vorhanden,  oder  doch  aus  dem  Vorigen  sehr  leicht  zu  er- 
halten. Liegen  nämlich  die  beyden  Puncte,  zwischen  welchen  sie  eintrit, 
dem  Mittelpuncte  gleich  nahe:  so  ist  die  Gerade  zwischen  ihnen  unmittel- 
bar eine  Sehne  für  irgend  einen  jener  concentrischen  Kreise.  Liegen  sie 
in  verschiedener  Entfernung  vom  Mittelpuncte,  so  kann  man  dennoch  eine 
Sehne  durch  einen  der  gewählten  Puncte  so  drehen,  dafs  sie  auch  durch 
den  andern  gehn  mufs ;  und  dann  ist  jene  Gerade  ein  Theil  dieser  Sehne ; 
sie  schneidet  also  überall  die  schon  vorhandenen  Radien,  und  ist  ganz 
innerhalb  des  Kreises,  indem  sie  an  jeder  Stelle  nur  da  ist,  wo  irgend 
etwas,  das  zum  Kreise  gehört,  schon  war.  Wir  wollen  dieses  nicht  [257] 
mit  geometrischer  Weitläuftigkeit  entwickeln;  es  kommt  uns  nur  auf  den 
Begriff  der  Ebene  an,  als  eines  Grundes  oder  Bodens,  welcher  für  mög- 
liche Constructionen,  die  sich  auf  zwey  Dimensionen  zurückführen  lassen, 
schon  vorhanden  ist,  sobald  man  den  Kreis  construirt  hat,  um  dessen 
Mittelpunct  man  jede  beliebige  Figur  zeichnen,  und  den  man  rückwärts 
so  legen  kann,  dafs  der  Mittelpunct  überall,  wo  man  will,  innerhalb  der 
Figur  fallen  kann.  Die  Möglichkeit  aller  geraden  Linien  zwischen  irgend 
welchen  Puncten  der  Figur  ist  alsdann  durch  den  Kreis  und  seine  Sehnen 
dergestalt  vorgezeichnet,  dafs  alle  neuen  Constructionen  nur  die  vorigen 
wiederholen.  Und  diese  gesammte,  schon  vorräthige  Möglichkeit,  welche 
aus   der   Mischung  zweyer  Richtungen  hervorging,   ist  die  Ebene. 

Dafs  sich  dieselbe  Möglichkeit  auf  alle  krummen  Linien  in  dieser 
Ebene    sehr    leicht    ausdehnen    läfst,    weifs  Jeder,    dem    es    bekannt    ist, 


3.Abschn.  Synechologie.    i.  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  4.  Cap.  Vom  körperl.  Räume.   1  5  1 

dafs  jede  Curve  an  jeder  Stelle  für  einen  unendlich  kleinen  Kreis- 
bogen kann  genommen  werden;  wobey  wir  uns  hier  nicht  aufhalten 
können. 


Viertes  Capitel. 

Vom  körperlichen  Räume. 

§•  263. 
Der  Inhalt  dieses  Capitels  läfst  sich  vorhersehn.  Wir  haben  noch 
keinen  vorräthigen  intelligibeln  Raum ;  wir  werden  ihn  aber  zur  Lehre  von 
der  Materie  gebrauchen;  und  wir  werden  ihn  erreichen  durch  analoges 
Verfahren,  wie  jenes,  das  uns  die  Ebene,  als  vorräthig  für  mögliche  Con- 
structionen,   geschafft  hat. 

[258]  Wie  im  §.253  das  reale  Wesen  C,  so  kommt  hier  das  reale 
Wesen  D  hinzu.  Da  wir  schon  stetige  Linien  kennen,  und  wissen,  dafs 
sie  in  unserm  Zusammenhange  unentbehrlich  sind:  so  braucht  die  Linie 
AD  nicht  eine  starre  Linie  zu  seyn;  eben  so  wenig,  als  es  sich  gebührt, 
das  unabhängige  Wesen  D  an  die  bisher  construirte  Ebene  zu  binden. 
Liegt  nun  schon  D,  wie  es  soll,  aufser  dieser  Ebene:  so  kann  auch  die 
Linie  AD  mit  ihr  nur  den  Punct  A  gemein  haben.  Denn  fiele  noch  ein 
zweyter  Punct  derselben  in  die  Ebene :  so  wäre  die  gerade  Linie,  als  die 
kürzeste  Verbindung  beyder  Puncte,  sammt  ihrer  ganzen  möglichen  Ver- 
längerung;, schon  in  der  Ebene  vorhanden;  welches  deutlich  genug  aus 
dem  Vorhergehenden  erhellt. 

Auch  der  Begriff  des  Loths  ist  schon  bekannt  genug  aus  §.  255. 
Und  es  versteht  sich  nun  von  selbst,  dafs  ein  Loth  von  D  auf  die  Ebene, 
wo  es  im  Puncte  P  eintreffen  mag,  zugleich  auf  allen  Radien  des  Kreises 
um  P  senkrecht  stehn  mufs,  damit  es  dem  ganzen  System  der  in  der 
Ebene  möglichen  Richtungen  fremd  sey.  Hingegen  die  Linie  AD  wird 
sich  zerlegen  lassen  nach  drey  Richtungen. 

Dem  Puncte  D  ist  es  zufällig,  nur  mit  A  in  der  Ebene  geradlinig 
verbunden  zu  seyn.  Jeder  Punct  in  beliebiger  Entfernung  von  P,  dem- 
nach jeder  Punct  eines  Kreises  um  P,  kann  eben  so  gut  mit  D  durch 
eine  Gerade  verknüpft  werden.  Dies  macht  D  zur  Spitze  eines  Kegels; 
oder  vielmehr  aller  möglichen  Kegel  für  alle  mögliche  concentrische  Kreise 
um   P. 

Der  äufserste  dieser  Kegel  mufs  dergestalt  gesucht  werden,  dafs  ihm 
ein  Kreis  von  unendlichem  Radius  zur  Grundfläche  diene.  Alle  Linien 
im  Mantel  dieses  Kegels,  folglich  die  ganze  Vereinigung  derselben,  werden 
parallel  der  Ebene,  nach  §.  257;  oder  wir  finden  hier  den  Parallelismus 
zweyer  Ebenen. 

[259]  Nimmt  man  aber  die  nämlichen  Linien  gleich  lang,  so  ent- 
steht "die  Kugel:  zuerst  nur  die  Halbkugel,  die  sich  jedoch  leicht  ergänzen 
läfst.  In  ihr  giebt  es  Schnitte,  wie  im  Kreise  Sehnen;  und  jede  Ober- 
fläche eines  Körpers  kann  angesehen  werden  als  liegend  in  der  Kugel. 
Ist  sie  eben,  so  stellt  sie  einen  Theil  eines  Schnittes  der  Kugel  dar. 


jc2  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Wie  nun  im  Vorhergehenden  die  Ebene  sich  als  der  jetzt  fertige 
Grund  und  Boden  darbot,  worauf  man  zeichnen  könne,  indem  jede 
Zeichnung  nur  ein  Hervorheben,  ein  Wiederholen  dessen  sey,  was  in  der 
Ebene  schon  lag:  so  wird  die  Kugel,  mit  ihren  unendlich  dichten  Radien, 
und  ihren  sämmtlichen  Schnitten,  ein  ähnlicher  Stoff,  von  welchem  man 
nehmen  kann,  ohne  ihn  vermehren  zu  müssen,  wenn  man  geometrische 
Körper  in  Gedanken  erzeugen  will. 

§•   264. 

Die  stereometrischen  Constructionen  interessiren  nun  hier  nicht  weiter, 
als  inwiefern  sie  mit  der  Frage  zusammen  hängen :  ob  wir  den  intelligibeln 
Raum  völlig  ähnlich  dem  sinnlichen  ausbilden  müssen,  oder  ob  sich  irgend 
ein  Unterschied  zeigen  werde?  Je  bestimmter  wir  nun  bisher  gesehn 
haben,  dafs  mit  dem  Eintrit  des  Begriffs  vom  Stetigen  jeder  frühere 
Unterschied  verschwand  :  desto  auffallender  kann  der  Umstand  erscheinen, 
dafs  unsre  bisherige  Fortschreitung  von  einer  Dimension  zur  andern 
auf  einem  Verfahren  beruht,  welches  sich  offenbar  stets  weiter  fortsetzen 
läfst ;  während  doch  nach  der  dritten  Dimension  des  Raums  sich  Niemand 
wird  einfallen  lassen,  noch  eine  vierte  anzunehmen.  Wir  setzten  nämlich 
zuerst  zwey  reale  Wesen  voraus ;  und  entwickelten  den  Gegensatz  ihres 
möglichen  Zusammen  und  Nicht  -  Zusammen.  Dann  nahmen  wir  ein 
drittes  Wesen  hinzu;  darauf  ein  viertes.  Warum  [260]  nicht,  jetzt  ein 
fünftes  ?  Und  wenn  das  dritte  nicht  gebunden  war  an  die  Construction 
der  Linie  für  die  ersten  beyden ;  wenn  eben  so  das  vierte  nicht  der 
Ebene  angeheftet  werden  durfte,  die  für  drey  genügte:  so  wird  ja  auch 
ein  fünftes  reales  Wesen  nicht  beherrscht  seyn  durch  eine  Form  des  zu- 
sammenfassenden Denkens;  die  wir  uns  blofs  für  die  vier  ersten  aus- 
gesonnen haben.  Es  wird  also  eine  Linie  AE  geben  müssen,  welche  nicht 
in  die  Kugel  fällt.  Und  wenn  wir,  dieses  ablehnend,  sagen  wollten,  wir 
könnten  uns  das  nicht  denken :  so  würde  man  unsre  eigne  Behauptung 
gegen  uns  richten,  es  komme  hier  nicht  auf  die  Frage  an,  was  man  sich 
vorstellen  könne,   sondern   was  man   denken   solle   (§.  246). 

Um  nun  zu  zeigen,  wie  unpassend  dieser  Einwurf  seyn  würde,  und 
dafs  der  intelligibele  Raum,  gerade  wie  der  sinnliche,  nur  drey  Dimensionen 
haben  kann:  müssen  wir  vor  allem  daran  erinnern,  dass  es  hier  lediglich 
um  eine  Form  des  zusammenfassenden  Denkens  zu  thun  ist;  die  nicht 
erweitert  wird,  wenn  die  vorgeschlagene  Erweiterung  in  die  schon  vor- 
handene Construction  zurückfällt. 

Es  kommt,  nach  allem  Vorhergehenden,  nicht  blofs  darauf  an,  von 
einer  Linie  AE  zu  reden,  und  zu  fordern,  sie  solle  eine  neue  seyn,  son- 
dern darauf,  das  Neue  mit  dem  Alten  in  Verbindung  zu  bringen.  Nun 
ist  es  zwar  sehr  leicht,  den  Punct  E  außerhalb  der  Kugel  um  A  zu  setzen ; 
obgleich  dieselbe,  in  ihrer  ganzen  Vollständigkeit  gedacht,  einen  unend- 
lichen Radius  hat,  mithin  selbst  unendlich  ist.  Denn  vorausgesetzt,  außer- 
halb bedeute  soviel  als  nicht  innerhalb,  wie  es  denn  wirklich  in  unserem 
Zusammenhange  nichts  anderes  bedeuten  kann:  so  darf  man  nur  E  in  gar 
keinen   Raum,    —    oder  auch   in  den  sinnlichen   Weltraum,   —   oder  allen- 


3.  Abschn.  Synechologie.    i.Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  4.  Cap.  Vom  körperl.  Räume.   153 


falls  in  die  Tonlinie,  oder  in  [261]  die  Farbenfläche*  setzen,  welches  zwar 
ganz  grundlos,  aber  nicht  unmöglich  seyn  würde,  da  ein  reales  Wesen 
an  sich  allen  Raum-Constructionen  gleich  fremdartig  ist ;  alsdann  ist  E  ge- 
wifs  aufser  dem  intelligibeln  Raum,  worin  A  sich  befindet;  und  man  hat 
nun  blofs  den  Fehler  begangen,  das  mögliche  Causalverhältnifs  zwischen 
A  und  E,  welches  durch  die  Gemeinschaft  eines  gemeinsamen  Raums 
mufste  angedeutet  werden,  nicht  zu  berücksichtigen.  Aber  zugleich  ist 
man  nun  aus  dem  Zusammenhange  der  vorigen  Untersuchung  hinaus- 
getreten. Denn  es  sollte  eine  Linie  AE  geben;  oder  wir  wollen  lieber 
sagen,  eine  Linie  EA;  denn  es  kommt  darauf  an,  von  E  zu  A  zu  gelangen. 
Dies  kann  man  nicht,  weil  A  völlig  eingehüllt  ist  von  der  umgebenden 
Kugel.  Was  jetzt  noch  zu  A  gelangen  soll,  das  mufs  sich  gefallen  lassen, 
einen  von  den  Wegen  zu  gehn,  die  schon  durch  die  unendlich  dicht  zu- 
sammenschliefsenden  Radien i   der  Kugel  bezeichnet  sind. 

Diese  Umhüllung  des  Puncts  A  fand  bey  den  vorigen  Dimensionen 
nicht  statt.  A  lag  auf  der  Linie  AB  zwar  zwischen  zwey  Puncten ;  und 
durch  einen  derselben  ging  jeder  Übergang  auf  der  Linie.  Aber  diese 
Einschliefsung  war  behaftet  mit  dem  Gegensatze  des  Rechts  und  Links ; 
sie  lief  nicht  in  sich  selbst  zurück.  Späterhin  mochte  man  in  der  Ebene  A 
zum  Mittelpuncte  des  Kreises  annehmen;  alsdann  war  freylich  A  rings 
umgeben ;  aber  die  Radien,  auf  welchen  man  zu  A  gelangen  konnte,  lagen 
nur  zwischen  zwey  andern;  und  auf  sie  ging  nun  das  Rechts  und  Links 
der  Linie  hinüber,  so  dafs  man  den  Kreis  rechtshin  und  linkshin  durch- 
laufen kann.  So  lange  nun  der  Weg  zu  A  nicht  rings  umschlossen  war, 
liefs  derselbe  sich  abändern.  Man  kann  einen  Radius  des  Kreises  aufwärts 
und  nie-[2Ö2]derwärts  bewegen,  ohne  dadurch  eine  der  Richtungen, 
die  im  Kreise  schon  gegeben  sind,  zu  wiederholen.  Allein  in  der  Kugel 
kann  jeder  Radius  als  jenes  Loth  angesehen  werden  (§.  265),  welches  mit 
einem  kegelförmigen  Mantel  umgeben  ist.  Dieser  Mantel  wird  bestimmt 
durch  den  Kreis  der  Grundfläche;  er  umschliefst  den  Radius,  der  ihm 
zur  Axe  dient,  weil  der  Mittelpunct  des  Kreises  umschlossen  ist  von  der 
Kreislinie.  Versucht  man  nun,  den  Radius  irgendwie  zu  bewegen:  so 
fällt  er  in  den  Mantel;  dort  aber  wird  er  wiederum  die  Axe  für  einen 
neuen,  ihn  umgebenden  Mantel;  und  so  fort;  daher  seine  Lage  sich 
gar  nicht  dergestalt  verändern  läfst,  dafs  sie  nicht  einen  Theil  der  schon 
gemachten  Construction  wiederholen  sollte.  Jeder  neue  Weg  zu  A 
müfste  aber  als  Abänderung  eines  frühern  können  angesehen  werden, 
wenn  er  mit  der  schon  vorhandenen  Construction  in  Verbindung  treten 
sollte. 

Diese  Construction  also  ist  dergestalt  fertig,  dafs  sie  nichts  Neues, 
das  zu  ihr  gehören  könnte,  und  in  ihr  nicht  schon  als  möglich  vorgezeichnet 
wäre,  mehr  annimmt.  Darum  kommt  zu  dreyen  Dimensionen  des  Raums 
keine  vierte. 


*   Psychologie  I,  §.    100;  und  II,   §.    139.     [Bd.  V  und  VI  vorl.  Ausgabe.] 


1  zusammenfliefsenden   Radien.     SW. 


1^4  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


§•    265. 

Eine  lange  Mühe  hat  es  gemacht,  mit  einem  blofsen  Gedankendinge 
fertig  zu  werden;  das  jedoch  für  nichts  Schlechteres  zu  halten  ist,  als  das 
ähnliche,  womit  sich  Mathematiker  aller  Zeiten  auf  ernstlichste  beschäfftigten. 
Allein  hier  werden  zwey  Partheyen  auf  einmal  widersprechen.  Die  eine 
wird  sagen,  der  intelligible  Raum  sey  ja  nicht  der  wirkliche  Raum;  die 
andre,  welche  von  Kant  gelernt  hat,  dafs  der  Raum  nichts  Wirkliches 
ist,  wird  fragen,  ob  wir  denn  im  Ernste  von  der  Materie,  als  von  einem 
Realen  handeln  wollen  ?  Wenn  aber,  wie  sichs  gebühre,  Materie  für  blofse 
Erschei-[2Ö3]nung  gelte,  warum  denn  aufser  dem  sinnlichen  Räume 
noch  etwas  ihm  Nachgeahmtes  gesucht  werde  ? 

Im  Grunde  ist  die  letztere  Parthey  der  ersten  nicht  so  ungleich,  wie 
es  scheint.  Nicht  der  Raum,  aber  die  Sinnlichkeit,  deren  Form  er  seyn 
soll,  gilt  ihr  für  eine  wirkliche  Einrichtung  in  der  vorgeblichen  Organisation 
des  menschlichen  Geistes;  und  hinter  ihrem  sogenannten  transscendentalen 
Idealismus  steckt  ein  Realismus,  dem  wir  eben  so  wenig  huldigen  können, 
als  jenem,  welcher  die  wirklichen  Dinge  im  wirklichen  Räume  sucht.  Beyde 
Partheyen  sehn  nicht  ein,  dafs  in  jedem  Betracht  der  Raum  eine  Form 
der  Zusammenfassung  ist,  welche,  wenn  keine  weitere  Bestimmung  hinzu- 
kommt, den  Dingen  gar  kein  Prädicat,  tür  jeden  Zuschauer  aber  eine  Hülfe 
darbietet,  die  ihm  in  vielen  Fällen  ganz  unentbehrlich  wird;  und  die  er 
sich  selbst  erzeugt,  gemäfs  der  gegebenen  Veranlassung. 

Die  erste  Parthey  mag  sich  fragen,  ob  sie  im  Ernste  glaube,  dals 
der  Zwischenraum  zwischen  dem  Hungernden  und  der  Speise,  die  ihn 
sättigen  könnte,  eine  wirkliche  Bestimmung  für  jenen  oder  für  diese  ab- 
geben möge?  Soviel  aber  ist  klar,  dafs  die  Kenntnifs  des  gröfsem  oder 
geringern  Zwischenraums  vielfach  wichtig  ist,  um  die  Speise  zu  erlangen. 
Der  Zuschauer  erblickt  darin  nothwendig  eine  Bedingung,  welche  erfüllt 
werden  mufs,  um  die  Sättigung  zu  erreichen;  besonders  wenn  von  Zufuhr 
aus  fernen  Gegenden  die  Rede  ist.  Es  verhält  sich  damit  ungefähr  wie 
mit  der  Ungleichartigkeit  der  Sprachen.  Griechisch  ist  nicht  Arabisch; 
aber  dieser  Gegensatz  ist  weder  eine  Eigenschaft  des  Griechischen  noch 
des  Arabischen.  Dennoch  schätzt  derjenige  diesen  Gegensatz  als  ein 
gröfseres  oder  geringeres  Hindernifs.  welcher  mit  der  Kenntnifs  einer 
Sprache  die  der  andern  zu  verbinden  wünscht.  [264]  So  entsteht  im  zu- 
sammenfassenden Denken  solcher  Gegenstände,  die  an  sich  in  gar  keiner 
Verbindung  stehn,  eine  Gröfse  des  Unterschiedes,  die  nicht  blofs  für  eine 
Person,  sondern  für  jeden  Zuschauer  vorhanden  ist,  und,  obgleich  den 
Gegenständen  fremd,  doch  aus  ihnen  hervorgeht,  und  sich  nicht  willkühr- 
lich  so  oder  anders  auffassen  läfst.  Haben  zwey  Sprachen  eine  zufällige 
Ähnlichkeit:  so  liegt  darin  eine  Erleichterung  im  Lernen  der  einen  nach 
der  andern;  die  Gröfse  des  Unterschiedes  findet  sich  dann  geringer,  als 
im  entgegengesetzten  Falle. 

Dafs  nun  die  Gröfse  des  Unterschiedes  der  Sprachen  weder  in  der 
einen  noch  in  der  andern  Sprache,  sondern  nur  in  der  Zusammenfassung 
liegt:  dieses  Beyspiel  mögen  besonders  Diejenigen  erwägen,  welche  nicht 
begreifen  können,    dafs  der  Punct  gar  keinen  Raum  einnehmen,   und   doch 


3- Abschn.  Synechologie.    i .  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.    4.  Cap.  Vom  körperl.  Räume.   155 

das  Auseinander  zweyer  Puncte  das  ursprüngliche  Maafs  des  Raums  seyn 
soll.  Wenn  keiner  von  beyden  Puncten  ausgedehnt  sey,  dann,  meinen 
sie,  könne  auch  das  Aneinander  der  beyden  keine  Ausdehnung  haben; 
denn  was  in  den  Bestandtheilen,  einzeln  genommen,  nicht  liege,  das  werde 
man  auch   in  deren  Summe  nicht  finden. 

Und  gerade  umgekehrt!  Gröfse,  als  solche,  ist  nur  Zusammenfassung ; 
dies  ist  so  wahr,  dafs,  wenn  jedes  der  Elemente  schon  an  sich  eine  Gröfse 
hat,  dann  die  Zusammenfassung  derselben  allemal  einen  unreinen  Begriff 
giebt,  der  verschiedenartige  Gröisen  vermengt.  Zwey  Thaler  sind  keine 
reine  Zweyheit ;  denn  aufser  der  Zahl  zivey  trit  hier  auch  noch  ein 
Werth  hervor,  dem  es  sehr  zufällig  ist,  wenn  er  gerade  durch  zwey  Münzen 
repräsentirt  wird.  Zwey  Personen  geben  eine  reine  Zweyheit  erst  nach 
der  nöthigen  Abstraction  von  ihrem  Gewicht,  ihrem  Volumen,  und  was 
sonst  von  Gröfse  jeder  einzelnen  vorkommen  [265]  mag.  Bey  zwey 
Zahlen,  welche  durch  Addition  zusammengefafst  werden,  wie  wenn  7  -j-  5 
=  12,  läfst  man  den  Begriff  der  Zweyheit,  so  wie  bey  6  -|-  2  -f-  4  =  12 
den  Begriff  der  Dreyheit,  ganz  fallen ;  weil  die  mindeste  Erinnerung  daran 
die  Zahl,  welche  aus  der  Zusammensetzung  derTheile  entstehen  soll,  verderben 
würde.  Ursprünglich  aber  war  die  Zahl  7  doch  die  Form  der  Zusammen- 
fassung für  die  gegebene  Menge  ihrer  Theile  1  — j—  1  — f—  1  — |—  1  — |—  1  — |—  1  — f- 1 ; 
und  eben  so  die   Zahl   5. 

Sollen  wir  noch  an  ästhetische  Urtheile  erinnern?  Wie  oft  wird  man 
es  wiederholen  müssen,  dafs  der  einzelne  Ton  c  oder  eis  weder  harmonisch 
noch  disharmonisch  ist,  die  einzelnen  Töne  e  und  g  eben  so  wenig;  und 
dafs  dennoch  c,  e,  g  einen  reinen,  eis,  e,  g  einen  unreinen  Accord  ergeben? 

Alle  Gröfse  ist  Form  der  Zusammenfassung.  Aber  diese  Form  selbst 
kann  eine  nähere  Bestimmung  annehmen,  durch  den  Gegensatz  des  Zu- 
sammen und  Nicht-Zusammen.  Die  realen  Wesen  A  und  B  sind  zwey, 
und  diese  arithmetische  Bestimmung  bleibt  die  nämliche,  sie  seyen  nun  zu- 
sammen oder  nicht  zusammen.  Aber  im  Zusammen  sind  sie  nicht  aufser- 
einander,  im  Nicht-Zusammen  sind  sie  nicht  Ineinander.  Dies  beydes, 
eins  wie  das  andere,  ist  noch  blofser  Mangel  der  Räumlichkeit.  Das  heifst, 
man  braucht  an  gar  keinen  Raum  zu  denken,  wenn  A  und  B  blo/s  und 
lediglich  zusammen  sind;  und  man  braucht  abermals  an  keinen  Raum  zu 
denken,  wenn  sie  blofs  und  lediglich  Nicht-Zusammen  sind.  Erst  im  vest- 
gehaltenen  Gegensatze  dieser  bevden  Bestimmungen  entspringt  das  Aufser- 
einander. 

Man  gehe  jetzt  zurück  in  den  §.  245;  und  man  wird  finden,  dafs 
wir  den  Begriff  des  Orts  nur  erhielten,  indem  zuir  im  Nicht-Zusammen 
dennoch  die  [206]  Möglichkeit  des  Zusammen  vesthielten.  Aufserdem  würde 
das  Nichtzusammen  blofs  die  Erlaubnifs  ausdrücken,  man  könne  füglich  das 
Eine  vergessen,  indem  man  des  Andern  gedenkt.  Aber  indem  durch  das 
Nicht-Zusammen  die  Möglichkeit  des  Zusammen  sich  verdoppelt ;  entstehen 
zwey  Orte,  einander  gegenüber,  welche  durch  die  fernere  Construction  des 
Raums  nur  vervielfältigt,  nicht  aber  ihrem  Begriffe  nach  verändert  werden ; 
auch  dann  nicht,  wann  die  Continuität  dazu  kommt,  die  nur  als  Gegensatz 
des  Fliefsenden  gegen  das  Starre  einen  Sinn  hat,  und  des  letzteren  gar 
nicht  entbehren  kann. 


j  -5  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Diejenigen,  welche  zuerst  unsere  Construction  kennen  lernen,  sind  ohne 
Zweifel  geneigt,  die  Puncte  der  starren  Linie  für  blofse  Unterscheidungen 
in  Begriffen  zu  halten;  wie  wenn  Jemand  die  Grade  der  Wärme,  oder 
die  Grade  der  Helligkeit  unterscheidet,  welche  sich  doch  nicht  nothwendig 
aufser  einander  befinden.  Wer  nun  freylich  Gewicht  hierauf,  als  auf  einen 
Einwurf,  legen  wollte:  der  müfste  uns  nachweisen,  welcher  Unterschied 
denn  sey  unter  den  Puncten  unserer  starren  Linie?  Allein  hoffentlich  hat 
schon  die  Construction  der  Ebene,  und  des  körperlichen  Raums  eine  bessere 
Einsicht  bewirkt.  Es  wird  wohl  Niemand  den  pythagoräischen  Lehrsatz 
oder  die  Rectification  des  Kreises  (§.  259  und  260)  irgendwo  anbringen 
können,  wo  keine  wahren  Raumverhältnisse  Statt  finden.  Dies  sey  besonders 
den  Kantianern  gesagt;  die  sich  freylich  am  allerletzten  überzeugen  werden, 
dafs  es  aufser  ihrer  eingebildeten  reinen  Anschauung,  als  Form  der  Sinn- 
lichkeit, noch  eine  Quelle  wahier  Raum- Begriffe  geben  könne. 

§.   266. 

Gegen  alle  mögliche  Misdeutung  hilft  am  besten  der  [267]  richtige 
Gebrauch  einer  Lehre.  So  ist  die  Differentialrechnung  für  einen  Anfänger, 
der  gern  disputirt,  ein  Stoff  zu  stets  erneuerten  Einwürfen ,  bis  er  aus 
der  Anwendung  lernt,  dafs  er  durch  die  vermeinten  Proben  seines  Scharf- 
sinns   nur    seine  Ungelenkigkeit    im   Denken   verrieth. 

Unsre  Lehre  vom  intelligibeln  Räume  läfst  sich  nun  zwiefach  an- 
wenden ;  theils  auf  Ruhendes,  theils  auf  Beivegtes.  Die  zweyte  dieser  An- 
wendungen ist  eigentlich  die,  welche  in  der  ursprünglichen  Aufgabe  liegt, 
die  Veränderung  zu  erklären.  Man  gehe  zurück  in  den  §.  230,  wo  der 
Zusammenhang  der  ganzen  Untersuchung,  die  uns  bis  hieher  führte,  deut- 
lich hervortrit.  Die  Veränderung  nämlich  konnte  in  Hinsicht  des  wirk- 
lichen Geschehens,  das  in  ihr  liegt,  zwar  wohl  erklärt  werden  durch  die 
Theorie  von  den  Störungen  und  Selbsterhaltungen;  aber  der  Eintril  oder 
das  Aufhören  dieses  wirklichen  Geschehens  ist  selbst  ein  scheinbares  Ge- 
schehen, dessen  Begriff  eine  Zeit  in  sich  begreift,  welche  leer  bleibt  vom 
wirklichen  Geschehen,  und  ihm  doch  vorangeht  oder  nachfolgt.  Die  Leer- 
heit und  gänzliche  Nichtigkeit  dieses  Begriffs,  als  ob  das  Eintreten  oder 
Aufhören  des  Geschehens  selbst  einen  Theil  des  Geschehens  ausmachte 
(wie  wenn  die  Gränze  und  die  leere  Umgebung  eines  Körpers  ein  wahres 
Prädicat  desselben  wäre),  mufs  man  zuerst  reiflich  überlegen.  Alsdann 
aber  ist  es  eben  so  nöthig  anzuerkennen,  dafs,  wie  der  leere  Zwischen- 
raum zu  unserer  Vorstellung  der  Körper,  so  auch  das  scheinbare  Geschehen, 
welches  in  der  Folge  leerer  und  erfüllter  Zeit  liegt,  in  unserem  Denken  ganz 
unentbehrlich  ist,  nachdem  einmal  die  Anschauung  uns  Veränderung,  als  ein- 
tretend nach  einem    frühern,   anderen  Zustande    der  Dinge,    gegeben  hat. 

So  wesentlich  nun  diese  Überlegung  zu  unserer  Auf-[2ö8]gabe  ge- 
hört: so  finden  sich  dennoch  Gründe,  die  weitere  Ausführung  derselben 
zu  verschieben.  Zwar  wäre  es  möglich,  jetzt  gleich  von  Zeit  und  Bewegung 
zu  handeln;  wir  hätten  völlig  zureichende  Veranlassung,  nachzuweisen, 
dafs  die  realen  Wesen  als  bewegt  im  intelligibeln  Räume  müssen  gedacht 
werden,  wenn  sie  aus  dem  Nicht-Zusammen ,  welches  der  Veränderung 
vorangehn  mufs,    übergehn  sollen    in    das  Zusammen,  und  folglich  in  das 


3.  Abschn.  Synechologie.    i.Abth.  VonRaum,  Zahl  etc.  4.Cap.  Vom  körperl.  Räume.   157 

Causalverhältnifs,    welches    das    wirkliche,    der  Veränderung    zum   Grunde 
liegende,  Geschehen  ausmacht. 

Allein  die  Raumbestimmungen  brauchen  sich  nicht  gleich  zu  ver- 
wickeln mit  den  neuen  Schwierigkeiten,  welche  die  Frage  nach  dem,  was 
die  Zeit  erfüllt,  herbey führen  würde.  Längeres  Verweilen  bey  blofs  for- 
malen, leeren  Begriffen  ist  nicht  einmal  rathsam.  Der  eigentliche  Haupt- 
gegenstand unserer  ganzen  Arbeit,  —  die  Materie,  —  liegt  nicht  mehr 
so  entfernt,  dafs  sich  nicht  schon  eine  Spur  sollte  zeigen  können,  die  zu 
ihm  hinführt. 

Wir    haben    schon  Raum    und  Causalität.      Mehr    mufs    nicht    nöthig 
seyn,  die  Materie  in  ihren  ersten  Gründen  zu  erkennen,  wenn  sie  anders 
ein  Beharrlich -Wirkliches,  und  weder  ein  ewig  Fliefsendes,  noch   eine  blofse 
Erscheinung  ist.      Freylich   wäre    sie   in    steter  innerer  Verwandlung  not- 
wendig begriffen,    dann  müfste  man   ihrer  Betrachtung  die  Lehre  von  der 
Zeit  voranschicken;  und  wäre  sie  nichts  als  blofse  Erscheinung,  dann  hätte 
erst  die  Eidolologie  nach  ihr  zu  fragen.  Beyde  Behauptungen  bedürfen  keiner 
Widerlegung;    besser  ist,    zu  zeigen,    wie    die  Sache   sich  wirklich  verhält. 
Als  Eingang  dazu  mag  die  Betrachtung  dienen,  dafs  sich  reale  Wesen 
in  dem  intelhgibeln  Räume  nicht  blofs  bewegt,  sondern  auch  ruhend  denken 
lassen.     Letzteres  auf  zweyerley  Weise;  zusammen,  oder  nicht  zusammen. 
[269]  Aber  durch    den  Begriff  des  Irrationalen  (§.  259)  erhält  beydes  eine 
nähere    Bestimmung.     Das    Nicht-Zusammen  erstlich  braucht  nicht  gerade 
eine    rationale  Distanz,  das  heifst,  eine  bestimmte  Summe  des  Aneinander, 
zu  betragen;  sondern  zwey  reale  Wesen  können  recht  füglich  auch  an  den 
Endpuncten  irgend  einer  Hypotenuse  stehn.      Diese   Stellung  enthält  zwar 
einen  widersprechenden  Begriff;    allein  das  Widersprechende  der  Stellung 
liegt  nicht  in  der  Qualität  der  Wesen;  es  bleibt  in  der  Raumbestimmung, 
welche   sich   dergleichen  Widersprüche,   wie  wir  schon  gesehen  haben,   un- 
vermeidlich   mufs  gefallen  lassen.   —   Gerade  eben  so  nun  verhält  es  sich 
mit  dem  Zusammen.     Ein  paar  reale  Wesen  können   vollkommen  zusammen, 
das   heifst,    ineinander,    seyn;    aber    diese    Annahme  ist  nicht  nothwendig. 
Wir  dürfen    auch   ein    unvollkommenes  Zusammen  vorraussetzen;    das    heifst, 
die  realen  Wesen  A  und  B  können  in  solcher  Lage  seyn,  wie  die  beyden 
letzten  Puncte    einer  Hypotenuse,    die    theihveise    einander    decken  sollen, 
als    ob    ein  Punct    theilbar    wäre.     Die    Fiction    in    diesem    Begriffe    trifft 
wiederum  lediglich  den  Raum ;  sie  berührt  nicht  im  mindesten  die  Qualität 
der  Wesen ;  auch  nicht  das  wirkliche  Geschehen ;  denn  die  räumliche  Lage 
ist  überall  nichts  für  die  Wesen  selbst.     Auch  kann    man  voraussehn,    dafs 
bey    der  Bewegung  alle  diese  widersprechenden  Raumbegriffe  unvermeidlich 
auf  die  Zusammenfassung  der  Wesen  müssen  übertragen  werden;  denn  das 
Bewegte  durchläuft  nothwendig  eben  sowohl  die  irrationalen  als  die  ratio- 
nalen Distanzen  bis  zu  seinem  Ziele;  und  ehe  es  mit  einem  zweyten   realen 
Wesen  in  ein  vollkommenes  Zusammen  eingeht,  mufs  ein  unvollkommenes 
Zusammen  beyder  Statt  finden. 

Es  gehört  wesentlich  zur  richtigen  Einsicht  in  die  Eigentümlichkeit 
des  Raums,  dafs  man  die  hier  vor-[2  7o]kommenden  Fictionen  nicht 
scheue.  Diejenigen,  welche  überall  nur  Stetiges  erblicken,  und  das  Starre 
ganz  verkennen,    kommen    aus   den  Widersprüchen,    die  wir    hier  zulassen, 


I  cg  Allgemeine  Metaphysik  nebsl  den  Anfängen  etc.      1829. 


gar  nicht  heraus;  sie  wissen  nur  nicht,  dafs  es  Widersprüche  sind.  Darum 
ist  ihnen  der  Raum  eine  räthselhafte  Gabe  der  Natur,  sey  es  der  äufsern, 
körperlichen,  oder  der  geistigen,  durch  Gesetze  des  Anschauens  bestimmten 
Natur.  Wer  aber  den  Raum  als  ein  Geschöpf  des  zusammenfassenden 
Denkens  kennt,  gerade  so  wie  die  Zahl,  der  wird  sich  nicht  wundern  über 
die  Erweiterung  der  Begriffe  von  imaginären  Gröfsen.  Wir  sehen,  dafs 
gerade  so  nothwendig ,  und  gerade  so  natürlich ,  wie  die  Algebra  zur 
Wurzel  aus  Minus-Eins  kommt,  auch  die  Geometrie  zur  Kreislinie,  und 
mit  ihr  zur  Theilbarkeit  des  einfachen  Puncts  kommen  mufste,  die  sie 
sich  aus  falscher  Schaam  nicht  gestehen  wollte;  während  ihr  die  Algebra 
das  gute  Beyspiel  der  Aufrichtigkeit  so  deutlich  als  nachahmungswerth  vor 
Augen  stellte. 


Fünftes  Capitel. 
Von  dem  Ursprünge  der  Materie. 

§.  267. 

Es  wird  gut  seyn  vorauszusagen,  dafs  wir  in  diesem  Capitel  nur  auf 
starre,  nicht  zugleich  auf  flüssige  und  gasförmige  Körper,  durch  die  Unter- 
suchung können  1  geführt  werden.  Die  Erklärung  der  letztern  liegt  tiefer, 
sowohl  nach  Theorie  als  Erfahrung;  indem  kein  Flüssiges  ohne  den  Druck 
seines  Dampfs,  kein  Dampf  und  Gas  ohne  eine  zusammenpressende  Ur- 
sache kann  gegeben  werden,  da  es  sich  sonst  zerstreuen  würde,  und  nicht 
merklich   bliebe. 

[271]  Von  den  vier  Annahmen  des  vorhergehenden  Paragraphen  ist 
eigentlich  nur  die  letztere  fähig,  uns  zum  Gegenstande  weiterer  Betrach- 
tung zu  dienen.  Denn  wenn  zwey  reale  Wesen  in  einer  Distanz,  ohne 
Vermittelung,  sich  befinden,  so  mag  dieselbe  rational  oder  irrational  seyn; 
es  fehlt  die  Bedingung  der  Causalität,  das  Zusammen;  und  es  geschieht 
Nichts.  Sind  sie  aber  vollkommen  zusammen:  so  wissen  wir  schon,  dafs 
sie  dem  gemäfs  sich  in  vollkommener  Störung  und  Selbsterhaltung  befinden. 

Daraus  nun  ergiebt  sich,  wie  es  auf  den  ersten  Blick  scheint,  dafs 
einem  unvollkommenen  Zusammen  eine  mindere,  dem  Grade  nach  abge- 
stufte, Störung  und  Selbsterhaltung  entsprechen  müsse.  Und  dies  ist  auch 
nicht  unrichtig,   allein   es  genügt  nicht. 

Das  unvollkommene  Zusammen  beruht  auf  einer  Fiction,  die  wir 
schon  kennen.  Ein  paar  Puncte  liegen  dichter  als  aneinander,  das  heifst; 
sie  haben  sich  theilweise  in  einander  geschoben.  Also  haben  sie  Theile ; 
und  diese  Vorstellung  der  Puncte  mufs  hier  nothwendig  auf  die  realen 
Wesen  übertragen  werden,  wenn  deren  unvollkommenes  Zusammen  soll 
deutlich  gedacht  werden. 

Die  erste  vorläufige  Frage  ist  hier:  wo  Theile  sind,  da  ist  auch  Figur ; 
welche  Figur  aber  paßt,   auch   nur  als  Fiction,   auf  einfache   Wesen? 


1   durch  die  Untersuchung  geführt  werden.     SW.     („können"  fehlt.) 


3.  Abschn.  Synechologie.  i .  Abth.  Von  Raum,  Zahl etc.5.  Cap.V.  d.  Ursprünge  d.  Materie.   1 5 g 

Antwort:  Einzig  die  Kugel.  Denn  es  ist  kein  Grund  vorhanden, 
die  Ausdehnung  nach  verschiedenen  Seiten  hin  ungleichförmig  anzunehmen. 

Und  diese  Kugeln  sind  für  alle  reale  Wesen  gleich  grofs.  Denn  es 
ist  kein  Grund  der  Ungleichheit  vorhanden;  und  ohne  solchen  darf  die 
Fiction  nichts  Ungleiches  zulassen. 

Also  denken  wir  uns  ein  paar,  theilweise  durchdrungene,  innerlich 
vollkommen  gleichartige  Kugeln. 

[272]  Wer  hier  von  Atomistik  eine  Spur  finden  wollte,  der  würde 
sich  sehr  irren.  Ato?7ie  können  einander  nickt  durchdringen  ;  bey  uns  aber  ist 
partiale  Durchdnngung  der  ganze  Grund,  warum  wir  uns  auf  die  gemachte 
Fiction  überhaupt  einlassen.  Und  hier  ivird  sich  gerade  die  Ursache  zeigen, 
warum  bisher  alle  Versuche,  aus  Atomen  oder  Monaden  die  Materie  zu  er- 
klären ,  fruchtlos  bleiben   mufsten. 

Der  bestimmte  Begriff,  auf  welchen  unsre  Annahme  führt,  ist  nun 
der  einer  Selbsterhaltung,  welche  vollkommen  sey  in  den  durchdrungenen 
Theilen,  aber  gar  nicht  vorhanden  in  den  Theilen,  wohin  die  Durch- 
dringung nicht  reicht.  Dies  ist  die  nothwendige  Folge  der  gemachten  Vor- 
aussetzung. Denn  in  den  durchdrungenen  Theilen  ist  das  Zusammen,  und 
hiemit  völlige  Causalität,  vorhanden;  in  den  nicht  durchdrungenen  Theilen 
fehlt  das  Zusammen  gänzlich;  mithin  fehlt  gänzlich  die  Bedingung  der  Cau- 
salität, und  es  giebt  also  keine  solche. 

§   268. 

Hier  haben  wir  uns  nun  auf  eine  völlig  unerlaubte  Weise,  —  begreif- 
lich nur  um  den  richtigen  Schlufs  vorzubereiten,  —  in  Widersprüche  ein- 
gelassen; und  es  kommt  jetzt  Alles  darauf  an,  iti  diesem  Puncte  das  Unstatt- 
hafte  vom    Zulässigen   zu   unterscheiden. 

Raumbegriffe,  die  an  sich  weder  die  Qualitäten  des  Seyenden  noch 
ein  wirkliches  Geschehen  bezeichnen,  können  es  vertragen,  dafs  man 
jene  geometrische  Consequenz ,  die  uns  beym  Kreise  und  bey  den  Hypote- 
nusen aufs  Continuum  führte,  bey  ihnen  vesthalte.  Denn  es  sind  leere 
Begriffe,  deren  Verknüpfung  immer  gut  ist,  so  lange  sie  gesetzmäfsig  fort- 
schreitet. Aber  nicht  [273]  in  solchem  Falle  befindet  sich  das  wirkliche 
Geschehen.  Dieses  hört  auf,  ein  wirkliches  zu  seyn,  wenn  es  mit  Wider- 
sprüchen behaftet  gedacht  wird.      Das    aber  ist  uns  im  Vorigen  begegnet. 

Das  wirkliche  Geschehen,  die  Selbsterhaltung  eines  jeden  Einzelnen 
realen  Wesens,  wurde  so  gedacht,  als  ob  sie  sich  dergestalt  vermindern 
liefse,  dafs  ein  Theil  eines  solchen  Wesens  sich  selbst  erhalte,  ein  andrer  nicht. 

Aber  es  ist  unwahr,  dafs  einfache  Wesen  Theile  haben.  Es  ist  also 
auch  durchaus  unmöglich,  dafs  ein  solcher  Unterschied  —  Selbsterhaltung 
hier,  aber  nicht  dort,  —  in  einem  und  demselben  realen  Wesen  Statt 
finde.  Denn  es  giebt  im  realen  Wesen  kein  hier  und  dort ;  der  ganze 
Unterschied  ist  eine  Fiction. 

Wenn  nun  diese  Fiction  wenigstens  in  ihrer  eigenthümlichen  Conse- 
quenz soll  vestgehalten  werden:  so  mufs  der  Satz  bestehen:  in  dem  gan- 
zen realen  Mcsen ,  in  allen  fingirten  Theilen  desselben ,  befindet  sich  einerley 
Grad  der  Selbsterhaltung. 


l5o  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1828. 

§•    269. 

Also,  obgleich  die  Durchdringung  nur  als  partial  angenommen,  oder 
ein  unvollkommenes  Zusammen  vorausgesetzt  wurde:  so  ist  doch  die  Selbst- 
erhaltung blofs  dem  Grade  nach  geringer;  sie  geschieht  aber  in  dem 
realen  Wesen  ohne  irgend  einen  Unterschied  von  Theilen. 

Jetzt  ist  der  Begriff  des  wirklichen  Geschehens  berichtigt.  Aber  nun 
bleibt  ein  P'ehler  in  der  Voraussetzung  der  Lage.  Das  unvollkommene 
Zusammen  führt  eine  Selbsterhaltung  mit  sich;  zu  dieser  muss  es  passen; 
das  heifst:  entiueder  die  Selbsterhaltung  mufs  sich  richten  nach  dem  Zu- 
sammen,  oder  das  Zusammen   nach   der   Selbsterhaltung. 

[274]  Allerdings  nun  richtet  sich  die  Selbsterhaltung  nach  dem  Zu- 
sammen, insofern  sie  überhaupt  Statt  findet  selbst  bey  dem  nur  unvoll- 
kommenen Zusammen.  Ausbleiben  kann  sie  nicht;  aber  sie  kann  sich 
auch  nicht  theilen  nach  fingirten  Theilen  des  Wesens. 

Da  nun  überall,  in  diesen  fingirten  Theilen,  Selbsterhaltung  wirklich 
geschieht:    so  mufs  auch  überall  das  Zusammen  ihr  entsprechen. 

Was  heifst  nun  dies? 

Nichts  anderes,  als:  unsere  Voraussetzung  kann  nicht  bestehen;  es 
bleibt  nicht  bevm  unvollkommenen  Zusammen.  Sondern  wenn  einmal  ein  paar 
reale  Wesen  in  diese  Lage  gerathen :  so  ist  die  Nothivendigkeit  vorhanden , 
dafs  sie   vollends   in   einander  eindringen. 

§.    270. 

Bey  einiger  Überlegung  konnte  man  erwarten,  dafs  wir  die  Materie 
nicht  früher  als  die  scheinbaren  Kräfte  finden  würden,  durch  welche  sie 
besteht;  denn  sie  ist  Nichts  ohne  diese  Kräfte.  Wo  Materie  gegeben  wird, 
da  zeigt  sie  sich  entweder  durch  Cohäsion,  oder  durch  Repulsion  ihrer 
Theile  bestimmt,  oder  durch  beydes.  Deshalb  sind  längst  Attraction  und 
Repulsion  als  ihre  Grundkräfte  angegeben  worden. 

Wir  haben  nun  so  eben  den  ursprünglichen  und  einzig  ?nöglichen 
Grund  der  Attraction  gefunden.  Denn  es  hat  gar  keinen  Sinn,  von  wirk- 
lichen Grundkräften  zu  reden,  die  sich  auf  ein  Raumverhältnifs  beziehen 
sollen.  Der  Raum  ist  einmal  nichts  Wirkliches;  und  nicht  fähig,  die  Vor- 
aussetzung wirklicher  Kräfte  darzubieten.  Allein  wir  wollen  uns  bev  diesem 
Vorurtheil  jetzt  noch  nicht  aufhalten,  sondern  erst  die  Construction  der 
Materie  vollenden.  Dazu  fehlt  noch  die  scheinbare  Kraft  der  Repulsion. 
Sie  ist  leicht  zu  fin-[2  75]den;  obgleich  nicht  bey  zweyen  realen  Wesen; 
auch  geht  sie  der  Attraction  nicht  voran,  sondern  sie  folgt  ihr  nach. 
Attraction   ist  das  Erste,   Repulsion   das  Ziveyte. 

Man  nehme  jetzt  drev  reale  Wesen,  von  welchen  zwey  unter  sich 
gleichartig  sind.  Diese  mögen  bezeichnet  werden  mit  A  und  A';  das  dritte 
Wesen  heifse  B. 

B  sey  in  der  Mitte;  es  seyen  von  zwey  verschiedenen  Seiten  her  A 
und  A',  die  mit  ihm  in  ein  unvollkommenes  Zusammen  gerathen  waren, 
jetzt  eben  im  Begriff,  vollends  in  B  einzudringen,  wie  es  nach  der  eben 
vorhin  gezeigten  Schwierigkeit  geschehen  mufs.  Soll  es  aber  in  der  That 
geschehen:   so  müssen  nicht  nur  A  und  A'  sich  vollkommen  selbsterhalten 


3.  Abschn.  Synechologie.  i .  Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  5 .  Cap.  Von  dem  Ursprünge  etc.   t  6 1 

gegen  B,  was  sie  ohne  Schwierigkeit  können:  sondern  B  mufs  sich  nun 
doppelt,  nämlich  gegen  beyde  A,  selbsterhalten.  Wenn  dieses  möglich  seyn 
sollte,  so  müfste  in  dem  Gegensatze  des  B  gegen  A  eine  solche  Ungleich- 
heit seyn,  dafs  ein  einzelnes  A  nicht  zureichte,  um  der  ganzen  Negation, 
welche  in   B  liegt,  gegen   die   Qualität  der  A,    völlig  zu  entsprechen. 

Ein  solcher  Fall  läfst  sich  nun  im  Allgemeinen  sehr  wohl  denken; 
und  künftig  werden  wir,  bey  den  Untersuchungen  über  die  Verschieden- 
heit der  Materien,  allerdings  Manches  daraus  ableiten.  Aber  es  läfst  sich 
auch  das  Gegentheil  denken;  und  die  einfachste  Annahme,  die  wir  zuerst 
machen  müssen,   ist  die,   dafs  der   Gegensatz  zwischen  A  und  B  gleich  sey. 

Alsdann  kann  B  die  geforderte  doppelte  Selbsterhaltung  gegen  beyde 
A  zugleich  nicht  vollziehen.  Es  kann  aber  auch  keine  wirkliche  Störung, 
ohne  Selbsterhaltung,  in  B  geschehen,  wie  wir  aus  der  Lehre  von  der 
wahren  Causalität  längst  wissen.  Sondern  die  Lage  [276]  der  realen 
Wesen,  ihre  räumliche  Stellung,  das  blofs  scheinbar  Wirkliche,  mufs  sich 
hier  eben  sowohl  als  zuvor  nach  dem  wirklichen  Geschehen  einrichten  und 
abändern. 

Das  heifst:  die  bey  den  A  können  nicht  ganz  eindringen  in  B;  wie  sie 
nach  dem  Vorigen  doch  sollten.  Denn  hier  sind  nun  zwey  entgegen- 
gesetzte Nothwendigkeiten,  welche  die  Lage  bestimmen.  Da  in  jedem  A 
jedenfalls  Selbsterhaltung,  ohne  Unterschied  der  durchdrungenen  und  nicht 
durchdrungenen  Theile,  wirklich  geschieht:  so  sollten  sie  ganz  eindringen, 
und  das  nennen  wir  Attraction.  Da  aber  B  sich  nicht  doppelt  selbst- 
erhalten kann,  so  scheint  es  eine  zurückstosfende  Gewalt  gegen  sie  auszu- 
üben; und  die  nennen  wir  Repulsion.  Zwischen  diesen  beyden  Nothwen- 
digkeiten mufs  irgend  ein  Gleichgczoicht  eintreten;  oder:  A  und  A'  müssen 
zum  Theil  in  B  eindringen,  und  dabey  mufs  es  sein  Bewenden  haben. 

§.   271. 

Sollte  nun  der  Ursprung  der  Materie  noch  nicht  klar  genug  vor 
Augen  liegen:   so  können  wir  nachhelfen. 

Man  nehme  jetzt  der  A  so  viele  an,  als  man  will.  Wenn  diese  alle 
zugleich  in  ein  unvollkommnes  Zusammen  mit  B  gerathen:  so  müssen 
sie  alle  tiefer  eindringen;  aber  dieses  ihr  Müssen  hilft  nichts,  wenn  B 
deren  nicht  mehr  aufnimmt.  Je  mehr  ihrer  sind:  desto  weniger  tief 
können  sie  eindringen;  und  gesetzt,  sie  zuären  alle  eingedrungen,  so  würden 
sie  nach  allen  Seiten  gleichmäfsig  so  weil  herausgetrieben  zcerden,  bis  sich 
Attraction  und  Repulsion  im  Gleichgewichte  befänden.  Alsdann  läge  B  in 
der  Mitte;  und  es  würde  mit  allen  A  zusammengenommen  mehr  als  eine?i 
mathematischen  Pnnct  einnehmen;  so  dafs  eine  kör-\_2y]~\pcr liehe  Ausdehnung 
entstünde,  und  das    Ganze  nun  ei 71  Klümpchen,  oder  eine   nio  lecula  daist  eilte. 

Nun  wollen  wir  zwar  nicht  behaupten,  dafs  wirklich  jede  unbestimmte 
Menge  der  A  auch  nur  unvollkommen  in  das  einzelne  B  eindringen 
könne;  vielmehr  ist  dieses  Gegenstand  einer  weitern  Untersuchung.  Aber 
wenn  eine  bestimmte  Menge  der  A  zuirklich  in  B  eindringt:  so  mufs  aus 
dem   angegebenen   Grunde  auch   lüirklich  das  beschriebene  Klümpchen    entstehen. 

Herbart's  Werke.     VIII.  I  I 


j52  L    Allgemeine  Metaphysik  Debst  den  Anlangen  etc.      1829. 


Dieses  Klümpchen  hat  alsdann  seine  bestimmte  Dichtigkeit;  gemäfs 
dem   Gleichgewichte  der  Attraction  und   Repulsion. 

Will  man  es  vergröfsern,  so  nehme  man  nun  auch  mehrere  B  hinzu. 
Jedes  der  B  wird  seinerseits  in  die  A,  mit  denen  es  in  ein  unvollkomme- 
nes Zusammen  gerathen  war,  so  weit  als  möglich  eindringen;  und  die 
Klümpchen   -werden   zusammen   eine  körperliche  Masse  darstellen. 

§•    272. 
Der    Grund,    durch    welchen    die    körperliche    Masse    existirt,    beruht 
nach    dem  Vorstehenden    darin:    dafs    sich  der   äußere  Zustand,    die    Lage 
der    Elemente,    richtet   nach    dem   innem    Zustande,    oder    nach    den    Selbst- 
erhaltungen jedes  Elements  gegen  die,  mit  welchen  es  zusammen  ist. 

Soll  nun  die  Masse  getrennt  werden:  so  mufs  entweder  der  äufsere 
Zustand  gehindert  werden,  sich  nach  dem  innern  ferner  zu  richten;  oder 
die  innem  Zustände  müssen  verändert  werden,  so  dafs  sie  jetzt  auch 
andere  äufsere  Zustände  erfordern.  Den  Grund  der  Veränderung  nennen 
wir  in  jenem  ersten  Falle  mechanisch;  im  zwevten  Falle  können  wir  [278] 
ihn,  bis  in  der  Folge  genauere  Bestimmungen  hinzukommen,  vorläufig  als 
chemisch  bezeichnen.  Von  organischen  Gründen  ist  es  hier  zu  früh,  etwas 
zu  erwähnen. 

Von  welcher  Art  aber  auch  ein  solcher  Grund  sey:  so  setzt  ihm  die 
Nothwendigkeit,  dafs  sich  der  äufsere  Zustand  richte  nach  dem  bisher  vor- 
handenen innern,  einen  Widerstand  entgegen,  welcher  dem  Zuschauer  er- 
scheinen würde  als  eine  widerstehende   Kraft. 

Dieser  Widerstand  wächst,  wenn  das  Zusammen  der  zum  Thcil  in  ein- 
ander eingedrungenen  Diemen te  vermindert  wird.  Denn  die  Nothwendigkeit, 
dafs  die  Elemente  so  tief  in  einander  seyen,  wie  es  ihrem  Gleichgewichte 
der  Attraction  und  Repulsion  gemäfs  ist,  wird  um  desto  dringender,  je 
weiter  sie  von  dieser  Forderung  abweichen.  Das  geringste  Zusammen  ist 
mit  der  stärksten  Attraction  verknüpft;  weil  es  die  gröfste  Veränderung 
der  Lage  erfordert. 

Kann  nun  der  Grund  der  Trennung,  welcher  Art  er  auch  sey,  diese 
stärkste  Attraction  überwinden:  so  zer reifst  die  Masse  plötzlich,  nachdem 
sie  einen  allmählig  'wachsenden  Widerstand  geleistet  hat;  denn  auf  den 
o-erino-sten  Grad  des  Zusammen  folgt  auf  einmal  das  Aneinander,  also  ein 
Nicht -Zusammen ;  in  diesem  aber,  wenn  nichts  Neues,  Vermittelndes,  zu- 
o-eo-en  ist,  hört  alle  Causalität,  also  auch  alle  Bestimmungen  des  äufsern 
Zustandes  auf. 

Kann  hingegen  der  Grund  der  Trennung  die  stärkste  und  letzte 
Attraction  nicht  überwinden,  und  hört  alsdann  dieser  Grund  auf  zu  wir- 
ken: so  kehren  die  Elemente,  welche  sich  eine  gewisse  Dehnung  hatten 
gefallen  lassen,  in  ihre  vorige  Lage  von  selbst  zurück;  denn  sie  folgen 
dabey  nur  dem  inwohnenden  Gesetz  ihrer  Dichtigkeit.  Dasselbe  gilt  bey 
der  Zusammendrückung. 

[279]  Alle  Materie  ist  nothwendig  elastisch.  Denn  das  Gleichgewicht 
ihrer  Attraction  und  Repulsion  kann,  wie  jedes  Gleichgewicht ,  durch  neue 
hinzukommende  Kräfte  gestört  werden.  Aber  je  gröfser  die  Abweichung, 
desto  stärker  wird  die  Nothwendigkeit  der  Wiederherstellung. 


3.Absch.Synechologie.  i.Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  5.  Cap.  Von  dem  Ursprünge  etc.      163 

§•   273- 

Um  nun  zu  zeigen,  inwieferne  der  Materie  das  bekannte  Prädicat 
der  Undurchdringlichkeit  zukommt:  nehmen  wir  an,  es  habe  sich  aus 
Elementen,  deren  Qualität  mit  C  und  D  bezeichnet  sey,  eine  andre 
Masse  gebildet;  auch  seven  C  und  D,  oder  wenigstens  eins  von  beyden, 
solche  Qualitäten,  die  mit  A  und  B  einen  Gegensatz  bilden.  Alsdann 
würden  die  beyden  Massen  AB  und  CD,  wenn  sie  in  einander  eindrängen, 
neue  innere  Zustände  ihrer  Elemente  ergeben;  und  zuvor  müfsten  die 
früheren  innern  Zustände,  falls  sie  sich  nicht  mit  jenen  vertragen,  eine 
Abänderung  erleiden.  Ist  nun  solche  Abänderung  aus  irgend  einem 
Grunde  nicht  möglich :  so  können  auch  die  Massen  nicht  in  einander 
eindringen. 

Durchdringlich  aber  ist  die  Materie  erstlich  für  solche  Elemente, 
welche  den  innern  Zustand  derselben  nicht  verändern;  zweytens  für 
solche,  die  ihn  überwinden  können.  Wegen  des  ersten  Falles  mag  man 
sich  an  Durchsichtigkeit  (Durchdringlichkeit  fürs  Licht),  wegen  des  zweyten 
Falles   an  chemische  Auflösung  erinnern. 

Im  zweyten  Falle  entsteht  eine  neue  Art  von  Materie;  weil  der 
neuen  Verbindung  auch  eine  eigenthümliche  Verdichtung  entsprechen  wird. 

§•   274. 

Die  Materie  ist  kein  Continuum,  so7idcr7i  ursprünglich  eine  starre  Masse. 

[280]  Denn  die  Fiction,  auf  welcher  der  Begriff  beruht,  setzt  zwar 
Theilbarkeit  der  Puncte  voraus,  welche,  einmal  zugelassen,  keine  Gränze 
mehr  hat.  Allein  die  Verdichtung  der  Elemente  beruht  auf  einem  Gleich- 
gewicht der  Attraction  und  Repulsion  (§.  270),  und  dieses  kann  für  jeden 
gegebenen  Fall,  da  es  aus  den  ursprünglichen  Qualitäten  der  realen  Wesen 
hervorgeht,  nur  ein  einziges  bestimmtes  seyn.  Gröfsere  oder  geringere 
Dichtigkeit  erfordert  hinzukommende  Gründe  (§.  2J2);  demnach  wird  zwar 
die  Materie  ihre  Dichtigkeit  continuirlich  abändern  lassen,  aber  sobald  sie 
in  Freyheit  ist,  kehrt  sie  in  ihre  bestimmte  Lage  zurück,  und  erfüllt  also 
den  Raum,  worin  sie  ist,  nicht  nach  dem  unbestimmten  Begriff  des  Con- 
tinuums,  nach  welchem  z.  B.  die  Radien  des  Kreises  so  dicht  liegen  können, 
wie  man  will  (§.  258);  sondern  dergestalt,  dafs  zwey  nächste  Elemente 
der  Materie  allemal  einen  bestimmten  Bruch  der  ursprünglichen  Einheit 
im   Räume,   nämlich   des  Aneinander,   darstellen. 

Ferner  kann  man  nicht  annehmen,  dafs  die  gegenseitige  Lage  der 
Elemente  gleichgültig  seyn  sollte  für  das  Gleichgewicht  der  Attraction  und 
Repulsion.  Man  sieht  vielmehr  leicht  ein,  dafs  jene  A,  B,  A'  (§.  270) 
eine  gerade  Linie  bilden  müssen,  deren  Mittelpunct  B  ist;  denn  die  bey- 
den A  werden  gleichmäfsig  aus  dem  mittlem  B  herausgetrieben,  indem 
doch  jedes  einzeln  so  tief  als  möglich  eindringt.  Eben  so  müssen  drey 
verschiedene  Elemente  bey  gleichem  Gegensatz,  wenn  sie  nicht  ganz  in 
einander  dringen  können,  ein  gleichseitiges  Dreyeck  bilden ;  ein  ungleich- 
seitiges aber  wird  herauskommen,  wenn  die  Ungleichheit  der  Gegensätze  den 
Attractionen    eine  verschiedene  Stärke  giebt.     Die  Entwicklung  der  mög- 

11* 


164  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfangen  etc.      1829. 

liehen  Fälle  kann  hier  nicht  interessiren ;  es  ist  genug,  wenn  man  wahr- 
nimmt, dafs  mit  der  Dichtigkeit  auch  eine  bestimmte  Conß\_2^>\\guration 
verbunden  ist,  die  sich  oftmals  als  Krystallisation  offenbaren  wird. 

Jede  Materie  ist  nun  vermöge  ihrer  eigenthümlichen  Configuration 
ursprünglich  starr,  und  sie  strebt  auch  zur  Starrheit  in  bestimmter  Gestal- 
tung, selbst  wenn  sie  verhindert  ist,  ihre  angemessene  Gestalt  anzunehmen. 


§•  275- 

Die  Leichtigkeit,  womit  diese  Sätze  aus  den  früher  entwickelten 
Gründen  auf  den  ersten  Blick  von  selbst  hervortreten,  kann  entschädigen 
für  die  Mühe  jener  obigen  weitläuftigen  Darstellung  des  intelligibeln  Raums. 
Sollte  es  aber  Leser  geben,  die  noch  nicht  nachfolgen  könnten,  so  ist 
zwar  hier  noch  nicht  nöthig,  alle  einzelnen  Bestimmungen  über  die  Materie 
ganz  so,  wie  sie  in  den  vorstehenden  Paragraphen  dargeboten  sind,  vest- 
zuhalten,  da  wir  noch  nicht  tiefer  in  die  Naturphilosophie  eingehn  wollen  ; 
andererseits  aber  müssen  wir  doch  bitten,  an  diesem  entscheidenden  Puncte 
allen  leichtfertigen  Urtheilen  zu  entsagen,  und  lieber  aufmerksam  in  das 
Ganze  der  Gründe  unserer  Lehre  zurück  zu  schauen.  Um  dies  zu  er- 
leichtern, wollen  wir  die  Sache  jetzt  analytisch  behandeln. 

Man  weifs,  dafs  Leibnitz  die  Materie  aus  Monaden,  Kant  aber  aus 
den  Grundkräften  der  Attraction  und  Repulsion  construiren  wollte;  woraus 
die  ScHELLiNGsche  Lehre  durch  Misverständnifs  hervorging  (§.  158).  Wie 
nun  Leibnitz  an  die  Verlegenheit  stiefs,  aus  Puncten  kein  räumliches 
zusammenhängendes  Ganzes  hervorzaubern  zu  können ,  so  würden  wir 
ebenfalls,  ungeachtet  unserer  Lehre  von  starren  Linien,  doch  keine  halt- 
bare, mit  Cohäsion  versehene  Materie  gefunden  haben,  wenn  wir  die 
Elemente  blofs  als  an  einander  liegend  dargestellt  hätten.  Auch  ein  tieferes 
Eindringen  [282]  hätte  nichts  befestigt,  nichts  gestaltet,  wenn  nicht  die 
Fortdauer  einer  solchen  räumlichen  Lage  durch  ein  inneres  Gesetz  als 
nothwendig  wäre  erkannt  worden. 

Aber  ein  solches  inneres  Gesetz,  von  welcher  Art  sollte  es  seyn  ? 
Etwa  eine  Kraft  ?  ein  Attribut,  welches  noch  neben  dem,  was  die  Elemente 
an  sich  sind,  ihnen  eine  Extra-Beylage  zu  ihrer  eigentlichen  Qualität  auf- 
gebürdet hätte,  um  sie  in  Beziehung  auf  einander,  in  Gemeinschaft  zu 
versetzen?  Dann  hätten  wir  erst  Alles  vergessen  müssen,  was  oben,  in 
der  Ontologie,  von  der  einfachen  Qualität,  von  der  beziehungslosen,  ab- 
soluten  Position  des  Seyenden  ist  gelehrt  worden. 

Keinerley  innere  Eigenschaft  konnten  wir  den  realen  Wesen  geben, 
wodurch  sie  Beziehung l  auf  einander,  vollends  gar  1  dämliche  Beziehung 
erlangt  hätten,  welche  mit  aller  Nichtigkeit  des  Raums  wäre  behaftet  ge- 
wesen. Kein  Zuwachs  an  wirklichem  Geschehen,  dessen  veste  Gränzen 
in  der  Ontologie  ein  für  allemal  bestimmt  sind,  durfte,  der  Materie  zu 
Gefallen,  zugelassen  werden.  Wir  durften  eben  so  wenig  mit  Kant  die 
blofse  Undurchdringlichkeit  in  eine  bewegende,  gleichsam  nach  aufsen 
drängende    Kraft    verwandeln;    als    mit    Leibnitz    ein    reales    Continuum, 

1  Beziehungen  SW. 


3.Abschn.  Synechologie.  i.Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  5.  Cap.  Von  dem  Ursprange  etc.    165 


unter  dem  Namen  des  vinculum  substantielle,  hintennach  den  Monaden 
beyfügen;  denn  eine  bewegende  Kraft  und  ein  reales  Continuum  sind 
Hirngespinnste.  Wegen  des  letztem  vergleiche  man  §.  209;  wegen  jener 
denke  man  zurück  an  das  Alles,  was  wir  im  ersten  Theile  über  den,  von 
allen  bessern  Denkern  gern  vermiedenen,  Begriff  der  causa  transiens 
gesagt  haben. 

§•    276. 

Zwar  Kant  setzte  sich  in  seiner  Vorstellung  von  der  Materie  über 
die  Schwierigkeit,  die  causa  transiens  richtig  zu  bestimmen,  hinweg.  Die 
Erfahrung  [2^^]  zeigt  Undurchdringlichkeit,  als  Vertheidigung  der  Gränzen 
des  Körpers ;  er  machte  daraus  eine  bewegende  Kraft,  welche  von  innen 
heraus  die  Gränzen  zu  sprengen,  die  Masse  zu  zerstreuen  drohte.  Die 
NEWTONsche  Attraction  zeigt  Verbindung  der  Massen,  die  als  starre  Körper 
schon  vorhanden  sind;  er  machte  daraus  eine  actio  in  distans ,  wodurch 
aus  Elementen,  die  sich  zerstreuen  wollten,  erst  Massen  entstehen  sollten. 
Attraction  und  Repulsion  sind  entgegengesetzt;  er  legte  den  Gegensatz  als. 
innern  Widerspruch  unmittelbar  in  einerley  Subject.  Ja  das  Subject  ver- 
schwand ihm  unter  den  Händen;  Kräfte  sollten  da  seyn,  aber  von  dem 
Dinge,  dem  sie  angehören  könnten ;  und  in  welchem  sie  verknüpft  oder 
im  Streite  seyn  möchten,  war  nicht  weiter  die  Rede. 

Wie  mochte  Kant  dies  ertragen?  Die  Antwort  ist  einfach:  die 
Materie  sollte  nur  Erscheinimg  sein. 

Hiedurch  aber  wurde  die  Psychologie  mit  einer  Last  beschwert,  die 
sie  unmöglich  hätte  übernehmen  können.  Denn  es  kam  nun  darauf  an,. 
Materie  als  Erscheinung,  das  heifst,  als  Erzeugnifs  unseres  Vorslellens,  nach 
allen  ihren  physikalisch  bekannten  Eigenschaften,  Wirkungen,  Verschieden- 
heiten in  den  sämmtlichen  Reichen  der  Natur,  aus  Gesetzen  des  Vor- 
stellens zu  erklären.  Die  alte  Psychologie  fühlte  nichts  von  dieser  Last. 
Fichte  allein  fühlte  sie,  und  fafste  Muth,  sie  zu  tragen.  Alles  in  der 
Welt  sollte  nun  a  priori  deducirt  werden,  und  zwar  aus  dem  Ich!  Nichts 
anderes  blieb  übrig,  wenn  man  sich  nicht  in  das  schwache  Bekenntnifs; 
wir  wissen  nicht,  woher  der  Knoten  kommt,  den  wir  selbst  geschürzt  haben,. 
ergeben  wollte.  Nun  mufste  die  Dreistigkeit  wachsen,  denn  sie  mufste  einer 
völlig  entstellten,  und  ganz  unmöglichen  Aufgabe,  der  sie  angemessen  seyn 
sollte,  sich  gleich  [284]  stellen.  Wie  viel  klangreiche  Reden  sind  ver- 
schwendet, um  das  Unmögliche  möglich  zu  machen! 

§•  277- 

Jetzt  vergleiche  man  unsre   obige  Lehre. 

Was  vertheidigt  die  Materie  dann,  wann  sie  sich  undurchdringlich 
zeigt?  Die  Lage  ihrer  Elemente,  wie  dieselbe  zu  deren  innern  Zuständen 
pafst.  Dem  Stolse,  dem  Drucke,  wodurch  die  Theile  zunächst  der  Ober- 
fläche gegen  das  Innere  getrieben  werden,  giebt  sie  Anfangs  nach ;  aber 
als  elastisch  stellt  sich  die  gehörige  Lage  wieder  her;  denn  die  Selbst- 
erhaltungen, gemäfs  den  ursprünglichen  Qualitäten  der  Elemente,  fordern 
das  ihnen  gebührende  Zusammen  zurück.  Die  Gesetze  des  Stofses  sind 
davon  entferntere  Folgen. 


l66  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1819. 

Woher  kommt  die  wahre  Attraction,  welche  der  Repulsion  das  Gleich- 
gewicht hält?  Sie  kommt  gar  nicht;  sie  ist  schon  da,  und  würde  den 
ganzen  Körper  in  einen  einzigen  Punct  zusammenziehn,  wenn  nicht  das- 
selbe Gesetz,  nach  welchem  sie  da  ist,  nämlich  dals  der  äufsere  Zustand 
dem  innern  folgt,  für  mehr  als  zwey  Elemente  dem  Eindringen  eine  Gränze 
setzte,  die  nicht  überstiegen  werden  kann.  Ztüey  Elemente  vereinigen  sich 
ganz  in  Einem  Puncte :  sie  sind  nun  gar  nicht  räumlich  vorhanden;  sie 
bilden  keine  Materie,  denn  der  Punct,  ihr  Ort  in  Beziehung  auf  andre 
Dinge,  ist  kein  Raum.  Sollten  aber  alle  Elemente  einer  körperlichen  Masse 
in  Einem  Puncte  beysammen  seyn,  oder,  was  dasselbe  heifst,  sollten  sie 
aufhören,  Materie  darzustellen:  so  gehörte  dazu  eine  Gröfse  der  Selbst- 
erhaltung in  jedem  Elemente,  die  nicht  möglich  ist.  Denn  ursprünglich 
hat  die  Selbsterhaltung  gar  keine  Gröfse.  Sie  ist  einfach  die  Selbsterhaltung 
des  Einfachen;  mehr  kann  sie  nicht  seyn.  Nur  zufällig  wird  auf  sie  der 
Gröfsenbegriff  übertragen ;  und  zwar  [285]  dann,  wann  statt  ihrer  Voraus- 
setzung, statt  des  völligen  Zusammen,  das  unvollkommene  Zusammen  ein- 
trit.  Alsdann  wird  die  Selbsterhaltung  zwar  nicht  getheilt,  aber  dem  Grade 
nach  vermindert.  Diese  einzige  Gröfsenbestimmung  nimmt  sie  an;  sie  ge- 
stattet, dafs  man  sie  als  Einheit  betrachte,  von  der  es  Brüche  geben  kann. 
Dies  gestattet  sie,  weil  sie  selbst  ein  zufälliger  Zustand  des  realen  Wesens 
ist,  dessen  Qualität  ohnehin  sich  selbst  gleich  ist,  und  welchem  der  Gegen- 
satz, worein  es  mit  andern  realen  Wesen  geräth,  gar  nicht  anklebt;  so 
dafs  die  Selbsterhaltung  nie  gröfser  wird  als  ihre   Veranlassung. 

Daher  nun  ist  für  die  nämlichen  Stoffe  das  Volumen,  das  ihnen  jedes- 
mal zukommt,  höchst  verschieden  nach  Verschiedenheit  der  Mischung. 
Die  Kohlensäure,  welche  sich  im  Kalke  verdichtet  hatte,  nimmt  sich  weit 
mehr  Raum,  sobald  sie  nicht  mehr  nöthig  hat,  da  zu  seyn,  wo  der  Kalk 
ist,  in  den  sie  so  tief  als  möglich  eindrang. 

Wie  aber  bestehen  Attraction  und  Repulsion  mit  einander  in  dem  näm- 
lichen Dinge,  dessen  Kräfte  sie  zu  seyn  scheinen?  —  Wollen  wir  etzvan 
leugnen,  dafs  sie  mit  einander  im  Streite  seyen?  Gewils  nicht!  Es  ist  viel- 
mehr sehr  klar,  dafs  die  Elemente  völlig  in  einander  seyn  sollten,  damit 
der  zwar  verminderten,  aber  doch  ungetheilten  Selbsterhaltung  auch  überall 
ein  ungetheiltes  Zusammen  entspräche.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dafs  dieser 
Notwendigkeit  Abbruch  geschieht,  indem  eine  andre,  die  sich  ihrerseits 
auch  Abbruch  mufs  gefallen  lassen,  dagegen  auftrit.  Die  obigen  A  und  A' 
{§.  270)  müssen  ganz  eindringen  in  B,  denn  es  sollten  auch  nicht  einmal 
hngirte  Theile  von  ihnen  undurchdrungen  bleiben,  da  die  Fiction  vom 
wirklichen  Geschehen  fern  bleiben  mufs.  Aber  sie  müssen  zugleich  das 
Gegen-[2  86]theil;  sie  müssen  nicht  ganz  eindringen  in  B,  weil  diejenige 
Art  von  Selbsterhaltung,  welche  in  B  gegen  A  möglich  ist,  ihre  Einheit 
nicht  übersteigen  kann.  Wie  ist  nun  dieser  Widerspruch  beschaffen  ?  Liegt 
er  in  der  Qualität  des  Seyenden  ?  Nein !  Liegt  er  im  wirklichen  Geschehen  ? 
Auch  nicht!  Liegt  er  in  wirklichen  Kräften,  Eigenschaften;  liegt  er 
überhaupt  in  Einem  Subjecte  ?  Eben  so  wenig!  Sondern  zwey  Raum- 
bestimmungen kommen  hier  in  einerley  Rechnung,  ungefähr  wie  beym 
Hebel,  der  noch  niemals  Jemandem  anstöfsig  war,  obgleich  er  sich  nach 
beyden  Seiten  drehen  sollte,  und  nur  deshalb  ruhet,  weil  zwey  Kräfte  auf 


3.Abschn.Synechologie.  i.Abth.  Von  Raum,  Zahl  etc.  5-Cap.  Von  dem  Ursprünge  etc.    167 

ihn  wirken,  die  einander  nicht  in  ihrem  Daseyn,  vielweniger  in  einerley 
Subject,  sondern  in  der  Bestimmung  derjenigen  Bewegung  aufheben,  welche 
sie  dem   Hebel  ertheilen. 

§.   278. 
»Aber  ein  anderer,  weit  härterer  Widerspruch  liegt  der  ganzen  Lehre 
zum  Grunde.      Ein   Punct  soll   Theile  haben!«. 

In  der  That !  Dieser  Einwurf  kann  gefährlich  werden,  nämlich  bey 
Lesern,  welche  das  Buch  so  eben  aufgeschlagen  haben,  um  das  Capitel 
von  der  Materie  mitten  heraus  zu  lesen. 

Wo  liegt  denn  der  Widerspruch  des  theilbaren  Punctes  ?  Unerkannt 
liegt  er  im  Begriffe  des  Fließenden,  des  Continuum,  worin  man  Theile 
unterscheidet,  die  doch  nicht  verschieden  seyn  sollen,  damit  sie  nicht  aus- 
einander fallen.  Deutlich  entwickelt  liegt  er  in  der  obigen  Lehre  von 
der  stetigen  Linie,  wo  wir  die  Unmöglichkeit  gezeigt  haben,  ihn  zu  um- 
gehen ;  aber  auch  seinen  Ursprung  daraus,  da/s  Distanzen  schon  festgestellter 
Puncte  ein    Quantum   der  Extension   in   sich   aufnehmen   sollen. 

»Aber  wenn  dieser  Widerspruch  der  blofsen  Vorstellung  des  Raums 
anhängt,  warum  überträgt  man  [287]  ihn  auf  reale  Wesen,  deren  Qualität 
ja  ganz  unräumlich  ist  ?  Warum  wurden  denn  überhaupt  diese  Wesen 
in  die  Stellung  des  unvollkommenen  Zusammen  eingeführt?  Warum  wurde 
eine  so  ungereimte  Voraussetzung  nicht  gleich  als  ganz  unzulässig  von  der 
Hand  gewiesen  ?  Gegebene  Widersprüche  mögen  Untersuchung  verdienen  ; 
aber  warum  häuft  man  auf  sie  sogar  noch  willkührlich  angenommene 
Widersprüche  ?« 

Antwort:  weil  wir  den  einfachen,  realen  Wesen  nicht  verbieten  können, 
Materie   zu  bilden. 

Gesetzt  einmal,  es  wäre  keine  Materie  gegeben :  dann  würde  wenig- 
stens die  Möglichkeit  derselben,  falls  sie  sich  a  priori  nachweisen  liefse, 
Aufmerksamkeit  verdienen.  Die  Möglichkeit  der  Materie  hört  aber  nicht 
dadurch  auf,  dafs  man  den  Begriff  des  unvollkommenen  Zusammen  wider- 
sprechend findet.  Die  ganze  Lehre  vom  intelligibeln  Räume  beruht  auf 
der  Möglichkeit  des  Zusammen  der  realen  Wesen.  Das  heifst:  die  erste 
aller  Voraussetzungen  ist  hier  die,  dafs  man  die  Meinung,  als  könnte  das 
Reale  im  Räume,  für  sich  allein,  den  Raum  besetzen,  und  anderes  davon 
ausschliefsen,  nicht  etwan  aufgegeben,  sondern  gar  nicht  gehabt  habe.  Die 
realen  Wesen  können  vollkommen  in  einander  seyn:  davon  gingen  wir 
aus ;  und  an  Undurchdringlichkeit  war  gar  nicht  zu  denken.  Wenn  nun 
schon  ein  paar  Puncte  im  Räume  durch  den  widersprechenden  Begriff  des 
unvollkommenen  Zusammen  sind  gedacht  worden,  welches  man  für  den 
Raum  nicht  vermeiden  konnte:  so  setzte  man  in  den  einen  dieser  Puncte 
erst  ein  reales  Wesen ;  nun  aber  bilde  man  sich  nicht  ein,  der  andere 
Punct  sey  dadurch  besetzt;  denn  er  ist  noch  gerade  eben  so  brauchbar 
wie  zuvor,  um  dorthin,  unbekümmert  um  jenes  erste,  jetzt  ein  zweytes 
reales  Wesen  zu  setzen.  Das  eine  hindert  nicht  im  mindesten  das  andre ; 
denn  sie  könnten  auch  recht  füg-[288]lich  ganz  vollkommen  in  einander 
seyn.  Die  ganze  Schwierigkeit  liegt  blofs  in  der  räumlichen  Zusammen- 
fassung der  Puncte;    diese  Schwierigkeit    hört    nicht    auf,    wenn    man    auch 


l68  !•   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

die  realen  Wesen  hinwegnimmt.  Die  mathematische  Notwendigkeit,  den 
Raum  als  Continuum  zu  betrachten,  ist  längst  ausgemacht;  und  läfst  sich 
nicht  ändern. 

Hieraus  folgt  die  unumschränkte  Möglichkeit,  von  der  Annahme  des 
unvollkommenen  Zusammen  mehrerer  Wesen  auszugehn.  Man  überspringe 
nun  das,  was  wir  von  der  Unhaltbarkeit  dieser  Lage  für  zwey  Wesen,  der 
Deutlichkeit  wegen,  vorausgeschickt  haben ;  man  nehme  vielmehr  gleich 
Anfangs  eine  wie  immer  grofse  Menge  von  Elementen,  als  gedrängt  in 
einem  Räume,  worin  nicht  eben  so  viele  wahrhaft  aufsercinander  liegende 
Puncte  können  unterschieden  werden;  so  kommt  man  auf  Attraction  und 
Repulsion  zugleich,  und  hiemit  auf  die  gebührende  innere  Configuration 
der  ganzen  Masse. 

Die  Absicht  dieser  ganzen  Untersuchung  liegt  in  dem  Umstände : 

Die  Materie  ist.  gegeben. 

Noch  mehr!  Sie  war  vor  jeher,  und  ist  bis  heute,  der  Gegenstand 
sehr  mühsamer,  und  sehr  wenig  gelungener  Untersuchung.  In  dieser  ver- 
wickelten Untersuchung,  unmittelbar  vom  Gegebenen  ausgehend,  Licht  zu 
schaffen,  ist  nicht  möglich.  Da  vielmehr  alle  bisherigen  Lehren  vom  Seyn, 
von  der  Qualität,  von  der  Causalität,  vom  Räume,  im  Voraus  bekannt 
seyn  müssen,  ehe  man  irgend  einen  Lichtstrahl  in  das  Dunkel  des  mate- 
riellen Daseyns  kann  fallen  lassen,  so  wird  man  wohl  zufrieden  seyn,  dafs 
wir  zu  diesem  Zwecke  uns  der  Voraussetzung  des  unvollkommenen  Zu- 
sammen bedient  haben. 


[289]  Zweyte   Abtheilung 

der 


Synechologie.1 


Vom  objectiv- scheinbaren  Geschehen, 

oder 

Von  der  Zeit  und  dem  Zeitlichen. 


Erstes    Capitel. 
Von  der  Bewegung  überhaupt. 

§•  279- 

Am  Ende  der  Lehre  von  der  Veränderung  wurde  bemerkt:  die  Zeit- 
bestimmung, dafs  vor  und  nach  der  Veränderung  das  Ding  sich  selbst  nicht 
gleich  sey,  habe  zwar  auf  den  Causalbegriff,  der  lediglich  vom  Nicht -gleich- 
seyn  abhänge,  keinen  Einfluls;  dennoch  sey  sie  nicht  gleichgültig,  vielmehr 
beruhe  auf  dieser  Zeitbestimmung  die  ganze  Synechologie  (§.   230). 

Später  sahen  wir:  wenn  die  Zustände  der  sinnlichen  Dinge  wechseln, 
und  wenn  ein  Zustand  durch  ein  Zusammen  erklärt  werden  solle,  so  könne 
nicht  auch  noch  der  entgegengesetzte,  frühere  oder  spätere  Zustand  des- 
selben Dinges  durch  das  nämliche  Zusammen  seine  Erklärung  erhalten; 
sondern  das  Zusammen  und  Nichtzusammen  der  Substanzen  sey  einem 
Wechsel  unterworfen   (§.  244). 

Deshalb  nun  durchsuchten  wir  zuerst  in  der  Synechologie  die  ge- 
sammte  Möglichkeit  der  Formen,  welche  der  Wechsel  des  Zusammen  und 
Nichtzusammen  insofern  annehmen  kann,  als  man  die  von  ihm  darge- 
botenen leeren  Bilder  stets  vesthält. 

[290]  Allein  das  Übergehen  von  Bild  zu  Bild,  welches  man  den 
Substanzen  zuschreiben  mufs,  haben  wir  noch  nicht  erwogen;  sondern 
uns  in  dieser  Hinsicht  vorläufig  ein  ganz  willkührliches  Denken  erlaubt 
(§.  245  u.  s.  f.),  welches  jetzt  wegfallen,  und  einer  genauen  Untersuchung 
Platz  machen  mufs. 

Bey  dieser  Gelegenheit  wird  alsdann  ein  Gegenstück  der  nächst  vor- 
hergehenden Untersuchung  hervortreten.  Die  innern  und  die  äufsern 
Zustände  der  Substanzen  müssen  einander  stets  entsprechen  (§.  209). 
Wenn    nun    der    äufsere    Zustand    früher  bestimmt  ist,    als  der  innere,   so 

1  „der  Synechologie"  fehlt.    S\V. 


I  -jq  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


wird  der  letztere,  wenn  er  kann,  sich  nach  jenem  richten;  und  nur  sofern 
er  das  nicht  kann,  jenem  ein  Gesetz  geben.  Darum  erblickt  man  das 
Geschehen  nicht  eher  im  Zusammenhange,  bis  man  die  gegenseitige  Ab- 
hängigkeit der  äufsern  und  der  innern  Zustände  auch  von  den  erstem 
ausgehend,  und  die  Bestimmung  des  Geschehens  von  ihnen  ableitend,  er- 
wogen hat.  Hiebey  werden  wir  uns  wiederum  in  blofs  formale  Begriffe, 
nämlich  des  scheinbaren  Geschehens,  vertiefen  müssen;  indem  sie  zu  der 
Verknüpfung  des  wirklichen  Geschehens  nöthige  Ergänzungen  und  Mittel- 
glieder darbieten. 

§.   280. 

Das  Zusammen  der  realen  Wesen  A  und  B  soll  im  Wechsel,  vor 
oder  nach  dem  Nichtzusammen  eintreten.  Da  wir  aus  dem  Vorigen 
wissen,  dafs,  wenn  sie  einmal  zusammen  sind,  alsdann  ein  Schein  von 
Attraction  vorhanden  ist,  und  eins  das  andre  nicht  leicht  verlassen  kann, 
so  wollen  wir  die  einfachste  Annahme  wählen:  A  und  B  seyen  noch  nicht 
zusammen,  und  nun  stehe  ein  solcher  Wechsel  bevor,  dafs  ihr  Nicht- 
Zusammen  übergehn  werde  ins  Zusammen. 

Dieser  Wechsel  kann  nicht  etwa  blofs  in  jenem  vor- [2 9  ^beschrie- 
benen Übergange  aus  dem  unvollkommnen  ins  vollkommne  Zusammen 
bestehn.  Denn  ein  solcher  Übergang  geschieht  unfehlbar  sogleich.  Die 
Veränderung  aber  ist  dergestalt  gegeben,  dafs  ihr  ein  Zustand  der  Dinge 
vorausging,  der  nicht  sogleich  verschwand,  sondern  entweder  anhaltend  be- 
obachtet wurde,  oder  selbst  schon  eine  Reihe  von  Ereignissen  in  sich 
schlofs.  Es  hilft  also  nicht,  blofs  ein  unvollkommnes  Zusammen  voraus- 
zusetzen vor  dem  vollkommenen;  sondern  man  mufs  annehmen,  ein  völliges 
Nicht-Zusammen  finde  Statt,  bevor  das  Zusammen  eintrit.  Aus  jenem 
geschieht  der   Übergang  in  dieses. 

In  dem  völligen  Nichtzusammen  ist  B  ganz  unabhängig  von  A;  wo- 
fern nicht  irgend  eine  Vermittelung  zwischen  beyden  vorhanden  ist,  und 
eine  solche  Möglichkeit  geht  uns  für  jetzt  nichts  an. 

Nun  können  wir  das  Übergehn  entweder  dem  B,  oder  dem  A,  oder 
beyden  zuschreiben.  Vorläufig  wählen  wir  den  ersten  Fall.  Auf  welchem 
Puncte  der  geraden  Linie  AB  auch  B  sich  befinde:  es  soll  den  Ort  ver- 
lassen,  um  einzutreffen  in  A.  Da  es  jedoch  von  A  ganz  unabhängig  ist: 
so  mufs  ihm  diese  Bestimmung  dergestalt  beygelegt  werden,  dafs  auch, 
wenn  A  gar  nicht  da  wäre,  doch  die  Orts- Veränderung,  oder  die  Bewegung 
des  B  genau  die  nämliche  sevn  würde.  Es  käme  also  auch  dann  in  den 
Ort,  wo  sich  A  befindet.  Aber  würde  es  nun,  sich  selbst  überlassen,  in 
diesem  Orte  bleiben? 

Jedermann  weifs  die  Antwort:  es  würde  mit  der  Richtung  und  Ge- 
schwindigkeit,  womit  es  ankommt,   weiter  gehen. 

Wir  bezweifeln  keineswegs  die  Richtigkeit  dieser  Antwort;  aber  wir 
fragen,  waium  sie  richtig  und  einleuchtend  ist?  Diese  Sache  ist  nämlich 
doch  nicht  ganz  [292]  so  klar,  wie  man  sie  wohl  glauben  mag;  sondern  sie 
lälst  einer  Frage   Raum. 

Wenn  wir  zuerst  so  fragten :  hat  wohl  die  Beivegung  des  B  irgend 
eine    Ursache?  So  würden    die  Meisten    geneigt  seyn,    diese  Frage  zu  be- 


3.  Abschn.  Synechologie.  2.Abth.  V.obj.-scheinb.  Gesch.  etc.  i.Cap.  V.d.  Beweg,  etc.      iyi 

jähen;  denn  sie  sind  gewohnt,  sich  Bewegung  als  eine  Art  von  wirklichem 
Geschehen  zu  denken,  welches  von  selbst  nicht  Statt  finden  könne,  da  viel- 
mehr der  natürliche  Zustand  eines  Dinges,  das  sich  selbst  überlassen  ist, 
Ruhe  sevn  werde,   nicht   aber   Bewegung. 

Allein  man  wundere  sich  nicht,  wenn  wir  aus  dieser  Voraussetzung, 
die  für  einen  Augenblick  als  wahr  angesehen  werden  mag,  einen  dringenden 
Einwurf  gegen  jenes   Fortsetzen  der  Bewegung  ableiten. 

Der  Grund,  warum  B  seinen  Ort  auf  der  Linie  AB,  wo  wir  es  zu- 
erst auffaßten,  verlassen  hat,  möge  seyn,  welcher  er  wolle:  so  bezog  sich 
doch  gewifs  dieser  Grund  auf  die  damalige  Stelle  von  B ;  denn  um  seinet- 
willen hat  es  eben  diese  Stelle  verlassen  müssen.  Sobald  es  aber  dieselbe 
verläfst,  ist  eine  Veränderung  der  Umstände  vorgefallen;  und  man  kann 
nicht  behaupten,  es  müsse  aus  dem  nämlichen  Grunde  weiter  gehn;  dazu 
würde  vielmehr  ein  eigner  Beweis  erfordert  werden,  dafs  der  Grund  auch 
für  die   folgende   Stelle  des   B  wieder  eintrete. 

Dies  läfst  sich  durch  Vergleichungen  erläutern.  Wenn  ein  Faden 
gespannt  wird  durch  ein  Gewicht:  so  giebt  derselbe  Anfangs  mehr,  später- 
hin weniger  nach,  weil  die  wachsende  Spannung  sich  der  fernem  Aus- 
dehnung widersetzt.  In  der  Psychologie  ist  als  Gesetz  der  Mechanik  des 
Geistes  überall  jede  Erhebung  und  jedes  Sinken  der  Vorstellungen  in  dem 
Maafse  verzögert  gefunden,  wie  der  Nothwendigkeit  des  veränderten  Zu- 
standes  durch  die  Veränderung  selbst  mehr  und  mehr  Genüge  geschah. 
Eben  so:  wenn  eine  bestimmte  Noth-[2  93]wendigkeit  vorhanden  wäre, 
dafs  B  von  seinem  ursprünglichen  Orte  bis  A  gehe,  so  würde,  wofern  Alles 
allein  auf  diese  Nothwendigkeit  ankäme,  der  Drang  derselben  durch  die 
Annäherung  an  A  allmählig  abnehmen;  und  B  würde  nur  erst  in  unend- 
licher Zeil  nach  A  gelangen;  worüber  die  Lehren  der  Mechanik  des  Geistes 
vom  Sinken  der  Hemmungssummen  u.  s.  w.  hinreichende  Auskunft  geben, 
deren   Anwendung  Niemand   verfehlen  kann. 

Gewifs  pafst  dies  doch  nicht  auf  irgend  eine  Bewegung,  weder  im 
sinnlichen  noch  im  intelligibeln  Räume.  Aber  warum  nicht?  Weil  die  Be- 
wegung gar  keines  Grundes  bedarf,  sondern  den  Gegenständen  im  Räume  voll- 
kommen  eben  so   naturlich   ist,   als  die  Ruhe. 

§.  281. 

Die  ganze  Überzeugung,  dafs  ein  Bewegtes,  dem  kein  Hindernifs 
widerfährt,  in  gleicher  Richtung  und  Geschwindigkeit  stets  weiter  gehn 
werde:  beruht  einzig  auf  der  Voraussetzung,  die  Bewegung  sey  keine 
wahre  Veränderung,  sondern  das  Bewegte  befinde  sich  an  jedem  neuen 
•Orte,  den  es  erreicht,  noch  genau  eben  so  wie  an  demnächstvorhergehenden; 
und  gerade   wie  diesen,   so   verlasse  es  jenen. 

Dennoch  denkt  man  sich  die  Bewegung  wie  einen  Zustand,  in  welchen 
ein  Ding  erst  habe  versetzt  werden  müssen,  um  aus  der  Ruhe  zu  kommen  ; 
woran  ohne  Zweifel  etwas  Wahres  ist,  wenn  jemals  vorher  das  Ding  ruhig 
gelegen  hat;  aber  eben  dies  ist  eine  grundlose  Voraussetzung. 

Wäre  überhaupt  Bewegung  ein  Zustand  des  Bewegten,  so  wäre  sie 
ein  Trieb,  denn  so  nennt  man  ein  solches  Bestehen,  welches  innerlich 
nöthigt  zum  fortgehenden  Wechsel.    Dieser   Trieb   würde   alle    künf-[2Q4] 


Ij2  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

tigen  Fortrückungen,  wie  sie  durch  die  gerade  Linie  der  Bahn  bestimmt 
sind,  prädestinirt  in  sich  enthalten.  Er  würde  zum  Theil  befriedigt  durch 
jeden  Theil  der  wirklich  vollzogenen  Bewegung.  Aber  nimmermehr  kann 
ein  Trieb,  der  zum  Theil  befriedigt  worden,  gleich  seyn  ihm  selbst  vor  der 
Befriedigung ;  sondern  er  ist  nothwendig  schwächer  um  das  Quantum, 
welches  von  ihm  befriedigt  wurde.  Die  Bewegung  müfste  demgemäfs 
nothwendig  langsamer  werden;  sie  könnte  nicht,  wie  sie  mufs,  mit  völlig 
gleicher  Intensität,   die  wir  Geschwindigkeit  nennen,  ins  Unendliche  fortgehn. 

So  lange  man  nun  freygebig  war  mit  allen  erdenklichen  Accidenzen, 
Attributen,  Modificationen ;  so  lange  man  die  Einfachheit  der  Qualität, 
und  die  Unmöglichkeit,  in  dieselbe  irgend  etwas  Fremdartiges  hineinzu- 
bringen ,  verkannte ;  so  lange  man  nicht  begriff,  dafs  alle  Raumbegriffe 
blofse  Relationen  ausdrücken,  die  ganz  unfähig  sind,  irgend  welche  Be- 
stimmungen des  Realen  herzugeben;  das  heilst,  so  lange  man  keine  wahre 
Ontologie  vor  Augen  hatte:  da  erschien  es  als  recht  wohl  thunlich,  den 
Dingen  jenen  Zustand,  den  man  Bewegung  nannte,  —  als  ob  wirklich  die 
Bezuegung  Etivas  in  dem  Bewegten  zväre,  das  dem  Ruhenden  fehlte,  —  bald 
zu  geben,  bald  wieder  zu  entziehen.  Man  hätte  sich  freylich  wundem 
sollen,  dafs  der  Wechsel  selbst  ein  Zustand  sey,  und  dafs  der  Trieb  in 
diesem  Zustande  niemals  eine  Spur  von  Sättigung  zeige.  Aber  solche 
speculative  Verwunderung  ermattet  in  den  allermeisten  Köpfen  zu  bald,, 
als  dafs  sie  die  gebührende  Anstrengung  des  Denkens  hervorrufen  könnte; 
sie  verstummt  in  den  Armen  der  Gewohnheit;  und  man  begnügt  sich, 
wenigstens  rechnen  zu  können,  auch  ohne  den  Gegenstand  der  Rechnung 
zu  begreifen. 

[295]  Eine  Nebenbemerkung  zum  Vorhergehenden  ist  diese:  wenn 
Bewegung  kein  Zustand,  so  ist  sie  auch  keine  Wirkung,  und  es  giebt 
keine  Kraft,  wodurch  sie  als  Wirkung  könnte  hervorgebracht  werden.  Diese 
Sätze  mögen  dunkel  erscheinen,  weil  man  gewöhnt  ist,  von  bewegenden 
Kräften  reden  zu  hören.  Allein  statt  aller  Erläuterung  diene  der  Rück- 
blick ins  vorige  Capitel;  wo  von  den  scheinbaren  Kräften  der  Attraction 
und  Repulsion  der  wahre  Grund  ist  nachgewiesen  worden,  den  Niemand 
für  eine  wirkliche  Beschaffenheit  des  Realen  halten  wird. 

§.  282. 
Da  nun  das  Bewegte  nur  darum  gleichmäfsig  fortrückt,  weil  gar  kein 
Unterschied  liegt  -in  der  Art,  wie  es  sich  in  jedem  Puncte  seiner  Bahn 
befindet;  da  sich  also  in  der  Bewegung  durchaus  nichts  verändert,  nichts 
ereignet:  so  kann  man,  der  Wahrheit  gemäfs,  Bewegung  gar  nicht  als 
Prädicat  des  Bewegten  auffassen;  den  ganzen  Wechsel,  welchen  die  Be- 
wegung darstellt,  mufs  man  aufser  dem  Bewegten  suchen.  Er  liegt  in 
der  That  blofs  darin,  dafs  andre  und  wieder  andre  Stellen  der  Bahn  als 
die  Orte  angesehen  werden,  worin  sich  das  Bewegte  befindet.  Genau 
genommen  also  mufs  man  die  ganze  Vorstellungsart  umkehren.  Die  Orte, 
Puncte,  Bilder  des  Sey  enden,  —  diese  sind  das  Wechselnde;  sie  gehn 
vorüber  an,  oder  vielmehr  in  dem,  was  wir  das  Bewegte  nannten;  aber 
es  ist  nicht  bewegt;  es  ruhet;  denn  ihm  können  wir  den  Wechsel,  welchen 
die  Bewegung  fordert,  gar  nicht  beylegen. 


3-Abschn.  Synechologie.  2.  Abth.  V.obj.-scheinb.  Gesch. etc.  i.Cap.  V.d.Beweg.  etc.      i  73 

Will  man  nun  diese  neue  Ansicht  ausbilden,  nach  welcher  sich  der 
Raum  in  entgegengesetzter  Richtung  von  derjenigen  bewegt,  die  vorhin 
dem  Realen  zugeschrieben  wurde:  so  bemerkt  man  bald,  dafs  dabey  ein 
doppeltes  Raumbild  entsteht.  Die  Bahn  rückt  durch  [296]  den  Gegen- 
stand; dabey  verkürzen  sich  die  sämmtlichen  Distanzen  an  einer  Seite, 
und  die  an  der  andern  verlängern  sich.  Aber  Verkürzung,  Verlängerung, 
setzen  die  Vergleichung  mit  den  frühern  Gröfsen  voraus.  Man  hält  also 
unvermerkt  den  bewegten  Raum  gegen  einen  zum  Grunde  liegenden  ruhenden; 
und  in  dem  letztem  ruhet  auch  dasjenige,  was  wir  vorhin  als  das  Bewegte 
ansahen. 

Aber  das  reale  Wesen  B  sollte  gelangen  zu  A  (§.  208).  Diesem  A 
war  ein  Ort  in  demjenigen  Räume  zugeschrieben  worden,  welchen  wir 
Anfangs  als  ruhend  betrachteten.  Da  wir  ihn  jetzt  als  bewegt  ansehen, 
so  wird  er,  wenn  keine  andre  Bestimmung  gemacht  wird,  das  reale  Wesen 
A  mitbringen  müssen;  eben  darum,  weil  es  in  ihm  ruhen,  oder  den  Ort 
nicht  verändern  soll. 

Also  jedes  reale  Wesen  ruhet  in  seinem  eignen  Räume ;  aber  jedes,  sammt 
seinem  Räume ,  beivegt  sich  im  Räume  des  andern ,  wenn  überhaupt  Bewegung 
Statt  findet. 

Es  ist  nämlich  jetzt  ohne  viel  Worte  klar,  dafs  die  Bewegung  blofs 
relativ  ist,  und  dafs  man  jedes  reale  Wesen  einzeln  genommen  als  ruhend, 
dann  aber  ihm  gegenüber  das  andre  als  bewegt  betrachten  müsse. 

In  der  gewöhnlichen  Vorstellungsart  wird  jedoch  nur  Ein  Raum  an- 
genommen; und  dieser  als  ruhend  betrachtet.  Er  ist  alsdann  ein  fremder, 
oder  nicht  eigner  Raum,  für  dasjenige,  was  sich  in  ihm  bewegt. 

§•   283. 

„Das  Vorstehende  (wird  Mancher  sagen)  ist  gar  keine  Erklärung  der 
Bewegung;  vielmehr  eine  Ableugnung  derselben.  Denn  wenn  sie  kein 
Zustand  des  Bewegten,  und  überhaupt  gar  kein  Prädicat  desselben  ist; 
wenn  demzufolge  die  gerade  Linie  zwischen  ihm  [297]  und  dem  andern, 
gegenüberstehenden  Realen,  die  Bewegung  übernehmen,  und  dieses  Andre 
mitbringen  mufs:  so  wirft  diese  Betrachtung,  da  sie  auf  beyde  reale 
Wesen,  auf  A  und  B,  gleich  gut  pafst,  jedesmal  die  Bewegung  von  einem 
auf  das  andre;  jedes  also,  worauf  wir  eben  refiectiren,  ist  das  Ruhende; 
folglich  keins  ist  das  Bewegte,  und  so  kommen  sie  nimmermehr  zusammen.« 

Wäre  es  darum  zu  thun,  die  Bewegung  zu  leugnen,  so  gäbe  es  dazu 
noch  weit  stärkere  Gründe,  welche  der  alte  Zeno  schon  in  der  Ferne  ge- 
zeigt hat. 

Unsere  jetzige  Absicht  ist  eine  ganz  andre;  sie  ist  schon  oben  (§.  281 
im  Anfange)  ausgesprochen.  Es  kommt  darauf  an,  zu  zeigen:  dafs  zwey 
reale  Wesen  eben  so  gut  ursprünglich  in  Bewegung,  als  ursprünglich  in 
Ruhe  gegen  einander  seyn  können. 

Der  Umstand,  dafs  Bewegung  keine  Beschaffenheit  und  kein  Zustand 
des  Realen  ist,  lenkt  die  Aufmerksamkeit  ganz  auf  die  Raum-Construction, 
wodurch  beyde  Reale  verbunden  zu  seyn  scheinen. 

Wer  zwey  Gegenstände  als  in  Annäherung  begriffen  denkt:  der  hebt 
noth wendig  in  jedem  Augenblicke  das  wieder  auf,  was  er  so  eben  gesetzt 


174  ^    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

hat.  Er  schrieb  ihnen  eine  bestimmte  Distanz  zu;  diese  soll  sich  ver- 
kürzen eben  indem  sie  eintrit,  und  schon  verkürzt,  soll  sie  eben  deswegen 
sich  abermals  verkürzen;  und  so  wird  jede  dieser  Raumbestimmungen  als 
eine   solche  gedacht,   die  nur  entsteht,   um  sich  selbst  aufzuheben. 

Darum  ist  die  Bewegung  gerade  das  bekannteste  sinnliche  Bild  des 
Widerspruchs  in  der  Veränderung.  Und  wie  die  Veränderung  im  Realen 
nicht  kann  gedacht  werden;  vielmehr  auf  blofse  Acte  der  Selbsterhaltung 
schon  in  der  Ontologie  zurückgeführt  ist,  so  müfsten  wir  auch  jetzt  Alles 
aufbieten,  um  den  Begriff  der  Bewegung  dergestalt  abzuändern,  dafs  statt 
seiner  ein  an-[2g8]derer  Begriff,  frey  von  Widersprüchen,  hervorträte,  — 
wenn  wirklich  das   Reale   in   der  Ungereimtheit  befangen  wäre. 

Statt  dessen  sind  vorbeugende  Mafsregeln  ergriffen.  Erstlich  befreyten 
wir  das  Reale  von  allem  Verdacht;  zweytens  haben  wir  auch  die  räum- 
liche Form  der  Zusammenfassung  in  so  weit  gesichert,  als  es  nöthig  und 
möglich  ist. 

Es  ist  unstreitig  leichter,  sich  die  realen  Wesen  gegenseitig  ruhend 
als  in  Bewegung  zu  denken.  Allein  worin  liegt  hier  die  Bequemlichkeit? 
Man  braucht  nur  Eine  Construction  des  Raums;  und  für  je  zwey  Reale 
eine  bestimmte  Distanz,  bey  der  es  sein  Bewenden  hat.  Wollen  wir  nun 
diese  Bequemlichkeit  unseres  zusammenfassenden  Denkens  als  einen  gültigen 
Grund  ansehn,  weshalb  wir  die  Wesen  ursprünglich  in  gegenseitiger  Ruhe 
denken  müfsten?  Dagegen  ist  vorläufig,  und  bis  zu  weiterer  Entwickelung 
im  vierten  Capitel,  zweyerlev  zu  sagen.  Erstlich:  Unsre  Form  der  Zu- 
sammenfassung ist  keine  wahre  Gemeinschaft  der  Wesen;  und  sie  sind  an 
diese  Form  nicht  gebunden.  Der  leere  Raum  ist  unserm  eignen  Bekennt- 
nisse gemäfs  ein  völliges  Nichts;  und  er  legt  uns  blofs  die  Verbindlichkeit 
auf,  seine  Bestimmungen  consequent  vestzuhalten.  Zweytens:  Bewegung 
mufs  einmal  angenommen  werden;  die  Erklärung  der  Veränderung,  welche 
letztere  gegeben  ist,  erfordert  es  so.  Ist  es  nun  überhaupt  möglich,  Bewegung 
als  zulässig  zu  betrachten  (wovon  weiterhin  zu  sprechen  ist),  und  müssen  l 
wir  einmal  auf  jene  Bequemlichkeit  in  der  Form  der  Zusammenfassung 
Verzicht  leisten:  so  können  wir  dieses  eben  so  gut  ursprünglich,  als  in 
Folge  irgend  eines  spätem  Motivs.  Ursprünglich,  indem  wir  zwey  Reale 
in  Einen  Raum  zu  setzen  versuchen,  bietet  jedes  eben  so  gut  als  das  andre 
den  Anfangspunct  der  ganzen  Raumconstruction  dar;  und,  [299]  wenn  wir 
von  dem  einen  zum  andern  eine  Linie  ziehen,  giebt  dieses  andre  uns 
die  Richtung  der  Linie  eben  so  gut  an,  als  ob  wir  umgekehrt  von  diesem 
zu  jenem  gingen.  Ist  also  hier  eine  Schwierigkeit:  so  haftet  sie  wenigstens 
an  keinem  von  der  den;  und  sie  verräth  blofs,  dafs  wir  zum  Behuf  unseres 
Vorstellens  etwas  haben  zusammenknüpfen  wollen,  was  an  sich  völlig  un- 
abhängig ist,  und  keiner  Verknüpfung  bedarf.  Um  nun  diese  offenbare 
Unabhängigkeit  gleich  Anfangs  anzuerkennen,  denken  wir  uns  als  möglich, 
dafs  eine  jetzt  vorhandene  /Annäherung  recht  füglich  aus  unendlicher  Ferne 
her  geschehen  sevn  könne,  indem  wir  die  jetzige  Bewegung  als  Fortsetzung 
einer  frühern,  und  so  ferner,  betrachten;  und  unsre  Vorstellung  der  durch- 
laufenen Bahn  rückwärts  ins   Unendliche  verlängern. 

1  „müssen"  nicht  gesperrt.    SW. 


.  Abschn. Synechologie.  2.Abth.  V.obj.-scheinb.Gesch.  etc.  2.Cap.  V.  d.Geschwindigk.  175 


Zweytes  Capitel. 

Von    der    Geschwindigkeit. 

§.  284. 

Man    wird     mehr  Licht  fordern;     allein    wir    können    hier    nur    einen 
schwarzen  Flecken  beleuchten,   und  nachweisen,   dafs   er  unschädlich  ist. 

Die  Bewegung-  wird  von  den  Mathematikern  als  ein  Product  aus 
zwey  Factoren  behandelt,  Geschwindigkeit  und  Zeit.  In  der  That  zerfällt 
sie,  ihrem  Begriffe  nach,  gleichsam  von  selbst  in  diese  Factoren.  Denn 
sie  ist  gleichförmig,  wenn  keine  scheinbaren  Kräfte  hinzukommen.  Das 
heifst:  sie  wiederholt  sich  unaufhörlich;  die  Wiederholung  aber  ist  eine 
Vervielfältigung-  dessen,  was  jedesmal  geschieht.  Man  fasse  [300]  also  dieses 
durch  einen  allgemeinen  Begriff,  so  hat  man  den  Multiplicandus  eines  Pro- 
ducts, dessen  Multiplicator  die  Menge  der  Wiederholungen  seyn  wird.  Und 
man  halte  dieses  nicht  für  blofs  figürliche  Redensarten;  die  Zeit  ist  im 
eigentlichsten  Sinne  ein  Multiplicator  der  Geschwindigkeit,  wie  sich  sehr 
bald  zeigen  wird. 

Wäre  nun  die  Geschwindigkeit  ohne  Schwierigkeit  denkbar,  so  wäre 
es  auch  die  ganze  Bewegung ;  die  Zeit,  oder  die  Menge  der  Wiederholungen, 
kann  man  von  dem  Fehler  befreyen. 

Oben  (§.  282)  fanden  wir  den  Satz:  jedes  reale  Wesen  ruhein  seinem 
eignen  Räume;  es  bewege  sich  nur  in  dem  Räume  eines  andern.  Indem 
wir  ihm  also  jetzt  Geschwindigkeit  beylegen,  betrachten  wir  es  als  liegend 
in  einem  fremden  Räume,  das  heifst,  in  einem  solchen,  worin  ein  anderes 
reales  Wesen  ruhet.  Warum  wir  diesen  Raum  fremd  nennen,  das  werden  die 
Widersprüche    im   Begriffe  der  Geschwindigkeit    deutlich  genug  offenbaren. 

Wie  wir  oben  bey  einem  bekannten  Satze  anknüpften,  um  von  der 
Bewegung  überhaupt  deutlich  zu  sprechen;  nämlich  bey  dem  Satze,  dafs 
sie,  sich  selbst  überlassen,  gleichmäfsig  fortgehe :  so  ist  auch  hier  ein  längst 
bekannter  Begriff  zu  benutzen.  Jedermann  räumt  ein,  die  Geschwindigkeit 
sey  eine  Gröfsc,  denn  sie  könne  vermehrt  und  vermindert  werden.  Fragen 
wir  weiter:  was  für  eine  Größe?  so  lautet  die  Antwort,  eine  intensive 
Gröfse.  Das  ist  nicht  ganz  falsch;  aber  es  ist  ein  schlüpfriger  Punct,  aus 
welchem  man   unmittelbar  in   Irrthum   zu  gleiten  Gefahr  läuft. 

Wie  wird  diese  intensive  Gröfse  gemessen  ?  Nach  dem  Räume,  der 
mit  ihr  in  gegebener  Zeit  wird  durchlaufen  werden.  Und  hieraus  bildet 
sich  leicht  das  Vorurtheil:  Geschwindigkeit  sey  ?ioch  nicht  selbst  Bewegung, 
sondern  die  künftige  [301]  Bewegung  liege  darin  eingewickelt.  Sie  sey  ein  Zustand 
des  Bewegten,    vermöge  dessen   es  eine    Tendenz  habe,   sich   weiter  zu   bewegen. 

Es  ist  so  natürlich,  sich  Geschwindigkeit  als  einen  uisus,  ja  gleich- 
sam als  ein  Wollen  zu  denken,  woraus  Bewegung  erst  hervorgehn  werde, 
dafs  es  nicht  überflüssig  seyn  dürfte,  hier  den   Zeno   zu  Hülfe  zu  rufen. 

Das  Bewegte,  sagte  Zeno,  ruhet  in  jedem  Puncte  seiner  Bahn,  wäh- 
rend des  Augenblicks,  da  es  in  demselben  ist;  also  ruhet  es  immer. 

Jedermann  wird  sogleich  widersprechen.  Das  Bewegte  ist  in  stetiger 
Bewegung;  also  ruhet  es  in  keinem  Puncte,  weil  es  in  jedem  nur  insofern 
ist,   als  es  kommt  und  hindurchgeht. 


iy5  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

Man  entwickele  nun  diesen  Gedanken.  Es  ist  nicht  möglich,  das 
Bewegte  auch  nur  für  einen  untheilbaren  Augenblick  so  zu  denken,  als 
ob  seine  Stelle  eben  jetzt  durch  einen  einzigen  Punct  —  oder  bey  kör- 
perlichen Massen  durch  einen  Raum,  der  ihrem  Volumen  genau  gleich 
wäre  —  zulänglich  könnte  angegeben  werden.  Denn  darin  läge  Nichts 
vom  Ankommen  und  Hindurchgehen.  Sondern  man  mufs  die  vorige  und 
die  folgende  Stelle  mit  hinzunehmen.  Und  dieses  ist  um  desto  nöthiger, 
je  gröfser  die  Geschwindigkeit;  denn  mit  ihr  wächst  der  Begriff  des  Hin- 
durchgehens durch  jede  Stelle,  im  Gegensatze  gegen  das  Verweilen  in 
derselben. 

Das  Bewegte  hat  also  nicht  Geschwindigkeit,  sofern  es  an  irgend 
einem  Orte  ist,  sondern  sofern  man  das  Seyn  an  diesem  Orte  sogleich 
wieder  aufgehoben  denkt;  dergestalt,  dafs  man  nicht  erst  setze  und  dann 
aufhebe,  sondern  beydes  unmittelbar  verbinde. 

Will  man  dies  leugnen?  Sobald  man  setzt  ohne  noch  aufzuheben, 
hat  man  die  Bewegung  durch  eine  [302]  augenblickliche  Verweilung  an  dem 
Orte,  wohin  man  setzte,  verdorben. 

Hiemit  ist  zweyerley  zugleich  klar:  erstlich,  dafs  Geschwindigkeit  nicht 
erst  künftige,  sondern  jetzige  Bewegung  anzeigt;  und  zweytens,  dafs  sie 
einen  Widerspruch  enthält.  Wer  dies  anzuerkennen  verweigert,  der  wird 
unmittelbar  von  dem  Einwurfe  des  Zeno  getroffen.  Und  umgekehrt:  Zeno 
droht  mit  der  Skylla;  gegenüber  liegt  die  Charybdis. 

§•   285. 

Ein  andrer  Grund  des  Zeno  kann,  indem  wir  ihn  berichtigen,  auf 
die  genauere  Bestimmung  leiten,  wie  die  Stelle  des  Durchgangs  mit  der 
vorigen  und  folgenden  im  Begriffe  der  Geschwindigkeit  verbunden  wer- 
den mufs. 

„Das  Bewegte  kann  nicht  den  kleinsten  Theil  des  Weges  zurücklegen, 
weil  es  zuvor  dessen  Hälfte  zurückgelegt  haben  müfste,  welches  wiederum 
von  dieser  Hälfte  gilt,  und  so  fort  ins  Unendliche.  Die  Bewegung  ge- 
winnt also  keinen  Anfang,    denn  dazu  ist  kein  Theil  klein  genug." 

Dieser  Gedanke  des  Zeno  wäre  ganz  richtig,  wenn  wirklich  das  Be- 
wegte so  gedacht  werden  dürfte,  als  durchHefe  es  das  gesammte  Aufser- 
einander  seiner  Bahn  im  strengen  Sinne  Nacheinander.  Aber  daraus  würde 
noch  eine  zweyte  ungereimte  Folge  entspringen.  Alsdann  nämlich  wäre 
das  Quantum  des  Weges  zugleich  das  Maafs  für  die  Zeit,  worin  eine  end- 
liche Bewegung  vollbracht  würde.  Je  mehr  Aufsereinander,  desto  mehr 
Nacheinander.  Allein  die  Zeit  ist  keinesweges  bey  aller  Bewegung  dem 
Räume  proportional,  denn  es  soll  verschiedene  Geschwindigkeiten  geben; 
und  jede  bestimmte  Geschwindigkeit  ist  sogleich  und  unmittelbar  ein  be- 
stimmter Anfang  der  Bewegung. 

[303]  Man  darf,  wie  vorhin  gezeigt,  dem  Bewegten  gar  nicht  erst 
eine  Stelle  und  dann  die  nächste  geben,  sondern  beyde  müssen  unmittel- 
bar, indem  man  sie  unterscheidet,  in  Gedanken  zusammengezogen  werden, 
damit  das  Bewegte  keinen  Augenblick  irgendwo  ruhe.  Und  diese  Zu- 
sammenziehung, vermöge  deren  das  Bewegte  geradezu  an  zwey  Orte  zu- 
gleich gesetzt  wird,  hat  ihren  bestimmten  Grad;  indem  man  die  zusammen- 


3.Abschn.Synechologie.  2.Abth. V. obj.-scheinb.Gesch. etc.  2.Cap. V.d.Gescbwindigk.    iyy 

gezogenen  Orte  dennoch  in  bestimmtem  Maafse  verschieden,  oder  aufser- 
einander  denkt.  Sonst  kommt  keine  bestimmte  Geschwindigkeit  her- 
aus; oder  man  erhält  gar  nur  Eine,  als  ob  das  Bewegte  so  geschwind 
srinse,  wie  die  Zeit  fliefst.  und  als  ob  hiemit  das  Aufsereinander  und  das 
Nacheinander  sich  gegenseitig  entsprächen.  Mehr  davon  im  folgenden 
Capitel. 

Die  ganze  Härte  des  Widerspruchs,  welchen  wir  fordern,  damit  der 
Begriff  der  Bewegung  wenigstens  scharf  bestimmt  sey,  dringt  sich  auf  in 
der  Berichtigung  des,  unter  dem  Namen  des  Achilles  bekannten,  Grundes 
wider  die  Bewegung.  Das  Langsamere  soll  vom  Geschwinderen  auf  glei- 
cher Bahn  nicht  eingeholt  werden  können,  weil  jenes  im  Augenblick  des 
Einholens  wieder  entläuft.  „Die  Distanz  des  einen  vom  andern  sey  so 
klein  man  wolle:  sie  läfst  sich  in  so  viel  Theile  theilen,  als  wie  vielemal 
das  Hintere  schneller  ist  als  das  Vordere.  Sey  Achill  tausendmal  so 
schnell  wie  die  Schildkröte;  und  sey  sie  von  seinem  ausgestreckten  Finger 
noch  um  einen  Fufs  entfernt:  so  mufs  er  diesen  um  einen  Fufs  weiter 
strecken  zum  Berühren;  unterdefs  entwischt  sie  um  einen  Tausendtheil 
des  Fufses.  Sein  Finger  durchläuft  auch  diesen,  unterdefs  entschlüpft 
sie,  und  die  Entfernung  beträgt  ein  Milliontheilchen.  So  gehts  fort. 
Der  Nachfolgende  kommt  vor  dem  Einholen  an  die  Stelle,  wo  so  eben  noch 
das  Einzuholende  war;  und  während  der  Bewe-[304]gung,  die  er  macht, 
um  diese  Stelle  zu  erreichen,  ist  jenes  schon  nicht  mehr  da  geblieben, 
wo  er  es  suchte." 

Dies  Räsonnement  verwickelt  Diejenigen,  welche  die  unendliche 
Theilbarkeit  des  Weges  einräumen,  und  dafür  mit  einer  entsprechenden 
unendlichen  Theilbarkeit  der  Zeit  sich  trösten,  unvermeidlich  dergestalt, 
dafs  sie  zwar  Anfangs  in  das  Theilen,  was  ins  Unendliche  gehn  müfste, 
sich  einlassen,  dann  aber  mit  einem  Sprunge  die  unendlich  vielen  Zeit- 
theile  als  abgelaufen  betrachten,  weil  sie  merken,  dafs  sie  eben  sowohl  die 
Zeit,  als  den  Weg  bis  zum  Puncte  des  Einholens,  aus  unendlich  vielen 
Theilen  zusammensetzen  müfsten,  womit  sie  nicht  fertig  werden  können. 
Der  Sprung  und  die  doppelte  Unendlichkeit  der  Theilung,  alles  ist  gleich 
fehlerhaft,  und  hilft  zu  Nichts.  Die  langsamere  Bewegung  mufs  die  ganze 
Zeit,  während  welcher  sie  geschieht,  ausfüllen,  ohne  Pause;  so  dafs  jedem 
Wechsel  von  Augenblicken,  welchen  die  Zeit  in  sich  schliefst,  ein  Fort- 
rücken im  Räume  entspreche.  Angenommen,  dem  sey  also:  alsdann  giebt 
es  keinen  solchen  Zeitwechsel  mehr,  vermöge  dessen  man  ein  gröfseres 
Quantum  des  Nacheinander  in  der  schnellem  Bewegung  unterscheiden 
könnte.  Also  zvird  das  Geschivindere  doch  in  mehrern  Stellen  seines  Weges 
zugleich  sevn  müssen?  Ja  freylich!  damit  hätte  man  anfangen  sollen.  Die 
gröfsere  Bahn  des  Schnellern  scheint  zwar  ein  gröfseres  Quantum  der 
Succession  vor  Augen  zu  stellen;  allein  die  wahre  Menge  des  Nachein- 
ander ist  die  Zeit  selbst;  genügte  diese  irgend  einer  langsamem  Bewegung, 
welche  ohne  Pause  fortging,  so  mufs  sie  auch  jedem  gröfseren  Wege  ge- 
nügen, den  das  Schnellere  während  derselben  durchläuft. 

Vergleicht  man  den  Achilles  mit  jenem  unmöglichen  Anfange  der 
Bewegung,  so  ist  klar,  dals  beyde  Betrachtungen  auf  dem  nämlichen  un- 

Herbart's  Werke.     VIII.  1 2 


jy3  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

richtigen  Grunde  [305]  beruhen;  nämlich  der  Voraussetzung  unendlicher 
Theilbarkeit  des  Weges.  Aber  jeder  Weg  hat  vermöge  der  bestimmten 
Geschwindigkeit  sein  bestimmtes  Element;  einen  Bruch  des  Aneinander, 
welches  wir  oben,  in  der  Lehre  von  der  starren  Linie,  als  deren  Element 
bezeichneten,  und  späterhin  einer  fingirten  Theilung  unterworfen  fanden. 
Von  dieser  Theilung,  die  bey  der  Kreislinie  und  bey  den  Hypotenusen 
schlechthin  ins  Unendliche  geht,  kann  man  zwar  auch  bey  der  Bewegung 
dann  Gebrauch  machen,  wann  gefragt  wird:  wie  viele  mögliche  Geschwin- 
digkeiten giebt  es?  Darauf  ist  unstreitig  die  Antwort:  unendlich  Viele. 
Denn  jeder  Grad,  um  welchen  das  Aneinander  mag  zusammengezogen, 
oder  jeder  Theil  desselben,  welcher  als  augenblicklicher  Ort  des  Bewegten 
mag  gedacht  werden,  giebt  eine  bestimmte  Geschwindigkeit;  und  hier  ist 
der  Bestimmung  ein  unendliches  Feld  der  Möglichkeit  geöffnet.  Aber 
man  mufs  bestimmen !  Das  heifst,  man  mufs  angeben,  inwiefern  das  Durch- 
sehen eines  Bewegten  durch  einen  Punct  seiner  Bahn  abweichen  soll  vom 
Stillstehen  in  diesem  Puncte;  und  wieweit  verschieden  zwey  nächste  Stellen 
geachtet  werden  sollen,  aus  deren  einer  kommend  und  in  deren  zweyte  tretend 
das  Bewegte  sich  zugleich,  in  dem  untheilbaren  Jetzt,  beß?idet.  Und  diese 
Angabe  geschieht  mittelbar  durch  die  Vestsetzung  der  Geschwindigkeit. 
Nachdem  nun  dieselbe  geleistet  ist,  fallen  jene  beyden  Gründe  des  Zexo 
zugleich  und  von  selbst  weg.  Der  Anfang  der  Bewegung  ist  nicht  kleiner 
als  das  Element  des  Weges;  das  Einholen  geschieht  dann,  wann  das 
Langsamere  vom  Schnellern  nur  noch  um  das  Element  des  Weges  ge- 
trennt ist;  denn  hier  hat  die  geforderte  Theilung  des  Weges  ein 
Ende. 

Verlangt  man,  dafs  wir  das  Element  des  Weges  [306]  noch  deutlicher 
beschreiben,  als  schon  geschehen  ist  ?  Alan  betrachte  das  Aneinander  der 
starren  Linie  als  unendlich  theilbar;  benutze  aber  diese  Theilbarkeit  nur 
dazu,  um  beliebig,  jedoch  auf  bestimmte  Weise,  das  Aneinander  durch 
einen  zwischen  eintretenden  Punct  in  zwey  Stücke  zu  zerlegen.  So  falle 
nun  der  Punct  x  zwischen  A  und  das  daran  liegende  B.  Folglich  ist  das 
Stück  Ax  zu  klein,  um  ein  wahres  Aufsereinander  darzustellen;  es  ist 
eben  deshalb  gerade  recht,  um  als  ein  Ort  des  Durchgangs,  oder  als 
Element  des  Weges  betrachtet  zu  werden.  Der  Grad  von  Verschiedenheit 
zwischen  A  und  x  bestimmt  die  Geschwindigkeit.  Damit  dieselbe  gleich- 
förmig sey,  nehme  man,  unbekümmert  um  B,  eine  Distanz  xy  =  Ax, 
und  wieder  yz  =  Ax,  und  so  weiter.  Der  erste  Ort  des  Bewegten  ist 
nun  weder  A  noch  x,  sondern,  ohne  Unterschied  der  Zeit,  Ax;  der  zweyte 
Ort  ist  xy,  der  dritte  xz,  und  so  ferner.  Was  jetzt  an  der  Bestimmung 
der  Geschwindigkeit  noch  fehlt,  das  ist  die  Richtung  und  davon  reden 
wir  sogleich. 

§.   286. 

Die  gröfste,  unmittelbarste  Evidenz  hat  in  der  vorstehenden  Ausein- 
andersetzung ohne  Zweifel  der  Umstand,  dafs  die  wahre  Quantität  des 
Nacheinander,  nämlich  die  Zeit,  nicht  gleich  ist  dem  Quantum  der  Suc- 
cession,  welches  in  den  durchlaufenen  Wegen  sein  Maafs  findet.  Die  Zeit 
ist  zwischen  zwey  Zeitpuncten  eine  bestimmte  Gröfse;  aber  dem  Quantum 


ß.Abschn.Synechologie.  2.Abth.  V.obj.-scheinb.  Gesch.  etc.  2.Cap.V.d.Geschwindigk.    i  yg 

der  Succession  können  unzählige  verschiedene  Gröfsen  beygelegt  werden, 
je  nachdem  die  Geschwindigkeit  wächst  oder  abnimmt. 

Man  möchte  auf  einen  Augenblick  glauben,  diese  Schwierigkeit  sey 
nun  gehoben,  nachdem  wir  das  Element  des  Weges  für  gleichbedeutend 
erklärt  haben  mit  [307]  dem  augenblicklichen  Orte  des  Durchgangs.  Der 
Weg  Az  besteht  aus  den  Elementen  Ax,  xy,  yz;  diese  Elemente  mögen 
nun  gröfser  oder  kleiner  genommen  seyn,  so  reichen  immer  drey  Zeit- 
puncte  hin  für  die  ganze  Bewegung  durch  Az.  Und  es  scheint  also  auch 
das  Quantum  der  Succession  unabhängig  von  der  Länge  des  Weges,  da 
die  Gegenwart  des  Bewegten  in  Ax,  oder  in  xy,  und  so  weiter,  keine 
Zeit  verbraucht,  und  folglich  keine  Succession  herbeyführt. 

Aber  eben  dieses  Folglich  ist  falsch.  Allerdings  liegt  eine  Succession 
im  Durchgehn  durch  Ax;  sonst  wäre  die  Richtung  Ax  von  xA  nicht  zu 
unterscheiden.  So  gewifs  es  ist,  dafs  man  das  Bewegte  nicht  erst  in  A 
und  dann  in  x  setzen  darf,  als  ob  es  während  irgend  eines  untheilbaren 
Augenblicks,  oder  während  der  kleinsten  Zeit,  die  Jemand  sich  denken 
möchte,  in  A  ruhete;  —  so  gewifs  es  ist,  dafs  im  strengsten  Sinne  Zu- 
gleich das  Bewegte  in  A  seyn  und  aus  A  heraus  gehn  mufs,  um  stets 
völlig  und  wahrhaft  in  Bewegung  zu  seyn:  —  eben  so  gewifs  kommt  in 
dies  Zugleich  ein  Vorher  und  Nachher  hinein.  Denn  vorher  mufs  man 
ihm  A,  nachher  mufs  man  ihm  x  zuschreiben,  oder  umgekehrt,  je  nach- 
dem nun  die  Richtung  der  Bewegung  seyn  soll.  Unterläfst  man  dies:  so 
ruhet  es  auf  einer  Stelle,  die  durch  zwey  nicht  genau  gleiche  Puncte  so 
bestimmt  ist,  wie  bey  Irrational  -  Gröfsen  (§.   259). 

Man  sieht  hier,  was  es  heifst,  einen  Widerspruch  nicht  wegschaffen, 
sondern  blofs  logisch  entwickeln.  Das  lästige  Quantum  der  Succession  ist 
nicht  verschwunden;  es  ist  noch  da!  Allerdings  bezeichnet  der  grössere 
Weg  des  Schnelleren,  es  sey  Mehr  geschehen  als  bey  dem  gleichzeitig 
langsamer  durchlaufenen  kürzeren  Wege.  Und  der  Raum  kann  überall 
mit  gleichem  Maafse  gemessen  werden;  liefs  sich  das  Quantum  der  Suc- 
cession für  das  Schnellere  dadurch  vermindern,  dafs  [308]  man  weniger 
Sonderung  in  dem  Wege  vornahm,  so  sollte  auch  in  dem  andern  Wege 
für  das  Langsamere  nicht  so  viel  gesondert  werden.  Dann  aber  wäre 
freylich  die  Zeit  nicht  ausgefüllt  worden,  sondern  es  hätte  Pausen  und 
Ruhepuncte  gegeben.  So  schiebt  sich  der  Knoten  hin  und  her,  falls 
Jemand  meint,  ihn  zu  vermeiden,  ohne  ihn  zu  lösen. 

Der  doppelte  Widerspruch  in  der  Geschwindigkeit,  sowohl  in  Hin- 
sicht des  Orts  als  der  Succession,  ist  hiemit  nachgewiesen.  Was  haben 
wir  damit  gewonnen?  Bestimmtheit  des  Begriffs.  Wer  diese  zu  schätzen 
weifs,  der  folge  uns  nun  weiter  zu  einem  andern  Begriffe,  den  wir  frey 
von  Widersprüchen  darstellen  werden,  ohne  darin  ein  besonderes  Ver- 
dienst zu  suchen;  und  mit  der  Vorhersagung,  dafs  er  dennoch  unter  Um- 
ständen auch  als  zugänglich  dem  Irrationalen  erscheinen  wird. 


12  = 


iSo  !•   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Drittes   Capitel. 
Von  der  Zeit. 

§.  287. 

Geschwindigkeit  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  nichts  anderes  als  Be- 
wegung, zurückgeführt  auf  ihren  allgemeinen  Begriff.  Aber  jeder  allge- 
meine Begriff  ist  ein  Multiplicandus  (§.  252);  und  man  sieht  leicht,  dafs 
hier  die  Zeit  den  Multiplicator  ausmacht.  Die  eigenthümliche  Verbindung 
jener  beyden  Factoren  zu  einem  Producte  näher  zu  bezeichnen,  dient 
Folgendes. 

Jede  intensive  Gröfse  kann  auf  zwiefache  Weise  multiplicirt  werden, 
innerlich  oder  äufserlich.  Denn  die  Intensität  kann  gesteigert,  sie  kann 
auch  ohne  Steigerung  mehrmals  dargestellt  werden.  Das  letztere  ge-[3og] 
schieht,  wenn  nicht  blofs  ein  Gegenstand,  sondern  mehrere  vorhanden 
sind,  denen  dieselbe  Intensität  zukommt.  Die  Wärme  im  Zimmer  ist  ein 
desto  gröfseres  Quantum,  je  gröfser  das  Zimmer,  das  überall  gleiche 
Temperatur  hat. 

Aber  es  giebt  noch  einen  dritten  Fall,  der  sich  findet,  wenn  man 
die  vorigen  ausschliefst.  Die  Intensität  soll  vielemal  vorkommen,  nicht  an 
verschiedenen,  sondern  an  demselben  Gegenstande;  und  doch  soll  sie  da- 
durch nicht  gesteigert  werden.  Das  letztere  würde  unfehlbar  eintreten, 
wenn  zu  dem  ersten  Grade  der  zweyte,  dritte,  und  so  ferner,  hinzukäme. 
Also  mufs  man  den  ersten  setzen  ohne  den  zweyten;  dann  aber  mufs 
man  ihn  aufheben,  und  mit  dieser  Aufhebung  die  Setzung  des  zweyten 
verbinden:  wiederum  den  zweyten  aufheben,  und  mit  dieser  neuen  Auf- 
hebung die  Setzung  des  dritten  verbinden;  und  so  fort. 

Hiebey  ist  es  zufällig,  ob  man  mit  der  Aufhebung  die  folgende 
Setzung  unmittelbar  verbindet,  oder  nicht.  Man  kann  aufheben,  ohne  im 
Aufheben  schon  an  das  neue  Setzen  zu  denken.  Es  ist  eben  so  zufällig, 
ob  man  mit  der  Setzung  schon  die  Aufhebung  verbindet.  Wo  nicht,  so 
trennen  sich  die  Glieder  der  entstandenen  Reihe;  das  Eins,  Zwey,  Drey, 
wornach  die  Grade  der  Intensität  gezählt  werden,  hängt  dann  nicht  zu- 
sammen. 

Man  versuche  nun,  diese  Zufälligkeit  aus  dem  aufgestellten  Begriffe 
durch  eine  veste  Bestimmung  hinwegzuschaffen.  Die  Aufhebung  sey  mit 
der  neuen  Setzung  unmittelbar  verbunden;  aber  auch  im  Setzen  liege 
schon    das  Aufheben  und  Fortschreiten  zum  abermals   erneuerten  Setzen. 

In  diesem  Begriffe  liegt  eine  doppelte  Reihe;  eine  der  Setzungen, 
und  eine  der  Aufhebungen.  Man  könnte  glauben,  beyde  machten  Null 
mit  einander,  und  es  sey  [310]  eigentlich  gar  Nichts  gesetzt;  allein  durch 
diese  Auslegung  würde  man  den  anfänglichen  Sinn  verfehlen.  Die  Auf- 
hebungen oder  Verneinungen  sollten  blofs  dazu  dienen,  die  Setzungen 
gesondert  zu  halten,  damit  sie  nicht  in  einander  fallen,  und  die  intensive 
Gröfse  nicht  gesteigert  werde.  Daher  gelten,  wenn  der  Begriff  keine 
neue  Bestimmung  erhält,  nur  die  Setzungen;  sie  erklären  immerdar,  dafs 
man  nicht  aufgehoben  habe;  und  sind  gleichbedeutend  einer  einzigen 
Setzung,  bey  der  nach  keiner  Aufhebung  gefragt  wird. 


3.Abschn.Synechologie.   2.  Abth.  V.obj. -scheint).  Geschehen  etc.  3.  Cap.  Von  der  Zeit.    181 

Dies  ist  der  Begriff  der  Dauer;  allerdings  ein  ganz  unnützer  Ge- 
danke, wenn  man  nicht  die  Möglichkeit  des  Wechsels,  welcher  dadurch 
verneint  wird,  gegenüber  stellt.  Wir  schreiben  einem  Tone  Dauer  zu,  weil 
wir  stets  erwarten,  er  werde  aufhören;  aber  nicht  so  leicht  einer  Farbe, 
weil  wir  an  deren  Wechsel  nicht  so  gewöhnt  sind.  Dem  Realen  kann, 
der  Wahrheit  gemäfs,  Dauer  eben  so  wenig  als  Wechsel  beygelegt  werden, 
weil  bey  ihm  die  Frage,  ob  die  Setzung  zurück  genommen  werden  solle} 
schon  im  Voraus  durch  Verzichtleistung  hierauf  beantwortet  ist  (§.  204). 
Dennoch  schreibt  man  ihm  nicht  ohne  Grund  Dauer  zu,  nämlich  inwie- 
fern es  während  des  Wechsels  stets  vorhanden  ist,  folglich  der  Wechsel 
ihm  nicht  gilt. 

§.   288. 

Soll  also  der  vorstehende  Begriff  Bedeutung  erlangen,  so  mufs  die 
Reihe  der  Aufhebungen  in  ihm  sich  beziehen  lassen  auf  die  Natur  der 
vervielfältigten  intensiven  Gröfse  selbst.  Bey  dem  Tone,  der  sich  gleich 
bleibt,  oder  in  ähnlichen  Fällen,  ist  das  zufällig;  und  es  kann  nur  dann 
wesentlich  seyn,  wenn  die  Setzungen  sich  dergestalt  sondern  und  doch 
verketten,   dafs   die   Aufhebungen   sich   nachweisen  lassen. 

Die  erste  Setzung  mufs  verschwinden,  die  zweyte  [3  1 1]  mufs  von  ihr 
zu  unterscheiden  seyn,  die  dritte  von  der  vorigen,  und  so  fort.  Wenn 
eine  Saite  auf  einem  Bogeninstrument  angestrichen  und  zugleich  gestimmt 
wird,  so  giebt  sie  dazu  ein  Beyspiel;  denn  es  ist  nun  nicht  der  nämliche 
Ton,  welcher  dauert,  sondern  er  geht  üher  in  den  nächsten,  der  höher 
oder  tiefer  liegt. 

Allein  alle  möglichen  Beyspiele  dieser  Art  fallen  nothwendig  unter  den. 
Begriff  der  Bewegung,  wenn  schon  derselbe  nur  figürlich  darauf  übertragen 
scheint.  Denn  sobald  die  Setzungen  gesondert,  und  doch  in  Form  einer 
Reihe  zusammengehalten  sind,  so  haben  wir  jenes  Nicht-Zusammen,  dessen 
leere  Bilder  in  der  Vorstellung  vestgehalten  werden,  und  sich  zum  Über- 
gange aus  einem  ins  andre  darbieten. 

Das  Element  der  Bewegung,  durch  einen  allgemeinen  Begriff  gedacht,, 
oder  die  Geschwindigkeit,  ist  Setzung,  Aufhebung,  und  neue  Setzung  der- 
gestalt verbunden,  dafs  die  jedesmalige  neue  Setzung  nicht  ganz  mit  der 
vorigen  zusammenfällt,  und  hiedurch  die  geschehene  Aufhebung,  durchs- 
Verschwinden  am  vorigen  Orte,  sich  erkennen  läfst.  Da  nun  das  Bewegte 
sich  an  dem  neuen  Platze,  wegen  der  durchgängigen  Gleichartigkeit  der 
Theile  des  Raums,  gerade  so  befindet  wie  am  vorigen,  so  wiederholt  sich 
das   Element  der  Bewegung,   oder  es  wird   multiplicirt  durch   die   Zeit. 

Demnach  ist  die  Zeit  nichts  als  eine  Zahl;  aber  mit  besonderer  Be- 
ziehung auf  einen  Multiplicandus  von  solcher  Beschaffenheit,  dafs  seine 
Vervielfältigung  sich  nicht  anhäufen  darf,  vielmehr  jedem  Exemplar  die 
vorigen  weichen  müssen. 

Dieser  Zahl  begegnet  nun,  wie  jeder  Zahl,  eine  Verwechselung  mit 
der  Anzahl;  oder,   das   Product  wird  verwechselt  mit  der  Summe. 

Von  den  Zahlen  pflegt  man  zu  sagen,  sie  bestünden  aus  Einheiten; 
und  hintennach  wundert  man  sich  [312]  über  die  Einheiten,  als  Grofsen, 
die  keine  Gröfsen  sind.    Eben  so  läfst  man  die  Zeit  zerfallen  in  Zeitpuncte ; 


jg2  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.      1829. 


dann  aber  will  sich  die  Zeit  aus  diesen  Puncten  nicht  zusammensetzen 
lassen;  also  schiebt  man  die  Zeit  zwischen  die  Puncte,  als  ob  da  Zeit 
wäre,  wo  kein  Zeitpunct  ist. 

Bey  der  Zahl  überhaupt  liegt  der  Fehler  darin,  dafs  man  den  Be- 
ziehungspunct  des  Begriffs,  der  von  ihm  unzertrennlich,  aber  verschieden 
ist,  so  behandelt,  als  wäre  er  ein  Merkmal  im  Inhalte  des  Begriffs.  Der 
Beziehungspunct  aller  Zahl  ist  der  allgemeine  Begriff  des  Gegenstandes, 
welcher  soll  vervielfältigt  werden  (§.  252).  Diesen  zieht  man  in  den  Zahl- 
begriff hinein,  und  nennt  ihn  die  Einheit,  als  ob  dieselbe  mehrmals  in 
der  Zahl  läge.  Sollen  nun  mehrere  Zahlen  in  ein  Produkt  vereinigt  wer- 
den, so  kommt  die  Ungereimtheit  zum  Vorschein,  dafs  die  Einheiten  jeder 
Zahl  multiplicirt  werden  sollen  mit  den  Einheiten  der  andern;  wobey 
das  Product  so  viel  Multiplicanden  bekommen  würde  als  Multiplicatoren 
da  sind,  anstatt  dafs  jedes  Product  nur  Einen  Multiplicandus  erträgt.  Am 
auffallendsten  wird  dies  bey  den  Brüchen,  wenn  etwa  ein  halbes  mit  drey 
Viertheilen  multiplicirt  werden  soll,  als  ob  der  vierte  Theil  eines  voraus- 
gesetzten Ganzen  jemals  ein  Multiplicator  werden  könnte. 

Bey  der  Zeit  wird  der  Irrthum  auffallender.  Sie  wird  gedacht  als 
fliefsend,  vorübergehend;  ja  man  klagt,  dafs  sie  so  geschwind,  oder  so 
langsam  vorübergehe.  Kurz:  sie  verwandelt  sich  aus  dem  Multiplicator 
der  Bewegung  in  das  Bewegte  selbst.  Anstatt  die  Elemente,  aus  welchen 
die  Bewegung  besteht,  zu  zählen,  verwandelt  sie  sich  in  die  Stimme  solcher 
Elemente;  sie  selbst  hat  nun  eine  Geschwindigkeit,  und  giebt  dadurch  zu 
der  ungereimten  Frage  Anlafs,  ob  [313]  nicht  vielleicht  die  Bewegung 
eines  Dinges  eben  so  geschwind  gehn  könne,  wie  die  Zeit  fliefse? 

Wie  bey  der  Zahl  sich  der  unbestimmte  Gedanke  des  vielmal  zu 
Setzenden  als  Einheit  darstellt,  die  wirklich  mehrmals  in  der  Zahl  ent- 
halten sey:  so  soll  die  Zeit  auch  eine  Reihe  von  Zeitßuncten  enthalten, 
deren  jedem  das  Kommen,  Daseyn,  Verschwinden,  und  Weichen  vor  dem 
nächstfolgenden  dürfe  zugeschrieben  werden,  wodurch  der  Multiplicandus 
der  Zeit,  nämlich  die  Geschwindigkeit,  charakterisirt  ist.  Diese  Vorstellungsart 
läfst  sich  nicht  verbannen,  denn  die  Beziehung  der  Zeit  auf  ihren  eigen- 
thümlichen  Multiplicandus  ist  das  wesentliche  Unterscheidungsmerkmal  der 
Zeit.  Man  kann  nur  sorgen,  den  Begriff  richtig  zu  bestimmen,  damit  er 
nicht  Schaden  anrichte  durch  Misdeutung. 

§.   289. 

Die  Zeit  ist  die  Zahl  des  Wechsels.  Indem  dieser  Begriff  allgemein 
gedacht  wird,  ist  von  der  eignen  Gröfse  des  Wechsels,  das  heifst,  von  der 
Intensität  der  Geschwindigkeit  abstrahirt  worden.  Da  nun  auf  die  innere 
Vielheit  derselben  nichts  mehr  ankommt,  so  erscheint  jeder  einzelne  Wechsel 
als  untheilbare  Einheit;  diese  Einheit  liegt  aber  in  der  Reihe  der  Ordnungs- 
zahlen, dergestalt,  dafs  die  nte  Einheit  zwischen  die  (n— l)te  und  (n-f  l)te 
fällt;  und  der  Übergang  von  jener  zu  dieser  nothwendig  die  zwischen- 
liegende treffen  mufs.  Und  man  soll  den  Übergang  machen,  denn  die 
(rT— l)te  Einheit  wird  gesetzt,  aufgehoben,  und  ersetzt  durch  die  nte,  und 
so  fort. 


3.  Abschn.  Synechologie.   2.  Abth.  V.  obj.-scheinb.  Geschehen  etc.  3.  Cap.  Von  der  Zeit,    t  83 

Ferner  werden  ungeachtet  der  Aufhebung  doch  die  vorigen  Ord- 
nungszahlen nicht  vergessen,  sondern  zusammengefafst ;  und  auch  die 
höhern  Ordnungszahlen,  bis  ins  Unendliche  hinaus,  werden  überschaut,  und 
gehn  mit  in  dieselbe  Zusammenfassung  ein.  Dadurch  ver[3  I4]wandelt  sich 
die  Zeit  in  ein  Analogon  des  Raums.  Dieses  ist  ganz  klar  in  jenen  Aus- 
drücken vom  Vorübergehen  der  Zeit;  denn  der  Vorübergehende  ist  nicht 
vernichtet,  er  bleibt  irgendwo,  man  mag  ihn  suchen  an  einem  andern 
Orte. 

Das  Analogon  des  Raums  aber  darf  hier  fürs  erste  kein  anderes  seyn 
als  die  starre  Linie.  Denn  bestimmte  Zeit  ist  bestimmte  Zahl  des  Wechsels. 
Nun  sind  zwar  auch  Irrational  -  Zahlen  bestimmte  Gröfsen;  aber  sie  sind 
Functionen  der  rationalen;  und  man  hat  die  Function  nicht  eher  als  ihre 
Hauptgröfse. 

Dies  ists,  was  Diejenigen  verkennen,  welche  die  Zeit  ohne  Weiteres 
für  ein  Continuum   erklären. 

Jene  Einheiten  sind  nun  die  Zeitpuncte,  und  bestimmte  Zeit  ist  eine 
Strecke  auf  der  starren  Linie  dieser  Puncte,  folglich  enthält  sie  die  Summe 
derselben. 

Die  Construction  der  Linie  geht  bekanntlich  nach  zwe)'  entgegen- 
gesetzten Seiten  ins  Unendliche.  Die  Zeit  kann  sich  dieser  Construction 
nicht  entziehen.  Denn  das  Aneinander  zweyer  Puncte,  welches  hier  das 
Xacheinander  heifst,  läfst  sich  überall  dergestalt  verrücken,  dafs  der  nte 
Punct  in  die  Stelle  des  (n — l)ten  oder  (n-j-l)ten1  tritt,  weil  unter  den 
Puncten  durchaus  kein  Unterschied  ist.  Wollte  man  einen  Unterschied 
machen,  so  läge  er  in  demjenigen,  was  die  Puncte  erfüllt;  davon  aber  ist 
abstrahirt  worden. 

Hingegen  entzieht  sich  die  Zeit  jeder  Construction  nach  Art  der 
Fläche  oder  des  Körpers.  Denn  sie  ist  Zahl ;  und  als  Linie  betrachtet 
ist  sie  gerade,  vermöge  des  bestimmten  Zwischen,  welches  unter  ihren 
Puncten  herrscht. 

Gesetzt,  ein  Zeitpunct  läge  seitwärts  von  der  schon  construirten  Zeit- 
linie :  so  gäbe  es,  vermöge  der  bekannten  Bestimmungen  des  Raums,  ein 
Perpendikel  von  ihm  auf  die  Linie.  Der  Fortschritt  auf  diesem  Perpen- 
dikel [315]  wäre  kein  Fortschritt  nach  der  Richtung  der  Linie  (§.  255). 
Also  in  Hinsicht  seiner  wäre  mit  der  Setzung  desjenigen  Puncte  der  Linie, 
wo  das  Perpendikel  eintrifft,  keine  Aufhebung,  und  kein  Ersatz  durch  den 
nächsten  Punct  verbunden,  wider  die  Natur  der  Zeitpuncte  (§.  288).  Nach 
diesem  Beweise  hat  man  auch  hier  nicht  nöthig,  sich  auf  reine  Anschauung 
zu  berufen  für  den  Satz :   dafs  die  Zeit  nur  Eine   Dimension   besitzt. 


§.    290. 

Ungeachtet  nun  diese  Construction  nicht  anders  ausfallen  kann,  als 
wir  sie  eben  gemacht  haben,  sind  die  Zeitpuncte  dennoch  anstöfsig;  und 
ganz  natürlicherweise  noch  mehr  als  die  Puncte  des  Raums.  Denn  wie- 
wohl   sie    auch    im    Räume    nur    insofern    etwas    bedeuten,    als    einer    dem 

1   an  die  Stelle  des  (n — l)ten   tritt,  .  .  SW.  „oder  (n  -|-  l)ten"  fehlt  in  SW. 


j  84  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

andern  gegenüber  steht :  so  stehen  sie  doch  wenigstens,  und  sollen  gleich- 
mäfsig  zusammengefafst  werden.  Aber  die  Zeit  verliert  einen  Punct  über 
dem  andern;  und  jeder  Punct  bedeutet  nur  insofern  etwas,  als  über  ihm 
der  vorige,   und   er  über  dem  nächsten  verloren  geht. 

Die  Folge  hievon  ist  schon  oben  kurz  angegeben.  Man  sucht  die 
Zeit  zwischen  den  Puncten,  als  wäre  sie  das  Medium  ihres  Zusammen- 
hangs. Und  daher  denkt  man  sich  auch  den  Wechsel,  der  in  die  Zeit 
fallen  soll,  als  geschehend,  indem  die  Zeitpuncte  wechseln;  so  dafs  die 
Möglichkeit  des  Wechsels  allgemein  dargestellt  seyn  soll  durch  das  Folgen 
des  einen  Zeitpuncts  auf  den  andern.  Dann  müfste  also  auch  die  Menge 
der  Unterschiede  im  Wechsel  dargestellt  seyn  in  der  Gröfse  des  Folgens 
der  Zeitpuncte  während  eben  dieses  Wechsels.  Und  dann  böte  die  ver- 
laufene Zeit,  welche  einem  solchen  Quantum  des  Wechsels  angemessen 
war,  auch  zu  jedem  andern  gleichzeitigen  Geschehen  das  nämliche  [3 1 6] 
Quantum  der  möglichen  Abwechselungen  dar.  Folglich  wäre  aller  gleich- 
zeitige Wechsel  gleich  grofs;  alle  Geschwindigkeit  und  jeder  durchlaufene 
Raum  wäre  in  gleichen  Zeiträumen  gleich ! 

Die  einfache  Bemerkung,  dafs  zwischen  zwey  nächsten  Zeitpuncten 
keine  Zeit  liegt,  mithin  Nichts  geschieht,  sondern  der  Wechsel  selbst  in  die 
Zeitpuncte  hinein  fällt,  genügt  hier.  Denn  der  Widerspruch,  der  in  das 
Element  des  Wechsels,  oder  in  die  Geschwindigkeit  kommt,  ist  oben  schon 
als  unvermeidlich  nachgewiesen  worden;  man  weifs  auch,  dafs  man  sich 
darunter  keinen  wirklichen  Zustand  des  Bewegten,  oder  gar  des  Ver- 
änderten denken  soll. 

Aber  die  Zeit,  als  starre  Linie  gedacht,  bleibt  nun  rein  von  Wider- 
sprüchen. Und  was  die  Hauptsache  ist :  der  Begriff  der  Zeitpuncte  ist 
nun  seinem  Ursprünge  gemäfs  richtig  vestgehalten.  Denn  sie  waren  nichts 
anderes  als  die  Einheiten,  die  als  Svmbole  der  Elemente  des  Wechsels 
dienten.  Nun  hatte  man  zwar,  um  diese  Symbole  zu  bilden,  abstrahirt 
von  der  gröfsern  oder  kleinern  Intensität  des  Wechsels,  also  von  dem 
innern  Quantum  der  Geschwindigkeit.  Aber  der  Weg  der  Determination 
mufs  allemal  genau  der  entgegengesetzte  seyn  von  dem  Wege  der  Ab- 
straction.  Also :  wenn  man  die  Zeitpuncte  anwenden  will  auf  den  Wechsel, 
so  fällt  er,  mit  seiner  Intensität,  das  heifst,  mit  der  Gröfse  seines  innern 
Gegensatzes,  in  seine  Symbole,  die  Puncte,  hinein,  und  nichts  von  ihm 
darf  zzvischen  sie  sich  eindrängen  wollen. 


*D 


§■       291. 

Nach  allem  diesen  behaupten  wir  dennoch  nicht,  dafs  die  Zeit  in 
keinem  Falle  als  ein  Continuum  zu  betrachten  sey.  Um  jedoch  hierüber 
ins  Klare  zu  kommen,  [3 1 7]  ist  es  zweckmäfsig,  erst  einen  andern  Frage- 
punet  in   Untersuchung  zu  nehmen. 

Ist  die  Zeit,  von  der  bisher,  auf  Veranlassung  der  Bewegung  im 
intelligibeln  Räume,  geredet  wurde,  nicht  auch  als  eine  intclligibele  Zeit 
zu  betrachten?  —  Und  wenn  dies  bejaht  wird,  mufs  sie  nicht  von  der 
sinnlichen  unterschieden  werden  ?     Kann  dies  nicht  auf  eben  die  l  Weise 

1  eben  diese  Weise  SW. 


3.Abchn.  Synechologie.   2.Abth.  V.  ohj.-scheinb.  Geschehen  etc.  3.Cap.  Von  der  Zeit.  185 

geschehen,  wie  wir  früher  den  intelligibeln  Raum  unabhängig  vom  sinn- 
lichen construirten  ? 

Wer  das  versuchen  will,  der  erinnere  sich  zuerst,  dafs  der  intelligibele 
Raum  nicht  außer  dem  sinnlichen  —  als  ob  sie  beyde  in  einem  gemein- 
samen gröfsern  Räume  durch  irgend  eine  Kluft  getrennt  wären,  —  son- 
dern in  einer  andern  Gedankenreihe  liegt ;  so  dals  man  den  einen  Raum 
ignorirt,  um  den  andern  zu  denken.  Es  ist  nämlich  leicht  genug,  sich 
abwechselnd  die  eine  oder  die  andre  Gedankenreihe  (oder  psychologisch 
richtiger :  diese  und  jene  Vorstellungsmasse)  nach  Belieben  zu  vergegen- 
wärtigen. 

Versucht  man  dasselbe  bey  der  intelligibeln  und  sinnlichen  Zeit, 
unter  der  Voraussetzung,  das  seyen  zwey  Arten  von  Zeit,  die  man  unter- 
scheiden müsse,  —  so  kommt  man  nicht  damit  zu  Stande.  Und  warum 
nicht?  Weil  der  Wechsel  der  Vorstellungsmassen,  den  man  hiebey  im 
Bewufstseyn  bewirken  mufs,  selbst  in  die  Zeit  fällt.  Daher  findet  man 
den  Augenblick  des  speculativen  Denkens  nothwendig  in  beyden  Zeiten; 
und  hiemit  fallen  sie  zusammen.  Deshalb  bedurfte  es  nicht  des  Aus- 
drucks, intelligible  Zeit.  Auch  ist  keine  Unterscheidung  nöthig ,  da  der 
reine  Begriff  der  Zeit  keine  Bestimmung  dessen  enthält,  was  darin 
vorgeht. 

Dies  aber  führt  auf  die  bekannte  Bemerkung  zurück,  dafs  in  einerley 
Zeit  eine  unendliche  Menge  der  verschiedensten  Zeitreihen  oder  Begeben- 
heften  sich   entwickeln,   die   einander  völlig  fremd  sind. 

[3  1 8]  Bisher  wurde  die  Zeit  nur  als  der  Multiplicator  einer  und  der 
nämlichen  Geschwindigkeit  Eines  Bewegten  betrachtet.  Sehr  leicht  können  wir 
diese  Betrachtung  dergestalt  erweitern,  dafs  sie  auch  ungleichförmige  Be- 
wegung, oder  veränderliche  Geschwindigkeit  zuläfst;  ohne  uns  übrigens  hier 
um  die  dazu  nöthigen,  scheinbaren  bewegenden  Kiäfte  zu  bekümmern. 
Denn  für  die  Zeitpuncte  ist  es  ja  gleichgültig,  wie  grofs  die  Intensität  der 
Geschwindigkeit  seyn  möge.  Also  kann  jedes  beliebige  Gesetz  der  Bewegung 
angenommen  werden;  unsre  Vorstellung  der  Zeit,  als  einer  starren  Linie, 
bleibt  die  nämliche.  Mag  z.  B.  der  radius  vector  eines  Planeten  seine 
gleichen  Flächenräume  und  seine  ungleichen  Theile  der  Bahn  zugleich 
beschreiben :  wir  verweisen  alles  Schwierige  dieser  Vorstellung  auf  die 
Raumbestimmungen;  aber  das  Nacheinander  bleibt  eben  so  gleich,  wie  der 
Mathematiker  gewöhnlich  sein  Differential  der  Zeit  als  beständig  betrachtet; 
obgleich  auch  diese  Vergleichung  nicht  zu  weit  ausgedehnt  werden  darf;  denn 
das  Differential  ist  kein  wirklicher  Theil  der  Zeit;  es  ist  blofs  der  Begriff 
vom  Entstehen  eines  neuen  Zuwachses. 

Während  nun  für  einerley  Gegenstand  die  Zeit  immer  die  Form  der 
starren  Linie  behält,  folglich  keine  Continuität,  keinen  Flufs,  kein  unbe- 
stimmtes Schwinden  der  nächsten  Theile  verräth :  ändert  sich  doch  die 
Sache,  sobald  mehrere  gleichzeitige  Bewegungen  sollen  zusammengefafst 
werden.  Denn  die  Zeittheile  der  einen  Bewegung  und  der  andern  schliefsen 
sich  ncht  mit  der  Bestimmtheit  aus,  dafs  man  die  beyden  starren  Linien, 
welche  hiebey  jede  unabhängig  von  der  andern  im  Vorstellen  entstehen, 
als  punetweise  genau  zusammentreffend  ansehn  dürfte.  Obgleich  nun  in 
der  Zeit  kein  solcher  Zwang  vorhanden  ist,    wie  ihn  im  Raum   der  Kreis 


jgß  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfangen  etc.      1829. 


und  die  Hypotenusen  ausüben,  die  uns  vom  [319]  Starren  zum  Stetigen 
forttreiben;  so  mufs  dennoch  auch  die  Zeitlinie  als  unterworfen  der  Mög- 
lichkeit betrachtet  werden,  dafs  an  sie  die  Forderung  irrationaler  Distanzen 
ergehen  könne.  Dies  nämlich  ist  allemal  da  zu  erwarten,  wo  ein  Zeit- 
abschnitt zwey  Endpuncte  hat,  deren  späterer  nicht  durch  eine  unablässige 
und  zusammenhängende  Folge  der  mittlem  Zeitpuncte  aus  dem  ersten 
entstanden  ist.  Eine  Bewegung  des  Gegenstandes  A  geschehe  fortwährend ; 
ganz  unabhängig  davon  beginne  nach  einiger  Zeit  die  Bewegung  des  Gegen- 
standes P  oder  Q;  so  ist  die  Bestimmung  des  Anfangspunctes  keiner 
solchen  Construction  unterworfen,  die  man  von  der  Bewegung  des  A  ent- 
lehnen könnte ;  vielmehr  trit  hier  der  Fall  jener  Hypotenusen  ein,  die  ein 
Quantum  der  Extension  innerhalb  schon  vestgestellter  Puncte  (§.  259)  dar- 
stellen sollen. 


Viertes  Capitel. 
Vom  objectiven  Schein. 

§.  292. 

Man  ist  gewohnt,  dafs  überall,  wo  sich  eine  Untersuchung  in  Schwierig- 
keiten verwickelt,  der  Trost  bereit  liegt,  es  sey  nur  Erscheinung;  nichts 
an  sich  Wirkliches.  Auch  bietet  schon  Kants  Lehre  die  Unterscheidung 
zwischen  objectivem  und  subjectivem  Schein.  Der  letztere  ist  aus  zufälligen 
Fehlern  des  Subjects  herzuleiten;  jener  hingegen  soll  dem  Gegenstande, 
in  wiefern  er  sich  überhaupt  irgend  einem  Subjecte  zum  Auffassen  dar- 
stellt,  zugeschrieben  werden. 

Aber  die  Kantische  Behauptung  der  Formen  des  Anschauens  und 
Denkens,  welche  dem  menschlichen  Gei-[32o]ste  eigen  seyn  sollen,  so 
dafs  seine  Erfahrung  sich  dem  Räume,  der  Zeit,  den  Kategorien  unter- 
werfen mufs,  weil  sie  nun  eben  menschliche  Erfahrung  ist,  —  setzt  eigent- 
lich einen  allgemeinen  subjectiven  Schein  an  die  Stelle  des  objectiven. 
Die  Frao:e  bleibt  offen,  ob  nicht  wohl  andre  Vernunftwesen  andere  Gesetze 
des  Anschauens  und  Denkens  haben  könnten  ? 

Eine  solche  Frage  mufs  ganz  wegfallen,  wenn  der  Schein  in  Wahrheit 
nichl -subjectW  seyn  soll.  Denn  der  strenge  Gegensatz  erfordert,  dafs  auf 
keine  Weise  das  Subject  durch  seine  besondere  Natur  den  Schein  bestimme. 

Wollte  man  aber  dem  Gegenstande  eine  Fähigkeit  beylegen,  eine 
täuschende  Gestalt  anzunehmen:  so  kehrt  selbst  diese  Voraussetzung  in 
die  vorige  zurück.  Denn  die  Täuschung  würde  doch  eine  besondere 
Schwäche  in  den  Subjecten  zum  Grunde  haben  müssen,  vermöge  deren 
sie  nicht  im  Stande  wären,  den  Trug  zu  durchschauen. 

Wahrhaft  objectiv  kann  nur  ein  solcher  Schein  heifsen,   der  von  jedem 

einzelnen  Objecte  ein  getreues  Bild,   wenn  auch  kein  vollständiges,   so  doch 

ohne   alle   Täuschung,    dem   Subjecte   darstellt;    dergestalt,    dafs   blofs    die 

Verbindung  der  mehrern  Gegenstände  eine  Form  annimmt,   welche  das  zu- 


3.  Abschn.  Synechologie.  2.  Abth.  V. obj.-scheinb. Geschehen  etc.  4. Cap.  V.  obj.  Schein.    187 

sammenfassende  Subject   sich  mufs  gefallen  lassen.     Diesen  Begriff  wollen 
wir  nunmehr  ausführlicher  entwickeln. 

§•    293. 

Man  denke  sich  also  ein  geistiges  Wesen,  eine  Intelligenz,  lediglich 
als  einen  reinen  Spiegel  für  mehrere,  von  einander  sowohl,  wie  von  dem 
Spiegel  unabhängige  Objecte.  Wir  fragen  hier  noch  gar  nicht,  wie  das 
Verhältnis,  vermöge  dessen  die  Spiegelung  erfolgt,  möglich  sey ;  wir  erinnern 
uns  aber,  dafs  zur  wahren  [321]  und  vollkommenen  Erkenntnifs  ein  solches 
Verhältnifs  mufs  angenommen  werden;  und  bemerken  leicht,  dafs  eben 
hier,  in  der  Methaphysik,  falls  sie  Wahrheit  gewährt,  wir  selbst  dergleichen 
Spiegel  seyn  müssen. 

Die  Objecte  sind  nun  entweder  zusammen,  oder  nicht  zusammen. 
Wird  auf  den  letzteren  Fall  die  Möglichkeit,  dafs  sie  dennoch  wohl  zu- 
sammen seyn  könnten,  übertragen:  so  liegt  hierin  (§.  245)  die  Vorstellung 
des  Orts,  den  sie  sich  gegenseitig  darbieten.  Auch  ist  bekannt,  dafs  die 
Vervielfältigung  des  Nicht -Zusammen  in  der  Form  des  Raums  gar  keine 
besondere  Einrichtung  der  Intelligenz  erfordert;  im  Gegentheil,  wo  ein 
objectives  Vieles  gegeben  ist,  und  zwar  unverbunden,  aber  so,  dafs  es 
verbunden  seyn  könnte,  da  mufs  es,  nach  dem  Obigen,  die  Form  der 
räumlichen  Auseinandersetzung  annehmen,  welche  wir  gerade  hieraus  haben 
hervorgehen  sehen. 

Hier  ist  nun  ein  objectiver  Schein  im  strengen  Sinne.  Das  Raum- 
verhältnifs,  worin  die  Objecte  sich  zeigen,  ist  nicht  im  mindesten  ein 
wahres  Prädicat,  das  irgend  einem  unter  ihnen  könnte  beygelegt  werden; 
denn  es  beruht  lediglich  auf  dem  Zusammentreffen  ihrer  Bilder  in  der  sie 
abspiegelnden  Intelligenz.  Dennoch  wird  es  gegeben;  und  die  Intelligenz 
ist  daran  gebunden;  nicht  minder  wie  an  jede  qualitative  Bestimmung  des 
Gegebenen.  Das  Raumverhältnifs  ist  daher  Schein,  aber  nicht  subjeetiver 
Schein,  denn  die  Gröfse  der  Entfernung,  und  der  Unterschied  der  Ruhe 
oder  Bewegung  unter  den  Objecten  hängen  gar  nicht  ab  von  der  Intelli- 
genz;  sie  nimmt,   was  sie  findet. 

Um  von  der  Bewegung  —  auf  deren  Erklärung  es  eigentlich  hier 
ankommt,  —  deutlich  zu  sprechen,  wird  es  gut  seyn,  zuvor  an  denjenigen 
objeetiven  Schein  zu  erinnern,  welcher  entstehen  lüürde,  wenn  irgend  ein 
Subject  die  Qualitäten  der  realen  Wesen  kennte.  Als-[32  2]dann  nämlich 
müfste  der  Gegensatz  unter  den  verschiedenen  Qualitäten,  worauf  die 
Möglichkeit  der  wahren  Causalität  beruht,  offenbar  werden.  Nun  läge 
aber  darin  ein  blofser  Schein;  denn  der  Gegensatz  ist  kein  eignes  Prädicat 
für  irgend  eins  der  Wesen.  Das  Verhältnifs  ist  hier  genau  so,  wie  zwi- 
schen einem  Paar  entgegengesetzter  Farben  oder  Töne,  denen  ebenfalls 
gar  keine  wahre   Bestimmung  aus  dem   Gegensatze   erwächst. 

Allein  es  siebt  doch  einen  GTofsen  Unterschied  zwischen  diesen 
Fällen  und  dem  Raumverhältnisse.  Farben,  Töne,  und  eben  so  die 
wahren  Qualitäten  der  realen  Wesen,  sind  wenigstens  innere  Gründe  des- 
jenigen objeetiven  Scheins,  der  in  dem  Beobachter  entstehen  mufs,  indem 
er  die  Vorstellungen  von  ihnen  zusammenfafst.  Er  kann  alsdann  kein 
anderes  Verhältnifs  zwischen  ihnen  annehmen;    die  Eigenheit  eines  jeden 


l88  I-   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


ergiebt  unmittelbar  seinen  Gegensatz  gegen  das  andere.  Hingegen  ein 
Raumverhältnifs ,  worin  zwey  Objecte  sich  zeigen,  während  sie  gegenseitig1 
unabhängig  sind,  ist  vollkommen  veränderlich;  es  hat  noch  weniger 
einen  Grund  in  den  Objecten  als  im  Zuschauer.  Es  wird  mit  vollkomme- 
ner Bestimmtheit  gegeben ;  und  dennoch  kann  es  keine  Bestimmung  für 
irgend  eins  der  Objecte  darbieten,  denen  ihre  Entfernung  oder  Nähe  so 
lange,  als  sie  nicht  mittelbar  oder  unmittelbar  auf  einander  wirken,  durch- 
aus gleichgültig  ist  und  nichts  bedeutet. 


&•   294- 

Wie  ensteht  denn  überhaupt  ein  solches  Verhältnifs,  das  gar  keinen 
Grund  in  seinen  Gliedern  hat?  Gewifs  nur  durch  einen  Zusatz  von  Seiten 
des  Zuschauers. 

Diesen  Zusatz  kennen  wir  längst;  es  ist  der  Raum.  Übertrüge  nicht 
der  Zuschauer  diese  Form  auf  die  Gegenstände:  so  hätten  die  Worte 
Ruhe  und  Bewegung  [323]  nicht  eher  einen  Sinn,  als  im  Augenblick  des 
eintretenden  Causal -Verhältnisses  durch  ein  mittelbares  oder  unmittelbares 
Zusammen.  Was  in  Kants  Behauptung,  der  Raum  komme  vom  Zu- 
schauer, psychologisch  unrichtig  war,  das  ist  zum  Theil,  und  nach  Ab- 
sonderung einer  gleich  zu  erwähnenden  Übertreibung,  metaphysisch  richtig; 
und  am  auffallendsten  dann ,  wann  von  gegenseitig  unabhängigen  Ob- 
jecten gesprochen  wird.  Der  Zuschauer  stellt  sie  einander  gegenüber, 
und  verleiht  ihnen  dadurch  eine,  lediglich  i?i  Gedanken  vorhandene,  Gemein- 
schaft. 

Die  Vorstellung  des  Raums  ist  geeignet,  zu  der  Zusammenfassung 
der  unter  einander  unabhängigen  Objecte  zu  dienen.  Aber  nur  zu  dienen! 
Eine  Vorschrift,  zvie  sich  die  Gegenstände  in  sie  hineinfügen  sollen,  kann  sie 
nicht  geben.  Darum  ist  hier  Behutsamkeit  nöthig,  damit  man  nicht  über- 
treibe. Kants  Vernunftkritik,  in  der  Vorrede,  lehrt:  Der  Gegenstand,  als 
Object  der  Sinne,  richte  sich  nach  der  Beschaffenheit  unseres  Anschauungsver- 
mögens. * 

Thäte  der  Gegenstand  das  wirklich :  so  dürfte  die  Raumbestimmung, 
wodurch  auf  mehrere  Objecte  eine  für  sie  fremde  Gemeinschaft  übertragen 
wird,  keinen  Widerspruch  enthalten.  Diese  Objecte  würden  uns  dadurch 
zu  allererst  ihren  Gehorsam  bezeugen,  dafs  sie  still  hielten  für  die  Vest- 
setzung  einer  gewissen,  sich  selbst  gleichen  Entfernung.  Aus  der  Stelle 
würden  sie  nur  gehn  auf  gegebenen  Antrieb;  und  je  mehr  durch  die 
schon  erfolgte  Bewegung  dem  Antriebe  Genüge  geschähe,  desto  langsamer 
würde  dieselbe  fortgesetzt;  indem  sie  in  jedem  Augenblicke  nur  dem  Rest 
des  An-[32  4]triebes  proportional  seyn  könnte;  wie  schon  oben  (§.  280) 
angedeutet  wurde. 

Untersucht  man  die  gemeine  und  natürliche  Vorstellung,  welche  sich 
Personen,  die  nicht  Physik  gelernt  haben,  von  der  Bewegung  machen:  so 


*  Kants  Krit.  d.  r.  V.    Vorrede  S.   XVII. 


während  sie  unabhängig  sind  SW.  („gegenseitig"  fehlt). 


3-Abschn.  Synechologie.  2.Abth.  V.obj.-scheinb.  Geschehen  etc.  4.  Cap.V.obj.  Schein.    180. 

findet  man  darin  in  der  That  ein  solches  Vorurtheil.  Bewegung  wird  als 
ein  fremdartiger  Zustand  betrachtet,  der  von  selbst  allmählig  nachlassen 
müsse ;  so  wie  er  nur  durch  wirkende  Ursachen  habe  hervorgehen 
können.  — 

Wenn  dem  Zuschauer  zwey  reale  Wesen  vorschwebten:  so  stünde 
es  ihm  frey,  an  jedes  von  beyden  ein  leeres  Bild,  einen  Punct  desjenigen 
Raums,  den  er  in  Gedanken  mitbringt,  anzuheften.  Das  leere  Bild  wäre 
nun  ein  erster,  vester  Punct;  die  übrigen  Puncte  desselben  Raums  könnten 
o-eeen  diesen  nicht  aus  ihrer  Lage  kommen;  und  rückwärts,  das  reale 
Wesen,  sofern  es  betrachtet  würde  als  befindlich  in  dem  vesten  Puncte, 
müfste  nun  ruhen  in  seinem  eignen  Räume. 

Was  aber  mit  jedem  einzelnen  realen  Wesen  gelingen  könnte,  das 
gelingt  höchst  unwahrscheinlich  für  beyde  zugleich;  weil  dadurch  zwischen 
beyden  eine  Gemeinschaft  entstünde,  an  welche  die  unter  sich  unabhängi- 
gen Elemente  nicht  gebunden  sind.  Demnach  soll  der  Zuschauer  darauf 
gefafst  seyn,  dafs  eben,  indem  er  in  den  Raum,  worein  er  schon  eins  der 
Elemente  gesetzt  hat,  auch  das  andre  setzt,  es  sich  ihm  entzieht.  Her- 
ausgehend nun  aus  seinem  Orte,  obgleich  nicht  aus  dem  Ratane  (der 
Möglichkeit  der  Zusammenfassung  überhaupt),  hat  es  schon  eine  Richtung 
und  eine  Geschwindigkeit;  diese  wird  jetzt  die  Regel  der  Zusammen- 
fassung, welche  das  zweyte  Object  in  Beziehung  auf  das  erste  gestattet; 
und  hiemit  ist  die  gleichförmige  Bewegung  im  Gange,  welche  bleibt,  bis 
ein   Grund  der  Abänderung  eintrit. 

Hat  der  Zuschauer  nicht  an  eins  von  beyden,  son-[325]dern  an 
einen  dritten  vesten  Punct  den  Raum  geheftet,  so  mufs  er  gewärtigen, 
bevde  Objecte  zugleich  in  Bewegung  zu  finden.  Alsdann  nämlich  ver- 
räth  sich  die  Unabhängigkeit  eines  jeden  der  beyden  von  dem  dritten. 
Und  dies  kann  auch  als  Hülfsmittel  gebraucht  werden,  um  zwischen 
zweyen  die  Bewegung  zu  theilen,  falls  aus  irgend  einem  Grunde  es  nicht 
bequem  seyn  möchte,  eins  jener  beyden  als  ruhend  anzusehen. 

§•   295. 

Man  setze  statt  Eines  Zuschauers  Viele,  und,  wenn  man  will,  zu- 
gleich statt  zweyer  Objecte  eine  beliebige  Menge.  Den  Zuschauern  allen 
wird  nun  widerfahren,  was  vorhin  dem  einzigen.  Sie  werden  das  Netz 
des  Raums  werfen  wollen  über  alle  Projecte  zugleich;  aber  diese  werden, 
unabhängig  von  der  Gemeinschaft,  die  ihnen  solchergestalt  würde  beyge- 
legt  seyn,  aus  derjenigen  Zusammenfassung,  welche  eben  jetzt  geschieht, 
entweichen;  so  jedoch,  dafs  jedes  im  Entweichen  sich  selbst  sein  Raum- 
verhältnifs  bestimmt,  weil  es  in  bestimmter  Richtung  und  Geschwindigkeit 
davon  geht.  Eigentlich  geschieht  hier  nicht  den  Dingen,  sondern  den 
Zuschauern  etwas ;  aber  diesen  allen  begegnet  die  gleiche  Abänderung 
der  Form,  in  welcher  sie  die  Objecte  zusammenzufassen  im  Begriff 
standen. 

Bewegung  ist  also  nichts  anderes ,  als  ein  natürliches  Mislingen  der 
versuchten  räumlichen  Zusammenfassung.  Geschwindigkeit  aber,  und  die 
ihr    inwohnende   Richtung,    sind    die    Bestimmungen,    wie,    und    inwiefern 


igo  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

die  Zusammenfassung  mislingt.  Den  Widerspruch  in  der  Geschwindigkeit 
darf  man  nicht  auflösen  wollen;  das  hiefse  eben  so  viel,  als  dem  natür- 
lichen Mislingen  eine  Künsteley  entgegensetzen.  Der  Grund  des  Wider- 
spruchs liegt  auch  in  keinerley  Beschränkung  oder  Schwäche  des  mensch- 
lichen Denkens,  sondern  in  der  Zufälligkeit  [326]  des  Zusammentreffens, 
womit  die  Bilder  solcher  Gegenstände,  die  unter  sich  in  gar  keiner  Ver- 
bindung stehn,  einander  in  dem  Spiegel  begegnen,  den  für  sie  der  Zu- 
schauer darstellt.  Dieser  hat  eine  Form  der  Zusammenfassung  bereit,  wo- 
hinein  für  jeden  Augenblick  die  Gegenstände  passen  würden,  wenn  sie 
in  der  Verknüpfung,  worin  die  Form  sie  zeigt,  sich  wirklich  befänden; 
allein  sie  sind  ohne  Verknüpfung;  dies  verräth  sich  in  der  umgewandelten 
Form,  oder  in  der  stets  abgeänderten  Bestimmung  des  Ortes.  Ist  aber 
die  Abänderung  einmal  gegeben,  so  bleibt  sie,  wenn  nichts  Neues  hinzu- 
kommt, sich  dergestalt  treu,  dafs  selbst  wenn  ein  subjectiver  Schein  die 
Auffassung  stört,  der  Zuschauer  sich  noch  späterhin  davon  befreyen,  und 
sich  wiederum  in  den  Zusammenhang  des  wahren,  objectiven  Scheins  ver- 
setzen kann ;  wie  es  durch  Berichtigung  fehlerhafter  Beobachtungen  so  oft 
geschieht.  Das  könnte  nicht  seyn,  wenn  dabey  die  Person  des  Zu- 
schauers in  Betracht  käme.  Sondern  darauf  kommt  es  an,  wie  die  Bilder 
der  Gegenstände  in  irgend  einem,  gleichviel  ob  idealen  oder  wirklichen 
Zuschauer,  zusammentreffen  können.  In  diesem  Sinne  geschieht  die  Be- 
wegung wirklich,  auch  wenn  sie  nicht  beobachtet  wird.  Die  Regel  des 
möglichen  Beobachtens  bleibt  stehen.  Sie  würde  aber  alle  Bedeutung 
verlieren,  wenn  gar  keine  Beobachtung  statt  fände.  Nur  für  Beobachtung 
gilt  sie;  jedoch  eben  deswegen  für  Jeden,  der,  frey  vom  subjectiven 
Scheine,    sich  zu  derselben  als  Zuschauer  darbietet. 


§•   296. 

Offenbar  kommt  in  dieser  Untersuchung  nichts  auf  die  Frage  an, 
woher,  bey  welchem  Anlafs ,  der  Zuschauer  die  Form  des  Raums  sich 
angeeignet  habe.  Daher  können  wir  ohne  Bedenken  ein  Beyspiel  im 
sinn- [3 2 7] liehen  Räume  suchen;  wiewohl  die  Bewegung,  deren  wir  zur 
Erklärung  der  Veränderung  bedurften,  ursprünglich  im  intelligibeln  Räume 
Statt  finden  sollte.  Da  nun  auf  der  Erde  eigentlich  nirgends  ein  Fall 
von  ungehinderter  gleichförmiger  Bewegung  vorkommt  (wenn  nicht  etwa 
bey  Umdrehungen,  die  nicht  hieher  gehören),  so  wenden  wir  lieber  unsre 
Blicke  zum   Himmel. 

Und  hier  finden  wir  die  sogenannten  Fixsterne,  von  denen  Jeder 
weifs,  dafs  ihre  langsamen  Bewegungen,  unmerklich  dem  gewöhnlichen 
Beobachter,  dennoch  den  neuern  Astronomen  nicht  entgangen  sind.  Wir 
könnten  auch  Sternschnuppen  und  Feuerkugeln  anführen,  unter  der  Vor- 
aussetzung, dals  sie  nicht  in  unsrer  Atmosphäre  entspringen,  und  mit 
Abrechnung  der  Krümmungen  ihrer  Bahn,  welche  ihnen  in  unserm  Sonnen- 
system durch  die  verschiedenen  Anziehungen  begegnen. 

Alle  diese  Körper  verändern  unaufhörlich  ihre  gegenseitige  Stellung, 
ohne  dafs  irgend  einem  ein  reales  Prädicat  deshalb  könnte  zugeschrieben 
werden.     Wer    da   glaubt,    sich    ihren   ursprünglichen    Zustand    als    gegen- 


3.  Abschn.  Synechologie.    i.Abth.  V.obj.-scheinb.  Geschehen  etc.  5-Cap.  V.Schein  etc.    inj 

seitige  Ruhe  denken  zu  müssen:  der  leiht  ihnen  eine  Art  von  Rücksicht, 
welche  Einer  auf  den  andern  nehmen  solle.  Diese  Gegenseitigkeit  und 
Rücksicht  pafst  aber  nicht  zu  der  absoluten  Position,  die  Jedem  unter 
Voraussetzung  seiner  Realität  zukommt. 

Der  Spinozist  wird  die  unabhängige  Realität  leugnen.  Dafür  wird 
er  gestraft  durch  die  gänzliche  Unmöglichkeit,  sich  den  Widersprüchen 
in  der  Bewegung  zu  entwinden.  Denn  um  nicht  hierin,  wie  in  einem 
Abgrunde,  unterzugehn,  mufs  man  die  gänzliche  Zufälligkeit  zweyer  Objecte 
nicht  blofs  für  einander,  sondern  auch  für  den  Zuschauer,  der  als  ein 
Dritter  beyden  zugleich  gegenüber  steht,  vollkommen  begriffen  haben. 
Sobald  die  gegenseitig  bewegten  Objecte  sammt  dem  Zuschauer  in  Einem 
Princip  verknüpft  sind,  ist  alle  Be-[32  8]wegung  absolut  ungereimt,  und 
kann  nicht  einmal  als  Erscheinung  gerechtfertigt  werden.  In  der  ursprüng- 
lichen  Einheit  müfste   Alles  zusammenpassen. 

Vielleicht  aber  wird  man  fragen,  wo  denn  das  Copernicanische  System 
bleibe,  wenn  Bewegung  blols  für  mögliche  Beobachtung  vorhanden,  und 
kein  Zustand  der  Dinge  selbst  sey?  —  Jeder  Mathematiker  hat  ein  Recht, 
seine  Gleichung  zu  ordnen,  um  sie  aufzulösen.  Die  Anordnung  ist  aber 
nicht  die  Wahrheit  der  Gleichung;  dieser  kann  sie  nichts  geben  noch 
nehmen.  Übrigens  gebührt  stets  der  bequemern  Anordnung  der  Vorzug 
vor  jeder  unbequemen;  und  so  auch  wollen  wir  dem  Copernicanischen 
System  nicht  im  mindesten  widerstreiten.  Wenn  gleich  dieses  Weltsvstem 
vielmehr  eine  Erfindung  als  eine  Entdeckung  zu  heifsen  verdient:  so  ist 
darum  sein  Werth  nicht  geringer.  Man  mufs  bedenken,  dafs  der  objective 
Schein  für  den  Zuschauer  zu  den  wichtigsten  Erkenntnissen  gehört.  Aller 
Schein  ist  in  ihm  eine  Art  des  wirklichen  Geschehens;  eben  darum  ist 
ihm  Alles  daran  gelegen,  den  subjectiven  Schein  zu  vermeiden,  und  den 
objectiven  sicher  und  leicht  zu  überschauen.  Jener  würde  ihn  isoliren; 
dieser  setzt  ihn  in  Verbindung  und  Übereinstimmung  mit  allen  andern 
Beobachtern.  Und  je  leichter  Jemand  die  gegenseitigen  Bewegungen  der 
Dinge  zusammenfafst,  desto  mehr  weifs  er  voraus  vom  künftigen  Geschehen, 
dem  wirklichen  sowohl  als  dem  scheinbaren;  weil  auf  dem  Unterschiede 
des  Zusammen  und  Nichtzusammen  der  Dinge  alles  Eintreten  oder  Aus- 
bleiben des  wirklichen  Geschehens  beruht. 


[329]  Fünftes  Capitel. 

Vom  Schein  im  Laufe  der  Begebenheiten. 

§•  297. 

Der  einfache  Grundgedanke  dieses  Capitels  ist  folgender:  Ver- 
möge der  Bewegungen  fällt  alles  wirkliche  Geschehen  in  bestimmte  Zeiten. 
Zur  Bestimmung  der  Zeiten  gelangt  der  Zuschauer  mehr  oder  minder 
genau    durch   die  Erfahrung;    indem    sie  Veränderungen    eines  Dinges    als 


jq2  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


gleichzeitig  darstellt  mit  Zuständen  anderer  Dinge,  die  sich  schon  verändert 
haben.  Der  Zuschauer  vereinigt  nun  alle  Zeitpuncte  in  Eine  Reihe,  und 
füllt  die  Lücken  zwischen  dem  wirklichen  Geschehen  aus  durch  ange- 
nommene oder  beobachtete  Bewegung.  Aber  der  ganze  zeitliche  Zu- 
sammenhang der  Reihe  ist  nur  objectiver  Schein. 

Die    Gründe    davon    sind   leicht   einzusehn.     Die  Zeit,    als  Analogon 
des  Raums  (§.   289),  stellt  sich   sogleich  als  doppelt  unendliche  Linie  dar, 
sobald   durch    die  Veränderung   auch    nur   ein    einziges  Nacheinander  ge- 
geben  ist.     Alle  Veränderungen  also,    deren  jede    ein    Nacheinander  mit 
sich  bringt,    ergeben  die   ganze  Zeit;    alle    unendlichen  Zeitlinien    nämlich 
fallen    zusammen   in  eine  einzige;  weil  von    dem  Geschehen,  was   in  den 
Zeitpuncten  sich  zuträgt,  abstrahirt  wird  (§.   290).     Beym  Zusammenfallen 
findet  jeder  Punct  einer  solchen  Linie  seinen  gleichzeitigen,    der  mit  ihm 
einerley  ist,    auf  allen  andern  Linien.      Es  entstehen   also  bestimmte  Di- 
stanzen selbst  des  verschiedenartigsten  Geschehens  in  der  Einen  Zeit,  die 
alle    jene   Linien    in    sich    fafst.     Der   Zuschauer    fragt    sich    nach    einem 
Grunde  dieser  Distanzen;  das  heifst,   er  will  wissen,  warum  gewisse  Ereig- 
nisse nicht  früher  oder  später  vor  oder  nach  den  andern  eintraten?  Nun 
hängt  das  Eintreten  ab  von  der  vorgängigen  Be-[33o]wegung  (§.  279,  280). 
Es  mufs  aber   jede  Bewegung,  von  der   nicht  ein   besonderer  Grund  vor- 
handen  ist,    rückwärts  ins  Unendliche    construirt  werden,    damit   das  Be- 
wegte sein  Raumverhältnifs  bey behalte;  oder,  damit  es  am  neuen  und  am 
vorhergehenden  Orte  sich  auf  gleiche  Weise  befinde  (§.   281 ),  nämlich  als 
im    Durchgehen    begriffen.      Folglich    läfst    sich,    unter  Voraussetzung   ge- 
gebener Geschwindigkeit,    für  jedes   frühere  Ereignifs  der   Ort,  wo  damals 
das  Bewegte,  dem  später  etwas  geschieht,  noch  müsse  gewesen  seyn,  — 
und  hiemit  auch  der   Grund  angeben,  warum  die  beyden  Begebenheiten 
nicht  zugleich,   sondern  nur  in  bestimmter  Zeit-Distanz  nach  einander  ein- 
traten.    Denn    die    Bewegung    mufste    erst    vollendet    seyn,    um    dasjenige 
Zusammen    herbeyzuführen,    worauf   das    spätere    Ereignifs    als    auf    einer 
notwendigen    Bedingung    beruht.      Und    sie    konnte    bey    gegebener    Ge- 
schwindigkeit nicht  früher  noch  später  vollendet  werden. 

Die  Beschaffenheit  eines  solchen  Grundes  aber  kennt  man  aus  dem 
Vorhergehenden.  Mufs  die  Bewegung  rückwärts  ins  Unendliche  construirt 
werden,  so  hängt  der  Grund  auf  keine  Weise  mit  dem  wirklichen  Ge- 
schehen [§.  231)  zusammen.  Gesetzt  aber  auch,  die  Bewegung  sey  aus 
scheinbaren  bewegenden  Kräften  entstanden,  dergleichen  oben  (§.  270) 
nachgewiesen  wurden:  so  liegen  diese  eingebildeten  Kräfte  doch  nur  in 
der  Notwendigkeit,  dafs  der  äufsere  Zustand  sich  richte  nach  dem  innern; 
und  wenn  etwan  unter  Umständen,  die  wir  noch  nicht  kennen,  irgend 
eine  Repulsion  in  verlängerte  Bewegung  ausschlägt  (welches  oft  genug 
vorkommt),  so  ist  doch  eine  jede  gleichförmige  Bewegung,  sie  mag  ent- 
standen seyn,  wie  sie  will,  völlig  gleichartig  bey  gleicher  Richtung  und 
Geschwindigkeit. 

Immer  bleibt  also  der  Grund,  warum  ein  Ereignifs  nicht  früher  oder 
später  eintrit,  fern  vom  wirklichen  [331]  Geschehen,  und  noch  entfernter 
vom  eigentlichen  Seyn.  Er  liegt  im  Gebiete  des  objectiven  Scheins.  Und 
wenn  nun  die  Zeitreihe,  worin  hier  und  dort  Begebenheiten,  als  angeheftet 


3-Abschn.  Synechologie.   2.  Abth.  V.  obj.-scheinb.  Geschehen  etc.  5.  Cap.  V.Schein  etc.    ig^ 

an  bestimmte  Zeitpuncte,  vorkommen,  —  wenn  selbst  die  unendliche  Zeit, 
als  erfüllt  von  allen  Begebenheiten,  zusammengefafst  wird  :  so  beruht,  so- 
viel wir  bis  jetzt  sehen,  die  Einheit  in  dieser  Zusammenfassung  auf  dem 
ordnenden  Geiste  des  Zuschauers. 

§.   298. 

An  diesem  Puncte  hat  unsere  Lehre  Ähnlichkeit  mit  der  alten 
Atomistik;  —  und  das  ist  kein  Übel,  denn  auch  mit  der  Erfahrung,  mit 
dem  gesunden  Verstände,  mit  der  Physik  und  Chemie  hängt  die  Atomistik 
sehr  nahe  zusammen,  welches  in  den  Naturwissenschaften  immer  von 
neuem  zum  Vorschein  kommt.  Allein  eben  deshalb  ist  hier  an  den 
grofsen  Unterschied  zu  erinnern,  der  aus  der  Ontologie  bekannt  seyn  soll. 

Die  Atomistik  sucht  Veränderungen  aus  Bewegungen  zu  erklären; 
aber  sie  kann  diesen  Gang  nicht  vollenden,  viel  weniger  ihn  umkehren. 
Sie  bringt  Atomen  nur  an  einander;  sie  kennt  kein  Zusammen,  kein  wirk- 
liches Geschehen,  folglich  auch  keine  Anordnung  der  Materie  gemäfs  den 
innem  Zuständen,  und  am  wenigsten  solche  Bewegungen,  die  aus  den 
letztern  entspringen  müssen. 

Um  sie  brauchbarer  zu  machen,  hat  man  versucht,  die  Atomen  mit 
innem  Kräften  zu  begaben.  Wenigstens  Kräfte  der  Anziehung  und  Ab- 
stofsung,  meinte  man,  könnten  diese  kleinen,  absolut  harten  Körperchen 
wohl  in  sich  aufnehmen;  an  höhere  Kräfte  hat  schwerlich  im  Ernste 
Jemand  gewagt  zu  denken.  Alles  Geistige,  oder  was  dem  ähnlich  ist, 
schien  den,  schon  ursprünglich  dem  Räume  dahin  gegebenen,  Atomen  zu 
fremdartig.  Hiemit  war  die  Atomistik  von  der  Psycho-[2  32]logie  so 
völlig  abgeschnitten,  dafs  man  erst  in  Materialismus  verfallen  mufste,  um 
eine  scheinbare  Verbindung  zu  erkünsteln. 

Die  vorstehende  Untersuchung  aber,  die  nicht  mehr  enthalten  kann 
und  soll,  als  was  ihre  Gründe  darbieten,  stellt  lediglich  anheim,  Bewegungen 
rückwärts  ins  Unendliche  zu  construiren,  wenn  andre  Anfangspuncte  der- 
selben fehlen.  Sie  schneidet  die  Möglichkeit  nicht  ab,  dafs  aus  dem  Innern 
das  Äufsere  folge;  im  Gegentheil,  die  Lehre  von  der  Materie  beruhet 
ganz  und  gar  auf  der  Nachweisung  einer  solchen  Möglichkeit. 

Zugleich  aber  erinnert  die  Untersuchung  daran,  dals,  welche  Gründe 
der  zeitlichen  Ereignisse  man  auch  annehme,  doch  niemals  die  Sphäre 
des  objectiven  Scheins  dadurch  könne  überschritten  werden ;  als  welche 
alles  Zeitliche  ohne  Ausnahme  in  sich  begreift,  während  das  Reale  und 
die  wahre  Causalität  weder  räumlich  noch  zeitlich  sind. 

Wollte  man  nun  diese  Behauptung  des  objectiven  Scheins  idealistisch 
nennen :  so  würde  man  sie  damit  der  Lehre  Kants  näher  stellen;  und 
gewifs  mit  Recht,  insofern  wir  zuerst  von  Kant  gelernt  haben,  Zeit  und 
Raum  als  Formen  der  Erscheinung  zu  betrachten.  Doch  auch  diese 
Ähnlichkeit  darf  nicht  für  gröfser  gelten  als  sie  ist. 

§.   299. 

Hume  und  Kant  gebrauchten  beyde  die  Causalität,  um  daraus  die 
Succession  der  Weltbegebenheiten  zu  erklären.  Dies  ists,  welches  wir 
verneinen  müssen. 

Herbart's  Werke.     VIII.  J3 


jQi  I.    Allgemeine  Metaphysik   nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

Keine  Ursach  ohne  Wirkung!  Also  auch  keine  vor  der  Wirkung. 
Beyde  sind  absolut  gleichzeitig.  Diese  Forderung  liegt  in  den  Begriffen; 
und  durch  die  ontologische  Untersuchung,  welche  alle  wahre  Causalität 
auf  Selbsterhaltung  zurückführt,   wird  sie  bestätigt. 

[333]  Kant  verlor  die  wahre  Causalität  aus  den  Augen;  seine  Causa- 
lität, als  Regel  der  Zeitfolge,  gehörte  ganz  der  Erscheinung.  So  mufste  es 
kommen,  wenn  unmittelbar  aus  dem  Causalverhältnifs  die  Succession  der 
Begebenheiten  hervorgehn  sollte.  Aber  so  durfte  es  nicht  kommen,  wenn 
irgend  ein  wirkliches  Geschehen,  z.  B.  das  Entstehen  sinnlicher  Empfin- 
dungen in  uns,  und  das  freye  Handeln,  aus  intelligibeln  Ursachen  sollte 
abgeleitet  werden.  Der  Causalbegriff  liefs  sich  einmal  nicht  auf  Erschei- 
nungen beschränken,  er  bleibt  unentbehrlich  für  das  wirkliche,  und  insbe- 
sondere für  das  geistige  Leiden  und  Thun. 

Man  lasse  es  sich  also  gefallen,  dafs  aus  eigentlichen  Ursachen  keine 
Succession  entsteht,  und  dafs  dieser  zeitliche  Schein  einen  Erklärungsgrund 
erfordert,  der  vom  Realen  eben  so  weit  entfernt  ist,  als  er  selbst.  Be- 
wegung braucht  nicht  nothwendig  einen  höhern  Grund;  sie  ist  von  selbst 
da,  wenn  ein  Vieles  in  gegenseitiger  Unabhängigkeit  vom  Zuschauer  im 
Räume  zusammengefafst  wird.  Mit  ihr  findet  sich  die  Reihe  der  Begeben- 
heiten ebenfalls  ganz  von  selbst;  und  die  Erklärung  ist  so  lange  zu- 
reichend ohne  höhere  Hülfe,  wie  lange  man  nicht  höhere  Merkmale 
dessen,  was  erscheint,  in  die  Betrachtung  aufnimmt.  Die  allgemeine 
Metaphysik  aber  mufs  auf  ihrem  Posten  bleiben ;  und  diejenigen  Fragen 
beantworten,   die  man  ihr  vorlegt. 

Dahin  gehören  nun  vorzugsweise  diejenigen,  welche  Kant  zu  den 
Antinomien  verwiesen  hat.  Jetzt,  nachdem  uns  die  Untersuchung  endlich 
auf  das  Feld  geführt  hat,  woran  die  Meisten  bey  dem  Worte  Metaphysik 
zuerst  denken,  —  was  anders  aber  verstehn  sie  darunter,  als  eine  Art 
von  Kosmologie  a  priori?  —  mag  man  jene  Antinomien  mit  dem  bis- 
herigen Vortrage  vergleichen.  Es  wird  sich  finden,  dafs  die  dritte  und 
vierte  Antinomie  schon  durch  die  Ontologie,  in  den  [334]  Capiteln  vom 
Seyn  und  vom  wirklichen  Geschehen,  beseitigt,  die  Frage  der  zweyten 
Antinomie  aber  durch  die  Construction  der  Materie  erledigt  ist.  In  der 
ersten  Antinomie  finden  sich  zwey  Betrachtungen  beysammen,  betreffend 
die  Gränzen  der  Welt  in  Raum  und  Zeit.  Kant  hätte  diese  beyden 
Arten  der  Begränzung  nicht  als  gleichartig  behandeln  sollen.  Raum  und 
Zeit  sind  beyde  Multiplicatoren,  jener  des  Wirklichen,  diese  des  Ge- 
schehens. Nun  ist  aber  der  Fall  nicht  gleich,  wenn  nach  der  Menge  des 
Wirklichen,  und  wenn  nach  der  Menge  des  Geschehens  gefragt  wird. 
Die  Menge  der  Veränderungen  fällt  viel  sichtbarer  und  vollständiger  ins 
Gebiet  des  Scheins,  als  die  Menge  dessen,  was  aufser  einander  im  Räume 
sich  darstellt.  Das  letztere  wird  allgemein  als  Substanz  betrachtet;  und 
wenn  ihm  die  Realität,  die  es  anscheinend  besitzt,  auch  nicht  in  der  Be- 
schaffenheit zukommt,  welche  man  sinnlich  wahrnimmt,  so  kann  ihm  doch 
ein  Reales  zum  Grunde  liegen,  wie  Kant  selbst  nicht  würde  geleugnet 
haben.  Denn  nach  seiner  Lehre  sollte  allerdings  ein  transscendentales 
Object  den  Erscheinungen  correspondiren ;  und  gevvifs  nicht  blofs  ein  ein- 
ziges, sondern  viele  dergleichen ;  sonst  wären  die  freyen  Willen,  um  welche 


ß.Abschn.Synechologie.   2.Abth.  V.obj.-scheinb.  Geschehen  etc.  5-Cap.  V.Scheinetc.    ige 

es  bey  Kant  hauptsächlich  zu  thun  war,  alle  unter  einander,  und  mit 
dem  Grunde  der  Sinnenwelt  zusammengewachsen,  mithin  keinesweges  frey 
gewesen.  Nun  hätte  die  Behutsamkeit  erfordert,  nicht  eben  so  leicht 
eine  unendliche  Menge  des  Realen  im  Raum  neben  einander,  als  der 
Zeitbestimmungen  nach  einander,  zuzulassen ;  und  es  mufs  demnach  die 
erste  Sorge  seyn,  die  beyden  Fragen,  welche  Kant  vermischte,  zu  trennen. 
Auch  wird   die  Antwort  sehr  verschieden  ausfallen. 

Zuvörderst  aber  ist  es  rathsam,  die  Scheidewand  zwischen  dem  intelli- 
gibelen  und  de?n  [335]  sinnlichen  Räume,  deren  wir  nicht  mehr  bedürfen, 
nunmehr  fallen   zu  lassen. 

Sie  verschwindet  fast  von  selbst,  sobald  man  sich  an  das  Eigene  des 
intelligibeln  Raums  erinnert.  Es  besteht  theils  in  seinem  Ursprünge,  theils 
in  seinen  starren  Linien ;  übrigens  geht  seine  Construction  vollkommen  in 
dasselbe  Continuum  über,  welches  auch  der  sinnliche  Raum  darstellt.  Daher 
kann  der  sinnliche  Raum  rückwärts  angesehen  werden,  als  läge  ihm  ur- 
sprünglich die  nämliche  Construction  zum  Grunde,  wie  dem  intelligibeln; 
denn  obgleich  dieses  nicht  psychologisch  wahr  ist,  so  kommt  doch  hierauf 
nichts  an,  wenn  man  von  den  Gegenständen  im  Räume  redet,  inwiefern 
sie  Materie  in  ihm  bilden.  Die  einzige  Frage,  auf  welche  man  achten 
mufs,  ist  die:  ob  das  Zusammen  in  beyden  Räumen  die  Bedingung  des 
Causal- Verhältnisses  ist?  Und  dieses  bezeugt  die  Erfahrung  für  den  sinn- 
lichen Raum  so  allgemein,  dafs  man  von  jeher  die  scheinbaren  Wirkungen 
in  die  Ferne  als  blofse  und  höchst  seltene  Ausnahmen  von  der  Regel 
betrachtet  hat.  Aber  selbst  hier  zeigt  sich  bey  genauerer  Überlegung 
eher  Bestätigung  als  Widerlegung.  Die  Wirkungen  in  die  Feme  richten 
sich  nach  der  Entfernung;  sie  sind  Functionen  derselben.  Der  leere  Raum 
aber,  —  ein  blofses  Nichts,  —  könnte  nicht  Träger  eines  Gesetzes  seyn; 
diejenige  Entfernung,  von  welcher  die  Gravitation,  die  elektrische  und  mag- 
netische Anziehung  oder  Zurückstofsung  Functionen  seyn  sollen,  mufs 
auf  irgend  eine  Weise  als  realisirt,  das  heifst  hier,  als  erfüllt  angesehen 
werden.  Alsdann  ist  es  allgemein  wahr,  dafs  Causalität  auch  im  sinn- 
lichen Räume,  so  wie  im  intelligibeln,  von  einem  Zusammen  abhängt; 
und  wir  dürfen  im  Verlauf  der  Untersuchung  um  so  weniger  einen  Unter- 
schied der  beyden  Räume  unerwartet  anzutreffen  fürchten,  da  wir  schon 
oben  in  der  Construction  der  Materie  bemerken  konn-[33Ö]ten,  dafs  die 
für  den  intelligibeln  Raum  gemachten  Voraussetzungen  auf  den  sinnlich 
bekannten  starren  Körper  vollkommen  wohl  pafsten. 

Kants  Idealismus  bevestigte  eine  Kluft  zwischen  der  Erscheinung  und 
dem  Realen,  worüber  man  eigentlich  niemals  durch  irgend  eine  consequente 
Naturlehre  hoffen  durfte  hinweg  zu  kommen.  Jetzt  ist  wenigstens  der 
Versuch  möglich,  Erfahrung  und  Theorie  zu  vergleichen;  und  hiemit  für 
die  Metaphysik  diejenigen  Bestätigungen  allmählig  vorzubereiten,  deren 
jede  abstracte  Theorie  sich  gern  bedient,  um  Schutz  gegen  den  Verdacht 
eines  verborgenen  Irrthums  zu  erlangen. 

§•   300. 
Unter  der  Voraussetzung,  dafs  alle  körperlichen  Massen  im  sinnlichen 
Räume,  sofern  sie  starr  sind,  auf  die  früher  beschriebene  Weise  aus  ein- 

13* 


iqß  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen   etc.     1829. 

fachen  Elementen  bestehn:  liegt  sogleich  die  Entscheidung  der  Frage  von 
der  Endlichkeit  oder  Unendlichkeit  der  Welt  im  Räume,  vermöge  der 
ontologischen  Grundsätze  vor  Augen.  Das  Quantum  des  Realen  kann 
nicht  unendlich  seyn.  Zwar  giebt  der  Begriff  des  Seyn  nicht  die  Menge 
desselben  an  (§.  208),  aber  keine  Vorstellung  kann  das  Unendliche  er- 
schöpfen; es  bleibt  immer  noch  etwas  nachzuholen  (§.  209);  und  diese 
Betrachtung,  welche  wir  oben  dem  realen  Continuum  entgegenstellten,  gilt 
vollkommen  auch  gegen  die  unendliche  Anzahl  der  realen  Wesen.  Sie 
würde  keine  absolute  Position  vertragen;  sondern  stets  mit  dem  Vorbe- 
halte behaftet  seyn,  noch  Etwas  beyzufügen,  welches  in  der  jetzt  voll- 
zogenen Setzung  nicht  enthalten  sey. 

Aus  einer  endlichen  Menge  des  Realen  wird  aber,  vermöge  der  Con- 
struction  der  Materie,  auch  von  dieser  letztern  nur  ein  bestimmtes  Quan- 
tum gebildet  werden. 

Soll  also  die  Welt  dennoch  unendlich  ausgedehnt  [337]  seyn  im  Räume: 
so  mufs  man,  beym  Mangel  einer  unendlichen  Masse,  zu  unendlichen 
leeren  Zwischenräumen  seine  Zuflucht  nehmen.  Solche  würden  eine  un- 
endliche Zeit  erfordern,  damit  das  Getrennte  zusammen  käme.  Und  hie- 
gegen  ist  insofern  nichts  einzuwenden,  als  man  die  Bewegungen  rückwärts 
und  vorwärts  ins  Unendliche  verlängert  denken  mufs.  Der  unendlichen 
Vergangenheit  oder  Zukunft  mag  unendliche  Entfernung  entsprechen.  Nur 
mufs  man  nicht  sagen,  dafs  Jetzt,  oder  in  irgend  einem  bestimmten  Zeit- 
puncte,  die  Welt  unendlich  grofs  sey  im  Räume.  Denn  das  hiefse  den 
Raum,  die  Form  der  Zusammenfassung,  dazu  misbrauchen,  um  statt  der 
Möglichkeit  des  Zusammen  eine  Unmöglichkeit  auszudrücken,  indem,  was 
erst  in  unendlicher  Zeit  geschehen  kann,  niemals  geschieht.  Möglich  ist 
das  Zusammen  des  Realen:  daher  ist  in  jedem  bestimmten  Zeitpuncte 
die  Weltgröfse  endlich.  Gleichwohl  ist  die  Welt  nicht  in  Grämen  ein- 
geschlossen ;  — -  denn  die  Bewegungen  nehmen  sich  so  viel  Raum  wie  sie 
brauchen. 

§•   301. 

Merklich  schwerer  ist  die  Entscheidung  der  andern  Frage:  ob  das 
Quantum  der  nacheinander  folgenden  Ereignisse  auch  endlich  seyn  müsse, 
und  ob  dem  gemäfs  die  Reihe  der  Begebenheiten  nothwendig  irgend  einen 
Anfang  gehabt  habe  ?  Die  Summe  des  zairklichen  Geschehens  kann  nicht 
unendlich  seyn,  aber  der  Eintrit  jedes  wirklichen  Geschehens  fällt  nicht 
anders  in  die  Zeit,  als  so,  wie  das  Reale  in  den  Raum  fällt;  das  heifst, 
diese  Vorstellungsarten  werden  nur  zufällig  darauf  übertragen. 

Die  absolute  Position  verträgt  keine  Halbheit.  Setzt  man  irgend 
einen  ersten  Zusammenstofs :  so  mufs  man  die  vorgängigen  Bewegungen 
rückwärts  ins  Unendliche  construiren;  man  kann  sie  nicht  irgendwo  ab- 
brechen. [338]  Dies  ergiebt  zwar  nur  einen  objeetiven  Schein;  aber  die 
Consequenz  mufs  doch  vestgehalten  werden;  und  man  findet  also  für  die 
Dauer  des  Realen  keinen  Anfang. 

Andererseits  könnte  man,  blofs  unter  Begriffen  verweilend,  den  ersten 
Zusammenstofs  sparen.  Alles  Reale  könnte  in  einem  Maximum  der  mög- 
lichen Durchdringung  sich  ursprünglich  befinden;  dann  bliebe  es  unbeweg- 


3.Abschn.Synechologie.   2.  Abth.  V.obj.-scheinb.  Geschehenetc.   5.  Cap.  V.Schein  etc.    197 

lieh)  und  es  flösse  gar  keine  Zeit.  Dennoch  ergäbe  diese  Voraussetzung 
die  gröfste  Summe  der  möglichen  Selbsterhaltungen,  oder  des  wirklichen 
Geschehens.  Eine  endliche  Summe,  für  das  endliche  Quantum  des  Realen. 
Und  nun  kann  davon  dasjenige  Geschehen,  das  wirklich  in  unserer  Welt 
vorgeht,  nur  ein  Theil  seyn. 

Jene  bevden  Voraussetzungen  sind  ein  paar  Extreme,  die  Niemand 
ernstlich  für  wahr  halten  wird.  Wir  wollen  aus  ihnen  eine  mittlere  An- 
nahme zusammensetzen.  Einiges  Reale  sey  ursprünglich  zusammen,  an- 
deres sey  getrennt.  Irgend  einmal  stofse  zuerst  ein  Getrenntes  auf  das- 
jenige, was  schon  zusammen  ist;  so  giebt  es  also  zwar  einen  ersten  Stofs, 
aber  kein  erstes  Zusammen.  Nun  mufs  man  die  Bewegung,  welche  dem 
Stofse  voranging,  rückwärts  ins  Unendliche  verfolgen.  Aber  für  jeden  Ort, 
den  das  Bewegte  vorher  einnahm,  und  für  alle  Zeitpuncte,  welche  den 
verschiedenen  Orten  entsprechen,  entsteht  die  Frage:  ob  denn  damals 
schon  jenes  verbundene  Reale  zusammen  gewesen  sey?  Die  Frage  kann 
nur  bejahend  beantwortet  werden:  dennoch  würde  ein  solches  Damals  gar 
keinen  Sinn  haben,  wenn  es  auf  das  verbundene  Reale,  in  welchem  zwar 
Selbsterhaltungen  Statt  fanden,  aber  ohne  Wechsel,  ernstlich  und  für  sich 
allein  sollte  bezogen  werden.  Wo  kein  Wechsel,  da  ist  keine  Zeit.  Hin- 
gegen während  Einiges  wechselt,  mufs  vergleichungsweise  Anderem  die 
Dauer  zugeschrieben  werden.  Bringt  man  einmal  die  Zeit  in  Frage,  so 
ist  kein  Theil  derselben  leer  vom  wirklichen  [339]  Geschehen;  zieht  man 
aber  die  Summe  dieses  Geschehens,  so  ist  sie  dennoch  endlich;  weil  sich 
das  wirkliche  Geschehen  nicht  nach   Zeittheilen  zusammensetzt. 

Man  kann  nun  die  Voraussetzung  noch  unendlich  mannigfaltig  ab- 
ändern, wenn  man  das  unvollkommene  Zusammen  zu  Hülfe  nimmt;  dessen 
Folgen  man  einigermafsen  aus  der  Lehre  von  der  Materie,  jedoch  bey 
weitem  nicht  vollständig  kennt,  und  niemals  vollständig  kennen  wird.  So 
viel  aber  sieht  man  leicht,  dals  immer  eine  endliche  Summe  des  wirklichen 
Geschehens  (dessen  Modifikation  durch  die  gegenseitigen  inneren  Hem- 
mungen hier  aus  der  Psychologie  herbeygerufen  werden  könnte)  sich  in 
eine  unendliche  Zeit  ausbreitet,  daher  zugleich  die  Endlichkeit  dem  Wirk- 
lichen, die  Unendlichkeit  dem  objeetiven  Schein  zu  Theil  wird;  und  durch 
Unterscheidung  zwischen  Wirklichkeit  und  Schein  die  Schwierigkeit  der 
abgelaufenen  unendlichen  erfüllten  Zeit  gehoben  wird. 


[34°]  Vierter  Abschnitt. 

Eidolologie. 


Erstes  Capitel. 
Idealistische  Metaphysik  im  Allgemeinen. 

§•  3°2- 

„Gesetzt,  ein  Beobachter  stehe  auf  einem  solchen  Standpuncte ,  dafs 
er  die  einfachen  Qualitäten  nicht  erkennt,  wohl  aber  in  die  verschiedenen 
Relationen  des  A,  B,  C,  D,  selbst  verwickelt  wird,  so  bleibt  ihm  nur  das 
Eigenthümliche  der  einzelnen  Selbsterhaltungen,  nicht  die  beständige  Gleich- 
heit ihres  Ursprungs  und  ihres  Resultats  bemerkbar.  Dies  ist  der  Stand- 
punct  des  Menschen,  dessen  verschiedene  Empfindungen  nichts  anderes 
sind,  als  die  verschiedenen  Selbsterhaltungen  der  Seele,  die  sich  selbst 
nicht  sieht,  und  nichts  davon  weifs,  dafs  sie  in  allen  ihren  Empfindungen 
sich  selbst  gleich  ist;  und  vollends  nichts  davon,  dafs  diese  ihre  Zustände 
abhängen  vom  Geschehen  in  zusammentreffenden  Wesen  aufser  ihr,  deren 
eigene  Selbsterhaltungen  ihr  auf  keine  Weise  bekannt   werden  können." 

[341]  In  diesen  Worten  ist  schon  gegen  das  Ende  der  Ontologie 
(§.  236)  der  wesentliche  Inhalt  der  Eidolologie  angedeutet. 

In  der  Eidolologie  nämlich  soll  Rechenschaft  gegeben  werden  von 
der  Möglichkeit  des  Wissens.  Wie  kommen  wir  zum  Gegebenen?  Mit 
welcher  Sicherheit  erkennen  wir  durch  dasselbe  die  realen  Wesen  und 
uns  selbst? 

Darauf  ist  die  kurze  Antwort:  die  gegebenen  Empfindungen  sind 
Selbsterhaltungen  der  Seele;  das  Empfundene  ist  nur  Ausdruck  der  innern 
Qualität  der  letztern;  aber  die  Ordnung  und  Folge  der  Empfindungen  ver- 
räth  das  Zusammen  und  Nicht-Zusammen  der  Dinge;  daraus  entsteht  eine 
geistige  Ausbildung,  worin  zum  Theil,  mit  grofsen  Irrthümern  vermischt, 
aber  auch  der  Berichtigung  zugänglich,  der  Lauf  der  Begebenheiten  sich 
abspiegelt. 

Aus  der  Psychologie  wird  man  diese  Sätze  verstehen,  und  sie  kaum 
noch  einer  Erläuterung  bedürftig  achten.  Dennoch  ist  der  Sicherheit 
wegen  nöthig,  die  Untersuchung  auszuführen.  Der  Idealismus  ist  ein  Geg- 
ner, den  wir  nicht  verachten  dürfen ;  er  stellt  sich  uns  in  den  Weg,  und 
wir  müssen  uns  waffnen. 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.      i.  Capitel.    Idealistische  Metaphysik  im  Allgemeinen,     199 


§•    3°3- 

Schon  das  erste  Gegebene  leidet  eine  gewisse  Auffassung,  die  dem 
gemeinen  Verstände  nicht  natürlich  ist,  und  deshalb  den  Philosophen  wie 
eine  Entdeckung  vorkommt,   worauf  sie  mehr  oder  weniger  Gewicht  legen. 

»Wenn  Einer  etwas  weifs,  so  weifs  er  auch,  dafs  er  es  weifs,  und  er 
weifs  wiederum  sein  Wissen  des  Wissens,  und  so  fort  ins  Unendliche.« 
So  meinte  Spinoza  (§.   54). 

»Das:  Ich  denke,  mufs  alle  meine  Vorstellungen  begleiten  können;« 
sprach  Kant.  Und  weit  umfassen- [3 4 2] der  Fichte:  ,,In  aller  Wahr- 
nehmung nimmst  du   lediglich   deinen   eignen   Zustand  wahr." 

So  wird  das  Selbstbewufstseyn  entweder  eine  allgemeine  Beleuchtung 
aller  andern  Vorstellungen,  oder  es  soll  gar  derjenige  Lichtstrahl  seyn, 
welcher  sich  durch  mancherley  Brechungen  selbst  in  die  scheinbaren  Gegen- 
stände  verwandelt. 

Kannst    du    sagen:    ich    bin    mir    äufserer    Gegenstände    bewufst? 


» 


Der  Strenge  nach  könnte  ich   nur  sagen:    ich    bin    mir    meines  Sehens    oder 
Fühlens  der  Dinge   beivufst.« 

Diese  Behauptung  Fichtes  ist  der  Ausdruck  des  gebildeten  Selbst- 
bewufstseyns,  wie  Derjenige  es  als  innerlich  gegeben  vorfindet,  welcher  an- 
fängt zu  philosophiren.  Dafs  es  nur  ein  Werk  der  Bildung  ist,  zeigt  die 
Psvchologie;  aber  ohne  sie  läfst  sich  die  obige,  für  jede  Stufe  des  geistigen 
Lebens  allgemein  ausgesprochene  Behauptung  nicht  zurückweisen.  Niemand 
kann  in  die  früheren  Perioden  seines  Lebens  zurücktreten;  und  wollte 
auch  Jemand  den  Zweifel  äufsern,  Kinder  hätten  doch  in  früheren  Jahren 
nicht  dies  ausgebildete  Bewufstsein,  so  würde  man  sogleich  die  Abferti- 
gung hören,  der  Keim  sey  nur  unentwickelt;  in  ihm  liege  aber  die  voll- 
ständige menschliche  Vernunft,  also  auch  die  Ichheit.  Und  wie  Viele  sind 
stark  genug,   einer  solchen  Ausrede  Widerstand   zu  leisten? 

Das  gebildete  Selbstbewufstseyn  mengt  sich  so  unaufhaltsam  in  Alles, 
dafs  es  sich  selbst  als  allgegenwärtig  und  ewig  erscheint,  wiewohl  es  nichts 
ist  als  ein   Kind   der  Zeit. 

Hiezu  kommt  die  Entdeckung  einer  offenbaren  Täuschung,  welcher 
man  hingegeben  war,  so  lange  die  sinnlichen  Eigenschaften  der  Aufsen- 
dinge,  wie  roth,  kalt,  süfs  u.  dergl.  für  inwohnende  Bestimmungen  der  Gegen- 
stände selbst  gehalten  wurden.  Wer  nun  gewahr  [543]  wird,  dafs  er  diese 
vermeinten  Eigenschaften  blofs  als  seine  eigenen  subjectiven  Zustände  be- 
trachten darf;  wer  noch  überdies  bemerkt,  dafs  Raum  und  Zeit  nicht  ein- 
mal unmittelbar  empfunden  werden  können  (§.  iöq);  und  wer  die  psycho- 
logische Untersuchung  vom  Entstehen  der  Reihenformen  aus  Reproductions- 
gesetzen  nicht  kennt :  wie  sollte  der  noch  zweifeln,  dafs  alle  Objecte,  welche 
aufser  uns  zu  seyn  scheinen,  eigentlich,  sowohl  nach  Materie  als  Form  der 
Erfahrung,   in  uns  selbst  liegen? 

Diese  Meinung  wird  verstärkt,  wenn  das  Innere  der  Körper,  unter 
der  Oberfläche,  in  der  Erfahrung  gesucht  und  vermißt  wird,  in  welcher 
es  niemals  vorkommen  kann;  ja  wenn  vollends  die  Substanzen  und  Ur- 
sachen sollen  nachgewiesen  werden,  und  es  sich  nun  verräth,  dafs  sie 
hinzugedacht  sind. 


2QO  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


Über  dies  Alles  verweisen  wir  den  Leser  auf  Fichtes  Bestimmung 
des  Menschen,  in  welchem  Werke  der  Idealismus  die  deutlichste,  kürzeste 
und  reifste  Darstellung  seiner  Grundzüge  erhalten  hat,  die  man  wünschen 
mag;  und  die  besonders  wegen  der  Sorgfalt  zu  empfehlen  ist,  womit  sie 
sich  anknüpft  an  das  unmittelbar  Gegebene.  Dagegen  sind  alle  anderen 
Formen  des  Idealismus,  die  mit  willkührlichen  Voraussetzungen  anheben, 
ohne  wissenschaftlichen  Werth.  Je  entschiedener  sich  die  idealistische  An- 
sicht der  Dinge  von  der  gewöhnlichen  entfernt,  desto  nothwendiger  und 
genauer  mufs  gezeigt  werden,  tueshalb  sie  einen  unabweislichen  Versuch 
des  menschlichen  Denkens  ausmacht. 

In  der  Voraussetzung  nun,  die  genannte  Schrift  sey  in  der  Hand 
des  Lesers,  machen  wir  auf  einige  Puncte  besonders  aufmerksam. 


§•  304. 

Erstlich;  obgleich  Wissen,  Bewufstseyn,  ja  Selbst-[344]bewufstseyn, 
das  Element  ist,  in  welches  der  Idealismus  alle  Gegenstände  einzutauchen 
strebt:  so  entgeht  ihm  doch  nicht,  dafs  er  eben  hiedurch  im  eignen 
Selbst  eine  unbewufste,  unergründliche  Tiefe  eröffnet,  aus  welcher  durch 
unzählige,  höchst  mannigfaltige  Verbindungen  zwischen  Fühlen,  Anschauen 
und  Denken,  alle  scheinbar  vorhandenen  Gegenstände  dergestalt  hervor- 
gehen müssen,  dafs  wir  nur  die  Producte,  nicht  aber  unser  eigenes  Pro- 
duciren,  gewahr  werden.  Ursprünglich  und  von  selbst  wissen  wir  nach 
dieser  Lehre  keinesweges,  was  wir  sind,  und  was  wir  thun,  es  gehört  viel- 
mehr ein  ganz  besonderer  Aufschwung  dazu,  um  in  sich  einzukehren,  und 
von  der  innern  Productionskraft,  wodurch  die  Scheinwelt  entsteht,  irgend 
Etwas  gewahr   zu  werden. 

Auch  behauptet  der  Idealist  keinesweges,  das  eigne  Selbst  begreifen 
zu  können.  Er  bedarf  in  dem  Ich  einer  entgegengesetzten  Kraft,  die 
blofs  gefühlt,  aber  nicht  erkannt  wird.*  Er  bekennt  überdies,  die  Ein- 
heit des  Ich,  welches  Wissendes  und  Gewußtes  zugleich  ist,  sey  unbegieif- 
lich;  und  des  Moments,  worin  beydes  sich  trennt,  könne  man  sich  nicht 
bewufst  werden,  da  erst  mit  dieser  Sonderung,  und  durch  sie,  das  Be- 
wufstsevn  möglich  werde.**  Eine  solche  Dunkelheit  im  Centrum  des 
Lichts   ist  auffallend;   und  sie  nimmt  zu,  je  weiter  man   fortschreitet. 

Anfangs,  so  lange  es  nur  darauf  ankommt,  die  Vorstellung  äufserer 
Gegenstände  zu  erklären,  geht  Alles,  dem  Anschein  nach,  leicht  von  Statten. 
Denn  alles  Vorstellen,  also  auch  jede  Art  des  Vorstellens,  ist  ja  in  uns 
selbst  bevsammen;  Gefühl,  Anschauung  und  Gedanke.  Die  innere  Agilität 
des  Geistes  erscheint  als  [345]  ein  L?nieuziehe?i,***  und  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Unbestimmtheit  als  Raum  ;  das  Denken  aber  begränzt  gewisse  Räume 
nach  dem  Maafse  der  Empfindung;  zu  diesem  messenden  und  ordnenden 
Denken,  wodurch  körperliche  Massen  gesetzt  werden,  kommt  nun,  um  nach 
dem  Satze  des  Grundes  die  Affection  in  der  Empfindung  zu  erklären,  der 


*  Fichtes  Wissenschaftslehre,  S.  272. 
**  Fichtes  Bestimmung  des  Menschen,  S.    130. 
***  A.  a.  O.    S.   135. 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.      i.   Capitel.    Idealistische  Metaphysik  im  Allgemeinen.    201 

Begriff  der  Kraft:  „ich  setze  diese  Kraft  in  den  Raum,  und  übertrage  sie 
auf  die  raumerfüllende,  angeschaute  Masse.**" 

Gegen  das  Ende  aber  kehrt  sich  die  Geläufigkeit,  alle  Gegenstände 
als  blofse  Producte  des  Vorstellens  zu  betrachten,  gegen  das  eigne  Ich. 
„Bin  ich  mir  denn  Meiner,  als  eines  intelligenten  Wesens,  unmittelbar  be- 
wulst?  Wie  könnte  ich?  Nur  bestimmter  Vorstellungen  bin  ich  mir  be- 
wufst;  keineswegs  aber  des  Vermögens  dazu,  und  noch  weniger  eines 
Wesens,  worin  dies  Vermögen  ruhen  soll.  Ich  denke  es  unbemerkt  hinzu. 
Der  Gedanke  von  Identität  und  Persönlichkeit  meines  Ich  ist  eine  noth- 
wendige  Erdichtung.***" 

Hier  verschwindet  der  Boden,  auf  welchem  zuletzt  Alles  ruhen  sollte. 
„Alles  Wissen  ist  nur  Abbildung,  und  es  wird  in  ihm  immer  etwas  ge- 
fordert, das  dem  Bilde  entspreche.  Diese  Forderung  kann  durch  kein 
Wissen  befriedigt  werden;  und  ein  System  des  Wissens  ist  nothwendig 
ein  System  blofser  Bilder,   ohne  alle   Realität,   Bedeutung  und  Zweck." 

Ma^  nun  immerhin  der  an  sich  selbst  irre  gewordene  Idealismus 
Trost  beym  Glauben  suchen;  wir  schöpfen  Verdacht,  dafs  sein  Mifsgeschick 
Gründe  habe  in  sei-[346]nem  falsch  eingeleiteten  Wissen.  Aller  Idealis- 
mus betrachtet  sich  selbst  als  eine  Umkehrung  der  gemeinen  Ansichten; 
er  glaubt  eine  frühere  realistische  Philosophie  verbessern  zu  müssen.  Dem- 
nach werden  wir  erst  nachsehen,  wie  denn  wohl  derjenige  Realismus  be- 
schaffen sevn  mochte,  den  er  umzukehren  sich  berufen  hielt.  Liefs  dieser 
Realismus  sich  umkehren:  so  war  er  unstreitig  fehlerhaft;  die  Wahrheit 
würde  einer  solchen  Behandlung  widerstanden  haben.  Zur  idealistischen 
Metaphysik  gehört  aber  wesentlich  ein  Realismus,  der  beym  Umkehren 
keinen  Widerstand  leiset;  und  Fichte  verschafft  uns  in  dem  angeführten 
Werke  gleich  Anfangs  den  Vortheil,  diesen  Realismus  in  sorgfältiger  Dar- 
stellung vor  Augen  zu  sehn. 

§•   305- 

Was  sich  vermuthen  liefs  (§.  98),  nämlich  dafs  dieser  Realismus  im 
Wesentlichen  nichts  anderes  seyn  würde,  als  Spinozismus,  das  findet  sich 
bestätigt. 

Fichte  beginnt;  »ich  ergreife  die  forteilende  Natur  in  ihrem  Fluge;« 
—  das  heifst,  er  versetzt  sich  mitten  ins  Werden,  ohne  Unterscheidung 
des  wirklichen  und  scheinbaren  Geschehens;  wobey  wir  bemerken,  dafs 
jenes  viel  zu  tief  verborgen  liegt,  um  im  Fluge  ergriffen  zu  werden;  und 
dafs  also  nur  vom   scheinbaren  Geschehen  die  Rede  seyn  kann. 

Nun  eignet  er  zwar  jedem  Gegenstande  eine  völlige  Bestimmtheit  zu, 
um  der  Verwechselung  mit  blofsen  Allgemeinbegriffen  vorzubeugen.  „Aber 
die  Natur  eilt  fort  in  ihrer  steten  Verwandlung;  indefs  ich  noch  rede,  hat 
Alles  sich  verändert.1,1.  Und  warum?  Wegen  des  allgemeinen  und  noth- 
wendigen   Mechanismus;  den   er  folgendermaafsen  beschreibt: 

»Es  ist,  wenn  ich  die  sämmtlichen  Dinge  als  Eins,  [347]  „als  Eine 
Katar  ansehe,  Eine  Kraft.     Es  sind,  wenn  ich  sie  als  Einzelne  betrachte, 


*  A.  a.  O.    S.    155. 
**  A.  a.  O.    S.    172. 


202  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     182g. 

mehrere  Kräfte.  Alle  Gegenstände  sind  nichts  anderes  als  jene  Kräfte 
selbst  in  einer  gewissen  Bestimmung.  Und  die  Bestimmung  liegt  theils  in 
dem  Wesen  jeder  Kraft,  theils  in  ihren  bisherigen  Äufserungen,  theils  in 
den  Äufserungen  aller  übrigen  Naturkräfte,  mit  denen  sie  in  Verbindung 
steht,  aber  sie  steht,  da  die  Natur  ein  zusammenhängendes  Ganzes  ist, 
mit  allen  in  Verbindung.  Sie  wird  durch  dies  alles  unwiderstehlich  be- 
stimmt. —  Es  giebt  eine  ursprüngliche  Denkkraft  in  der  Natur,  wie  es 
eine  ursprüngliche  Bildungskraft  giebt.  Diese  ursprüngliche  Denkkraft  des 
Universums  schreitet  fort,  und  entwickelt  sich  in  allen  Bestimmungen,  deren 
sie  fähig  ist,  so  wie  die  übrigen  ursprünglichen  Naturkräfte  fortschreiten, 
und  alle  möglichen  Gestalten  annehmen.  Ich  bin  eine  besondere  Bestim- 
mung der  bildenden  Kraft,  ivie  die  Pflanze;  eine  besondere  Bestimmung  der 
eigen  thü  milchen  Bewegungskraft,  'wie  das  Thier ;  und  überdies  noch  eine  Be- 
stimmung der  Denkkraft:  und  die  Vereinigung  dieser  drey  Grundkräfte  zu 
Einer  Kraft,  zu  Einer  harmonischen  Entwicklung  macht  das  unterscheidende 
Kennzeichen  meiner  Gattung  aus;  so  wie  es  die  Unterscheidung  der  Pflan- 
zengattung ausmacht,    lediglich  Bestimmung  der  bildenden   Kraft  zu    seyn. 

—  Gestalt,  eigenthümlichc  Bezvegung,  Gedanke,  hängen  nicht  etwa  von  ein- 
ander ab;  so  dafs  ich  Gestalten  und  Bewegungen  so  dächte,  weil  sie  so 
sind,  oder  umgekehrt  sie  so  -würden,  zueil  ich  sie  so  dächte:  sondern  sie 
sind  allzumal  die  harmonirenden  Kniwickelungen  einer  und  derselben  Kraft. 
Ich  bin  nicht,  was  ich  bin,  weil  ich  es  denke  oder  will;  noch  denke  oder 
will  ich  es,  weil  ich  es  bin;  sondern  ich  bin  und  denke,  bey-[348]des 
schlechthin;  beydes  aber  stimmt  aus  einem  höhern  Grunde  zusammen.  — 
Mein  Zusammenhang  mit  dem  Natur-Ganzen  bestimmt  Alles,  was  ich  war, 
was  ich  bin,  was  ich  seyn  werde." 

„Weg  mit  den  vorgegebenen  Einflüssen  und  Einwirkungen  der  äufsern 
Dinge  auf  mich,  durch  die  sie  mir  eine  Krkenntnifs  von  sich  einströmen 
sollen,  die  in  ihnen  selbst  nicht  ist,  und  von  ihnen  nicht  ausströmen  kann. 
Der  Grund,  warum  ich  etwas  aufser  mir  annehme,  liegt  in  mir  selbst,  in 
der  Beschränktheit  meiner  eigenen  Person.  Weil  ich  dies  oder  jenes,  das 
doch  in  den  Zusammenhang  des  gesammten  Seyns  gehört,  nicht  bin,  darum 
mufs  dasselbe  aufser  mir  seyn;  —  so  folgert  und  berechnet  die  denkende 
Natur  in  mir.  Meiner  Beschränkung  bin  ich  mir  unmittelbar  bewufst, 
weil   sie  ja   zu   mir   selbst   gehört.     Das  Bewufstseyn  des  Beschränkenden, 

—  dessen,  was  nicht  ich  selbst  bin,  —  ist  durch  das  erstere  vermittelt, 
und  fliefst  aus  ihm." 

„In  jedem  Individuum  erblickt  die  Natur  sich  selbst  aus  einem  be- 
sondern Gesichtspuncte.  Es  werden  alle  möglichen  Individuen,  sonach 
auch  alle  möglichen  Gesichtspuncte  des  Bewufstseyns  wirklich.  Dieses  Be- 
wufstseyn aller  Individuen  zusammengenommen  macht  das  vollendete  Be- 
wufstseyn des   Universum  von  sich  selbst  aus." 

§•   306. 
Das  spinozistische   Qualenus  (§.  49)  ist  in  der  Aussage,  die  Natur  sey 
Eine    Kraft,    oder    mehrere    Kräfte,    je    nachdem    man    sie    ansehe,    unver- 
kennbar.     Eben  so  die  harmonische,   aber  durch  keinen  gegenseitigen  Ein- 
liufs  bedingte,  Entwickelung  der  Attribute,  welche  das  Wesen  der  Substanz 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.     i.  Capitel.     Idealistische  Metaphysik  im  Allgemeinen.    203 

ausmachen.  Desgleichen  die  Sorglosigkeit  wegen  der  Frage:  wie  denn  die 
mehrern  Attri-[34Q]bute,  oder  wie  die  reproductive,  irritable,  sensible  Kraft 
(um  bekannte  Ausdrücke  zu  wählen)  Eins  seyn  können?  Nicht  minder 
die  Vermeidung  der  causa  transiens,  die  bey  FiCHTEn  schon  in  dieser 
realistischen  Ansicht  zur  idealistischen  Vorübung  wird,  indem  die  Möglich- 
keit der  Erkenntnifs  nicht  auf  dem  Einflüsse  äufserer  Dinge  beruhen  soll. 
Denken  begränzt  hier  das  Denken,  wie  Körper  den  Körper;  eine  geringe 
Verfeinerung  des  Spinozismus  reicht  hin,  um  die  Entstehung  des  Wissens 
aus  Deutungen  der  eignen   Beschränktheit  zu  erklären. 

Kein  gemeiner  Realismus  in  der  That ;  aber  dennoch  ein  nachlässiger ! 
Das  Wort  Kraft  ist  gemisbraucht  worden,  da  es  blofs  den  Repräsentanten 
eines  vielgespaltenen  absoluten  Werden  ausmacht.  Der  Leser  wird  keine 
Widerlegung  verlangen;  sonst  müfste  zur  Einleitung  in  die  Philosophie 
zurückgewiesen  werden. 

Und  wo  liegt  denn  der  Stein  des  Anstofses,  um  dessentwillen  dieser 
spinozistische  Realismus  verlassen  wird?  In  der  falschen  und  dennoch 
dreisten  Ontologie?  In  dem  völligen  Mangel  der  Methodologie  und 
Synechologie?  Nichts  weniger;  dies  alles  erregt  kein  Bedenken;  das  Lehr- 
gebäude wird  ohne  Fundament  hingestellt,  in  Form  von  nackten  Behaup- 
tungen vorgetragen,  und  am  Ende  gepriesen,  dafs  es  dem  Verstände  hohe 
Befriedigung  gewähre.  Erst  da  entsteht  in  diesem  Schlafe  ein  ängstlicher 
Traum,  wo  von  Tugend  und  Freyheit  eine  Erinnerung  eintrit.  „Tugend 
und  Laster  sind  unwiderruflich  bestimmt;  die  Begriffe  Verschuldung  und 
Zurechnung  haben  keinen  Sinn.  —  Aber  ich  will  selbstständig  seyn;  ich 
will  nach   einem   frey  entworfenen   Zweckbegriffe   mit   Freyheit  wollen." 

Dieses:  ich  will  wollen,  dient  zum  Motive,  der  Stimme  des  Idealis- 
mus zu  horchen;  bis  auch  sie  zu  unwillkommnen  Resultaten  führt.  „Alle 
Realität  ver\van-[35o]delt  sich  in  einen  wunderbaren  Traum,  ohne  ein 
Leben,  wovon  geträumt  wird,  und  ohne  einen  Geist,  dem  da  träumt. 
Das  Anschauen  ist  der  Traum;  das  Denken  ist  der  Traum  vom  Traume  *.« 

Und  nun  hilft  der  Glaube.  Er  hilft;  denn  er  glaubt,  was  er  will. 
Dafs  sein  inneres  Licht  eine  schimärische  Welt  beleuchtet,  dafs  er  sich 
mit  blindem  Eifer,  ohne  Kenntnifs  der  Bedingungen  des  Handelns,  mit 
falschen  Begriffen  von  Natur  und  Geist,  mitten  ins  Meer  des  Handelns 
stürzt;  —  und  ob  er  darin  untergehen  werde:  - -■  das  kümmert  diesen 
Glauben  wenig.  Dafs  die  Spaltungen  des  Glaubens  noch  weit  häufiger 
und  unheilbarer  sind,  als  die  Spaltungen  des  Wissens:  davon  wollen  wir 
nicht  weiter  reden,  sondern  lieber  hier  abbrechen;  und  uns  erinnern,  dafs 
die  Bestimmung  des  Menschen  ein  populäres  Werk  seyn,  und  ein  natür- 
liches Schwanken  des  menschlichen  Geistes  im  Bilde  zeigen  sollte. 


§•   307- 
Ernstlicher  ist  die   Ähnlichkeit,  welche  der  Idealismus  selbst   mit  dem 
Spinozismus  annimmt,   in  der  spätem  Aniveisung    zum    seligen   Leben.      Be- 


1  Das  Anschauen  ist  der  Traum  vom  Traume.  SW.     (Die  Worte:  „Das  Denken 
ist  der  Traum"  fehlen.) 


204  *"    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

kanntlich  gilt  sie  Manchem  für  einen  historischen  Beweis  von  der  Unhalt- 
barkeit  des  Idealismus;  und  insofern  dient  eine  kurze  Erwähnung  der- 
selben unserm  jetzigen  Zwecke,  obgleich  wir  weit  entfernt  sind,  den 
Spinozismus  darum  höher  zu  schätzen,  weil  der  Idealismus  bey  ihm 
aus  und  eingeht,  und  doch  nicht  Ruhe  findet.  Denn  es  fehlt  viel  daran, 
dafs  sich  hier  der  Idealismus  wirklich  in  Spinozismus  versenkt,  und  auf- 
gelöset  hätte;  vielmehr  hat  er  ihn  auf  seine  Weise  neu  erzeugt  und  ver- 
ändert. 

Gewitzigt  und  gewarnt  durch  sein  früheres  Misgeschick,  da  ihm  selbst 
die  Realität  des  Ich  verschwand,  [351]  die  Möglichkeit  des  Handelns  in 
Gefahr  gerieth,*  die  vermeinten  Vernunftwesen  aufser  uns  zu  Producten 
des  eignen  Vorstellens  wurden,  **  und  nur  vermöge  einer  Stimme  des 
Gewissens,  die  sich  doch  blofs  auf  ein  zeitliches  Handeln  zu  beziehen 
schien,  dem  Glauben  konnten  empfohlen  werden:  beginnt  der  Idealismus 
in  der  spätem  Darstellung  damit,  den  oben  bemerkten  Grundfehler  des 
Kantianismus  (§.  32),  dafs  er  den  Begriff  des  Seyn  zwar  richtig  bestimmt, 
aber  nirgends  gebraucht,  —  zu  verbessern.  Wenn  nämlich  das  Ver- 
besserung heifsen  kann,  mit  Parmexides  schlechthin  zu  sagen:  das  Seyn 
Ist,  und  es  giebt  nur  Ein  Seyn.*** 

Offenbar  ist  diese  Verbesserung  mit  einem  Fehler  erkauft.  Trotz 
aller  Betheuerungen  verwandelt  sich  hier  die  anscheinend  absolute  Position 
in  eine  Hypothese;  die  sich  metaphysisch  nicht  vertheidigen  läfst.  Ein 
Machtspruch  ist  keine  absolute  Position.  Soll  darin  irgend  ein  Gehalt 
liegen:  so  mufs  das  Gegebene  aufgezeigt  werden,  in  welchem  unrcillkühr- 
lich,  für  Alle,  zu  aller  Zeit  (und  nicht  erst  im  Geiste  des  Philosophen, 
dem  eben  jetzt  daran  liegt,  ein  System  zu  machen),  eine  Position  sich 
vorfindet,  die  man  umsonst  versuchen  würde,  umzustofsen.  Dahin  führt 
unser  obiger  Satz:  zvenn  Nichts  Ist,  so  mufs  auch  nichts  Scheinen;  in  Ver- 
bindung mit  dem  andern:  Wieviel  Schein,  soviel  Hindeutung  aufs  Sern 
(§.  198,  199).  Abspringen  vom  Gegebenen  heifst  sogleich  Hineinspringen 
ins  willkührliche  Denken,  dessen  zahllose  Kunststücke  zu  vermehren  nicht 
nöthig  ist. 

An  die  Einheit  des  Seyenden  war  übrigens  der  Ide-[352]alist  ge- 
wöhnt durch  das  Ich,  aber  diese  Gewöhnung  treibt  ihn  zu  Mishandlungen 
des   Begriffs  vom   Seyn. 

Obgleich  er  behauptet:  das  Sern  ist  einfach  und  sich  selbst  gleich,  so 
ist  doch  seine  ganze  nachfolgende  Arbeit  nichts  als  ein  beständiges  Ver- 
stofsen  wider  diesen  Satz. 

„Durch  ein  Denken  der  völligen  Einerleyheit  des  Seyn  kommt  man 
blofs  zu  einem  in  sich  verschlossenen  und  verborgenen  Seyn."  f  Aber 
man  soll  auch  zum  Daseyn,  das  heifst,  zur  Äufserung  und  Offenbarung 
des  Sevn,  gelangen.  Warum?  —  Das  mufs  man  errathen  aus  der  Be- 
hauptung:   Daseyn    sey    Bewufstseyn ;    welches    ausdrücklich    als    ein    Seyn 


*  FlCHTEs  Bestimmung  des  Menschen,  S.    192. 
**  A.  a.  Orte,  S.  306. 

***  Fichtes  Anweisung  zum  seligen  Leben,  S.   ~,  8. 
y  Anweis.  z.  sei.  Leben,  S.   79. 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.     i.  Capitel.    Idealistische  Metaphysik  im  Allgemeinen.    205 

außerhalb  des  nämlichen  Seyns  bezeichnet  wird.  „Das  Seyn  soll  daseyn, 
ohne  mit  dem  Daseyn  sich  zu  vermengen ;  es  mufs  also  von  ihm  unter- 
schieden werden,  und  diese  Entgegensetzung  mufs  in  dem  Daseyn  selber 
vorkommen;  oder  deutlicher:  das  Daseyn  mufs  sich  selbst  als  blofses  Da- 
seyn fassen,  erkennen,  und  bilden.  Es  mufs,  sich  selbst  gegenüber,  ein 
absolutes  Seyn  setzen,  dessen  blofses  Daseyn  es  eben  selbst  sey.  Da/s 
dem  also  sey,  läfst  sich  einsehn;  keineswegs  aber  kann  das  Wissen  sein 
eignes  Entstehen  begreifen,  und  wie  aus  dem  innern,  und  in  sich  selbst 
verborgenen  Seyn  eine  Aufserung  desselben  folgen  möge,*  Vermöchte 
der  Begriff'  sich  selbst  zu  begreifen:  so  vermöchte  er  auch  das  Absolute 
zu  begreifen."**  Der  Zusammenhang  dieser  unzusammenhängenden  Ge- 
danken ist  nun  zwar  nicht  in  ihnen  selbst,  wohl  aber  außser  ihnen  sehr 
leicht  zu  finden.  Das  Seyn  ist  dem  Bewulstseyn  vorgeschoben  worden. 
Eigentlich  wollte  nur  der  [353]  Idealismus,  welcher  gewohnt  ist,  vom  Be- 
wufstseyn,  als  dem  Gegebenen,  auszugehn,  das  Versinken  ins  Nichtige  und 
Leere,  was  ihm  seiner  Natur  nach  begegnet,  vermeiden;  darum  setzt  er 
zuerst  das  absolute  Seyn;  alsdann  knüpft  er  an  dieses  das  Bewufstseyn; 
aber  er  kann  sich  nicht  verhehlen,  dafs  er  hier  nur  einen  Zusammenhang 
gefordert  hat,  den  er  nicht  einsieht,  und  dessen  Unmöglichkeit  vielmehr 
aus  dem  wahren  Begriffe  des  Seyn  hervorleuchtet. 

Nachdem  aber  einmal  das  Seyn,  mit  einem  Daseyn  behaftet,  wie  mit 
einer  Krankheit,  —  sich  hütet  vor  der  Vermischung  mit  ihm,  als  ob  es 
die  Ansteckung  blofs  fürchtete,  und  noch  nicht  erlitten  hätte:  ist  jedes  von 
beyden  nur  zu  charakterisiren  durch  das  andere;  „da/s  es  nicht  sey,  was 
das  andere  ist,  und  umgekehrt,  dafs  das  audeie  nicht  sey,  was  dieses  ist.***" 
Und  weiter:  ,,das  Beivußstseyn,  als  ein  Unterscheiden,  ist  es,  in  welchem 
das  ursprüngliche  Wesen  des  göttlichen  Seyns,  und  Daseyns,  eine  Verwand- 
lung erfährt.  Das  lebendige  Leben  ist  es,  was  da  verwandelt  wird;  und 
ein  stehendes  und  ruhendes  Sevn  ist  die  Gestalt,  welche  es  in  dieser 
Verwandlung  annimmt.  Der  Begriff  ist  der  eigentliche  Weltschöpfer." 
Diese  Worte  verkünden  deutlich  genug  den,  in  seinem  Innern  völlig  gleich 
gebliebenen,  Idealismus.  Damit  aber  Niemand  den  Spinozismus,  mit  wel- 
chem er  verkehrt,  ganz  vermisse:  setzen  wir  noch  eine  spätere  Stelle  her: 
„Was  ist,  in  dem  unendlichen  Gestalten,  das  realiter  und  thätig  Gestal- 
tende? Das  absolut-Reale  ist  es,  welches  Sich  gestaltet;  sich  selbst,  wie 
es  innerlich  ist;  nach  dem  Gesetze  einer  Unendlichkeit.  Es  gestaltet  sich 
[354]  nicht  Nichts,  sondern  es  gestaltet  sich  das  innere  göttliche  Wesen."  f 

§•   308. 

Die  Gewalt  fühlbar  zu  machen,  womit  der  Idealismus,  um  sich  halten 
zu  können,  einen  erkünstelten  Realismus  in  sich  selbst  hineinzwängt:  dies 
war  der  Zweck  der  vorstehenden  Auszüge.  Wer  dürfte  es  wagen,  irgend 
einer  Lehre  solche  innere  Mishelligkeit  zur  Last  zu  legen,  wenn  nicht  die 


*  A.  a.  O.   S.  85. 
**  A.  a.  O.    S.    109. 
***  A.  a.  O.    S.   107. 
7  A.  a.  O.    S.  225. 


2o6  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Thatsache  vor  Augen  läge,  dafs  eben  Derjenige,  der  mit  Recht  als  das 
Haupt  der  Idealisten  angesehen  wird,  sich  dahin  gedrängt  fand,  indem  er 
das  Unhaltbare  haltbar  machen  wollte? 

Mit  solcher  Gewalt  den  zvahren  Realismus  umzukehren,  ist  nicht  mög- 
lich. Vielmehr  blickt  hier  allenthalben  derjenige  Rest  des  gerneinen  Realis- 
mus durch,  welcher  auch  im  Spinozismus  ist  stecken  geblieben.  Ursprüng- 
lich erscheinen  die  sinnlichen  Dinge  als  Complexionen  von  Merkmalen. 
Diesen  ähnlich,  ist  Spinozas  Substanz  eine  deutliche  Complexion  zweyer 
Attribute.  Und  so  glaubt  denn  auch  der  Idealist  nichts  Befremdendes  zu 
sagen,   wenn   er  im   Absoluten   Seyn  und   Bewufstsevn  verknüpft. 

Ursprünglich  erscheinen  die  Sinnendinge  unendlich  theilbar,  aber  die 
Theile  werden  im  gemeinen  Denken  und  Handeln  erst  gemacht,  nachdem 
die  Masse  schon  gegeben  vorliegt.  Auch  erscheinen  sie  veränderlich  in 
der  Zeit,  und  doch  bedenkt  sich  Niemand,  zu  sagen:  ihre  Substanz  be- 
harre mitten  im  Wechsel.  Wenn  nun  die  Theilbarkeit  erst  hinzukommt, 
nachdem  die  Masse  schon  da  ist,  —  und  wenn  der  Wechsel  geschieht, 
ohne  die  Substanz  zu  beschädigen:  warum  sollte  denn  nicht  Spinoza,  im 
Unendlichen  eine  Fülle  von  endlichen  [355]  Dingen  zulassend,  auf  den 
Beyfall  des  gemeinen  Verstandes  rechnen?  und  warum  sollte  er  nicht  die 
Substanz  für  ewig  und  unveränderlich  erklären,  trotz  dem,  dafs  den  end- 
lichen Dingen  bald  diese,  bald  jene  Sonderung  und  Zusammenfassung  be- 
gegnet. Wenn  aber  Spinoza  das  Alles  thun  darf,  was  hindert  denn 
FiCHTEn,  die  Reflexion  für  das  spaltende  Princip  zu  erklären,  wodurch 
eine  Vielheit  von  Erscheinungen  zu  Stande  komme?  Die  Eine,  in  sich 
geschlossene  und  vollendete  Welt  bleibt  ja  in  der  absoluten  und  Einen 
Grundform  des  Begriffs,  und  selbst  nachdem  die  einzelnen  Reflexionen  im 
wirklichen,  unmittelbaren  Bewufstsevn  auseinandergetreten  waren,  kann  man 
noch  in  dem,  sich  darüber  erhebenden,  Denken  die  Grundform  wieder 
herstellen!* 

Im  gemeinen  Vorstellen  schreibt  man  den  Dingen  Kräfte  zu,  wenn 
in  ihnen  ein  innerer  Grund  des  Wirkens,  und  zwar  des  regelmäfsigen, 
unter  entsprechenden  Umständen  unausbleiblichen  Wirkens,  gesucht  wird. 
So  ist  die  Schwere  die  Kraft,  womit  die  Körper  zur  Erde  streben  oder 
gezogen  werden;  so  ist  der  Magnetismus  eine  Kraft,  zugleich  sich  zu  rich- 
ten und  das  Eisen  herbeyzuziehn ;  so  hat  jedes  Saamenkorn  eine  Kraft 
zu  wachsen  und  Nahrungsmittel  zu  assimiliren.  Warum  sollte  denn  nicht 
im  Ich  eine  Kraft  zu  wollen  und  eine  zu  reflectiren,  eine  reale  und  ideale 
Thätigkeit  unterschieden  werden  ?  Und  wenn  einmal  dergleichen  Kräfte, 
Tendenzen,  Thätigkeiten  im  Realen  Platz  haben,  wenn  der  Begriff,  dafs 
durch  sie  etwas  wird,  was  sonst  nicht  gewesen  wäre,  keinen  Anstofs  erregt, 
wenn  einmal  die  Worte  Äufserung,  Offenbarung,  Spaltung  etwas  fürs  Reale 
bedeuten  können:  warum  sollten  denn  nicht  die  Spaltungen  ins  Unend- 
liche gehn,  und  [356]  daneben  noch,  wie  es  FiCHTEn  beliebt  hat,  in 
ariderer  Hinsicht  eine  fünffache  Spaltung  eintreten?  Alles  ist  in  diesem 
Zusammenhange  gleich  gut  und  gleich  schlecht;  vom  wahren  Seyn,  von 
der  einfachen  Qualität,  vom  wirklichen  Geschehen,  von  dem  Unterschiede 

*  A.   a.  O.    S.    117. 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.     2.   Capitel.    Vom  Ich  und  Nicht -Ich  als  Thatsache.      207 

zwischen    ihm    und   dem  objectiven    Schein,   —   kurz,    vom    wahren  Realis- 
mus, ist  hier  nicht  das  mindeste   zu  spüren. 

Wirklich  also  sind  wir  durch  den  Idealismus  dergestalt  zurückgeworfen, 
dafs  es  scheint,  wir  müfsten  die  Metaphysik  noch  einmal  von  vorn  an- 
fangen. 


[356]  Zweites    Capitel. 

Vom  Ich  und  Nicht -Ich  als  Thatsache. 

§•  309- 

„Ist  es   denn   nicht  wahr,   dafs  die  Dinge  erscheinen?" 

So  würde  uns  ein  Idealist  zuerst  fragen,  wenn  er  versuchen  wollte, 
uns  zu  seiner  Lehre  hinüberzuziehn.  Durch  diese  Frage  würde  er  uns 
an  die  unleugbare  Thatsache  erinnern,  welche  nicht  blofs  dem  falschen 
Idealismus,   sondern   auch   der  wahren   Eidolologie  zum   Grunde  liegt. 

Weiter  würde  er  uns  die  Wahl  lassen,  ob  wir  den  Dingen  aufser  uns 
das  Erscheinen  beylegen  wollten,  wodurch  sie  gleichsam  aus  sich  heraus- 
sinsen,  und  zu  uns  kämen;  oder  ob  wir  lieber  in  uns  selbst,  wo  die  Er- 
scheinungen  sind,  auch  den  Grund  derselben  annehmen  möchten?  Er 
würde  nämlich  darauf  rechnen,  dafs  wir  das  Aus-Sich-Heraus-Gehn  der 
Dinge,  um  zu  erscheinen,  nie  deutlich  machen  könnten;  indem  kein  Ding 
et-[35/]was  aufser  sich,  und  gleichsam  losgerissen  von  sich  selbst,  seyn 
kann.  Oder  würden  wir  wirklich  die  alten  Demokritischen  sldoXa  in  der 
Luft  herumflattern  lassen?  Würden  wir  ihnen  die  vorgebliche  Ähnlichkeit 
mit  denjenigen  Dingen,  von  denen  sie  kämen,  zugestehen;  und  würden 
wir  auf  das  gute  Glück  rechnen,  welches  uns  nun  gerade  diese  Bilderchen 
zuführte,  ohne  nur  zu  fragen,  wie  wir  es  denn  wohl  anfangen  wollten,  sie 
aufzufangen?  Das  Alles  würde  zu  thöricht  seyn,  als  dafs  der  Idealist 
uns  in  Gefahr  glauben  sollte ,  der  Thorheit  noch  anzuhängen ,  sobald 
wir  sie  nur  einsähen.  Er  würde  nun  unser  Bekenntnifs  erwarten,  das  Er- 
scheinen könne  unmöglich  den  Dingen  zugeschrieben  werden,  als  ob  es 
von  ihnen  käme;  und  diesem  Bekenntnifs  müfste  dann  ein  zweytes 
folgen,  nämlich  dafs  der  Grund  aller  Erscheinung  ohne  Zweifel  in  uns 
selbst  liege. 

Wenn  nun  die  erwarteten  Bekenntnisse  dennoch  ausblieben:  so 
würde  er  mit  uns  in  unsere  Ontologie  zurückgehn.  Er  würde  uns  fragen,, 
ob  wir  nicht  bey  den  Problemen  der  Inhärenz  und  Veränderung  deutlich 
genug  selbst  gesprochen  hätten  vom  Erscheinen  einer  Substanz  durch 
mehrere  Merkmale?  Er  würde  uns  zur  Rede  stellen  wegen  der  dort  ge- 
gebenen Erklärung. 

Gar  keine  Erklärung,  würde  er  sagen,  sey  dort  zu  finden.  Geschlossen 
sey  zwar,  dafs,  wo  mehrere  Merkmale,  da  erstlich  ein  Reales,  zweytens 
in  demselben  so  viele  Selbsterhaltungen  gegen  andre  Wesen,  als  wie  viele 
Merkmale,  angenommen  werden  müfsten.  Aber  der  Schlufs  erkläre  auch 
nicht   einmal    dem  Scheine    nach    die  Merkmale,    sofern   sie  Vorstellungen 


2o8  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


in  uns  seyen.  Denn  gar  nichts  sey  darum  in  uns,  weil  ein  paar  von 
uns  verschiedene  Wesen,  jedes  für  sich,  in  den  innern  Zustand  der  Selbst- 
erhaltung gerathe.  Das  sey  höchstens  etwas  für  die  realen  Wesen,  in 
denen  es  also  ge-[358]schehe;  aber  wenn  es  sich  so  verhalte,  so  bleibe 
doch  itnsre  Kennt7iifs  davon  ganz  unberührt. 

Dies  nun  würden  wir  einräumen;  und  ihn  fürs  erste  weiter  reden 
lassen. 

Wo  der  Sitz  der  Erscheinung  (würde  er  fortfahren),  da  sey  auch  der 
Sitz  der  Schlüsse,  wodurch  man  versuche,  sie  zu  erklären.  Ohne  Frage 
nach  irgend  welchen  bestimmten  Gesetzen  des  psychologischen  Mechanis- 
mus, liege  es  am  Tage,  dafs  die  Schlüsse,  so  gut  wie  die  Erscheinungen, 
lediglich  Ereignisse  in  uns  selber  seven;  und  daher  werde  es  auf  immer 
vergeblich  seyn,  irgend  eine  Metaphysik  so  anzulegen,  dafs  in  ihr  auch 
nur  das  Geringste  auf  äufsere  Gründe  gerechnet  werde;  indem  sowohl 
die  Erklärung,  als  das  zu  Erklärende  in  der  leeren  Einbildung  bestehe, 
sobald  es  von  aufsen  zu  kommen  oder  nach  aufsen  zu  gehen  Anspruch 
mache. 

Hierauf  würden  wir  ihn  auffordern,  Erklärungen  nach  seiner  Art  zu 
versuchen;  wenn  er  nicht  lieber  vorher  überlegen  wolle,  ob,  und  welchen 
Vorrath  an  Erklärungsgründen  er  wohl  in  dem  eignen  Selbst  voraussetzen 
müsse,  um  in  demselben  den  grofsen  Bildersaal,  den  wir  die  Welt  nennen, 
zu  eröffnen. 

Hätte  er  nun  irgend  etwas  von  unserm  ganzen  bisherigen  Vortrage 
verstanden,  —  gleichviel  zuas,  und  wie  wenig  es  auch  seyn  möchte,  — 
so  müfste  er  sogleich  die  Verlegenheit  ahnden,  in  welche  ihn  selbst  die 
mindeste  Regung,  welche  er  des  Erklärens  wegen  unternehmen  könnte, 
riothwendig  versetzen  müfste. 

Gesetzt  aber,  jetzt  hielte  er  sich  zurück:  wäre  uns  dadurch  geholfen? 
Auch  wir  sind,  wie  es  scheint,  in  Verlegenheit.  Wir  können  die  Thatsache 
des  Wissens,  —  sey  es  wahres  oder  nur  vermeintes  Wissen,  —  nicht 
ableugnen.  Kann  jener  sie  nicht  von  innen  heraus  erklären,  ohne  sich 
sogleich  in  Widersprüche  zu  ver-[359]wickeln,  so  müssen  wir  um  so  mehr 
die  Bahn  brechen.  Dieses  aber  fordert  vor  allen  Dingen,  dafs  wir  nach- 
sehn, was  denn  eigentlich  zu  erklären  vorliegt.  Die  Thatsache,  das  Ge- 
gebene, darauf  kommt  es  zuerst  an,  wenn  wir  nicht  in  ein  ganz  leeres 
Denken  verfallen  wollen. 

§•   3io. 

Schon  oben,  als  wir  vom  Gegebenen  sprachen  (§.  169),  mufs  die 
Thatsache  erwähnt  seyn,  welche  wir  jetzt  brauchen,  und  welche  früher 
absichtlich  zur  Seite  liegen  blieb.  Unter  den  Formen  der  Erfahrung,  die 
wir  von  deren  Materie  unterschieden,  war  es  eine;  und  zwar  die  letzte, 
die  wir  nannten.  Wir  stellten  sie  ans  Ende,  weil  sie  zu  den  übrigen  — 
den  Formen  des  Raums,  der  Zeit,  der  Inhärenz,  der  Veränderung,  —  in 
der  That  erst  hintennach  hinzukommt.  Ja  sie  kommt  sogar  zu  sich  selbst 
hinzu;  und  wird  eben  deshalb  im  gemeinen  Leben  nur  unvollständig  auf- 
gefafst.  Es  ist  diejenige,  worauf  mit  der  gröfsten  Unbehutsamkeit  der 
geistigen  Kraß   begründet  wird,    als   ob   es   genug  wäre,    eine    Classe    von 


4.  Abschnitt.     Eidolologie.     2.  Capitel.    Vom  Ich  und  Nicht- Ich  als  Thatsache.      20Q 

innern  Ereignissen  zu  bemerken,  um  hiemit  schon  von  der  Existenz  einer 
Kraft  überzeugt  zu  seyn.  Wir  reden  hier  von  der  vermeinten  Kraft  der 
Reflexion. 

Auf  jedes  Gegebene  kann  refieciirt  werden  als  auf  ein  Gegebenes. 
Diese  Thatsache  findet  sich  im  gebildeten  Bewufstseyn  vor.  Steigt  die 
Bildung  bis  zum  Philosophiren:  so  erzeugt  sich  allmählig  eine  Leichtigkeit, 
auf  das  Reflectiren  wiederum  zu  reflectiren ;  und  dies  geht  bis  ins  Un- 
endliche. Man  sagt  sich,  dafs  man  wisse;  man  sagt  sich  auch,  dafs  man 
wisse  von  seinem  Wissen,   und  so  fort. 

Es  wird  überdies  ein  Punct  angenommen,  in  welchem  alles  Gewufste 
beysammen  sey,  und  mit  ihm  das  Wis-[3Öo]sen  vom  Wissen,  bis  ins 
Unendliche.  Dieser  Punct  heifst  Ich.  Ich  zveifs  von  Mir,  dies  gilt  nun 
für  das  Gewisseste  im  ganzen  Gebiete  des  Wissens,  denn  —  Ich  bin  mir 
selbst  der  Nächste;  nichts  Anderes  ist  mir  in  meinem  Wissen  so  unmittel- 
bar und  so  beständig  gegenwärtig. 

Zu  diesem  Puncte  wird  hinzugedacht  das  Seyn.  Daher  der  Satz: 
Ich  bin.  Mit  welchem  Rechte  das  geschehe,  wird  nicht  untersucht;  dafs 
ein  geheimer,  höchst  verwickelter  psychologischer  Mechanismus  diese  Re- 
flexionen möglich  macht,  so  weit  sie  möglich  sind,  —  im  Gebildeten, 
nicht  im  Rohen  und  Wilden;  im  Menschen,  nicht  im  Thiere,  —  dies 
wird  entweder  gar  nicht  einmal  geahnet,  oder  doch  so  schlecht  überlegt, 
als  ob  man  wirklich  in  die  rohen  Menschen  und  in  die  Thierseelen  hin- 
eingeschaut, und  einen  specifischeu  Unterschied  zwischen  beyde  gefunden 
hätte.      Eine  Kraft  mehr  im  Menschen,  als  in  irgend  einem  Thiere! 

Personen,  welche  wissen,  wie  viel  dazu  gehört,  um  scharf  zu  beob- 
achten, sollten  nun  freylich  einsehn,  dafs  in  diesem  Puncte  gar  keine 
genaue  Beobachtung  möglich,  und  die  Gefahr  einer  Selbsttäuschung  hier 
um  desto  offenbarer  ist,  weil  Niemand  sich  auf  die  Frage  bestimmt  ant- 
worten  kann:    wer  er  denn   eigentlich  sev? 

Zwar  die  gemeine  Unvorsichtigkeit  findet  es  höchst  leicht,  ein  Ich 
und  ein  Nicht -Ich  einander  entgegen  zu  setzen.  Aber  Fichte  brauchte 
einmal  den  sehr  bekannt  gewordenen  Ausdruck :  die  meisten  Menschen 
würden  sich  eher  für  ein  Stück  Lava  im  Monde  halten ,  als  für  ei?i  Ich. 
Konnte  er  denn  mit  entschiedener  Sicherheit  von  diesem  Princip  ausgehn, 
wenn  es  so  leicht  verschieden  gedeutet,  so  schwer  einstimmig  aufgefafst 
wird?  Dazu  sind  wenigstens  Vor-[36i]bereitungen  nöthig,  um  die  That- 
sache gehörig  zu  bestimmen. 

Die  gemeine  Auffassung  scheidet  nicht  den  Leib  vom  Geiste ;  erst 
dem  Denker  fällt  der  Leib  ins  Nicht -Ich.  Aber  auch  dem  Denker  noch, 
—  und  selbst  Fichteii,  —  gehört  zum  Ich  ein  Trieb,  der  sich  aufs 
Handeln  richtet;  ein  Sitz  des  Wollens  und  Fühlctis ;  ein  Gemilth.  Gleich- 
wohl, wenn  der  Begriff  des  Ich  streng  soll  gefafst  werden,  so  kann  man 
diese  Bestimmungen  nicht  zulassen.  Sie  sind  kein  Wissen,  kein  Reflectiren; 
sie  gehören  vielleicht  mit  in  den  Punct,  worein  unter  andern  auch  das 
Wissen,  und  das  Wissen  des  Wissens  gesetzt  wurde;  aber  es  ist  nicht 
unmittelbar  klar,  ob  sie  darin  nicht  vermöge  einer  blofs  zufälligen  Anhäu- 
fung beysammen  sind. 

Herbart's  Werke.     VIII.  14 


2io  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfangen  etc.      1829. 

"Während  nun  diese  ganze  Auffassung  sich  sehr  schwankend  zeigt: 
können  wir  eben  deswegen  uns  nicht  gegen  Fichtes  Grundsätze  in  der 
Wissenschaftslehre  erklären,  welche  so  lauten:  Das  Ich  setzt  Sich;  es  setzt 
ein  Niclit-Icli  sich  entgegen;  es  setzt  beydes  als  gegenseitig  durch  einander 
beschränkt.  Mag  die  Scheidung  des  Ich  und  Nicht -Ich  insofern  unsicher 
seyn,  als  die  Scheidungslinie  vom  Einen  hier,  vom  x\ndern  dort  gezogen 
wird:  sie  wird  dennoch  von  jedem  Menschen  gemacht;  und  wir  müssen 
sie  im   Allgemeinen  anerkennen ;  soviel  sehen  wir  schon   hier. 

Folglich  ist  im  Ich  mancher/er  beysammen;  theils  eine  zusammenge- 
setzte, wenn  auch  noch  nicht  streng  begränzte,  Vorstellung  von  dem,  was 
zum  Ich  gehöre,  theils  noch  weit  mannigfaltigere,  und  durchaus  nicht  in 
eine  bestimmte  Sphäre  eingeschlossene  Vorstellungen  von  andern  Gegen- 
ständen; ungefähr  so  wie  die  Dinge  selbst  gefunden  werden,  die  auch 
nach  den  Umständen  mehr  oder  weniger  Eigenschaften  zu  haben  scheinen. 

[362]  Und  was  ergiebt  sich  daraus  für  den  Gang  der  Untersuchung? 
Das  Ich  ist  eine  Comple.vion  von  Merkmalen;  es  fällt  demnach  unter  den 
logisch  höhern  Begriff  eines  Problems,  das  wir  schon  kennen,  des  Problems  der 
Inhärenz. 

Hier  ist  also  nicht  etwan  Aussicht  zu  einer  ganz  neuen  Metaphysik, 
sondern  Anweisung,  man  solle  das  Ich  einer  schon  geführten  Untersuchung 
unterordnen.  So  sagt  die  wissenschaftliche  Überlegung,  ungeachtet  aller 
idealistischen  Begeisterung. 

§•  3". 

Anzuerkennen,  dafs  es  für  das  Ich  einen  logisch  höhern  Begriff  gebe; 
einzuräumen,  dafs  eine  früher  geführte  Untersuchung,  wobey  an  das  Ich 
gar  nicht  gedacht  wurde,  etwas  darüber  zu  entscheiden  haben  könne :  dies 
wird  dem  Idealisten  äufserst  schwer  fallen. 

Fichte  behauptete  einst:  man  dürfe  der  Wissenschaftslehre  —  und 
das  hiefs  bey  ihm,  der  Lehre  vom  Ich,  —  keinen  einzigen  logischen 
Satz,  auch  den  des  Widerspruchs  nicht,  als  gültig  vorausschicken.  Hin- 
gegen müsse  jeder  logische  Satz,  und  die  ganze  Logik,  aus  der  Wissen- 
schaftslehre bewiesen  werden.  Es  müsse  gezeigt  werden,  dafs  die  in  ihr 
aufgestellten  Formen  wirkliche  Formen  eines  gewissen  Gehalts  in  der 
Wissenschaftslehre  seyen.  Abstraction  und  Reflexion  sollten  aus  ihr  die 
Logik  entnehmen.*  So  weit  ging  das  Vorurtheil  des  Idealisten,  nur  in 
seinem  Gedankenkreise   sey  ursprüngliche   Wahrheit. 

Aber  die  Logik  hat  sich  vor  Jahrtausenden,  nicht  aus  Betrachtungen 
über  das  Ich,  sondern  aus  den  damaligen  Philosophemen  mancherley  Art, 
abgesondert,  [363]  und  ist  eine  selbstständige  Lehre  geworden,  vermöge 
ihrer  innern   Evidenz. 

Uns  interessirt  nun  hier  nicht  diese  ganze  Lehie,  sondern  nur  das, 
in  ihr  vorgezeichnete,  Verhältnifs  der  Unterordnung  eines  Begriffs  von 
gröfserem  Inhalte  unter  einen  andern,  der  eben  deswegen,  weil  ihm  von 
eben  diesem  Inhalte  nur  ein  Theil  angehört,  einen  gröfseren  Umfang  be- 
sitzt.    Was  im  Allgemeinen  von  diesem,  das  gilt  insbesondere  von  jenem. 


FICHTE  über  den  Begriff  der  Wissenschaftslehre,  S.  46. 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.      2.  Capitel.    Vom  Ich  und  Nicht -Ich  als  Thatsache.      211 


Durch  diese  Unterordnung  erwächst  den  Wissenschaften  ein  ähnlicher 
Vortheil,  wie  der  bürgerlichen  Gesellschaft  durch  Gesetze.  Die  Gerech- 
tigkeit erhebt  sich  dadurch  über  den  Verdacht  der  Parteylichkeit  und  der 
Befangenheit. 

Wir  haben  in  der  Ontologie  die  Probleme  der  Inhärenz  und  der 
Veränderung  untersucht;  wir  haben  in  der  Synechologie  gesehen,  wie  sich 
einfache  Elemente  in  diejenige  räumliche  Verbindung  versetzt  finden 
können,  die  man  Materie  nennt.  Dafs  in  keinem  Realen  ursprünglich  ein 
Mannigfaltiges  liegen  könne,   hatten  wir  vorher  gezeigt. 

Jetzt  wende  man  diese  Untersuchungen  an.  Das  Ich,  noch  vor  ge- 
nauerer Betrachtung  seiner  eigenthümlichen  Merkmale,  zeigt  sich  als  eine, 
der  Veränderung  unterworfene,  Complexion  von  Merkmalen.  Was  daraus 
folgen  müsse,  ist  leicht  zu  finden,  und  darf  unter  Voraussetzung  der  früher 
gewonnenen  Einsicht,  nicht  mehr  geleugnet  werden. 

§•  312. 

Man  bediene  sich  also  nach  §.  220  nun  der  Begriffe  der  Substanz 
und  der  Ursache.  Die  Substanz,  welche  wegen  des  Ich  mufs  gesetzt 
werden,  heifst  nach  gemeinem  und  unverwerfiichem  Sprachgebrauche  die 
Seele.  In  ihr  giebt  es  keine  Attribute;  denn  es  [364]  giebt  überhaupt 
keine  solche.  Sondern  wie  viele  Merkmale,  so  viele  Ursachen.  Das  heifst 
hier:  die  Seele  ist  nicht  ursprünglich  eine  Reflexionskraft,  ein  Trieb  u.  dergl. 
Sie  ist  auch  nicht  zusammengesetzt  aus  realer  und  idealer  Thätigkeit,  wie 
Fichte  wollte.  Vielmehr  mufs  ihrer  ganzen  geistigen  Mannigfaltigkeit  eine 
hinreichende  Menge  und  Bestimmung  eines  vielfältigen  Zusammen  mit 
andern  und  wieder  andern  realen  Wesen  vorausgesetzt  werden.  Dieses 
ist  nunmehr  vollständig  bewiesen;  und  diese  Lehre  der  Eidolologie  ist  die 
erste  metaphysische  Grundlehre  der  gesammten  Psychologie.  Obgleich 
aber  der  Beweis  keiner  neuen  Stützen  bedarf,  sondern  lediglich  der  Sub- 
sumtion des  Ich,  wie  es  als  gegeben  vorliegt,  unter  die  Lehrsätze  der 
Ontologie:  so  kann  es,  und  wird  sich  dennoch  finden,  dafs  noch  beson- 
dere Bestätigungen  nachkommen,  wann  der  besondere,  eigne  Inhalt  des 
Begriffs  vom  Ich  wird  genauer  untersucht  seyn. 

Hier  ist  nur  noch  des  Sprachgebrauchs  wegen  zu  merken,  dafs  die 
Nebenbedeutung  des  Wortes:  Seele,  als  sey  sie  das  Belebende  des  Leibes 
(die  Aristotelische  Entelechie),  durchaus  mufs  entfernt  gehalten  werden. 
Der  Begriff  hievon  steht  mit  dem  geführten  Beweise  nicht  in  der  min- 
desten Verbindung;  und  ist  an  sich   völlig  falsch. 

§•  313- 
Unbestimmt  aber  ist  das  erhaltene  Resultat  noch  insofern,  als  man 
nicht  genau  weifs,  auf  welche  Complexion  von  Merkmalen  man  es  eigent- 
lich beziehen  soll.  Hier  müssen  wir  zurückkehren  zum  Gegebenen ;  und 
nachsehn,  ob  sich  etwa  das  Ich  vom  Nicht-Ich  genauer  als  bisher  werde 
scheiden  lassen  ?  Denn  obgleich  vor  Augen  liegt,  dafs  das  Ich  irgend  eine 
Complexion  von  Merkmalen  ist,  so  blieb  doch  oben  (§.  310)  die  Um- 
gränzung  dieser  Complexion  noch  schwankend. 

14* 


2i2  I-   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

[365]  Wir  wollen  nun  die  Untersuchung  so  führen,  dafs  wir  dabey 
auf  zwey  ganz  entgegengesetzte  Systeme,  das  von  Fries  und  von  Fichte, 
zugleich  Rücksicht  nehmen;  überdies  aber  sie  dergestalt  ordnen,  dafs  wir 
sogleich  noch  eine  logische  Subsumtion,  ähnlich  der  im  vorigen  §.  gewinnen. 

Fries  bemerkt:  „das  Verhältnifs  von  Ursach  und  Wirkung  in  dem 
thätigen  Ich  ist  das  einzige  ganz  unmittelbare  seiner  Art,  dem  kein  anderes 
in  unserer  Erkenntnifs  gleich  kommt.  Das  Wesentliche  des  Lebens  be- 
steht in  einem  Handeln  ohne  Behandeltes,  einer  Thätigkeit  nur  in  sich 
selbst,  durch  die  Nichts  wird,  als  nur  die  Handlung  selbst;  wie  dies  z.  B. 
im  Vorstellen  und  Erkennen  der  Fall  ist.  Alle  äufseren  Bewirkungen 
bestehen  darin,  dafs  eine  Ursach  den  Zustand  eines  andern  Dinges  ver- 
ändert; dafs  die  Accidenzen  eines  Körpers  durch  die  Kräfte  verändert 
werden.  Wenn  z.  B.  ein  Körper  die  Bewegung  eines  andern  verändert, 
so  ist  nicht  nur  das  Anziehen  des  Ziehenden ,  sondern  noch  veränderte 
Bewegung  des  Angezogenen  vorhanden.  Bey  der  unmittelbaren  innern 
lebendigen  Thätigkeit  des  Vorstellens  giebt  es  hingegen  kein  solches  Be- 
handeltes, sondern  nur  Handlung  rein  für  sich."  * 

Wir  wollen  ihm  die  Auslegung  lassen,  die  er  hievon  macht;  und  so- 
gleich die  wahre  aufsuchen.  Gewifs  wird  das  Wort  Handeln,  oder  Thäligseyn, 
hier  in  ganz  anderm  Sinne  gebraucht,  als  bey  irgend  einer  causa  tran- 
siens.  Wenn  ein  Körper  gegen  den  andern  Attraction  auszuüben  scheint  : 
so  kennen  wir  den  Zusammenhang  dieses  Ereignisses  aus  §  26g.  Die 
äußere  Lage  mufs  sich  richten  nach  dem  innern  Zustande.  Dies  giebt 
dem  Zuschauer,  falls  ein  sol-[3Ö6]cher  da  ist,  den  objectiven  Schein  der 
Bewegung,  ein  scheinbares  Causal -Verhältnifs.  Entgegengesetzt  demselben  ist 
das  wahre  Geschehen;  welches  rein  innerlich  vorgeht,  wiewohl  jedesmal 
zwiefach,   indem  zwey  reale  Wesen,  jedes  gegen  das  andere  sich  selbst  erhalten. 

Demnach  hat  uns  Fries  in  seiner  Beschreibung  eines  Handelns  ohne 
ein  Behandeltes ,  dergleichen  das  Vorstellen  seyn  soll,  nichts  anderes  ge- 
sagt als:  Vorstellunge?i  sind  die  Selbsterhaltungen  der  Seele.  Dies  mufsten 
wir  aus  dem  vorigen  §.  ohnehin  erwarten.  Wenn  die  Seele  mit  andern 
und  andern  Wesen  (mittelbar  oder  unmittelbar)  zusammen  ist:  so  müssen 
in  ihr  Selbsterhaltungen  vorgehn;  diese  sind  für  sie  selbst  ein  blofs  inneres 
Thun;  denn  von  den  zugehörigen  Selbsterhaltungen  der  andern  Wesen 
fällt  nichts  in  sie  hinein,  und  sie  kann  unmittelbar  davon  nicht  das  Min- 
deste merken. 

Dafs  nun  auch  dieser  zweyte  Hauptsatz  noch  vielen  nähern  Bestim- 
mungen entgegengeht,  versteht  sich  von  selbst.  Wir  haben  aber  nun 
schon  beynahe  die  ganze  metaphysische  Grundlage  der  Psychologie ;  welche 
dort  nur  konnte  angezeigt,  nicht  bewiesen  werden.  **  Denn  es  fehlte  dort 
an  den  Prämissen  des  Beweises. 

§•  3M- 

Fries  und  Fichte  veranlassen  uns  in  den  nähern  Bestimmungen 
ihrer  Auffassung  des  geistigen  Lebens  zu  einer  und  derselben  Bemerkung. 


*  Fries,  Metaphysik,  S.  397. 
'*■"■  Psychologie  I,  §.  31.     (Bd.  V  vorl.  Ausgabe. 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.      2.   Capitel.     Vom   Ich  und  Nicht -Ich   als  Thatsache.      213 

Beyde  sind  so  einseitig,  dafs  keiner  den  andern  widerlegen  kann;  und 
beyde   bleiben  stecken  in  Widersprüchen. 

Fries  sagt :  Ich  bin  das  innerlich  Thäligc  in  der  Zeit.  Er  nimmt  also 
das  Ich  als  Individuum;  [367]  und  man  kann  ihm  die  Möglichkeit  dieser 
Auflassung  nicht  ableugnen,  ungeachtet  dadurch  ein  ungeheures  Nicht-Ich 
(wenn  man  die  Begriffe  streng  nimmt)  ins  Ich  versetzt  wird.  Der  Mensch 
findet  sich  wirklich  als  thätig  und  leidend ,  folglich  in  ungetrennter  Be- 
ziehung auf  die  Dinge,  mit  denen  er  in   Wechselwirkung  steht. 

Zwar  versucht  auch  Fries  hier  noch  eine  feinere  Scheidung;  aber 
sie  mislingt  ihm  aufs  äufserste.  Er  hat  ein  reines  Selbstbewufstseyn,  dafs 
ich  bin,  und  daneben  einen  innern  Sinn,  wie  ich  bin.  Eine  Trennung, 
wie  die  des  Seyn  und  der  Qualität;  die  nur  ein  Spiel  in  Begriffen  dar- 
bietet, während  das  Seyende  nothwendig  durch  beyde  verbundene  Begriffe 
zugleich  gedacht  wird.  Das  Sevn  für  sich  wird  durch  absolute  Position 
vorgestellt;  was  ist  und  was  heifst  nun  Position  ohne  Gesetztes?  Und  wie 
sollten  wohl  die  beyden  Chimären,  innerer  Sinn  und  reines  Selbstbewufst- 
seyn, in  Verbindung  treten,  wenn  sie  ursprünglich  getrennt  wären  ?  Dieses 
Verfallen  in  leere  Abstractionen  ist  ein  solches,  wogegen  wir  gleich  An- 
fangs (§.    160,    167)  gewarnt  haben. 

Mit  seinem  reinen  Selbstbewufstseyn,  welches  setzt  ohne  Gesetztes, 
können  wir  nun  gar  nichts  anfangen;  wir  müssen  uns  halten  an  seinen 
innern  Sinn,  der  wenigstens  weifs,  wovon  er  uns  berichtet.  Natürlich  findet 
dieser  alles  das  Mannigfaltige,  was  man  aus  der  empirischen  Psychologie 
kennt,  auf  einmal,  aber  zufällig,  beysammen ;  statt  dafs  es  nach  Fichtes 
Weise  allmählig,  als  Bedingung  des  Selbstbewufstseyns,  im  nothwendigen 
Zusammenhange  hätte  deducirt  werden  müssen.  Wer  nun  nicht  verlangt, 
von  diesem  nothwendigen  Zusammenhange  etwas  zu  begreifen,  wer  zu- 
frieden ist,  wenn  ein  Aggregat  von  Seelenvermögen  herauskommt,  der  wird 
ohne  Zweifel  fragen,  wozu  es  denn  hätte  helfen,  und  was  es  hätte  bedeuten 
sollen,  die  Au-[3Ö8]gen  anfangs  absichtlich  zuzudrücken,  als  ob  man  die 
Thätigkeiten  der  Einbildungskraft,  des  Verstandes,  des  Begehrungsvermögens, 
nicht  eben  so  deutlich  vor  sich  liegen  sähe,  wie  das  Selbstbewufstseyn  ?  — 

Er  wird  sagen :  Alles  Gegebene,  ivas  ich  zugleich  vorfinde,  das  stelle 
ich  ohne  Umstände  zusammen,  und  erzähle,  wie  es  beschaffen  ist,  oder  doch, 
unter  welche  Begriffe  es  nach  meiner  Ansicht  fallen  müsse.  Nun  finde  ich  in 
mir  nicht  blofs  ein  Ich,  sondern  einen  vielfach  reizbaren  und  thätigen  Geist; 
dessen  Beschreibung  viel  Mehr  erfordert,  als  die  blofse  Erwähnung  des 
Selbstbewufstseyns.  Auch  habe  ich  schon  bey  Gelegenheit  der  Körperwelt 
allerley  Causalbegriffe,  nach  damaligem  Gutfinden,  vestgestellt ;  als  da  sind 
Gruiidkrafte  und  abgeleitete  Kräfte,  vollständige  und  unvollständige  Ur- 
sachen, Vermöge?!,  Triebe,  Erregbarkeiten,  Reiz  u.  dergl.*  Obgleich  ich 
nun  niemals  diese  Begriffe  einer  kritischen  Untersuchung  unterworfen  habe, 
ob  sie  etwas  bedeuten  können,  oder  ob  sie  innerlich  ungereimt  sind :  so 
brauche  ich  sie  doch  wenigstens  für  die  Sinnenwelt,  die  ja  nur  Erschei- 
nungen enthält.  Nun  bin  ich  an  diesen  Gebrauch  einmal  gewöhnt,  also 
fahre    ich    fort   sie   anzuwenden   in    der  Sphäre   des   innern  Sinnes,    der  ja 


*  Vergleiche  Fries,   Metaphysik.    §.  63. 


2i4  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


auch  nur  das  Zeitliche  sieht.  Ob  nun  der  Begriff  des  Geistes,  den  ich 
auf  solche  Weise  bestimme,  mehr  als  ein  Gedankending  werde,  das  kann 
ich  nicht  behaupten.  „Der  innern  Erfahrung  wird  der  Geist,  als  ihr  zeit- 
licher Gegenstand,  ein  andauerndes,  einzelnes,  lebendiges  Wesen,  dem  wir  die 
Vermögen  seiner  innern  Thätigkeiten  zuschreiben ,  welches  wir  in  Gegen- 
wirkungen mit  der  Kürperwelt  und  vermil-[^6g]lelst  dieser  als  Person  in 
geselligen    Verhältnissen   mit  Seinesgleichen  finden."* 

So  massenweise  fafst  Fries  die  Erfahrung!  Dafs  er  nun  kein  ein- 
zelnes Problem  aus  der  Masse  herausheben,  und  es  genau  untersuchen 
kann,  versteht  sich  von  selbst.  Aber  eben  dies  Zugreifen,  um  die  ganze 
innere  Erfahrung  auf  einmal  in  Beschlag  zu  nehmen,  dünkt  die  Meisten 
besser,  und  dem  Gegenstande  angemessener,  weil  sie  gewohnt  sind,  es 
eben  so  zu  machen. 

Und  zu  dieser  Ungenügsamkeit  gehört  eine  desto  gröfsere  Genügsam- 
keit auf  der  andern  Seite.  „Als  Geist  bin  ich  ein  einzelnes,  individuelles 
Subject,  welches  sich  in  keine  Vielheit  von  Subjecten  auflösen  läfst.  Hie- 
mit  wird  aber  nicht  eine  einfache,  geistige  Substanz,  sondern  nur  Einzelnheit 
eines  Dinges  vorausgesetzt,  wovon  eine  dauernde  Form  wechselnder  Substanzen, 
z.  B.   eine    Organisation,   schon   ein  Analogon   ist.1'** 

Späterhin  aber  trit  an  die  Spitze  der  Ideenlehre  der  Grundsatz: 
„Jeder  Mensch  hat  das  Vertrauen  zu  seinem  Geiste,  dafs  er  der  Wahrheit 
empfänglich  und  theilhaft  sey."***  Das  Scheinsubject,  weiches  mit  dauernder 
Form  wechselnder  Substanzen  verglichen  werden  durfte,  soll  ein  Gefäfs 
werden  für  Wahrheit?  —  x\ber  noch  mehr!  „Wir  nennen  die  Geisteszvelt, 
der  ewigen  Wahrheit  nach,  das  Reich  der  Zwecke." f  Und  ferner:  „Die 
Geisteswelt  ist  uns  die  Welt  der  ewigen  Wahrheit;  und  jeder  Gebrauch  der 
Ideen  verliert  sich  in  bedeutungslose  Phantasien,  [37°]  sobald  er  zu  etwas 
ander  m  als  zur  Anerkennung  der  Selbstständigkeit  des  Geistes  verwendet  wird." 


§•   315- 

Wenn  ein  höheres  Wesen,  als  unbefangener  Zuschauer,  auf  den 
Menschen  herabblickt,  so  mufs  es  ihm  ohne  Zweifel  auffallen,  wie  seltsam, 
und  mit  sich  uneins,  der  Mensch  sein  eignes  Ich  bald  hoch,  bald  niedrig 
schweben  sieht;  und  wie  er.  um  Sich  zu  fassen,  bald  nach  dem  Schein, 
bald  nach  der   Wahrheit  greift. 

Wir  selbst  sind  solche  Zuschauer;  und  sehen  ohne  Mühe,  dafs  mit 
blofser  Subsumtion  unter  frühere  Lehren,  wie  dergleichen  vorhin  (§.  312, 
313)  vorkamen,  die  Eidolologie  sich  nicht  begnügt;  dafs  es  uns  vielmehr 
noch  die  Auflösung  eines  eigenen  Widerspruchs  kosten  wird,  den  Begriff 
.des  Ich  richtig  zu  bestimmen. 

Allein  wir  nehmen  uns  Zeit,  um  genauer  zu  erfahren,  auf  welche 
Weise  denn  wohl  Fries  dem  Geiste  die  Vermögen  seiner  innern  Thätig- 


*  A.  a.  O.  §.  79. 

**  A.  a.  O.  §.  79. 

**   A.   a.  O.   §.  89. 

|  A.  a.  O.  §.  91. 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.     2.  Capitel.    Vom  Ich  und  Nicht-Ich  als  Thatsache.      215 

keit  zuschreibe  ?  Kann  er  den  Begriff  einer  Complexion  von  Merkmalen 
(§.  310)  für  das  Ich  genauer  bestimmen;  kann  er  angeben,  welche  Merk- 
male es  seyen,  ivie  sie  zusammengehören,  welche  Form  der  Verknüpfung 
sie  annehmen,  —  so  wird  es  uns  willkommen  seyn;  und  er  spannt  unsre 
Erwartung  desto  mehr,  da  er  versichert,  der  bisherige  Mangel  der  Theorie 
liege  einzig  daran,  dafs  man  mit  der  Beobachtung  nicht  weit  genug  gegangen 
scy,  und  nicht  fein  genug  gesondert  habe.  *  Wenn  das  wahr  ist,  so  brauchen 
wir  keine   Mühe   an   einen   Widerspruch  zu  wenden. 

In  der  That  bietet  er  Logik  und  Metaphysik  zu-[3  7  i]gleich  auf,  um 
die  Form  der  Verknüpfung  zu  bestimmen.  ,, Innere  Thätigkeiten  und  die, 
ihnen  entsprechenden,  Vermögen  müssen  unter  einem  allgemeinen  Begriffe 
vereinigt  werden.  So  entsteht!  aber  erst  generelle  Besirifte  von  Geistes- 
vermögen,  z.  B.  Vorstellungsvermögen,  Einbildungskraft ;  diese  dürfen  nicht 
mit  Grund  -Vermögen  verwechselt  werden.  Jene  gehören  nur  zur  Classi- 
fication der  Begriffe;  letztere  hingegen  in  ein  Natursystem  von  Gründen 
und  Folgen." 

Und  ein  solches  Natursystem,  woran  einzig  gelegen  seyn  könnte,  soll 
blofs  durch  Beobachtung  gefunden  werden  ?  Seit  wann  hat  man  gehofft, 
wahre   Causalität  falle  unmittelbar  in  die  Wahrnehmung? 

Ein  Beyspiel  wird  dargeboten.  „Vorstellung  ist  ein  allgemeinerer  Be- 
griff als  Erkenntnifs.  Dennoch  ist  Erkenntiüfsvcrmögen  das  Grundvermögen, 
von  dem  jede   Art  des  theoretischen  Vorstellens  nur  abgeleitet  wird." 

Befremdende  Behauptung!  Gesetzt,  es  gäbe  ein  Erkenntnisvermögen, 
wodurch  wäre  sein  Vorrang  als  Grundvermögen  zu  beweisen?  In  dem 
vor  uns  liegenden  Buche  fehlt  jeder  Schein  des  Beweises.  Wie  wäre  es 
auch  nur  begreiflich  zu  machen,  dafs  ein  ursprüngliches  Erkenntnisvermögen 
aus  seiner  Natur  so  weit  heraus  gehn  könnte,  um  bald  wissentlich,  bald 
aus  Schwäche,  sich  dem  Irrthum,  oder  dem  Dichten,  oder  dem  leeren 
Denken,  hinzugeben,  und  solchergestalt  sich  von  seinen  Gegenständen  zu 
entfernen,  die,  wenn  von  Erkenntnifs  1  gesprochen  wird,  nothwendig  wahre 
Gegenstände  seyn  müssen  ? 

„Aufser  diesem  Verhältnifs  von  Grundvermögen  und  generellen  Ver- 
mögen giebt  es  noch  Verhältnisse  zwischen  Hauptvermögen  und  Neben- 
vermögen ;  so  ist  Vernunft  nicht  eigentlich  Grundvermögen,  woraus  der 
Sinn  oder  das  Begehren  begriffen  werden  könnte,  [372]  aber  sie  ist  doch  ein 
Hauptvermögen,  wogegen  Sinn  und  Begehrung  nur  Nebenvermögen  sind. 
Ohne  Erkenntnifs  -  Kraft  nämlich  wäre  weder  Sinn  noch  Wille  möglich, 
aber  diese  sind  doch  durch  erstere  noch  nicht  gegeben,  sondern  kommen 
erst  hinzu." 

Sind  wir  so  bald  am  Ende  unserer  Hoffnungen?  Das  eben  war  zu 
fürchten :  ein  Mannigfaltiges  neben  einander,  welches  scheinen  würde,  sich 
Eins  an  das  Andere  zu  lehnen,  aber  nicht  aus  einander  zu  erklären ;  so 
dafs  man  Jedes  weder  ohne  das  Übrige,  noch  durch  das  Übrige  würde 
begreifen  können.     Keine  schlimmere  Lage  der  Sachen   für  die  Speculation 


A.  a.  O.  S.  82. 


1   „Erkenntnifs"  nicht  gesperrt  SW. 


?I5  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


läfst  sich  denken,  als  diese,  wo  zwar  das  Bedingte  auf  seine  Bedingung 
hinweiset,  die  Bedingung  aber  nicht  stark  genug  ist,  um  das  Bedingte  zu 
bevestigen.  In  solchem  Handel  ist  der  Wechsel  zwar  ausgestellt,  aber 
nicht  acceptirt,   und  noch  weniger  gezahlt. 

„Endlich  (lesen  wir  weiter)  steht  noch  zuweilen  ein  Vermögen  so  unter 
der  Bedingung  des  andern,  dafs  es  sich  nur  vermittelst  des  andern  äufsern 
kann,  ohne  von  ihm  als  Grundvermögen  abzuhängen.  So  ist  der  Sinn  die 
erste  causa  motrix,  wodurch  alles  innere  Leben  angeregt  wird,  und  ohne 
welche  selbst  die    Vernunft  sich  nicht  zeigen  könnte." 

Wo  ist  in  diesem  Gewirre  Anfang  und  Ende?  Das  Vermögen  der 
Erkenntnifs  ist  das  Grundvermögen.  In  diesem  Grundvermögen  giebt  es 
ein  Hauptvermögen,  Vernunft;  ein  Nebenvermögen,  Sinn;  aber  jenes,  das 
Haupt,  wartet  auf  den  Anstofs  seines  Untergeordneten !  Kehren  wir  doch 
die  Gedankenreihe  einmal  um!  Der  Diener  treibt  den  Herrn;  beyde 
aber  sind  zusammen  Eins,  nämlich  der  Grund,  woraus  das  übrige  Haus- 
we-[373]sen  seine  Existenz  schöpft!  In  schlechten  Wirthschaften  mag  es 
hie  und  da  so  aussehn! 

§•  3i6. 

Mit  der  Zusammenfügung  des  Mannigfaltigen  der  innern  Erfahrung 
steht  es  schlimm;  aber  noch  ungleich  schlimmer  mit  den  Begriffen,  durch 
welche  es  soll  gedacht  werden.  Da  nun  diese  Begriffe  das  Wichtigste 
sind,  und  ohne  Zweifel  im  Gegebenen  selbst  für  Jedermann  ein  Antrieb 
liegt,  sie  ungefähr  eben  so  zu  bestimmen,  wie  Fries,  der  sich  ja  einer  vor- 
züglich  sorgfältigen  Beobachtung  befieifsigt  hat:  so  wollen  wir  fürs  erste  hier 
so  nachgiebig  als  möglich  verfahren ;  und  versuchen,  ob,  und  wiefern  wohl 
diese  Begriffe  sich  mit  dem,  was  wir  schon  wissen,  werden  vereinigen 
lassen?     Alsdann  wird  sich  die  nöthige  Abweichung  von  selbst  finden. 

„Der  menschliche  Geist  (lesen  wir  bey  ihm  §.  80)  ist  eine  erreg- 
bare Selbsttätigkeit." 

Das  könnten  wir  als  einen  populären  Ausdruck  wohl  einräumen. 
Nämlich  die  Seele  (§.  312)  ist  in  mannigfaltiger  Selbsterhaltung  begriffen, 
deren  ganze  Möglichkeit  auf  den  zufälligen  Ansichten  beruht  (§.  234),  die 
von  ihr  richtig  sind ;  während  die  wirklich  eintretende  Selbsterhaltung  jedes- 
mal aus  dieser  Möglichkeit  hervorgehoben  wird  durch  Anderes,  was  mittel- 
bar oder  unmittelbar  mit  ihr  zusammen  ist.  In  diesem  Sinne  empfängt 
sie  eine  Wirkung,  die  man  allenfalls  einen  Beiz  nennen  kann ;  und  ihre 
Selbsterhaltung  mag  nun  erregt,  oder,  wenn  man  lieber  will,  die  Seele  mag 
als  aufgeregt  zur  Selbsterhallung  in  bestimmter  Form  betrachtet  werden. 
Dann  kann  gelten,  was  Fries  weiter  hinzufügt: 

„Die  Empfänglichkeit  dieser  Selbstthätigkeit  ist  der  Sinn.  Die  Thätig- 
keit  ist  Erregung.  Der  Reiz  wird  [374]  aber  in  der  innern  Erfahrung 
nicht  wahrgenommen.  Daher  sind  hier  die  ursachlichen  Prädicate  nicht 
Kräfte,  sondern  nur  Vermögen,  welche  einer  sinnlichen  Anregung  bedürfen, 
um   zur  Thätigkeit  gereizt  zu  werden." 

Obgleich  wir  uns  nun  eine  solche  Sprache  wohl  nach  unserer  Art 
deuten  können,  so  werden  wir  sie  uns  doch  nicht  aneignen.  Denn  Reiz- 
barkeit   setzt    im    bestimmteren    Sprachgebrauche    schon    innere    Spannung 


4.  Abschnitt.     Eidolologie.      2.   Capitel     Vom   Ich  und  Nicht-Ich  als  Thatsache.      217 

voraus ;  und  das  ist  ein  neuer  Begriff,  der  in  dieser  ganzen  Metaphysik 
noch  nicht  vorgekommen  ist,  während  der  Leser  ihn  aus  der  Psychologie 
schon  kennen  wird.  Die  Spannung  trit  erst  ein,  wo  innere  Zustände  sich 
gegenseitig  hemmen ;  und  die  Reizung  hat  zunächst  Reproduction  zur  Folge. 
Hier  sind  diese  Begriffe  gänzlich  fremd;  und  die  Bemerkung  wird  nur  im 
Vorbeygehn   gemacht,   um  künftigen   Misverständnissen   vorzubeugen. 

Wie  aber  denkt  sich  nun  Fries  seine  Geistesvermögen  ?  Sind  das 
wirklich  blofse  Möglichkeiten  in  unserm  Sinne,  deren  Ausdruck  die  zufälligen 
Ansichten  enthalten  würden,  ivemi  Jemand  dieselben  kennte?  —  Niemand 
kennt  sie ;  daher  würde  weiter  Nichts  von  ihnen  zu  lehren  seyn.  Auch 
giebt  es  ihrer  keine  bestimmte  Zahl,  sondern  man  kann  ihrer  unendlich 
viele  annehmen;  am  allerwenigsten  aber  darf  man  sie  für  reale  Prädicate  der 
Seele  halten,  wie  dies  aus  der  Ontologie  sattsam  bekannt  und  deutlich  seyn  soll. 

Fries  hingegen  kennt  seine  Geistesvermögen;  er  unterscheidet  sie  in 
Grundvermögen,  abgeleitete  Vermögen,  General -Vermögen  (das  Wort  steht 
wirklich  dort  S.  415),  Special -Vermögen,  Hauptvermögen,  Nebenvermögen 
u.  dergl.  m.  Ob  er  sie  auch  gezählt  habe,  wissen  wir  nicht  genau;  ver- 
muthlich  aber  hält  er  sie  für  zählbar;  und  die  Zahl  wird  bey  ihm  nicht  viel 
gröf-[3  75]ser  herauskommen,  als  etwan  auf  den  nach  Galls  Cranioskopie 
eingetheilten  Schädeln.  Wenigstens  lehrt  er  ausdrücklich :  „der  Gegenstand 
der  innern  Erfahrung  ist  ein  System  von  Vermögen  des  Geistes."  Auch 
setzt  er  hinzu :  „die  mannigfaltigen  Erscheinungen  der  innern  Erfahrung 
können  nie  im  eigentlichsten  Sinne  aus  einem  einzigen  Vermögen  des 
Geistes  erklärt  werden,  weil  alsdann  der  Zustand  desselben  ein  beharrlicher, 
ohne  Veränderung,   seyn   müfste." 

Diese  Stelle  ist  doppelt  merkwürdig.  Erstlich  mag  sie  die  verworrene 
Ansicht  Derjenigen  aufklären,  welche  sich  wegen  der  Spaltung  des  Ich  in 
eine  Vielheit  von  Vermögen  dadurch  zu  entschuldigen  glauben,  dafs  sie 
versichern,  sie  hätten  niemals  diese  Vermögen  als  ivirklich  getrennt,  sondern 
stets  zur  Einheit  verbunden  gedacht.  Desto  schlimmer  für  sie!  Denn  sie 
zeigen  blofs,  dafs  sie  nicht  recht  wissen,  ob  sie  wirklich  Eins,  oder  Vieles 
denken.  Ihnen  mag  gesagt  seyn,  dafs  sie  wirklich  Vieles  annehmen 
müssen,  weil  wirkliche  Einheit  kein  Princip  eines  Mannigfaltigen  seyn  kann. 
—  Wir  aber  haben  nun  zweytens  eine  Frage  vorzulegen.  Fries  räumt 
ein,  dafs  ein  einziges  Vermögen  nur  einen  beharrlichen  Zustand,  ohne 
Veränderung,  hervorbringen  würde.  Also  seine  Vermögen  thun  Nichts! 
Sonst  brächte  ja  schon  ein  einziges  Vermögen,  indem  es,  nach  seinem 
eignen  Ausdrucke  „in  seinem  einmaligen  Zustande  der  Thätigkeit  beharrte",  l 
und  „in  stetem  Ab/lnsse  wirkte",  die  entsprechende  Reihe  von  Veränderun- 
gen hervor!  Indem  wir  ihm  diesen  Widerspruch  hingehn  lassen,  fragen 
wir  nun,  was  denn  wohl  aus  dem  System  von  Vermöge?/,  folgen  solle?  Ge- 
setzt, dieses  ganze  System  sey  im  Abflüsse  aller  seiner  Thätigkeiten  be- 
griffen, so  giebt  es  einen  zusammengesetzten  Flufs,  eine  Art  von  Resul- 
tante, oder  Diagonale,  nach  der  ihr  [37b]  Gesammtwirken  fortgehn  mufs. 
Wie  kommt  denn  dahinein  der  Wechsel,  die  Abweichung?  Ist  es  Ernst, 
dafs    ein  Vermögen    allein    keine    Veränderung   hervorbringt,    so   gilt    dies 

1   beharrt  SW. 


2Ig  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.     1829. 


von  jedem,  mithin  auch  von  allen;  das  ganze  System  ruht.  Wenn  aber 
der  obige  Ausdruck  verfehlt  war,  so  thun  sie  alle  fortwährend  zusammen- 
genommen etwas,  und  immer  das  Gleiche;  ihr  Wirken  beschreibt  nun 
gleichförmig  eine  oder  mehrere  Linien;  ohne  Abweichung  des  Grades,  der 
Richtung  und  Geschwindigkeit.  Die  Vielheit  hilft  nichts;  sie  erklärt  nicht 
die  innere   Erfahrung. 

Das  hat  er  selbst  gefühlt,  und  sich  nun  erst,  zu  spät,  zurückgezogen 
in  eine  Unwissenheit,  die  wohl  früher  hätte  eingestanden  werden  sollen. 
„Allein  so  bestimmt  das  Gesetz  des  steten  Abflusses  auch  scheinen  mag, 
so  ist  es  doch  im  innem  Leben  von  keiner  genauen  Anwendung.  Denn 
jeder  innern  Thätigkeit  und  jedem  Vermögen  derselben  kommt  zu  jeder 
Zeit  ein  bestimmter  Grad  zu,  der  größer  oder  kleiner,  und  sogar  als  ver- 
schwindend gedacht  werden  kann."  Dafs  er  so  gedacht  werden  könne,  ist 
falsch.  Man  kann  nicht  nach  Belieben  das  nämliche  Thätige,  was  man 
eben  jetzt  ah  in  Thätigkeit  begriffen  denkt,  in  eben  diesem  Denken  wieder 
als  ruhend  denken.  Wohl  hat  man  Anfangs  bey  innern  wie  bey  äufsern 
Thätigkeiten  die  Wahl,  sie  als  ruhend  oder  als  bewegt,  fortschreitend,  zu 
denken:  aber  der  einmal  gefafste  Gedanke  mufs  consequent  vestgehalten 
werden.  Darauf  beruht  die  Lehre  von  der  gleichförmigen  Bewegung  der 
Körper;  man  darf  nicht  abspringen  von  der  einmal  gemachten  Voraus- 
setzung. „Aber  wir  vermögen  die  Bedingungen  nicht  vollständig  zu  beobachten, 
unter  denen  die  Stärkung  oder  Schwächung  eines  Geistesvermögens  steht." 
Was  für  Beobachtungen  sind  es  denn,  die  uns  fehlen,  [377]  und  die  wir 
zu  haben  wünschen?  Etwa  die  von  den  physiologischen  Einwirkungen, 
wodurch  das  System  der  Geistesvermögen  mag  gestört  oder  gefördert 
werden?  Hatte  Fries  Lust,  mit  den  Physiologen  von  Gehirnfibern,  mate- 
riellen Ideen  u.  dergl.  zu  phantasiren:  so  hätte  er  von  einem  System  der 
Geistesvermögen  gar  nicht  reden  sollen;  die  innere  Erfahrung  hätte  dann 
keinen  geistigen  Zusammenhang.  Soll  aber  irgend  ein  System  im  Geistigen 
angenommen  werden:  so  mufs  man  nicht  in  demselben  Augenblicke 
Mangel  an  Beobachtung  vorschützen,  wo  sich  die  Frage  nach  dem  gesetz- 
mäfsigen  Wirken  dieses  Systems  hervorthut.  Nicht  die  Beobachtung  fehlte, 
sondern  das  Denken;  von  Stärkungen  und  Schwächungen  eines  Geistes- 
vermögens wurde  ein  leerer  Begriff  der  Möglichkeit  dergestalt  eingeschoben, 
als  ob  wohl  zufälliger  Weise  die  Vermögen  bald  wachsen,  bald  abnehmen, 
bald  einander  fördern,  bald  hindern  könnten;  und  als  ob  von  solchem 
regellosen  Spiele  die  innere  Erfahrung  selbst  dergestalt  ergriffen  wäre, 
dafs  sie  keine  zusammenhängende  Beobachtung  liefern  könnte.  Gerade 
umgekehrt!  Gäbe  es  ein  System  von  Geistesvermögen:  so  würde  die 
innere  Erfahrung  als  ein  regelmäfsiger  Erfolg  daraus  hervorgehn.  Dann 
hätten  wir  im  gesunden,  wachsenden  Zustande  (denn  an  Traum  und  Deli- 
rium ist  hier  nicht  zu  denken),  und  in  solchen  Stunden,  worin  wir  uns 
den  Aufsendingen  nicht  hingeben,  eine  eben  so  regelmäßige  Reihe  von 
innern  Erscheinungen,  wie  die  astronomischen  es  sind.  Und  diese  Reihe 
wäre  bey  verschiedenen  Individuen  nahe  gleich,  weil  das  angenommene 
System  der  Geistesvermögen  in  ihnen  gleich  seyn  soll.  Dann  gäbe  es 
keine  Verschiedenheiten  der  Meinungen,  der  Lehren,  der  Neigungen. 
Allein  dem  widerspricht   die  wirkliche  innere  Erfahrung;   darum  läfst  Fries 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.     2.  Capitel.    Vom  Ich  und  Nicht -Ich  als  Thatsache.      219 

seine  Gedankenreihe  vom  stetigen  Abflüsse  der  Geistesvermögen  im  [378] 
nämlichen  Augenblicke  fallen,  wo  ihm  die  Gefahr  drohte,  seinen  Irrthum 
einzusehn. 

§•   317. 

Der  Begriff  von  einem,  in  stetigem  Abflüsse  seiner  Thätigkeit  be- 
findlichen Geistesvermögen  ist  nachgebildet  dem  einer  gleichförmigen  Be- 
wegung. Nun  haben  wir  oben  (§.  280,  281)  gezeigt,  dafs  solche  Be- 
wegung nicht  als  ein  innerer  Trieb  des  Bewegten  darf  angesehen  werden, 
weil  der  Trieb  durch  seine  eigne  Befriedigung  abnehmen,  folglich  die  Be- 
wegung nicht  einen  Augenblick  gleichförmig  seyn  würde.  Die  Thätigkeit 
eines  Geistesvermögens,  wenn  es  ein  solches  gäbe,  geschähe  aber  gewifs 
aus    innerm  Triebe,     und    die    Schwächung    (nach    der    bekannten    Formel 

1  —  e  )  würde  ihr  erstes  Naturgesetz  seyn.  Alle  Geistesvermögen  zu- 
sammengenommen stünden  unter  diesem  Gesetze ;  und  ihre  gemeinsame 
Thätigkeit  könnte  nun  so  viele  Formen  annehmen,  als  wie  viele  aus  ver- 
schiedenen Voraussetzungen  ihrer  ungleichzeitigen  Anregung  sich  berechnen 
liefsen. 

Eine  solche  Rechnung  aber  wollen  wir  Niemandem  empfehlen.  Denn 
erst  müfsten  wir  ein  blofses  Vermögen  —  das  heifst,  eine  blofse,  prädis- 
ponirte  Möglichkeit  dessen,  was  künftig,  zu  irgend  einer  Zeit,  einmal  wer- 
den kann,  —  aufnehmen  in  die  nicht  blofs  mögliche,  sondern  wahre,  und 
zeitlose,  Qualität  der  realen  Seele.  Zweytens  müfsten  wir  die  vielen  Ver- 
mögen beherbergen  in  der  nämlichen,  einfachen  Qualität.  Drittens  müfsten 
wir  uns  vertragen  mit  dem  Keime  von  Veränderungen,  der  in  jedem 
solchen  Vermögen  alles  Entgegengesetzte  seiner  künftigen  Evolutionen 
oder  Aufserungen   schon  jetzt  einschliefsen  sollte. 

Endlich  würden  wir  wohl  auch  noch  einen  uns  ganz  [379]  neuen 
Begriff  von  latenten  Kräften  mit  aufnehmen  müfsen.  Bisher  zwar  sprachen 
die  Physiker  von  latenter  Wärme,  nämlich  in  der  Voraussetzung,  dafs  bey 
den  bekannten  Formänderungen  der  Körper  das  Caloricum  mehr  gebun- 
den, oder  umgekehrt  mehr  offenbar  werde.  Eben  so  ist  eine  Elektricität 
latent,  —  etwan  im  Elektrometer,  —  so  lange  sich  eine  gleich  starke  ent- 
gegengesetzte aus  der  Ferne  her  wirksam  beweiset ;  mit  Hinwegnahme 
dieser  Wirksamkeit  trit  die  latente  wieder  hervor;  und  man  hat  hier,  wo 
Bindung  und  Entbindung  ganz  in  unserer  Gewalt  sind,  das  klarste  Beyspiel 
davon,  dafs  der  Begriff,  welcher  dem  Kunstworte  anhängt,  auf  eine  freye 
Kraft  nicht  passen  würde,   sondern  eine  Gebundenheit  voraussetzt. 

Ganz  in  diesem  Sinne  war  von  latenten  Vorstellungen  in  einer  psy- 
chologischen Abhandlung  gesprochen  worden.  Ungefähr  um  dieselbe  Zeit, 
oder  kurz  darauf,  schrieb  Fries  seine  Metaphysik.  Darin  heifst  es:  „eine 
Kraft  wird  latent,  ohne  durch  entgegengesetzte  Thätigkeit  aufgehoben  zu 
seyn,  nur  indem  der  Fall  nicht  da  ist,  in  dem  sie  wirken  kann.  Z.  B.  die 
Kraft  eines  Magneten,  wenn  kein  Eisen  in  der  Nähe  ist.  Der  Fall 
kommt  nun  auch  bey  Geistesvermögen  vor,  z.  B.  bey  dem  Willen,  der 
sich  als  Gesinnung  immer  gleich  sevn  kann,  aber  doch  nur  bey  einzelnen 
Gelegenheiten  zur  Aufserung  kommt." 


2  20  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


Wir  erinnern  uns,  dafs  Jeder,  wenn  er  sich  deutlich  erklärt,  und 
wenn  er  es  darauf  ankommen  lassen  will,  eine  Sprache  für  sich  allein  zu 
reden,  Herr  seines  Sprachgebrauchs  ist.  Wer  aber  einer  eben  aufgestellten 
neuen  Lehre  dadurch  sich  entgegen  setzt,  dafs  er  die,  für  dieselbe  sorg- 
fältig gewählten  Redensarten  anders  gebraucht,  ohne  nur  irgend  in  den 
Sinn  dieser  Lehre  eingedrungen  zu  seyn :  der  mufs  gewärtigen ,  dafs 
man  [380]  seine  Begriffe  schärfer  prüfe,  als  sonst  nöthig  möchte  ge- 
wesen seyn. 

Wir  halten  uns  jedoch  nicht  länger  hiebey  auf;  denn  es  liegt  am 
Tage,  dafs,  und  warum  der  Begriff  einer  Kraft,  die  vorhanden  ist,  und 
auf  Gelegenheiten  wartet,  um  hervorzubrechen,  schon  in  der  Ontologie  für 
nichtig  und  widersprechend  erklärt  ist.  Eine  solche  Kraft,  wenn  sie  wahr- 
haft Ist,  —  wenn  ihr  das  Seyn  soll  zugesprochen  werden,  —  erfordert 
eine  absolute  Position.  Dies  ist  ein  identischer  Satz.  Denn  etwas  als 
seyend  betrachten,  heifst,  es  schlechthin  setzen,  so  dafs  es  bey  dieser  ab- 
soluten Setzung  sein  Bewenden  haben  könne  (§.  204).  Eine  Kraft  aber, 
welche  wartet  auf  Gelegenheiten,  um  sich  zu  zeigen  wie  sie  ist,  durch 
die  Thätigkeiten,  die  ihre  Qualität  vorgeblich  ausmachen,  —  eine  solche 
Kraft  bezieht  sich  ihrem  Begriffe  nach  auf  etwas  Frerndes.  Das  heifst,  um 
diese  Kraft  zu  denken,  mufs  das,  was  man  denkt,  durch  eine  relative 
Position  bestimmt  werden;  wodurch  die  absolute  Setzung  unmöglich  ge- 
macht, die  wirkliche  Kraft  für  ein  Unding  erklärt  wird.  Wenn  nun  Fries 
nach  seiner  Sprache  den  Geist  mit  allen  seinen  Vermögen  der  Möglichkeit 
hingiebt,  latent  zu  werden,*  so  bleibt  ihm  überlassen  zu  bestimmen,  ob 
sein  Wissen  oder  sein  Glauben  vom  Geiste  so  beschaffen  ist,  dafs  darin 
statt  der  absoluten  Position  eine  relative  zureichen  könne  ?  Denn  in  das 
geheimnifsvolle  Verhältnifs  seines  Wissens  und  Glaubens  kann  eine  blofse 
Metaphysik  nicht  eindringen;  da  ästhetische  Urtheile  nicht  in  ihre  Sphäre  ge- 
hören; und  da  Kant  mit  gutem  Grunde  erinnert:  „es  ist  von  der  äufsersten 
Erheblichkeit,  Erkenntnisse,  die  ihrer  Gattung  und  ihrem  Ursprünge  nach 
von  andern  unterschieden  sind,  zu  [381]  isoliren,  und  sorgfältig  zu  ver- 
hüten, dafs  sie  nicht  mit  andern,  mit  welchen  sie  im  Gebrauche  gewöhn- 
lich verbunden  sind,  in  ein  Gemisch  zusammenfiiefsen."  ** 


§•  3i8. 

Lange  vor  Fries  war  das  Ich  dahin  gekommen,  sich  an  sich  selbst 
als  an  einen  Geist  mit  allerley  Vermögen  zu  besinnen;  denn  lange  vor 
Sokrates  hatte  es  angefangen,  sich  in  dieser  Art,  von  Selbstbesinnung 
vielmehr  als  Selbslbewu/stscv/i,  zu  üben.  Wenn  man  sich  zu  verschiedenen 
Zeiten  fragt:  wer  bin  ich?  und  wenn  man  die  unzähligen  Antworten,  die 
man  nach  und  nach  erhält,  niederschreibt,  sammelt,  ordnet:  dann  kommt 
ein  ganz  anderes  Ich  zum  Vorschein,  als  wenn  im  täglichen  Leben  auf 
die  Frage:  tvo  bist  Du?  geantwortet  wird,  ich  bin  hier;  ich  komme  gleich. 
Jenes  ist  eine  Frucht  der  Zeit,  die  nimmermehr  völlig  reifen  kann;  dieses 


*  A.  a.  O.  §.  80,  Nr.   5,  am  Ende. 
**  Kants  Kritik  d.  r.  V.    Methodenlehre  3.  Hauptstück. 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.     2.  Capitel.     Vom  Ich  und  Nicht -Ich  als  Thatsache.      22  I 

ist  ein  Geschöpf,  wie  es  scheint,  des  Augenblicks;  wenigstens  ist  es  fast 
so  leer,  wie  das  Kantische:  Ich  denke,  welches  unsre  gemeinsten  eben  so- 
wohl als  die  seltensten  Vorstellungen  soll  begleiten,  und  ihnen  zum  An- 
knüpfungspuncte  dienen  können. 

Fichte  nun,  dessen  reifen  und  überreifen  Idealismus  wir  im  vorigen 
Capitel  übersichtlich  betrachteten,  mag  uns  jetzt  noch  durch  seine  frühe- 
sten Bemühungen,  in  der  Wissenschaftslehre,  helfen,  uns  das  augenblick- 
liche, einfache,  flüchtige  Ich,  was  noch  mit  keinen  weitläufigen  Reminiscen- 
zen,  mit  keinem  schweren  Schatze  von  Geistesvermögen  beladen  ist,  zu 
vergegenwärtigen,  und,  wenn  es  seyn  kann,  zu  veredeln  und  zu  verklären. 
Der  Contrast  zwischen  ihm  und  Fries  ist  grofs,  und  die  entgegengesetzten 
Meinungen  können  unser  Auge  schärfen,  indem  wir  sie  neben  einander 
stellen. 

[382]  Durch  das  Kantische:  Ich  denke,  waren  alle  Gegenstände  in 
den  Platz  des  Gedachten  versetzt,  und  standen  dem  Ich,  als  dem  Denken- 
den, gegenüber.  Einer  von  den  gedachten  Gegenständen  war  das  Ich 
selbst.  Also  stand  es  an  zwey  Plätzen  zugleich ;  einerseits  in  der  Reihe 
mit  den  andern  Dingen,  andererseits  ihnen  allen  entrückt,  und  gleichsam 
auf  einem  höhern  Puncte.  Nun  war  auch  schon  seit  Kant  die  Bemer- 
kung geläufig  geworden,  dafs  an  den  Dingen  gewisse  Formen  des  An- 
schauens  und  des  Denkens  zu  unterscheiden  seyen,  die  man  nicht  so 
ansehen  dürfe,  als  ob  sie  unmittelbar  in  der  Empfindung  gegeben  wären. 
Die  Dinge  waren  nach  Kant  nur  nicht  ganz  Producte  des  Ich;  ein  kleiner 
Schritt  weiter,  und  sie  wurden  es  vollends;  da  die  Empfindung,  welche 
zur  Form  scheint  hinzugethan  zu  werden,  offenbar  nur  im  Ich  liegt,  und 
das  Ding  an  sich,  welches  aufser  der  Vorstellung  als  Grund  derselben 
angenommen  wird,  nun  als  ein  lächerlicher  Versuch  erschien,  das  Unvor- 
stellbare vorzustellen.  Fichte  fafste  also  die  ganze  Reihe  des  Gedachten 
als  ein  Werk  des  Ich,  vollbracht  ohne  Wissen  und  Wollen,  durch  innere 
Nothwendigkeit.  Und  nun  gerieth  ihm  das  Ich  in  die  sonderbarste  aller 
Verwickelungen.  Als  Complexion  von  Merkmalen,  wie  die  andern  Dinge, 
wurde  ihm  zwar  ein  Daseyn  beygelegt,  und  darin  war  es  den  übrigen 
Dingen  gleich.  Aber  eben  dies  beigelegte,  vorgestellte  Daseyn  war  kein 
wahres  Seyn;  die  Beylegung  ging  aus  von  dem  absoluten  Subject.  Wollte 
man  von  diesem  nun  auch  sagen,  es  sey?  Dadurch  wäre  es  selbst  in  die 
Reihe  gefallen.  Besser  schien,  zu  sagen,  es  handelt.  Darin  liegt  denn 
freylich,  dafs  es  sey,  und  zwar  allein  wahrhaft  sey;  aber  nur,  indem  es, 
als  ächte  causa  sui,  sich  selbst  setzt.  Das  Seyn  ruht  nun  auf  dem 
Handeln.  Doch  dies  ist  noch  das  Geringste.  Es  setzt  nicht  blofs  sich, 
sondern  auch  sich  in  der  [383]  Reihe,  und  die  ganze  Reihe.  Aber  wäh- 
rend nun  die  ganze  Reihe  in  ihm  liegt,  setzt  es  sie  doch  nicht  sich 
gleich,  sondern  sich  entgegen;  als  Nicht-Ich.  Alle  Realität  ist  ursprüng- 
lich in  ihm,  und  sein  Werk;  dennoch  erkennt  es  sie  nicht  dafür,  sondern 
giebt  sie  gleichsam  weg  und  ertheilt  das  bey  iveitcm  gröfste  Quantum  der- 
selben dem  Nicht -Ich.  Was  ist  nun  das  wahre  Ich?  Doch  ohne  Zweifel 
das,  und  ein  solches,  wie  es  wird  als  sein  eigenes  Werk.  Aber  dann  kann 
dieses  Werk  unmöglich  vollendet  seyn,  denn  es  ist  als  setzendes  Ich,  als 
ursprüngliches   Subject,    selbst    der    Ursprung   von    Allem.      Demnach    mufs 


222  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


das  Werk  vorrücken;  es  mufs  wenigstens  allmählig  dahin  abgeändert 
werden,  dafs  das  Nicht-Ich  verschwinde,  und  das  gesetzte  Ich  dem  setzen- 
den gleich  werde.  Die  jetzige  Setzung  des  Ich,  wie  wir  in  diesem  Augen- 
blicke uns  finden,  weil  wir  eben  uns  so  setzen,  ist  also  nichts  Ganzes; 
sondern  das  Vorrücken  gegen  das  Nicht-Ich,  welches  jetzt  geschieht  und 
immer  fortgeht  —  mit  andern  Worten,  das  Handeln  in  der  Welt,  nach 
dem  Gesetze  der  wachsenden  Selbstständigkeit,  und  der  fortwährenden 
Unterwerfung  aller  Dinge,  —  welches  sittliches  oder  freyes  Handeln  heifst, 
—  dies  ist  die  eigentliche  Ichheit,  deren  Wurzel  daher  vielmehr  in  dem 
praktischen  Vermögen  als  im   theoretischen  mufs  gesucht   werden. 

So  sollte  die  Sittlichkeit  darin  bestehen,  eine  theoretische  Irrung 
des  Vorstellens  auszugleichen.  Eine  Ansicht,  die  nur  durch  Neben- 
ideen deutlich  gemacht  werden  könnte,  auf  die  wir  uns  hier  nicht  ein- 
lassen. 

Aber  dem  sorgfältigen  Denker  kann  es  weder  so  leicht  werden,  diese 
Lehre  zu  erwerfen,  wie  Fries,  verdrieslich  über  die  Störung  des  Kan- 
tianismus,  für  gut  fand;  noch  so  leicht,  sich  in  ihr  vestzusetzen,  und  sie 
[384]  gar  auf  die  Physik  zu  übertragen,  wie  Schelling  einst  voll  kühner 
Hoffnung  unternahm. 

Es  kommt  vielmehr  darauf  an,  nachzusehn,  welche  Veränderung  sie 
im  berichtigenden  Nachdenken  erhalten  mufs.  Diese  Untersuchung  bleibt 
dem  nächsten  Capitel  vorbehalten.  Hier  müssen  wir  noch  eine  Übersicht 
der  mannigfaltigen  Gegenstände  bey fügen,  welche  bisher  zur  Betrachtung 
vorgelegt  wurden. 

§■   319- 

Es  wäre  nicht  schicklich  gewesen,  gegen  das  Ende  der  allgemeinen 
Metaphysik  den  Idealismus  noch  als  eine  Lehre  darzustellen,  die  wahr 
sey.  Der  aufmerksame  Leser  hätte  sich  darüber  nicht  mehr  täuschen 
lassen ;  das  Vorhergehende  widerspricht  zu  deutlich ;  und  der  Versuch, 
fürs  erste  eine  künstliche  Täuschung  hervorzubringen,  würde  keine  An- 
regung des  Untersuchungs-Geistes  (was  allein  der  Zweck  hätte  seyn  können), 
sondern  nur  Verwirrung  zur  Folge  gehabt  haben.  Deswegen  zogen  wir 
es  vor,  sogleich  im  ersten  Capitel  der  Eidolologie  den  Idealismus  als  in 
seiner  eignen  Auflösung  begriffen  historisch  zu  bezeichnen. 

Alsdann  haben  wir  in  diesem  zweyten  Capitel  zuerst  die  beyden 
Hauptsätze  herbeygeführt,  dafs  die  Seele  Substanz  ist,  und  dafs  die  Vor- 
stellungen ihre  Selbsterhaltungen  sind.  Hiedurch  sichern  wir  der  weitem 
Betrachtung  ein  paar  Stützen,  an  welchen  Derjenige,  der  unsre  wahre 
Meinung  sonst  nicht  deutlich  genug  ausgedrückt  finden  möchte,  sich  halten, 
und   von  wo  aus   er  sich   orientiren  kann. 

Nun  gehörte  aber  zur  Vollständigkeit  der  Auffassung  die  doppelte 
Ansicht  des  Ich,  nach  welcher  in  demselben  entweder  das  Object,  oder 
das  Subject,  als  vorherrschend  erscheint.  Fries  zeigt  das  Ich  ganz  als 
Object;  sein  Subject  in  der  transscendentalen  Apper-[385]ception  schwimmt 
wie  Schaum  oben  auf,  ohne  irgend  etwas  zu  bestimmen;  denn  die  ein- 
zelnen Geistesvermögen,  welche  dem  objectiven  Ich  zu  Merkmalen  dienen, 
haben  jedes  seinen  eignen  stetigen  Abrlufs,    der,    man  begreift  nicht  wie? 


4.  Abschn.    Eidolulogie.   3.  Cap.  Schärfung  des  Begriffs  vom  Ich  und  Widerlegung  etc.  22\ 

zu  Anomalien  im  wirklichen  Verlauf  des  Lebens  kommt,  von  welchen  jene 
Stetigkeit  billig  frey  seyn  sollte. 

Fichte  im  Gegentheil  wendet  sich  ganz  an  das  Subject,  als  an  das 
Setzende,  welchem  das  Gesetzte  folgen  mufs.  Sollen  wir  noch  hier,  wie 
zuvor  bey  Fries,  überlegen,  ob  wir  eine  solche  Lehre  wohl  mit  unserer 
schon  aufgestellten  Ontologie  vereinigen  könnten?  Das  ist  unnöthig.  Unser 
Satz:  die  Seele  ist  Substanz;  ihre  Selbsterhaltungen  werden  durch  andre  reale 
Wesen  veranlafst,  —  widerspricht  dem  Idealismus  geradezu.  Wenn  wir 
uns  vorbehalten,  seine  Lehre  weiter  zu  prüfen:  so  geschieht  das  nicht  in 
der  Meinung,  das  einmal  Bewiesene  könnte  wieder  umgestofsen  werden; 
sondern  deshalb,  weil  in  dem  Ich  noch  ein  Problem  liegt,  dessen  Auf- 
lösung uns  neue  Begriffe,  nähere  Bestimmungen  der  vorigen  Resultate 
geben  soll. 

Fichtes  Auffassung  zeigt  die  gerade  entgegengesetzte  Einseitigkeit 
der  älteren,  welche  Fries  erneuert,  und  weiter  auszubilden  versucht  hat. 
Fichte  ist  nicht  der  Wahrheit,  aber  der  Untersuchung  näher  als  Fries; 
dies  erkennen  wir  als  seinen  Vorzug  an;  während  Andre  es  als  einen 
Mangel  betrachten,  weil  sie  nicht  gewohnt  sind,  Motive  für  das  fortschrei- 
tende  Denken   zu  suchen   und   zu   schätzen. 

Uns  gilt  offenbarer  Irrthum  mehr  als  halbe  Wahrheit,  wenn  jener 
uns  fördert,  wo  diese  uns  aufhält.  Schon  darum  schätzen  wir  auch 
Fichtes  ältere  Lehre  höher,  als  die  spätere  vielfach  aecommodirte  und 
verworrene. 


[386]        Drittes  Capitel. 
Schärfung  des  Begriffs  vom  Ich,  und  Widerlegung  des  Idealismus. 

§•  320. 

Zuerst  die  Frage,  wie  viel  aus  den  beyden  Lehrsätzen,  die  im  vorigen 
Capitel  gefunden  wurden,   folgen  möge? 

Vorstellungen  sind  Selbsterhaltungen  der  Seele.  Aber  dieser  Satz 
pafst  nicht  unmittelbar  auf  eigentliche  Vorstellungen,  das  heilst,  auf  Bilder, 
wodurch  Dinge  repräsentirt  werden.  Denn  die  Seele,  ein  reales,  einfaches 
Wesen,  erhält  sich;  ein  solches  Thun  oder  Geschehen  mufs  geradeso  ein- 
fach seyn,  wie  sie  selbst,  die  dadurch  erhalten  wird,  als  das,  was  sie  ist. 
Folglich  können  wir  den  Satz  zunächst  nur  auf  einfache  Empfindungen 
beziehen;  wie  Ton  und  Farbe. 

Nun  entsteht  hieraus  für  die  Eidclologie  eine  dreyfache  Scheidung 
unter  den  Vorstellungen,   deren  Erklärung  gesucht  wird. 

Die  erste  Classe  der  Vorstellungen  (im  weitem  Sinne  des  Worts)  sind 
die  einfachen  Empfindungen  selbst;  und  diese  machen  hier  keine  Schwie- 
rigkeit, da  wir  uns  um  ihre  Veranlassung  aufser  der  Seele  für  jetzt  nicht 
bekümmern.  Die  zweyte  Classe  enthält  solche  Vorstellungen,  welche  als 
Verbindungen  einfacher  Empfindungen  in  bestimmten  Formen  anzusehen 
sind;   und   dahin  gehören  die  Vorstellungen  der  sinnlichen  Dinge,   mit  ihren 


2  2A  ^    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


Merkmalen,  und  ihrer  räumlichen  Gestaltung.  Dabey  kommt  schon  der 
Ursprung  solcher,  in  jedem  Falle  besonders  bestimmter  Formen  in  Frage. 
Die  dritte  Classe  aber  ergeben  diejenigen  Vorstellungen,  deren  Inhalt  nicht 
Empfindung  ist;  wie  die  des  Raums,  der  Zeit,  und  aller  übersinnlichen 
Gegenstände. 

[387]  Die  zweyte  Classe  ist  nicht  so  geheimnisvoll  wie  die  dritte. 
Denn  sie  erinnert  an  den  Umstand,  dafs  Verbindung  unter  den  Empfin- 
dungen gar  nicht  ausbleiben  kann,  weil  dieselben  nothwendig  in  der  Einen 
Seele,  welche  in  ihnen  allen  nur  sich  selbst  erhält,  zusammenfallen  müssen.* 
Hiebey  entsteht  sogleich  die  weitere  Frage:  warum  sie  detm  nicht  alle,  die 
später  entstandenen  mit  den  frühem,  ohne  irgend  einen  Unterschied,  zusammen- 
fallen, so  daß  ihr  Voj gestelltes  ein  unt heilbares  Eins  ausmache?  Und  die 
Antwort  kann  nirgends  anderswo  den  Grund  setzen,  als  in  ihnen  selbst. 
Die  Einfachheit  der  Seele,  als  eines  realen  Wesens,  dessen  Qualität  kein 
Mannigfaltiges  in  sich  schliefst,  erlaubt  nicht,  in  ihr  besondere  reale  Eigen- 
heiten anzunehmen,  wodurch  eine  Absonderung  der  Empfindungen  ent- 
stehen könnte.  Die  Beschaffenheit  der  zufälligen  Ansichten,  nach  welchen 
diejenigen  Selbsterhaltungen  geschehen,  die  wir  als  Empfindungen  kennen, 
mufs  es  mit  sich  bringen,  dafs  nicht  alle  mit  allen,  sondern  einige  mit 
Ausschüefsung  anderer,  in  Verbindung  treten;  wodurch  für  uns  eine  Mehr- 
heit von  Dingen  entsteht. 

Von  hier  aus  eröffnet  sich  schon  ein  Zugang  zu  denjenigen  Unter- 
suchungen über  die  Hemmung  unter  den  Vorstellungen,  welche  ursprüng- 
lich auf  einem  andern  Wege  sind  gefunden  worden.**  Auch  kann  der 
Faden  der  Betrachtung  fortlaufen  bis  zu  den  Complicationen  und  Ver- 
schmelzungen; ja  bis  zu  den  Reproductionsgesetzen  und  den  Reihen- 
formen. 

[388]  Folglich  bleibt  auch  die  dritte  Classe  kein  undurchdringliches 
Geheimnifs;  allein  die  Untersuchung  würde  doch  auf  diesem  Wege  allein 
schwerlich  überall  fortkommen.  Wenigstens  wollen  wir  hier  still  stehen, 
um  uns  zu  orientiren. 

Es  ist  leicht  zu  erkennen,  dafs  wir  uns  in  der  Gegend  des  Kantischen 
Idealismus  befinden.  Nach  ihm  sollen  zwar  die  Empfindungen  von  aufsen 
kommen;  auch  müssen  sie  sich  selbst  die  Formen  ihrer  Verbindungen 
gleichsam  auswählen;  denn  in  Kants  Lehre  liegt,  wie  wir  oft  erinnert 
haben,  kein  Grund  für  die  bestimmten  Gestalten,  in  welchen  das  Em- 
pfundene zusammentrit.  Dennoch  sollen  die  ganzen,  ungetheilten  Formen 
des  Raums,  der  Zeit  u.  s.  f.  ursprünglich  im  Gemüthe  bereit  liegen;  und 
eben  das  müfsten  wir,  wenn  keine  Untersuchung  weiter  führte,  uns  als 
ein  unbegreifliches  Wunder,  und  als  einen  Flecken  unserer  Ontologie, 
ebenfalls  aufdringen  lassen;  da  solche  Vorstellungen,  die  nichts  Empfind- 
bares enthalten,  nun  einmal  als  Thatsachen  vorhanden  zu  seyn  scheinen, 
und  jene  dritte  Classe  ausmachen. 


*  Vergl.  Psychologie  II.  §.    118.     (Bd.  VI  vorl.  Ausgabe.) 

**  Psychologie  I,  §  29  und  36.  (Bd.  V  vorl.  Ausgabe.)  Wer  diese  Unter- 
suchungen nicht  schon  kennt,  der  mufs  sie  hier  des  Zusammenhangs  wegen  nothwendig 
kennen  lernen,  und  am  angegebenen  Orte  aufsuchen. 


4.  Abschn.   Eidolologie.  3.  Cap.  Schärfung  des  Begriffs  vom  Ich,  und  Widerlegung  etc.  2 2  ■% 

Dahin  gehören  denn  ganz  besonders  auch  die  Vorstellung  Ich.  Und 
wir  bekämen  demnach,  wenn  wir  so  auf  halbem  Wege  stehen  blieben, 
eine  Zusammensetzung  aus  wahrer  und  falscher  Psychologie;  ein  Gemenge 
aus  Mechanik  des  Geistes,  und  aus  ursprünglichem  Selbstbewufstseyn,  nebst 
den  zugehörigen  Formen  des  Verstandes  und  der  Vernunft,  ja  auch  selbst 
der  Sinnlichkeit.  Wird  das  vielleicht  irgend  einmal  Beyfall  finden  bey 
den   Eklektikern? 

§•    32  1. 

Bestehen  kann  wenigtens  eine  solche  Zusammensetzung  unmöglich. 
Derjenige  Theil  in  ihr,  welcher  der  Mechanik  des  Geistes  entlehnt  ist, 
wird  allmählig  [38g]  weiter  um  sich  greifen;  und  die  Seelenvermögen 
werden  sich  immer  enger  beschränkt  finden.  Denn  die  Lehre  von  den 
Reihenformen  durchdringt  von  selbst  sowohl  die  leeren  Bilder  des  Raums 
und  der  Zeit,  als  die  Kategorien.*  So  wird  das  Gleichgewicht  gestört 
werden,  worin  wir  im  vorigen  Capitel  Fichte  und  Fries  erblickten;  und 
zwar  zum  Nachtheil  des  letzteren.  Eben  darum  aber  wird  der  Idealismus 
einen  temporären  Sieg  erlangen. 

So  lange  im  Gemüth  ein  unerklärbares  Mannigfaltiges  von  allerley 
Formen  und  Gesetzen  beysammen  zu  seyn  schien,  erblickte  das  Ich  sich 
selbst  als  ein  Nicht-Ich.  Denn  diese  Organisation  des  Geistes,  mit  vieler- 
ley  Vermögen,  wie  könnte  sie  dem  Ich  besser  entsprechen,  als  die  Or- 
ganisation des  Leibes?  So  nun  gerade,  wie  der  einigermafsen  Gebildete 
Sich  Selbst  unterscheidet  von  dem  vielfach  zusammengesetzten  Leibe,  eben 
so  setzt  auch  unvermeidlich  der  schärfer  Denkende  das  System  von  Geistes- 
vermögen, welches  ein  buntes  Mannigfaltiges  ist,  dem  Einen  und  untheil- 
baren  Ich  entgegen.  Wie  könnte  Ich  Mich  erkennen  in  dem  zufällig  vor- 
gefundenen Schatz  von  Anlagen,  mit  denen  ich  ausgerüstet  bin?  Wie 
sollte  Ich  auf  diese  Weise  Mich  Selbst  verwechseln  mit  meinem  angebornen 
Besitzthum  ? 

Anders  verhält  sich  die  Sache,  wenn  ich  selbst  in  allen  meinen  sei- 
stigen  Reichthümern  der  Producirende  bin.  Je  mehr  die  eigne  Thätig- 
keit  sichtbar  wird  in  dem,  was  vorhin  nur  ein  innerlich  Gegebenes  zu 
seyn  schien:  desto  mehr  Hoffnung  ist  vorhanden,  dafs  Ich  Mich  Selbst 
in  allem  Dem  erkennen  werde,  was  ich  unbewufst  hervorbrachte,  und 
dann  als  ein  Geschenk  einer  von  mir  verschiedenen  Natur  hinnahm.  Es 
ist  nämlich  alsdann  nicht  ein  Werk,  das  unabhängig  von  mir  bestünde, 
son-[39o]dern  es  hat  sein  Bestehen  nur  in  meinem  Thun,  und  gehört 
insofern  zu  mir  Selbst. 

Ist  einmal  der  Idealismus  auf  diesen  Punct  der  Betrachtung  ge- 
kommen, so  säumt  er  nicht  länger,  von  dem  Ich  alles  dasjenige  auszu- 
stofsen,  was  nicht  dem  setzenden  Ich  als  sein  Product  kann  zugeschrieben 
werden;  und  dagegen  alles  Das  in  die  Zahl  dieser  Producte  aufzunehmen, 
was,  wie  er  sagt,   das   Ich  in  sich  findet. 

Dafs  aber  der  Idealismus  den  Begriff  des  Ich  in  voller  Schärfe  auf- 
fassen   sollte:    daran    fehlt    viel.      Der  Ausdruck,    das  Ich    setzt  sich,    es  ist 


*  Psychologie  II,   §.114  am  Ende;  und  §.    124.     (Bd.  VI  vorl.  Ausgabe.) 
Herbart's  Werke.     VIII.  15 


226  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

nur  das,  als  was  es  sich  setzt,  es  ist  Identität  des  Objects  und  Subjects,  — 
dieser  Ausdruck  zwar  wird  leicht  gefunden,  aber  es  ist  nicht  leicht,  ihn 
vestzuhalten.  Als  Was  denn  setzt  sich  das  Ich?  Bekanntlich  nicht  blofs 
als  denkend,  sondern  auch  als  fühlend,  als  wollend  und  wirkend.  Dem- 
nach zugleich  als  leidend  und  als  handelnd.  Hiezu  aber  gehören  Gegen- 
stände,  die  mit  dem  Ich  in  Wirkung  und  Gegenwirkung  stehen.  Das  Ich 
setzt  also  auch  diese  Gegenstände,  jedoch  in  Beziehung  auf  sich;  denn 
wer  sie  als  Dinge  an  sich  betrachten  würde,  der  vergäfse  in  diesem  Augen- 
blicke nur  Sich  als  den   Betrachtenden. 

Was  ist  nun  das  Ich?  Es  ist  das  Setzende  des  Ich  und  des  Nicht- 
Ich;  mithin  gewifs  kein  reines  Ich.  Denn  ein  solches  müfste  nur  allein 
Sich  setzen  (§.  318). 

Hier  liegt  ein  Widerspruch  vor  Augen.  Das  Setzende  des  Nicht-Ich 
kann  gewifs  nicht  defmirt  werden  durch  jene  Identität  des  Setzenden  und 
Gesetzten.  Es  ist  also  nicht  Ich;  nicht  das  in  sich  zurückgehende  Wissen 
von  Sich.  Gleichwohl  finde  ich  mich  so;  ich  ergreife  mich  so  in  der  Mitte 
meines  Wirkens  und  Leidens.  Ich  bin  also  mir  selbst  nicht  gegeben  als 
ein  blofses  Ich,  sondern  zugleich  als  mein  eignes  Gegentheil,  als  Nicht-Ich. 

[391]  Was  ist  nun  dabey  zu  thun?  Wir  wissen  es  zwar;  aber  wir 
wollen  noch  einen  Augenblick  das  Beginnen  Derjenigen  betrachten,  die  es 
nicht  wissen.  Diese  halten  vest  an  dem  gegebenen  Begriffe,  als  ob  ihm 
ein  wahrer  Gegenstand  entspräche;  sie  schieben  die  Schuld  der  Unbegreif- 
lichkeit lieber  auf  ein  mangelhaftes  Begreifen,  als  auf  die  Verkehrtheit  des 
Begriffenen.     Und  was  werden  sie  nun  herausbringen? 


§•   322. 

Ein  unvollkommenes  Ich,  das  sich  selbst  nicht  gleich  ist,  liegt  vor 
Augen.  Das  wahre  Ich  sollte  gegeben  seyn.  Also  wird  das  wahre,  reine 
Ich  als  eine  Forderung  hinzugedacht.  In  dieses  mufs  das  unreine  Ich  auf- 
gelöset  werden.  Kann  man  sich  nun  damit  begnügen,  zu  hoffen,  oder  zu  er- 
warten, und  voraus  zu  sagen,  die  Forderung  werde  künftig  einmal  erfüllt  werden  ? 

Fichte,  in  seiner  altern  Lehre,  begnügte  sich  damit;  er  stellte  die 
Reinigung  des  Ich,  den  Sieg  über  die  Natur,  als  ein  Sollen,  als  sittliche 
Aufgabe  dar.  Jedoch  ists  kein  Wunder,  dafs  diese  Lehre  eine  andere 
Gestalt  annahm. 

Abstrahirt  man  von  der  Zeit,  als  von  einer  Form  des  Anschauens; 
überlegt  man,  dafs  jedes  Künftige  schon  im  Keime  wirklich  ist:  so  ver- 
wandelt sich  die  Forderung  des  reinen  Ich  in  die  Behauptung,  es  sey 
schon  vorhanden,  nur  nicht  im  gemeinen  Selbstbewufstseyn  gegeben,  sondern 
verdunkelt  und  verhüllt. 

Unser  menschliches  Ich  erscheint  sich  selbst  zu  klein.  Allem  Ge- 
setzten müfste  das  Setzende  gleich  seyn.  Nur  einem  kleinen  Theile  nach  ist 
unser  Gesetztes  dem  Setzenden  gleich.  Also  —  Wir  sind  nur  kleine  Theile 
desjenigen   Ich,   das  wir  als  das  Ganze  hinzudenken  müssen. 

Hinzudenken?  Unsre  Erkenntnifs  von  dem  gan-[392]zen,  reinen  Ich 
kann  nicht  ein  Denken  seyn;  denn  das  wahre  Ich  setzt  unmittelbar  sich 
selbst,  und  nicht  erst  mittelbar  durch  Schlüsse. 


4-Abschn.  Eidolologie.  ß.Cap.  Schärfung  des  Begriffs  vom  Ich,  und  Widerlegung  etc.  22  7 

Haben  wir  also  eine  wahre  Erkenntnifs  vom  reinen  Ich :  so  mufs 
dieselbe  nicht  Denken,  sondern  Anschauung  heifsen.  Und  nun  kommt  es 
nur  noch  darauf  an,  dafs  man  sich  wirklich  einbilde,  eine  solche  An- 
schauung zu  besitzen.  Dann  kann  aus  dieser  Lehre  nach  Belieben  Spino- 
zismus,  mit  seinem  dritten  Grade  der  Erkenntnifs,  ■ — ■  oder  auch,  wenn 
man  will,  Plotinismus  werden,  sammt  allen  schönen  Reden  vom  Urlicht 
und  seinen  Strahlen. 

Was  wir  eben  das  reine  Ich  nannten,  das  ist,  bey  näherer  Betrach- 
tung, auch  so  noch  nicht  vollständig  vorhanden,  sondern  es  wird  erst 
werden.  Das  Eine,  was  Allem  vorangeht,  gelangt  nämlich  zum  Theil  in 
uns,  zum  Theil  aber  eben  so  in  Andern,  überhaupt  also  zunächst  nur  in 
den  Individuen,  zu  einem  vielgespaltenen  Selbstbewufstseyn.  Und  diese 
Spaltungen  können  nur  aufhören,  insofern  allmählig  alle  Individuen  durch 
jene  Anschauung  sich  erheben  zur  Rückkehr  in  das  Eine. 

Kein  Wunder  nun,  wenn  die  Individuen,  nicht  blofs  Sich,  sondern 
zugleich  ein  grofses  Nicht- Ich  in  Sich  finden.  Die  Spaltung  des  Einen 
ist  daran  Schuld.  Für  jeden  Theil,  der  als  gesondert  vom  Ganzen  er- 
scheint, sind  alle  andern  Theile  Nicht-Ich.  Dennoch  liegen  alle  Theile 
in  Einem,  dessen  Wesen  gerade  in  der  Energie  besteht,  womit  es  sich 
strahlend  ausbreitet.  Mithin  findet  jedes  Individuum  Alles  in  sich;  es 
sieht  das  Ganze;  nur  nicht  sich,  das  Individuum,  als  das  Ganze.  Und  so 
ist  der  Widerspruch  —  zwar  nicht  aufgelöset,  aber  glücklich  im  Cirkel 
herumgeführt ! 

In  wie  vielen  Metamorphosen  wird  sich  diese  Schwärmerey  noch  hin 
und  hertreiben?  Das  Wirkliche  ist  nun  [393]  schon  so  oft  zuirklich  aus 
dem  Möglichen  hervorgezaubert  worden,  dafs  wir  uns  vergebliche  Mühe 
geben  würden,  wenn  wir  nachwiesen,  das  Eine  sey  nur  eine  Möglichkeit, 
so  lange  es  Eins  bleibt,  und  es  werde  erst  wirklich,  indem  es  Vielheit  in 
sich  setzt;  ja  es  hebe  seine  Wirklichkeit  wieder  auf,  und  kehre  in  leere 
Möglichkeit  zurück,  indem  es  gestattet,  dafs  die  Individuen  sich  wieder  in 
das  Eine  versenken.  Was  würden  wir  mit  solchen  Widerlegungen  ge- 
winnen? Es  fehlt  den  Vertheidigern  dieser  Lehre  nicht  an  Dreistigkeit, 
zu  sagen,  die  Möglichkeit  sey  eben  das  wahre  Seyn;  und  die  Rückkehr 
der  Individuen  in  das  Eine  geschehe  nur  im  Begriff,  nicht  in  der  Wirk- 
lichkeit. Hielten  wir  nun  vest  an  dem  Satze,  die  Möglichkeit  sey  das 
wahre  Seyn,  und  folglich  verunreinige  sie  sich,  indem  sie  zur  Existenz 
heraustrete:  so  würde  man  uns  antworten,  eben  darin  bestehe  die  wahre 
Möglichkeit,  dafs  sie  keine  blofse  Möglichkeit  sey,  sondern  die  Wirklich- 
keit in  ihrem  Schoofse  verberge,  welche  demnach  auch  hervortreten  müsse. 
Eben  so  leicht  würde  man  unser  Bedenken  wegen  des  gespaltenen  Ich 
mit  der  Behauptung  zurückweisen,  Spaltung  des  Ich  sey  eben  das  wahre 
Wesen  desselben,  indem  es  ja  sich  selbst  in  Object  und  Subject  zerlege; 
damit  aber  das  Object  sich  vom  Subjecte  unterscheiden  könne,  müsse  es 
mannigfaltig  seyn,  während  ja  dem  Subjecte  die  Einheit  zukomme;  und 
damit  nun  wiederum  beyde  gleich  seyen,  müsse  die  Mannigfaltigkeit,  worin 
das  Eine  sich  objectivire,  in  jedem  Puncte  auch  als  Subject  sich  selbst 
anschauen ;  welches  denn  die  Vielheit  der  Individuen  zur  nothwendigen 
Folge  habe.      Nichts  ist  leichter,   als  auf  solche  Weise  eine   Ungereimtheit 

15* 


228  !•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


aus  der  andern  zu  erzeugen,  und  mit  hinlänglicher  Dreistigkeit  jeder  Wider- 
leo-uno-  dadurch  zu  entgehen,  dafs  man  gerade  das  Ungereimteste  selbst 
behauptet;  denn  alsdann  ist  [394]  man  sicher,  nicht  erst  ad  absurdum 
geführt  zu  werden. 

Aber  es  giebt  doch  für  diese  Dreistigkeit  einige  Entschuldigung, 
welche  in  der  Natur  des  Gegenstandes  liegt.     Sie  wird  sich  gleich  zeigen. 

§•  323- 

Nirgends  im  Gegebenen  liegen  die  Widersprüche  so  gedrängt,  als 
eben  im  Selbstbewufstseyn ,  wo  das  gewöhnliche  Vorurtheil  den  Sitz  der 
Wahrheit  sucht. 

Soll  der  Begriff  des  Ich  scharf  gedacht  werden,  —  und  das  ist  die 
erste  Bedingung  aller  möglichen  Untersuchung,  —  so  darf  er  nichts  anderes 
enthalten,  als  eben  nur  die  Einerleyheit  des  Wissenden  und  Gewufsten. 
Sobald  das  Gewufste  irgend  eine  ihm  eigene  Bestimmung  annimmt,  die 
zur  Antwort  dienen  könne  auf  die  Frage,  was  denn  eigentlich  gewulst 
werde?  —  so  geht  die  Einerleyheit  verloren,  welche  Wissendes  und  Ge- 
wufstes  verbinden  soll.  Sey  das  Gewufste  irgend  ein  A,  so  ist  das  Wissen 
von  A    nicht  A    selbst,    und    die    Summe:    A  plus   dem    Wissen    von  A,  ist 

kein  Ich. 

Auch  setze  ich  mich  in  der  That  nicht  als  irgend  etwas  Bestimmtes 
und  sich  selbst  Gleiches;  sondern  bald  so  bald  anders;  dergestalt,  dafs 
alle  nähern  Bestimmungen  dem  Ich  zufällig  bleiben. 

Nach  dieser  Vestsetzung  fällt  nun  alles  ohne  Ausnahme  ins  Nicht- 
Ich,  als  was  das  Ich  sich  pflegt  zu  setzen;  z.  B.  als  fühlend,  als  handelnd, 
als  wollend.  Dahin  gehören  auch  alle  Seelenvermögen,  Verstand,  Ver- 
nunft, Gedächtnifs,  Affect,  Begierde,  —  kurz  Alles,  was  der  Mensch  in 
seiner  geistigen  Organisation  zu  haben  glaubt,  wie  wenn  es  die  Gliedmaafsen 
wären,  deren  er  sich  im  geistigen  Handeln   bediene. 

Hiemit  ist  nun  zwar  die  oben  verlangte  Scheidung  (§.  310)  vollzogen, 
und  die  Erklärung  von  Fries  (§.  314)  [395]  entschieden  verworfen.  Allein 
obgleich  dies  das  einzige  Mittel  ist,  um  Bestimmtheit  in  die  Begriffe  zu 
bringen,  so  trennt  sich  doch  hier  das  gegebene  Ich  vom  Begriffe  des  Ich 
insofern,  als  jenes  mehr  zu  enthalten  scheint,  wie  dieser  aufnehmen  will. 

Man  kann  freylich  nicht  angeben,  was  eigentlich  das  gegebene  Ich 
enthalte.  Aber  doch  fehlt  es  in  gemeinem  Selbstbewufstseyn  niemals  an 
irgend  einer  Angabe,  wie  das  Ich  sich  finde.  Immer  trägt  es  eine  fremd- 
artige Bestimmung  des  jetzigen  Thuns  ödes  Leidens  mit  sich ;  immer  also 
nimmt  es  irgend  ein  Nicht-Ich  an;  wiewohl  hintennach  wieder  davon  ab- 
strahirt  werden  kann. 

Mit  dieser  schlüpfrigen  Natur  des  gegebenen  Ich,  welches  sich  nie 
als  ein  bestimmtes  Besonderes,  aber  doch  immer  als  irgend  ein  Besonderes 
setzt,  können  wir  uns  nun  in  der  Speculation  nicht  vertragen.  Sondern 
hier  liegt  der  erste  Widerspruch:   das  Ich  findet  sich  als  ein  Nicht- Ich. 

Sobald  wir  aber  den  strengen  Begriff  des  Ich  speculativ  vesthalten 
wollen:  findet  sich  in  demselben  eine  zweyte  ganze  Classe  von  Wider- 
sprüchen; dies  sind  nämlich  diejenigen,  deren  Auseinandersetzung  aus  der 


4-Abschn.  Eidolologie.   3-Cap.   Schärfung  des  Begriffs  vom  Ich,  und  Widerlegung  etc.  o  20 

Psychologie  bekannt  ist.  *  Das  Ich  entwickelt  sich  in  eine  doppelt  unend- 
liche Reihe,  indem  .weder  das  Object  angegeben  werden  kann,  da  immer 
das  Gewufste  nur  das  Wissen  selbst  seyn  soll,  —  noch  das  Subject  je- 
mals völlig  erreicht  wird,  indem  immer  das  Wissen  selbst  Gewufstes  für 
ein  höheres  Wissen  reyn  mufs.  Dazu  kommt  noch,  dafs  je  zwey  nächste 
Glieder  der  unendlichen  Reihe  im  Gegensatze  des  Wissens  und  Gewufsten 
stehen,   folglich  nicht  gleich   gesetzt  werden  können. 

Man  würde  ganz  vergebens  gegen  diese  Widersprüche  sich  darauf 
berufen,  dafs  ja  das  gegebene  Ich  kein  reines  Ich  zu  seyn  verlange.  Das 
gegebene  Ick  trägt  nur  noch  schwerer  an  seinen  Widersprüchen,  weil  sich 
auch  sogar  die  individuellen  Bestimmungen  einmischen,  um  derentwillen 
wir  so  eben  den  Satz  aussprachen,  das  Ich  finde  sich  als  Nicht-Ich.  Aber 
darum  hört  es  nicht  auf,  unter  den  allgemeinen  Begriff  der  Ichheit  zu 
fallen.  Die  Ichheit  liegt  in  der  Identität  des  Wissenden  und  Gewufsten; 
und  wer  nicht  auf  sein  eignes  Selbstbewufstseyn  Verzicht  leistet,  der  mufs 
bekennen,  dafs  er  diesen  Begriff  auf  sich  anwendet. 

Ein  dritter  Widerspruch  in  der  Art,  wie  wir  uns  finden,  kommt  zum 
Vorschein,  wenn  man  vom  Ich  ganz  abstrahirt.  Alsdann  wird  das  Be- 
wufstseyn  ein  Bildersaal,  worin  allerley  Gemälde  von  der  Welt  und  ihren 
wechselnden  Gestalten  beysammen  sind.  Das  vorstellende  Subject,  das 
sich  als  Eins  darstellt,  kann  nicht  an  sich  diese  Mannigfaltigkeit  besitzen 
oder  erzeugen;  dagegen  spricht  der  Satz  von  der  Einfachheit  der  ursprüng- 
lichen Qualität.  Allein  es  ist.  nicht  nöthig,  auf  diesen  Widerspruch  be- 
sondere Rücksicht  zu  nehmen;  wir  kennen  ihn,  und  haben  seinetwegen 
schon  oben  (§.  312)  ein  vielfaches  Zusammen  der  Seele  mit  andern 
Wesen  angenommen. 

§•   324- 

Das  Ich  scharf  denken,  heifst,  den  Idealismus  widerlegen.  Hiemit 
beschuldigen  wir  FiCHTEn,  das  Ich  nicht  scharf  gedacht  zu  haben;  und 
um  die  Beschuldigung  zu  beweisen,  wählen  wir  das  vorzüglichste  seiner 
Werke,  das  System  der  Sittenlehre.  Es  ist  nothwendig,  dafs  wir  auf  diesen 
merkwürdigen  Punct  hier  zurückkommen,  weil  ohne  ein  solches  Beyspiel 
das  Ge- [3 9 7] wicht  der  obigen  Auseinandersetzungen  schwerlich  hinreichend 
würde  empfunden  werden.  Aber  auch  nur  insofern,  als  der  Anfangspunct 
des  Irrthums  in  der  Fichteschen  Sittenlehre  zugleich  das  eigentliche  Cen- 
trum alles  Irrthums  in  der  Lehre  vom  Ich  bezeichnen  kann,  wollen  wir 
uns   hier  damit  beschäfftigen. 

Fichte  beginnt  dort  damit,  den  strengen  Begriff  des  Ich,  nämlich 
Identität  des  Wissenden  und  des  Gewufsten,  zu  subsumiren  unter  den 
höhern,  das  heifst,  allgemeineren  Begriff  einer  Identität  des  Handelnden 
und  des  Behandelten.  Gegen  diese  Subsumtion,  wenn  sie  zu  Etwas 
dienen  könnte,  ohne  einen  Fehlschlufs  einzuführen,  wäre  nichts  zu  erinnern. 
Hier  aber  dient  sie  gerade  nur  zu  einem  Fehlschlufs.  Denn  es  heifst 
gleich  darauf:  „Das  Denken  aber  ist  hier  ganz  aus  dem  Spiele  zu  lassen." 
Dies  ist  nun  schon  unmöglich.      Das   Handeln    ist  nur  der  logisch   höhere 


Psychologie  I,  §.  27.     (Bd.  V  vorl.  Ausgabe.) 


230  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Begriff;  soll  er  sich  verwandeln  in  den  des  Ich:  so  mufs  auf  die  Frage: 
was  für  ein  Handeln?  geantwortet  werden:  diejenige  Art  des  Handelns, 
welche  Denken,  und  noch  bestimmter,  welche  Wissen  heifst.  —  Wozu  aber 
soll  denn  die  unzulässige  Forderung  führen?  „Da  das  Gedachte  mit  dem 
Denkenden  identisch  ist,  bin  der  Denkende  allerdings  ich  selbst ;  aber  das 
Gedachte,  Objective,  soll  blofs  für  sich,  und  ganz  unabhängig  vom  Denken, 
Ich  seyn,  und  für  Ich  erkannt  werden;  denn  es  soll  als  Ich  gefu?iden 
werden." 

Man  sieht  nun  schon  das  Ziel.  Der  Begriff  des  Ich  soll  sich  nicht, 
wie  es  doch  unvermeidlich  geschieht,  nach  der  Seite  des  Objects  hin,  in 
eine  unendliche  Reihe  verwandeln.  Wenn  man  fragt:  als  was  denn  setzt 
sich  das  Ich?  soll  nicht  geantwortet  werden,  als  Identität  des  Wissenden  und 
des  Gewufsten.  Denn  [398]  wenn  so  geantwortet  ist,  so  ei  folgt  sogleich 
die  weitere  Frage:  was  ist  denn  das  Gewufstc?  Antwort:  das  Ich,  oder 
die  Identität  des  Wissenden  und  des  Gcivufsten.  Neue  Frage :  Was  ist 
denn  nun  hier  das  Gewufste?  Vorige  Antwort,  vorige  Frage,  und  wiederum 
dieselbe  Antwort,  und  abermals  dieselbe  Frage,  und  so  ins  Unendliche. 
Dieser  Kreislauf  soll  vermieden  werden;  damit  nicht  die  Leerheit  und 
eben  dadurch  der  Widerspruch  im  Ich  zu  Tage  komme,  welches  ein 
Wissen  vorspiegelt,   dessen  Gewufstes  gänzlich  fehlt. 

Fichte  aber  fährt  dreist  fort:  ,,So?iach  müfste  im  Gedachten,  als 
solchem ,  d.  i.  inwiefern  es  blofs  das  Objective  sevn ,  und  nie  das  Sujective 
werden  kann,  —  also  das  ursprüngliche  Objective  ist,  eine  Identität  des 
Handelnden,   utid  des  Behandelten   Statt  finden." 

Darauf  entgegnen  wir:  wenn  so  etwas  Statt  fände,  so  wäre  es  keine 
Identität  des  Wissens  und  Gewufsten,  folglich  kein  Ich,  sondern  ein 
Nicht-Ich;  und  wenn  das  Ich  als  solches  sich  setzte,  so  setzte  es  sich  als 
Nicht -Ich;  und  es  wäre  hiemit  zwar  eingestanden,  dafs  der  sich  selbst 
widersprechende  Begriff  des  Ich  habe  verändert  werden  müssen;  aber  die 
Veränderung  wäre  nicht  regelmäfsig,  und  eben  so  wenig  der  Wahrheit 
gemäfs  vollzogen  worden. 

Damit  man  aber  sehe,  dafs  dieser  Fehler  wirklich  begangen  worden: 
fügen  wir  noch  die  fernere  Erklärung  hinzu:  ,,so,  dafs  es  nur  Object  seyn 
könne,  sagte  ich,  also  (?)  ein  reelles  Handeln  auf  sich  selbst;  —  nicht  ein 
blofses  Anschauen  seiner  selbst,  %uie  die  ideale  Thätigkeit  es  ist,  —  sondern 
■ein  reales  Selbstbes/immen  seiner  selbst  durch  sich  selbst.  Ein  solches  aber 
ist  nur  das  Wollen;  und  umgekehrt,  [399]  das  Wollen  denken  wir  nur  so. 
De)  Satz:  sich  finden,  ist  demnach  absolut  identisch  mit  dem:  sich 
wollend  finden." 

So  ist  denn  der  Begriff  des  Ich  verdorben.  Und  dieses  kann  nun, 
wenn  man  das  Verwechseln  zwischen  Wissen,  Handeln,  Wollen,  bey  Seite 
setzt,  füglich  mit  der  Art  verglichen  werden,  wie  Fries  erklärte:  Ich  bin 
das  innerlich  Ihätige  in  der  Zeit  (§.  314).  Denn  im  Grunde  holt  Fichte 
hier  den  Nothbehelf  des  Wollens  nur  aus  der  innern  Erfahrung.  Allein 
aus  dieser  Quelle  fliefst  sogleich,  wenn  sie  einmal  geöffnet  wird,  noch  sehr 
vieles  Andere.  Auch  verwickelt  sich  das  Wollen  mit  den  Gegenständen, 
welche  gewollt,  und  zugleich  angeschaut  oder  gedacht  werden ;  daher  das 
Ich  sich  auf  der  Stelle  auch  setzen  müfste  als  setzend  das  Nicht-Ich;    ein 


4.  Abschn.  Eidolologie.  4.  Cap.  Schärfung  des  Begriffs  vom  Ich,  und  Widerlegung  etc.  23  I 

Umstand,  welchen  zu  vermeiden  Fichte  in  der  That  gar  nicht  für  nöthig 
hielt,   da   er  ihn  im   Gegentheil  recht  weitläuftig  auseinandersetzte. 

Die  eigentliche  Spitze  des  Begriffs  war  also  abgestumpft;  hiedurch 
war  die  Untersuchung  schon  aufser  ihrem  Geleise,  ehe  sie  einen  Anfang 
gewonnen  hatte.  Die  erste  Bedingung  aller  Untersuchung  ist  die,  dafs 
man  ihren   Gegenstand  genau  fixirt. 

Und  meint  Jemand,  er  könne  gemächlich  das  Objective  im  Ich  aus 
der  innern  Erfahrung  herbeyziehn:  so  wird  die  Erfahrung  selbst  ihn  wider- 
legen. Es  ist  nicht  wahr,  dafs  sich  das  Ich  allemal  nur  wollend  finde; 
vielmehr  findet  es  sich  eben  so  oft  leidend.  Es  ist  eben  so  wenig  wahr, 
dafs  mit  der  Vorstellung  Ich  allemal  die  Voraussetzung  des  geistigen 
Thuns  und  Lebens  verbunden  sey;  vielmehr  sind  die  Worte,  ich  schlief, 
und  ich  werde  einst  todt  seyn,   uns  Allen  geläufig. 

[400]       §.   325. 

An  diesem  Orte  nun  sollte  die  eigentliche  Auflösung  des  Wider- 
spruchs im  Begriffe  des  Ich,  nach  der  Methode  der  Beziehungen, 
ihren  Platz  finden.  Denn  alles  Vorhergehende  hat  allmählig  auf  den 
Punct  geführt,  den  Begriff  scharf  zu  denken;  und  zugleich  die  Abwege  zu 
bemerken,  auf  welche  man  durch  Vernachlässigung  dieser  Sorgfalt  ge- 
rathen  kann.  Allein  die  Auflösung  des  Widerspruchs  ist  vollständig  in 
der  Psvcholosne  vor°-etras;en ;  und  da  ohnehin  jenes  Werk  in  den  Händen 
des  Lesers  seyn  mufs,  so  dürfen  wir  das  dort  Gesagte  hier  nicht  wieder- 
holen. Es  bleiben  demnach  nur  diejenigen  Zusätze  für  den  jetzigen  Vor- 
trag übrig,   die  der  Metaphysik  mehr  als  der   Psychologie  angehören. 

Zuerst  nun  ist  zu  erinnern,  dafs  die  richtige  Behandlung  des  Wider- 
spruchs mit  dem  offenen  Bekenntnifs  desselben  beginnt.  Dies  ist  das 
Gegentheil  des  eben  erwähnten  Fichteschen  Verfahrens.  Fichte  wollte 
durchaus,  das  Objective,  als  zvas  das  Ich  sich  setzt,  sollte  noch  immer 
Ich,  also  eine  Identität  seyn;  aber  in  dieser  Identität  liefs  er  den  Unter- 
schleif zu,  sie  könne  füglich  eine  reale,  ein  Selbstbestimmen,  ein  Wollen 
seyn.  So  half  er  sich,  indem  ihn  die  Schwierigkeit  drückte,  das  Object 
in  unendlicher  Ferne  suchen  zu  müssen,  und  doch  nicht  finden  zu  können. 
Hinweg  nun  mit  dem  Unterschleif!  An  dessen  Stelle  trete  das  gerade 
Bekenntnifs :    das  Object  kann  nicht  selbst  Ich   seyn. 

Aber  zweytens:  eben  so  wenig,  als  ein  erkünsteltes  Ich  in  der  Stelle 
des  Objects  zu  dulden  ist,  gestatten  wir  uns,  aus  der  innern  Erfahrung 
irgend  ein  vestes,  bleibendes  Object  herzunehmen,  dessen  Vorstellung  man 
für  die  des  Ich  ausgeben  möchte.  Bestimmte  Objecte  sind  allemal  etwas 
Anderes,  als  Identität  des  Wissens  und  des  Gewufsten;  und  sie  versperren 
sogleich  den  Weg,  [401]  auf  welchem  man  zur  Erklärung  der  Ichheit 
gelangen  kann,  so  bald  einmal  angenommen  wird,  sie  könnten  in  ihrer 
Bestimmtheit  für  dasjenige  gelten,  als  was  das  Ich  sich  setze.  Wenn  irgend 
ein  A  vorgestellt  wird,  so  haben  wir  eine  Vorstellung  von  A;  wenn  wir 
noch  B  hinzunehmen,  so  kommt  der  Begriff  einer  Vorstellung  von  A  -j-  B; 
aber  A  und  B  mögen  seyn,  was  sie  wollen,  sie  erklären  nimmermehr, 
wie  Jemand  auf  den  Einfall  kommen  könne,  er  habe  eine  Vorstellung 
von  Sich  Selbst. 


2^2  !•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

Auch  sagt  die  Methode  der  Beziehungen  sogleich,  und  mit  kurzen 
Worten:  der  Objecle  müssen  mehrere  seyn,  die  sich  gegenseitig  modificircn, 
und  nur   in   dieser  Modification  sind  sie  gleich   dem    vorgestellten   Subjecte. 

Drittens:  Nun  ist  die  Frage,  worin  besteht  die  Modification?  Aber 
der  Anfang  der  Beantwortung  liegt  unmittelbar  im  Vorhergehenden.  Die 
Bestimmtheit  des  A  und  B,  welche  immer,  und  in  gleichem  Grade  im 
Wege  steht,  was  auch  A  und  B  seyn  mögen,  diese  Bestimmtheil  mufs  auf- 
gehoben werden.  Was  irgend  dienen  mochte,  im  Ich  die  Stelle  des  Objects 
zu  bezeichnen,  das  mufs  diese  Stelle  wieder  verlassen.  Darum  ist  es 
ganz  unnütz,  durch  ein  Wollen,  Selbstbestimmen  u.  dergl.  eine  Ähnlich- 
keit mit  dem  Ich  zu  erkünsteln;  als  ob  ein  unächtes  Ich  den  Platz  des 
Objectes  besser  ausfüllen  könnte,  als  irgend  etwas  ganz  fremdartiges. 
Gerade  umgekehrt:  die  mehrern  Objecte  müssen  sich  unter  einander  nicht 
blofs  fremd,  sondern  sogar  entgegengesetzt  seyn,  damit  sie  sich  gegen- 
seitig aus  dem  Platze  herausdrängen,  den  kein  mögliches  bestimmtes  Ob- 
jeet  bleibend  ausfüllen  kann. 

Hieraus  mag  man  beurtheilen,  wie  gute  oder  schlechte  Dienste  solche 
Begriffe  der  geistigen  Thätigkeit,  wie  Denken,  Wollen,  Handeln,  oder  auch 
des  innern  Lei-[402]dens,  wie  das  Empfinden,  Fühlen,  Trauern  u.  dergl. 
für  sich  allein  genommen  leisten  können,  um  das  Ich  zu  erklären.  Freylich 
klingt  es  leidlicher,  zu  sagen:  Mein  Ich  ist  mein  Geist  und  mein  Gcmüth, 
als  zu  sprechen:  Ich  und  mein  Körper  bin  Eins  und  dasselbe  (§.  116). 
Auch  ist  in  der  That  jenes  kein  so  arger  Irrthum,  wie  dieses.  Aber  Irr- 
thum  ist  es  dennoch;  und  das  verräth  sich  besonders  darin,  weil  es  nicht 
ganz  gelingt,  den  Platz  des  Objects  im  Ich  dergestalt  durch  Geist  und 
Gemüth  auszufüllen,  dafs  mit  allgemeiner  Zustimmung  der  Leib  völlig  aus- 
geschlossen würde.  Nämlich  unter  den  wandelbaren  Objecten,  die  ab- 
wechselnd die  Stelle  des  Gewufsten,  welches  dem  Wissen  gleich  seyn  soll, 
vertreten  und  einnehmen,  ob  sie  gleich  sich  gefallen  lassen  müssen,  den 
Platz  wieder  zu  räumen  —  unter  diesen  befindet  sich  häufig,  ja  ursprüng- 
lich sogar  vorzugsweise ,  der  Leib ;  er  giebt  aber  zur  Ichheit  seinen  Bey- 
trag  keinesweges  durch  die  Correspondenz,  welche  vergeblich  zwischen  den 
organischen  Functionen  des  körperlichen  Lebens,  und  den  innern,  geisti- 
gen Thätigkeiten  bestehen  soll:  sondern  durch  den  Gegensatz  zwischen 
Leib  und  Geist,  vermöge  dessen  weder  Leib  noch  Geist  das  beständige 
Object  im  Ich  ausmachen,  sondern  sich  aus  dieser  Stelle  gegenseitig  ver- 
drängen. So  geschieht  es  wenigstens  so  lange,  bis  eine  höhere  Bildungs- 
stufe erreicht  wird,  auf  welcher  der  Leib  ein  für  allemal  vom  Ich  ausge- 
schlossen ist  und  bleibt. 

Die  vorstehende  Bemerkung  streift  schon  über  die  Eidolologie  hin- 
aus in  die  Psychologie,  welcher  es  überlassen  werden  mufs,  die  mancher- 
ley  möglichen  Abwechselungen  und  Verhältnisse  der  verschiedenen  Vor- 
stellungen näher  zu  untersuchen,  die  sich  als  das  Objective  im  Ich  dar- 
bieten können.  Der  Eidolologie  genügt  es  zu  wissen,  dafs  das  Ich  nichts 
Anderes  ist  und  seyn  [403]  kann,  als  ein  Mittelpunct  wechselnder  Vor- 
stellungen. Nichts  Anderes  nämlich  bleibt  übrig,  wenn  das  Gewufste,  mit 
welchem  im  Ich  das  Wissen  identisch  seyn  soll,  kein  Bestimmtes,  das 
als  solches  zu   dem  eigentlichen  Ich  gehöre,    enthalten  darf.     Der  Mittel- 


4-  Abschnitt.    Eidolologie.     4.  Capitel.    Von  der  Möglichkeit  des  Wissens.     2  XX 


punct,  in  welchem  die  Vorstellungen  wechseln,  ist  das  Subject,  was  die 
Vorstellungen  hat,  und  enthält;  denn  Vorstellungen  hoben  heifst  vorstellen, 
selbst  noch  ohne  nähere  Bestimmung,  ob  dieses  Haben  eine  besondere 
Thätigkeit  erfordere,  oder  ob  es  Gegenstand  einer  neuen,  darauf  gerich- 
teten Vorstellung  werde  (eine  Bestimmung  jedoch,  welche  sowohl  Erfah- 
rung als  Psychologie  noch  hinzufügen).  Derselbe  Mittelpunct,  wenn  man 
fragt,  was  für  einer?  wird  bezeichnet  durch  die  in  ihm  wechselnden  Vor- 
stellungen, die  ihm  jedoch  nicht  angehören  durch  ihr  eigentümliches  Vor- 
gestelltes, welches  kommt  und  geht;  sondern  nur  im  Wechsel,  worin  sich 
die  Vorstellungen  begegnen ;  so  dafs  eben  dies  Begegnen  den  Punct  selbst 
ausmacht,  worin  jede  Vorstellung  der  andern  eine?i  Ort  darzubieten  scheint. 
Wir  nennen  diesen  Ort  einen  Mittel- Punct,  weil  in  ihm  sich  die  Vor- 
stellungen sinkend  und  steigend,  von  Aufsen  kommend,  und  nach  Aufsen 
wirkend,  mit  ihrer  scheinbaren  Bewegung  einander  durchkreuzen.  So  ist 
das  Ich  nach  der  einfachsten  Ansicht  als  Subject,  das  heifst  als  der  vor- 
stellende Punct,  einer ley  mit  dem  Objectiveu,  sofern  es  wechselnd  diesen 
nämlichen,  keiner  andern  Vestsetzung  bedürftigen,  Punct,  als  solchen  be- 
stimmt,  oder  ihn  zu  demjenigen   macht,   der  er  ist. 

Hiemit  sind  einerseits  die  Schwärmereyen  abgeschnitten,  deren  wir 
oben  (§.  322)  erwähnten;  andererseits  aber  ist  auch  die  Einkörperung  der 
Physiologen,  denen  Fries  folgt  (§.  iiö),  unnöthig  geworden,  und  [404] 
man  sieht,  dafs  die  Ichheit  des  menschlichen  Leibes  nicht  wesentlich 
bedarf. 


Viertes  Capitel. 
Von  der  Möglichkeit  des  Wissens. 

§•  326. 

Sobald  man  zu  der  Einsicht  gelangt,  dafs  der  Begriff  des  Ich,  auf 
welche  Weise  er  auch  gefafst  werde,  durchaus  unfähig  ist,  die  Qualität 
eines  Realen  unmittelbar  auszudrücken:  stürzt  der  Idealismus  mit  allen 
seinen  Ansichten;  denn  sein  Princip  ist  verloren.  Die  Quelle,  woraus  er 
Alles  ableiten  wollte,   ist  versiegt. 

Wem  aber  nicht  der  ganze  Zusammenhang  der  Untersuchung  ein- 
leuchtet, der  wird  nun  mit  erneuerten  Anstrengungen  auf  die  Frage  drin- 
gen: wie  denn  das  Wissen  möglich  sey  ?  Denn  in  uns  ist  das  Wissen; 
wofern  nun  die  Gegenstände  desselben  aufsei  uns  liegen,  so  fehlt  der 
Übergang,  die  Bürgschaft,  und  das  Vertrauen.  Die  Bilder  in  uns  lassen 
sich  nicht  vergleichen  mit  den  Dingen  aufser  uns;  alle  Empfindung  ist 
nur  unser  Zustand ;  alle  Erklärung  derselben  ist  unser  Gedanke.  So  sagt 
man,  und  verlangt,   dafs  darauf  geantwortet  werde. 

Man  lasse  sich  denn  also  einige  unvermeidliche  Wiederholungen  ge- 
fallen, da  es  nur  darauf  ankommt,  das  schon  Bekannte  zusammenzustellen. 

Im  gegenwärtigen  Capitel  soll  gesprochen  werden  von  dem  Gehalt 
und  der  Form  des   Wissens;    von  Wahrheit  und  Täuschung;    endlich  von 


2\A  I«    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

einer  Erweiterung  der  Causalbegriffe,  die  bey  Gelegenheit  der  fernem 
Betrach-[405]tung  des  Ich  entsteht.  Zuvor  müssen  der  Sicherheit  wegen 
einige   Irrthümer  zurückgewiesen  werden. 

Jeder  denkt  sich  das  Wissen  als  eine  Abbildung  der  Gegenstände. 
Daher  die  rohe  Vorstellungsart,  als  ob  von  den  Dingen  die  ihnen  ähn- 
lichen Bilder  herkämen  (etwan  getragen  von  den  Lichtstrahlen),  und  ohne 
Weiteres  in  uns  Platz  nähmen.  Oder  die  eben  so  rohe  Meinung  des 
Spinoza,  der  Substanz  wohne  das  Wissen  von  ihrer  Ausdehnung  bey; 
und  die  Ähnlichkeit  des  Vorstellens  mit  dem  Vorgestellten  verstehe  sich 
von  selbst.  Wenn  ein  solches  Wissen  nicht  aller  Reflexion  entbehrie:  so 
würde  die  Reflexion  sogleich  in  Zweifel  an  der  Wahrheit  des  Vorgestell- 
ten übergehn,  und  zur  Beantwortung  der  Zweifel  wäre  bey  der  vorgeb- 
lichen Unabhängigkeit  der  beyden  Attribute,  Ausdehnung  und  Denken, 
eben  so  wenig  ein  Weg  offen,  als  bei  vollkommener  Trennung  des  Wissen- 
den  und  Gewufsten. 

Etwas  minder  roh  ist  die  Ansicht,  welche  das  Erkenntnifsvermögen 
in  ein  unteres  und  oberes  zerlegt.  Denn  hier  wird  wenigstens  anerkannt, 
dafs  zuerst  und  vor  allem  das  Wissen  als  ein  Zustand  des  Wissenden, 
gemäfs  der  Natur  des  letzteren,  mufs  betrachtet  werden,  während  es  sich 
noch  fragt,  ob  denn  dieser  Zustand  schon  urspiünglich  dem  Gegenstande, 
der  ihn  veranlalst,  ähnlich  seyn  werde  oder  nicht.  So  bleibt  es  doch 
wenigstens  dem  obern  Erkenntnifsvermögen  vorbehalten,  die  empfangenen 
Eindrücke  zu  prüfen,  und  vielleicht  zu  berichtigen.  Freylich  hilft  das 
nicht  viel.  Wenn  der  Sinn  keine  Wahrheit  empfing,  so  kann  der  Ver- 
stand keine  Ähnlichkeit  mit  den  Gegenständen  hineinlegen;  und  wenn 
endlich  der  Vernunft  aufgetragen  wird,  dieselbe  unmittelbar  herbeyzu- 
schaffen,  so  sind  wir  im  Land  der  Wunder. 

Umsichtiger,  aber  nicht  zweckmäfsiger,  gehn  Diejenigen  ans  Werk, 
welche  den  ganzen  Vorrath  unserer  [40b]  Kenntnisse  durchmustern,  und 
alles,  was  sie  vorfinden,  neben  einander  hinschütten.  Da  finden  sie  nun 
Sinnendinge,  und  mathematische  Formen,  und  Kategorien  des  gemeinen 
Verstandes,  und  transscendente  Begriffe  der  Speculation,  und  praktische 
Ideen,  auf  verschiedenen  Stufen  der  logischen  Unterordnung  und  Anwen- 
dung. Was  aus  dem  Allen  zu  machen,  wie  es  zu  verbinden  sey:  das 
wissen  sie  nicht.  Die  Beziehungen  sind  zerrissen ;  der  Gebrauch  und  die 
Bedeutung  aller  dieser  Vorstellungsarten,  ihr  Zusammenhang  im  wahren 
Wissen  wird  nur  noch  räthselhafter,  wenn  man  so  ganz  verschiedenartige 
Gedankendinge  in  Einer  Reihe  vor  sich  sieht.  Das  war  die  böse  Manier 
des  Aristoteles,  die  ihn  selbst  in  die  gröfste  Verlegenheit  setzte.  Schon 
indem  er  seine  vier  sogenannten  Principien  neben  einander  aufzählte, 
hatte  er  sich  seine  Arbeit  verdorben;  er  mufste  im  ersten  Augenblick 
sehen,   dafs   dieselben  sich  nicht  coordiniren   liefsen. 

Ist  nun  einmal  das  Mistrauen  gegen  das  Wissen  rege  geworden:  so 
wendet  es  sich  abwechselnd  nach  beyden  entgegengesetzten  Seiten.  Bald 
wird  die  Erfahrung  angeklagt,  dafs  sie  keinen  brauchbaren  Stoff  liefere,  bald 
müssen  die  künstlichen  Hülfsmittel  des  Denkens  den  Vorwurf  tragen,  dafs 
sie  jenen  Stoff  verfälschen.  Bald  will  man  das  Gegebene  nicht  zulassen, 
bald    scheut   man    sich,  es  zu  verarbeiten.      Und    doch    ist   beydes   gleich 


! 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.     4.  Capitel.    Von  der  Möglichkeit  des  Wissens.      2  3^ 

nothwendig;  wie  schon  aus  den  ersten  Betrachtungen  der  Methodologie 
erhellet. 

Jetzt  aber  müssen  wir  auf  den  Unterschied  der  psychologischen  und 
der  metaphysischen  Ansicht  dieses  Gegenstandes  hinweisen,  welche  beyde 
hier  unvermeidlich  zusammentreffen.  Wenn  das  Mistrauen  gegen  die  Er- 
kenntnifs  sich  regt:  so  wird  zweyerley  gefragt:  erstlich,  woher  kommt  unser 
wahres  oder  vermeintes  Wissen  ?  Wie  entsteht  es,  wie  bildet  es  sich  ?  Wo 
liegen  [407]  die  ersten  Anlässe  des  Zweifels  und  des  Irrthums?  —  offenbar 
eine  psychologische  Frage.  Zweytens  aber  will  man  über  den  Gebrauch 
und  Werth  aller  Bestandtheile  des  Wissens  Rechenschaft  haben.  Was  für 
eine  Geltung  hat  die  sinnliche  Wahrnehmung?  Welchen  Beytrag  zum 
Wissen  geben  die  allgemeinen  Begriffe?  Wieviel  Überzeugung  führen  die 
mathematischen  Formen  herbey?  —  Solche  Fragen  sind  es,  die  uns  hier 
eigentlich  angehn;  obgleich  immer  ein  Mangel  wird  gefühlt  werden,  wenn 
nicht  auch  jenes  Feld  offen  vor  Augen  liegt;  denn  allemal  will  man  die 
Herkunft,  die  Geschichte  desjenigen  erforschen,  worüber  einmal  Bedenk- 
lichkeiten walten. 

Beyderley  Betrachtungen  aber  bedürfen  es  in  gleichem  Grade,  dafs 
man  sich  die  Zerlegung  der  Erfahrung  in  Materie  und  Form  vergegen- 
wärtige, welche  aus  den  ersten  Anfängen  bekannt  ist.  Hierauf  gestützt, 
beschreiben  wir  zuvörderst  ganz  kurz  (um  so  schnell  als  möglich  ins  Klare 
zu  kommen)  das  Wissen,  wie  es  gemäfs  dem  Ganzen  unserer  Vorträge, 
wirklich  beschaffen  ist. 

§•   327- 

Wie  die  Körper  ursprünglich  aus  Elementen  bestehen,  die  nichts 
weniger  als  körperlich  sind :  so  auch  besteht  das  Wissen  aus  Anfängen,  die 
mit  einem  Abbilden  nichts  gemein  haben.  Es  besteht  aus  Empfindungen; 
die  keineswegs  etwas  Äufseres  abspiegeln,  denn  sie  sind  lediglich  Selbst- 
erhaltungen der  Seele. 

Nicht  also  an  den  Stoff  des  Wissens,  sondern  lediglich  an  dessen 
Form  mufs  man  sich  wenden,  wenn  man  es  von  der  Seite  seiner  Ähn- 
lichkeit mit  äufsern  Gegenständen  auffassen  will.  Denn  von  der  Empfin- 
dung wird  Niemand,  wenn  nicht  gänzlich  ohne  Überlegung,  ver-[4o8] 
langen,  sie  solle  die  Beschaffenheit  der  Dinge  aussaugen;  Jedermann  kennt 
ihre  durchaus  subjective   Natur. 

Dieser  Umstand  nun  scheint  es  zu  seyn,  der  durch  eine  gränzenlose 
Übereilung  und  Verwechselung  es  vergessen  und  verkennen  machte,  dafs 
nichts  destowemger  die  Empfindung  das  einzig  mögliche  Fundament  des  Wissens 
vom  Realen  einhält  und  darbietet. 

Denn  die  absolute  Position,  worauf  einzig  und  allein  der  Begriff  des 
Seyn  nach  seiner  wahren  Bedeutung  zurückzuführen  ist,  liegt  nirgends 
anders  als  in  der  Empfindung.  Jede  künstliche  Setzung  läfst  sich  zurück- 
nehmen; jede  solche  Setzung,  die  auch  nur  den  geringsten  Verdacht  erregt, 
wie  wenn  sie  nicht  ganz  so  unwillkührlich  und  unvorbereitet  als  ein  Ge- 
gebenes zwischen  die  Einbildungen  hineinträte,  und  den  Faden  des  Ge- 
dankenlaufes zerschnitte,  wie  dies  das  Kennzeichen  der  Empfindung  ist, 
—  jede  Setzung   also,    die   eine   Spur   des   Gemachten    und   von   uns  Ab- 


2  7.6  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

hängigen  an  sich  trägt,  wird  sogleich  als  täuschend  verworfen,  wo  Zeug- 
nisse für  das  Daseyn  gefordert  und  geprüft  werden.  Und  das  mit  Recht. 
Es  ist  der  Mittelpunct  der  alten  falschen  Metaphysik,  sich  einzubilden, 
dafs  man  die  absolute  Setzung  in  seiner  Gewalt  habe,  und  nach  Belieben 
einen,  Inbegriff  von  Realitäten  setzen  könne.  Diese  alte  Metaphysik  hatte 
eben  Nichts  von  absoluter  Setzung  begriffen,  sonst  würde  sie  gewufst  haben, 
dafs  dieselbe  vor  allem  Philosophiren,  ja  vor  allem  Denken  vorhanden 
seyn  mufs,  und  dafs  ihr  alsdann  lediglich  Anerkennung  gebührt,  da  man, 
wenn  sie  mangelte,  durchaus  keinen  Ersatz  für  sie  würde  finden  oder  her- 
beyschaffen  können.  Alle  Reden  vom  Absoluten  haben  für  uns  keine 
Bedeutung,  wenn  unsere  Setzung  desselben  nicht  schon  geschehen  ist,  ehe 
wir  die  Rede  vernahmen.  Aber  die  Summe  der  wirklich  geschehenen 
[409]  Setzungen  können  wir  auch  nicht  kleiner  machen  als  sie  ist;  viel- 
mehr hat  alle  unsere  unzweydeutige  Empfindung  in  diesem  Puncte  gleiches 
Recht,  wenn  auch  nicht  gleichen  Erfolg. 

Dafs  nun  hiemit  eben  so  wenig  der  Trägheit  des  Empirismus  das 
Wort  geredet  ist,  als  der  Keckheit  der  alten  Metaphysik:  dies  mufs  der 
Leser  aus  den  Elementen  der  Ontologie  wissen.  Es  ist  bekannt,  dafs  in 
unserm  Erkennen  das  Seyende  durch  zwey  Begriffe  gedacht  wird;  nämlich 
durch  den  des  Seyn  und  durch  den  der  Qualität.  Dafs  man  aus  diesen 
zwey  Begriffen  nicht  zwey  verschiedene  Bestandteile  des  Seyenden  machen 
soll,  ist  ebenfalls  bekannt;  und  es  ist  im  ersten  Theile  dieses  Werks  genug 
gegen  die  essen tia  gewarnt,  welche  schon  da  steht,  ehe  die  Komödie  ge- 
spielt wird,  dafs  sie  die  Existenz  entweder  von  Aufsen  her  annimmt,  oder 
sich  selbst  diese  Würde  ertheilt.  Warum  aber  zwey  Begriffe  für  Einerley? 
Das  Seyende  ist  ja  in  Wahrheit  nur  Eins:  und  wir  meinen  es  auch  so; 
woher  denn  die  beyden  Begriffe,  daß  es  ist,  und  was  es  ist?  - —  Auch 
dieses  ist  längst  gezeigt  (§.  198  u.  ff.);  und  es  brauchte  nicht  einmal  ge- 
zeigt zu  werden.  Denn  schon  der  ganz  gemeine  Verstand  ist  darüber 
hinaus,  die  wahrhaft  erste,  unmittelbare  Position  des  Empfundenen  so  stehen 
zu  lassen,  wie  sie  ursprünglich  war.  Die  Dinge,  welche  er  für  real  hält, 
sind  Complexionen  von  Merkmalen;  und  diese  Form  der  Erfahrung,  noch 
vor  aller  Skepsis,  hat  schon  das  Empfundene  in  Adjectiva  verwandelt, 
welche  den  Dingen  zwar  beygelegt  werden,  aber  nicht  die  Dinge  selbst 
sind.  Die  wahrhaft  erste  Position  lag  in  den  Adjectiven;  aber  sie  hat 
sich  herausgezogen,  um  die  Substantiva  zu  denselben  zu  bilden.  Und 
von  diesem  ersten  Schritte,  vermöge  dessen  die  Bestimmung  dessen,  ivas 
man  setzt,  verändert  wird,  obgleich  die  Setzung  selbst  beybehal-[4io]ten 
wird,  —  ist  die  fernere  Wanderung  des  Begriffs  vom  Seyn,  welche  in  den 
Svstemen  verschiedene  Wege  nimmt,   nur  die   Fortsetzung. 

Dieser  erste  Schritt,  vermöge  dessen  man  nicht  mehr,  wie  ursprüng- 
lich, Gelb  und  Schwer  und  Dehnbar,  sondern  statt  dessen  gelbes  Gold, 
schweres  Gold,  dehnbares  Gold  setzt,  —  dieser  hätte  sollen  von  jeher  ge- 
nauer beachtet  werden.  Findet  man  es  bedenklich,  dafs  irgendwo  das 
Gesetzte  verändert  wird,  während  doch  die  Setzung  die  nämliche  bleiben 
soll,  so  mufs  man  in  diese  niedrigste  Region  des  gemeinen  Verstandes 
herabzusteigen  sich  bemühen;  denn  die  absolute  Position  liegt  nirgends 
sonst,  als  in  der  Empfindung;    dafs   aber   das  Empfundene  dennoch  nicht 


4.  Abschnitt.    Eidolologie.     4.  Capitel.    Von  der  Möglichkeit  des   Wissens.      2X~1 

als  das  Reale  betrachtet  wird,  dieses,  wenn  es  ein  Fehlschritt,  wenn  es 
eine  Veruntreuung  ist,  begegnet  nicht  erst  in  der  Philosophie,  sondern  es 
geschah  mit  allgemeiner,  unvermeidlicher  Beystimmung  schon  in  unsern 
frühesten   Kinderjahren,  noch  ehe  wir  sprechen   lernten. 

Damit  man  nun  einsehe,  und  vest  überzeugt  sey,  dafs  dieser  Schritt 
unvermeidlich  ist:  —  zu  diesem  Zwecke  haben  wir  in  den  ersten  Grund- 
lagen der  Wissenschaft  gefordert,  man  solle  sich  besinnen,  ob  blofs  die 
Materie  der  Erfahrung,  das  heifst,  die  Empfindung,  —  oder  ob  auch  die 
Formen  der  Erfahrung,  gegeben  seyen  ?  (§.  169 — 171).  Wer  es  vernach- 
lässigt, hierüber  mit  sich  Eins  zu  werden,  dem  ist  späterhin  nicht  zu  helfen; 
und  es  ist  kein  Wunder,  wenn  er  hintennach  das  Wissen  an  allerley  künst- 
lichen Ankern  bevestigen  will,   weil  er  den  wahren  und  natürlichen  verkennt. 

Die  Formen  sind  allerdings  gegeben.  Das  heifst,  die  Empfindungen 
liegen  nicht,  wie  ein  loses  Aggregat,  oder  wie  ein  Chaos,  in  uns;  sondern 
eben  indem  sie  gegeben  werden,  fügen  sie  sich  in  bestimmten  Grup-[4i  ilpen 
und  Reihen;  und  nur  in  dieser  Bestimmtheit  kann  man  sich  auf  sie,  als 
auf  ein  Gegebenes,  berufen. 

Darum  nun  mufs  man  mit  ihnen  zugleich  auch  alle  die  Motive  des 
fortschreitenden  Denkens  aufnehmen,  sich  gefallen  lassen,  und  befolgen, 
welche  wir  in  den  Formen  der  Erfahrung  nachgewiesen  haben.  Darum 
verändert  sich  im  ganzen  Laufe  der  Metaphysik  fortdauernd  die  Kenntnifs 
und  Ansicht,  die  man  gewinnt,  weil  das  Denken  nicht  eher  völlig  Ruhe 
findet,  als  bis  es  seine  Aufgaben,  die  in  den  Formen  der  Erfahrung  lagen, 
gelöset  hat. 

Zum  Grunde  von  Allem  aber  liegt  immerfort  die  eine  und  gleiche 
Basis  der  absoluten  Position,  welche  durch  Empfindung  entstand,  und  im 
Denken  stets  nur  anerkannt  und  vorausgesetzt  wurde. 


§•   32  8. 

Jetzt  können  wir  vom  Gehalt  und  von  der  Form  des  Wissens  aus- 
führlicher sprechen. 

Gehalt  des  Wissens,  im  metaphysischen  Sinne,  ist  das,  was  man  weifs. 
Dies  ist  völlig  verschieden  vom  Stoff  des  Wissens,  im  psychologischen  Sinne, 
das  heifst,  von  dem  Ersten,  was  in  der  Seele  geschieht,  um  ein  Wissen 
zu  erzeugen.  Die  Empfindungen  sind  der  Stoff,  aber  ganz  und  gar  nicht 
der  Gehalt  des  Wissens;  denn  sie  sind  blofs  unsere  Zustände,  ohne  dafs 
irgend  eine  Ähnlichkeit,  irgend  ein  Abbilden,  irgend  ein  Erkennen  des 
Vorhandenen  in  ihnen  dürfte  gesucht  werden. 

In  der  Form  des  Wissens  (gegenüber  dem  Stoffe),  so  befremdend  es 
lauten  mag,  ist  auch  der  Gehalt  desselben  anzutreffen,  obgleich  die  Be- 
stimmungen der  Form  viel  weiter  reichen.  Dies  wird  gleich  klar  werden, 
sobald  man  sich  fragt,  was  denn  das  Gewufste  sey?  Weder  die  Frage 
nach  dem  Was  des  Seyenden,  noch  [412]  die  nach  dem  wirklichen  Ge- 
schehen können  wir  dergestalt  beantworten,  dafs  wir  uns  rühmen  dürften, 
jenes  Was  und  dieses  wirkliche  Geschehen  in  unserm  Wissen  innerlich 
abzubilden.  Im  Gegentheil,  wir  haben  am  gehörigen  Orte  das  Bekenntnifs 
abgelegt,   dafs  beydes  unbekannt  ist. 


238  I-  Allgemeine   Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Dieses  pafst  genau  zu  dem,  was  vorhin  von  der  Empfindung  be- 
merkt wurde.  Das  einzige,  ursprünglich  absolut  Gesetzte  war  das  Em- 
pfundene. Nachdem  nun  einmal  erkannt  worden,  dafs  dieses  nicht  real 
sevn  kann,  bleibt  von  der  absoluten  Setzung  nichts  als  die  Form  übrig; 
einen  Inhalt  kann  sie  nicht  wieder  erlangen;  sie  hat  ihn  auf  immer  ver- 
loren. Das  ist  der  Sinn  des  bekannten  Satzes:  die  Dinge  an  sich  kennen 
wir  ?iicht ;  eines  Satzes,  den  der  Dogmatismus  niemals  umstofsen  wird, 
wie  oft  er  auch  seine  Anstrengungen  erneuern   möge. 

Wir  wissen  gleichwohl,  dafs  Etwas,  und  zwar  Vieles  und  Verschiedenes, 
da  ist ;  und  dafs  unter  seinen  Qualitäten,  die  wir  nicht  kennen,  Verhält- 
nisse Statt  fitiden,  welche  den  Winken  der  Erfahrung  gemäfs  gehörig 
zu  bestimmen,  die  ganze  Angelegenheit  unseres  theoretischen  Wissens 
ausmacht. 

Und  wie  gelangten  wir  zu  diesem  Gehalte  des  Wissens?  Lediglich 
indem  wir  die  Formen  der  Erfahrung,  —  welche  bey  ganz  andern  Em- 
pfindungen eben  die  nämlichen  hätten  seyn  können,*  —  zum  Grunde 
legten,  und  sie  im  Denken  berichtigten.  Daher  bleibt  unser  Gewufstes 
stets  ein  Formales;  es  bildet  Verhältnisse  ab,  ohne  die  Verhältnifs- 
Glieder  eitizeln  zu  kennen;  weil  es  von  solchem  Gegebenen  ausgeht, 
worin  nicht  die  Beschaffenheit  der  Dinge,  son-[4i3]dern  nur  ihr  Zusammen 
und   Nicht  -  Zusaynmen  sich   abbildet. 

Hierauf  nun  mögen  Diejenigen,  welche  nicht  begreifen,  wie  das  Wissen 
zur  Übereinstimmung  mit  seiften  Gegenständeti  gelangen  möge,  ihr  Augenmerk 
richten.  Die  Frage  hat  schwer  geschienen,  weil  man  sich  einen  Frage- 
punct  machte  und  setzte,  für  den  im  Gebiete  der  Untersuchung  gar  kein 
Platz  ist.  Qualitäten  wollte  man  erkennen.  Dafs  alle  vermeinten  Quali- 
täten auf  Relationen  hinauslaufen,  —  Ausdehnung  auf  den  Gegensatz  des 
Hier  und  Dort,  Denken  und  Wissen  auf  ein  entweder  wahres  oder  an- 
genommenes Verhältnifs  zwischen  Bild  und  Gegenstand,  Kräfte  der  Körper 
auf  den  Raum,  Kräfte  des  Geistes  auf  Gedachtes  und  Gewolltes,  -  -  diese 
Relationen  störten  nicht  den  Glauben,  man  wisse  etwas  von  Qualitäten! 
Nun  frevlich  konnte  die  Frage  nicht  ausbleiben:  wenn  die  Dinge  mit  ihren 
Qualitäten  aufser  uns,  unabhängig  von  uns,  existiren,  wie  soll  es  denn  zu- 
gehn,  dafs  wir  von  denselben  ein  Bild  empfangen?  Aber  weder  das  Em- 
pfangen noch  das  Darbieten  darf  in  diesem  Puncte  Jemandem  Schwierig- 
keit machen,  denn  die  ganze  Frage  hat  keinen  Gegenstand.  Wir  erkennen 
gar  keine   Qualitäten,   und  was  man   dafür  hält,   das  sind  keine  Qualitäten. 

Wo  wir  eine  Substanz  erkennen,  da  geschieht  es  durch  eine  Gruppe 
von  Merkmalen,  welche  unter  gleichen  Umständen  gleich  erscheinen;  weil 
die  Kette  der  Begebenheiten,  deren  Enden  die  Gruppe  von  Selbsterhal- 
tungen unserer  Seele  ausmachen  (welche  wir  Merkmale  nennen),  immer 
den  gleichen  Zusammenhang  hat.  Aus  was  für  Gliedern  eine  solche  Kette 
bestehen  möge,  —  das  heifst,  was  für  Bedingungen  zusammentreffen  müssen, 
damit  wir  etwan  einen  Ton  hören  oder  eine  Farbe  sehen,  —  dies  ist 
hier  gleichgültig.  Zuletzt  er- [4 Inhalten  wir  in  jedem  Falle  nichts  aus 
der  Substanz,  sondern  alles  aus  uns  selbst.    Dennoch  ist  nun  das  Resultat 


*  Psychologie  II,   §.   124.     (Bd.  VI  voil.  Ausgabe) 


4.  Abschnitt.     Eidolologie.     4.  Capitel.    Von  der  Möglichkeit  des  Wissens.      239 

vorhanden,  dafs  wir  die  Gruppe  der  Merkmale  als  Eins,  und  als  ein  ge- 
wisses Bestimmtes,  setzen,  weil  wir  sie  nicht  beliebig  trennen,  und  nicht 
die  Merkmale  mehrerer  Gruppen  gegen  einander  vertauschen  können. 
Was  ist  nun  abgebildet  in  unserm  Wissen?  Es  ist  die  Einheit  des  realen 
Wesens,  welches  sich  unter  Umständen  für  uns  mit  vielen  Merkmalen  be- 
kleidet. Und  was  bildet  sich  ab  in  einem  gegebenen  Erfahrungskreise? 
Es  ist  das  Zusammenkommen  oder  Getrennt- Werden  solcher  Einheiten, 
die  sich  unter  einander  die  Gruppen  von  Merkmalen  bestimmen,  vermöge 
deren  sie  uns  erscheinen  sollen.  Wer  etwas  mehr  in  der  Erfahrung  sucht, 
wer  mit  dem  Gewebe  von  Relationen,  woraus  sie  besteht,  nicht  zufrieden 
ist,  der  kann  sich  vielleicht  eine  Erfahrung  oder  ein  höheres  Wissen  nach 
Wunsche  phantasiren,  allein  dadurch  wird  seine  Erkenntnifs  nicht  wachsen. 
Weder  Beobachtung  noch  Speculation  würden  soviel  Anstrengung  kosten, 
wie  es  wirklich  der  Fall  ist,  wenn  mehr  als  jene  Verbindungen  und  Tren- 
nungen in  der  Erfahrung  gegeben  würde.  Allein  dafür  ist  auch  dieses 
Gegebene  keiner  Anfechtung  fähig  wegen  seiner  Übereinstimmung  mit  dem, 
was  aufser  uns  ist.  Denn  was  enthält  es  eigentlich  ?  Nichts  mehr  als 
jenen  objectiven  Schein  (§.  292),  der  für  alle  Zuschauer  gültig  ist,  aber 
keine  Prädicate  der  Dinge  selbst  darbieten  kann.  Wieviel  haben  die  Astro- 
nomen aus  solchem  Schein  gemacht,  durch  vereinigte  Kunst  und  Kraft l 
Der  gewöhnliche  Mensch  bereitet  sich  daraus  seine  gewöhnliche  Lebens- 
klugheit, die  Befriedigung  seines  Begehrens  und  die  Heilmittel  seiner 
Schmerzen.  Zu  dem  Allen  ist  eine  Kenntnifs  der  wahren  Qualitäten  und 
des  wirklichen  Geschehens  in  den  Substanzen  weder  nöthig  noch  auch 
nur  brauchbar,  und  von  irgend  einem  Einflüsse.  [415]  Wir  leben  einmal 
in  Relationen,  und  bedürfen  nichts  weiter.  Einzig  der  Metaphysiker  ist 
es,  welcher  gewahr  wird,  wie  entfernt  das  eigentliche  Reale  und  das  wirk- 
liche Geschehen  von  unserm  gewöhnlichen  Gedankenkreise  liegen.  Und 
auch  ihm  ist  nichts  Anderes  gegeben,  als  was  sich  Allen  darbietet;  nur 
die  Sorgfalt,  nicht  absolute  und  relative  Position  zu  verwechseln,  bringt 
ihn  dahin,  die  wahren  Wesen  sammt  den  wahren  Causalverhältnissen  in 
weitere  Entfernung  hinter  den  Erscheinungen  zu  stellen,  als  dies  dem  ge- 
meinen Verstände  geläufig  ist. 

§•  329- 

Will  man  nun  die  Form  des  Wissens  zuerst  von  der  Seite  auffassen, 
von  welcher  es  am  unmittelbarsten  als  abbildend  kann  angesehen  werden: 
so  suche  man  die  Lehren  vom  Räume  zugleich  in  der  Psychologie  und 
hier  in  der  Metaphysik  auf,  um  von  diesem  Standpuncte  aus  die  beyden 
Wissenschaften  so  weit  als  mödich  zu  überschauen.  Wir  haben  uns  näm- 
lieh  berechtigt  gefunden,  den  intelligibeln  und  den  sinnlichen  Raum,  un- 
geachtet ihres  verschiedenen  Ursprungs,  dennoch  in  Ansehung  der  Resul- 
tate gleich  zu  setzen  (§.  299),  welches  so  viel  heifst,  als:  die  empirischen 
Raum -Verhältnisse  sind  ähnlich  denen,  worin  eine  Intelligenz,  welche  die 
realen  Wesen  unmittelbar  anschauen  könnte,  dieselben  zusammenfassen 
würde.  Mit  diesem  Satze,  durch  dessen  Mangel  die  Kantische  Lehre  sich 
das  Wissen  sehr  verkümmerte,  —  müssen  in  der  Psychologie  noch  die 
Untersuchungen    über    die    Apperception    und    über    das    Anschauen    (dort 


->  ,0  I.  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


9 


R  125  — 128,  und  §.  147)  verglichen  werden,  wenn  man  sich  den  Ur- 
sprung der  Vorstellungen  als  eigentlicher  Bilder  einer  Welt  von  Objeden, 
welche  einander,  und  dem  Subjecte  gegenüber  stehn,  und  von  bestimmten 
Umrissen  eingeschlossen  sind,  deut- [4 1 6]  lieh  machen  will.  Die  blofse 
Eidolologie,  als  ein  Theil  der  allgemeinen  Metaphysik,  würde  nur  die  Auf- 
gabe, solche  Untersuchungen  anzustellen,  aussprechen,  und  an  die  Psycho- 
logie verweisen  können.  Sie  würde  voraussetzen,  es  müsse  irgend  einen 
psychologischen  Mechanismus  geben,  wodurch,  ohne  Annahme  der  aus 
ontologischen  Gründen  verwerflichen  Seelen  vermögen,  die  Objectivität  un- 
serer vorgestellten  Welt  zu  Stande  komme.  Was  aber  die  Fragen  anlangt, 
mit  welchen  der  Idealismus  sich  über  das  Objective  der  Erscheinungen 
quält,  so  sind  sie  aus  Mangel  an  mathematischer  Vorbildung  gewöhnlich 
so  schief  gestellt  worden,  dafs  sie  kaum  die  Geschichte  der  Philosophie 
interessiren  können;  und  sie  fallen  mit  dem  Idealismus  zugleich  weg. 

Uns  leistet  hier  die  Psychologie  nicht  blofs  in  Ansehung  der  Raum- 
verhältnisse, und  überhaupt  der  mathematischen  Formen,   ihre  Dienste,   son- 
dern   auch    in    Ansehung    der    logischen    Formen.      Zwar    auch    schon    die 
blofse  Eidolologie  würde  dem  logisch- Allgemeinen  keine  Realität  einräumen. 
Das    verbietet   ihr   die    Ontologie.     Das  Allgemeine   bezieht   sich   aufs  Be- 
sondere, und  verträgt  wegen  dieser   seiner   relativen  Natur   keine   absolute 
Position.     Am    allerwenigsten  verträgt   es  jene    vermeinte  Platonische  Ent- 
deckung,   dafs   Eins  Vieles   werde,    indem   das    Allgemeine    sich    dem  Be- 
sondern und  Einzelnen    mittheile.     Diese  Träume   sollten   aus  wachenden 
Köpfen  ein  für  allemal  verbannt  seyn.    Dennoch  aber  könnte  Verwunderung 
entstehn,    wie    es    doch   möglich    sey,    dafs   allgemeine  Begriffe    und   Sätze 
uns  in    allen  Wissenschaften,    und   selbst   hier   in    der  Metaphysik,    so   un- 
entbehrlich sind?    Gehören  sie  zum  Wissen  (möchte  man  sagen),  so  müssen 
sie  doch  wohl  irgend  etwas  vom  Gewufsten  abbilden!    Wo  liegt  nun  dies 
Abgebildete?  Liegt  es  im  Seyenden?  Im  wirklichen  Geschehen?   Im  schein- 
baren Geschehen?     Es  ist  nirgends  zu   [417]   finden!     Eben  darum  nun, 
weil  das  Allgemeine  nirgends  in  der  Sphäre  des   Gewufsten  zu  finden  ist, 
würde    allerdings    die    Eidolologie,    auch    ohne   psychologische    Ausbildung, 
den  Satz  aussprechen:   das  Allgemeine  ist  nur  eine  Abbreviatur,   zur  Bequem- 
lichkeit, ohne  irgend  eine  eigene  Bedeutung.      Dann    aber  möchte  man  noch 
wegen  der  Gültigkeit »  solcher  Abbreviaturen  Zweifel  erheben.    Man  würde 
immer   noch   behaupten,    die    allgemeinen  Begriffe  seyen   doch    wenigstens 
als  eine  besondere  Classe  von  Vorstellungen  in  der  Seele  vorhanden;  und 
wenn  sie  auch  in  den  Wissenschaften  nur  als  Hülfsmittel  des  Denkens  zu 
betrachten   wären,    so   müsse    doch    noch    über    die   Art    und   das   Recht, 
solche  Hülfsmittel  anzubringen,  Auskunft  gegeben  werden.  —  Alle   solche 
Bedenklichkeiten   sind    abgeschnitten,    so   bald    man   aus    der   Psychologie 
weifs,  dafs  allgemeine  Begriffe  auch  nicht  einmal  in  der  Seele  als  eine  be- 
sondere Classe  von  Vorstellungen  wirklich  vorhanden  sind.    Sie  sind  logische 
Ideale.     Wir  fordern  von  uns  die  Beyseitsetzung  der  speeifischen  Differenzen, 
um  das  Allgemeine  rein    zu    denken.      Die    Forderung    wird    aber   niemals 
in  aller  Strenge    erfüllt;    der    psychologische   Mechanismus    kann   sie   nicht 


wegen  Gültigkeit  SW.  („der"  fehlt). 


4.  Abschnitt.     Eidolologie.     4.  Capitel.     Von  der  Möglichkeit  des  Wissens.     24 1 


erfüllen.  Es  giebt  nur  eine  Annäherung  an  das  Isoliren  dessen,  was  ein- 
mal in  Complicationen  und  Verschmelzungen  eingegangen  ist.  Eben  darum 
aber  liegt  auch  in  der  Anwendung  der  allgemeinen  Begriffe  kein  Räthsel. 
Die  einzelnen  Vorstellungen  liegen  wirklich  als  Bestandtheile  in  denen,  die 
für  allgemein  gehalten  werden;  und  das  Allgemeine  hat  nur  darum  Gültig- 
keit, weil  es  in  jedem  Einzelnen  wiederkehrt.  In  allgemeinen  Sätzen  und 
Beweisen  finden  wir  blofs  uns  der  Mühe  überhoben,  das  Einzelne,  ihm 
gleichartige,  noch  einmal  mit  derjenigen  Nachforschung  zu  verfolgen,  die 
wir  jetzt  anstellen  würden,   wenn  wir  sie  nicht  schon   angestellt  hätten. 

[418]  Was  endlich  die  speculative  Form  des  Wissens  anlangt:  so  ist 
diese  hier  in  der  Metaphysik  vor  Augen  gestellt;  und  wir  wissen,  dafs  sie 
auf  den  Beziehungen  beruhet,  welche,  wenn  sie  verletzt  oder  verkannt  wer- 
den, sich  durch  Widersprüche  verrathen.  Hier  giebt  es  kein  unmittel- 
bares Wissen,  sondern  nur  ein  mittelbares.  Das  heifst  mit  andern  Worten: 
das  Seyende  bildet  sich  in  der  Seele  nicht  von  selbst  ab;  sondern  auf 
höhern  Bildungsstufen  wird  das  Fehlerhafte  der  ursprünglich  erzeugten 
Bilder  entdeckt  und  berichtigt;  bis  diejenigen  Verhältnisse  der  unbekannten 
Qualitäten  des  Seyenden  zum  Vorschein  kommen,  die  man  voraussetzen 
mufs,  weil  man  sonst  die  gegebenen  Formen  der  Erfahrung  nicht  ohne 
Widerspruch  denken  kann. 

Dafs  nun  die  drey fache  Form  des  Wissens,  die  mathematische,  lo- 
gische und  speculative  (um  vom  blofs  Empirischen  zu  schweigen),  in  Hin- 
sicht auf  Wahrheit  und  Zuverlässigkeit  sich  sehr  verschieden  verhält,  ist 
allgemein  bekannt.  Fragen  wir  aber,  weshab  denn  die  Speculation  so 
grofsen  Täuschungen  unterworfen  ist:  so  bieten  sich  uns  zwey  Haupt- 
umstände dar,  von  welchen  der  nachtheilige  Einflufs  am  Tage  liegt.  Der 
erste  ist:  Übereilung  in  Ansehung  der  absoluten  Position;  der  zweyte:  Ver- 
zvechselung   des  scheinbaien    Geschehens  mit  dem  wahren. 

1)  Alle  Begriffe,  Gedanken,  Vorstellungsarten,  die  nur  in  bestimmten 
Beziehungen  Ursprung  und  Bedeutung  haben,  werden  ihres  wahren  Sinnes 
beraubt,  sobald  die  Beziehungen,  in  denen  sie  stehen,  in  Vergessenheit 
gerathen.  Alsdann  findet  man  sie  wie  einen  geistigen  Vorrath,  um  dessen 
richtiges  Aufstellen,  Anwenden,  Verknüpfen  man  verlegen  ist.  Wer  sie 
aber  nun  schlechthin  zu  setzen  versucht,  dem  verwandeln  sie  sich  in  reale 
Gegenstände.  So  wurden  einst  Zahlen  [419]  und  Ideen  zu  Principien  der 
Dinge.  Eben  so  verwandeln  sich  ästhetische  Urtheile  in  Seelenkräfte,  oder 
wenigstens  in  vorgebliche  Qualitäten.  In  dieser  Hinsicht  könnten  wir  fast 
in  Versuchung  gerathen,  wegen  einiger,  dem  Spinoza  gemachten  Vorwürfe 
eine  Palinodie  zu  singen.  Denn  so  empörend  es  an  sich  ist,  in  einem 
Buche,  welches  sich  Ethik  nennt,  die  Beurtheilung  des  Schönen  und  Guten 
als  Vorurtheil  behandelt  zu  sehen:  eben  so  offenbar  ist  andererseits,  dafs 
eben  darum,  weil  diese  Ethik  keine  Ethik,  sondern  eine  Kosmologie  ist, 
das  theoretische  Interesse  in  ihr  herrscht;  und  gewifs  mufs  dies  theoretische 
Interesse  da,  zvo  es  einmal  herrscht,  gegen  die  Einmischung  der  ästhe- 
tischen Beurtheilung  nachdrücklich  protestieren;  welches  eben  die  Absicht 
des  Spinoza  war.  Übrigens  versteht  sich  von  selbst,  dafs  der  Denker, 
nicht  etwan  blofs  als  Mensch,  sondern  schon  um  die  Ereignisse  geistiger 
Art  zu  begreifen,    mit  den  ästhetischen  Urtheilen  vertraut   seyn   mufs;    da 

Herbart's  Werke.     VIII.  16 


242  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


sie  in  der  Welt  eine  ungeheure  Gewalt  ausüben,  indem  sie  Gefühl,  Wil- 
len und  Handeln  bestimmen.  In  allen  moralischen  Kräften,  deren  Ener- 
gie die  ganze  Geschichte  bezeugt,  sind  sie  thätig;  von  den  Antrieben  des 
äufserlich  Schicklichen  und  Anständigen  bis  zu  den  innersten  Motiven  der 
Ehre  und  der  Tugend  sind  sie  —  zwar  bey  weitem  nicht  allein  das  trei- 
bende, aber  das  lenkende  und  richtende  Princip.  Dafs  sie  sich  aber  nur 
auf  Verhältnisse  beziehen,  und  keine  absolute  Position  ausdrücken,  wird 
hier  als  bekannt  vorausgesetzt. 

Auf  unrichtige  Anwendung  der  absoluten  Position  kann  endlich  das 
Meiste  von  demjenigen  zurückgeführt  werden,  was  in  der  Psychologie  (im 
zweyten  Abschnitte  des  zweyten  Theils)  über  die  natürlichen  Täuschungen 
in  der  Auffassung  der  Dinge  und  unserer  selbst,  ausführlich  ist  vorgetragen 
worden. 

2.  Die  Verwechselung  des  scheinbaren  Geschehens  [420]  mit  dem 
wahren  reicht  so  weit,  als  die  Meinung,  irgend  ein  Geschehen  auf  dem 
Standpuncte  des  gemeinen  Verstandes  wahrhaft  zu  erkennen.  Die  Un- 
richtigkeit aller  bekannten  Causalbegriffe,  und  die  Unmöglichkeit  des  ab- 
soluten Werden,  hat  uns  gezwungen,  die  Theorie  von  den  Selbsterhaltungen 
einzuführen;  diese  aber  sind  dergestalt  verborgen,  dafs  wir  sie  in  dem 
einzigen  uns  zugänglichen  Beyspiele,  nämlich  in  unsern  einfachen  Empfin- 
dungen, nicht  einmal  als  das,  was  sie  eigentlich  sind,  auffassen,  bevor  die 
Metaphysik  uns  aufmerksam  macht.  Hiedurch  verschiebt  sich  uns  das 
Schauspiel  des  Geschehens  in  der  Welt  dergestalt,  dafs  selbst  das  offenbar 
nichtige  der  Bewegungen  als  Etwas  erscheint,  und  dafs  zu  diesem  Nichts 
sogar  wirkliche  Kräfte  hinzugedacht  werden.  Etwas  minder  grofs  ist  die 
Täuschung  in  Ansehung  der  angenommenen  Geisteskräfte;  denn  in  den 
geistigen  Ereignissen,  zu  welchen  sie  gleich  jenen  bewegenden  Kräften  hin- 
zugedacht werden,  liegt  wenigstens  das  wahre  Geschehen  verborgen,  wenn 
gleich  so  verhüllt,  dals  es  ohne  die  weitläuftigen  Untersuchungen  der 
Psychologie  sich  nicht  darin  nachweisen  läfst.  An  die  letzteren  müssen 
wir  nun  noch  kurz  erinnern,  insofern  sie  zur  nähern  Bestimmung  der 
Lehre  von  den  Selbsterhaltungen  beytragen. 

§•  330. 
Die  Metaphysik,  wenn  sie  sich  das  wieder  zueignet,  was  wir  in  der 
Psychologie  von  ihr  entlehnt  haben,  gewinnt  in  diesem  letzten  Theile  ihrer 
allgemeinen  Untersuchungen  noch  aufser  den  Erklärungen  über  die  Bilder, 
oder  vielmehr  in  und  mit  denselben,  eine  ganze,  höchst  wichtige  Sphäre 
von  Begriffen,  die  man,  sofern  sie  in  dem  gemeinen  empirischen  Gedanken- 
kreise   sich    spüren   lassen,    hier    schon    längst    wird   erwartet    und  vermifst 

haben. 

[421]  Dahin  gehört  vorzugsweise  der  Begriff  von  77/««  und  Leiden. 
Dafs  man  diesen  in  der  Ontologie  nicht  suchen  dürfe,  haben  wir  mehr- 
mals erinnert ;  auch  ist  die  wahre  Causalität,  welche  in  den  Selbsterhaltungen 
liegt,  offenbar  kein  Thun,  denn  sie  ist  keine  causa  tiansicns,  worin 
man  das  Thätige  dem  Leidenden  entgegensetzen  könnte.  In  der  Syne- 
chologie    fand    nun    vollends    nur    ein    scheinbares    Geschehen    Statt;    die 


4.  Abschnitt.     Eidolologie.     4.  Capitel.     Von  der  Möglichkeit  des  "Wissens.    243 


dortigen  Attractionen  und  Repulsionen  waren  nur  dem  Namen  nach 
Wirkungen,  eigentlich  aber  lediglich  begleitende  Phänomene  für  den  Zu- 
schauer, bey  inneren  Zuständen,  denen  der  äufsere  Schein  entsprechen 
mufste. 

Hier,  in  der  Eidolologie,  könnte  man  sich  ebenfalls  leicht  irren,  wenn 
man  etwa  das  Vorstellen  unmittelbar  für  ein  Thun  halten  wollte,  wie  es 
Fichte  nur  zu  häufig  genannt,  beschrieben,  ja  sogar  construirt  hat,  indem 
er  von  Thätigkeiten  redete,  die  ins  Unendliche  gingen,  dann  begränzt 
würden  u.   dergl.   m. 

Oben  (§.  325)  kamen  wir  an  den  Satz:  die  Objecte,  welche  beym 
Ich  vorausgesetzt  werden,  müssen  einander  nicht  blofs  fremdartig,  sondern 
selbst  einander  entgegengesetzt  seyn.  Der  Leser  kennt  schon  aus  der 
Psychologie  den  Begriff  des  Strebens,  auf  welchen  der  angeführte  Satz  bei 
gehöriger  Untersuchung  leitet.  Das  Entgegengesetzte  der  Empfindungen 
darf  sich  nicht  vernichten,  sonst  wäre  es  unnütz  und  von  keinen  weitern 
Folgen;  es  mufs  bleiben,  aber  eine  Hemmung  verursachen.  Es  wäre  ganz 
überflüssig,  wenn  wir  darüber  noch  weitläuftig  werden  wollten. 

Aber  an  einer  andern  Stelle  (§.  320)  haben  wir  auch  schon  bemerkt, 
dafs  eben  dieser  Begriff  der  Hemmung  sich  finden  lasse,  wenn  man  nur 
erfahrungsmäfsig  die  Vielheit  wechselnder  Bilder,  welche  wir  in  uns  an- 
treffen, gehörig  in  Betracht  zieht.  Es  ist  nämlich  klar,  dafs  in  der  Einen 
Seele  Alles  in  Eins  zusammen-[42  2]fliefsen  müfste,  wenn  sich  Alles  mit 
Allem  vertrüge.  Nur  sofern  es  sich  hemmt,  kann  Einiges  von  Anderm 
gesondert  werden;  so  dafs  hierauf,  als  auf  der  ersten  wesentlichen  Bedingung, 
die   Mehrheit,   der  Wechsel,   und  die  Begränzung  der  Bilder  beruhen  mufs. 

Nun  eröffnet  sich  der  Schauplatz  des  Thuns  und  Leidens  zunächst 
so  weit,  dals  man  einsieht,  das  Streben  einer  Vorstellung  äufsere  sich  nicht 
blofs  in  ihr  selbst,  zur  Wiederherstellung  in  ihren  ursprünglichen  Stand  vor 
der  Heimnung,  sondern  in  allen  mit  ihr  verbimdenen  andern  Vorstellungen, 
und  zwar  nach  dem   Maafse  der    Verbindung. 

Von  allen  den  weitläuftigen  psychologischen  Untersuchungen  hierüber 
braucht  die  Metaphysik  nur  den  allgemeinen  Begriff  des  Wirkens  jeder 
Vorstellung  auf  die  mit  ihr  verbundenen.  Diesen  Begriff  mufs  sie  an 
seinen  rechten  Ort  stellen  unter  den  übrigen,  aus  der  Ontologie  und  Syne- 
chologie  bekannten   Begriffen. 

Der  neue  Begriff  nämlich  ist  weder  der  des  Seyn,  noch  des  wirk- 
lichen, noch  des  scheinbaren  Geschehen.  Sondern  er  ist  eine  nähere  Be- 
stimmung des  wirklichen  Geschehen.  Und  zwar  eine  höchst  wichtige,  denn 
in  dieser  Sphäre  liegt  das  ganze  geistige  Leben,  also  der  Sitz  aller  unserer 
Interessen  und  Wer  thbest  immun  gen.  Alles  Übrige  in  der  Metaphysik  ist 
eigentlich  nur  ein  Unterbau,  um  den  sich  aufser  dem  Kreise  der  Wissen- 
schaft Niemand  bekümmert.  Wie  viele  Formen  die  Hemmung  und  die 
Reproduction  der  Vorstellungen  annimmt,  weifs  man  aus  der  Psychologie. 

Nun  aber  zeigen  sich  hier  die  psychologischen  Lehren  als  etwas 
Specielles,  welches  unter  einem  Allgemeinen  enthalten  seyn  mufs.  Dafs 
von  der  Empfindung  das  Vorstellen  zurückbleibt ,  auch  nachdem  der 
äuf-[423]sere  Grund  sich  entfernt,  die  Störung  aufgehört  hat;  —  dafs  die 
Empfindungen  viele  verschiedene  Ordnungen  bilden,  und  dafs  aus  einerley 

16* 


2z,4  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.      1829. 


Ordnung  je  zwey  Empfindungen  unter  einander  in  bestimmtem  Grade  ent- 
gegengesetzt sind;  dafs  die  Reproductionsgesetze  sich  aufs  genaueste  nach 
der  Zeitfolge  und  dem  Grade  der  Verbindung  unter  den  innern  Zuständen 
richten,  die  wir  für  die  Seele  Vorstellungen  nennen:  dies  alles  würden  wir 
aus  blofser  Ontologie  höchstens  als  möglich  ahnden;  nachdem  es  aber  ein- 
mal in  Einem  grofsen  Beyspiel,  nämlich  in  der  innern  Erfahrung,  und 
deren  psychologischer  Erklärung,  deutlich  vor  uns  liegt,  besitzen  wir  hierin 
einen  Schatz  von  Erklärungsgründen  für  die  gesammte  Naturforschung. 
Denn  wenn  auch  die  menschliche  Geistesbildung  nur  unter  Bedingung 
solcher  Sinnesorgane,  wie  sie  dem  menschlichen  Leibe  eigen  sind,  und 
solcher  Vorstellungsreihen,  wie  dergleichen  für  uns  aus  Natur  und  Gesell- 
schaft entstehen,  möglich  ist:  so  kann  doch  nicht  geleugnet  werden,  dafs 
die  ganz  allgemeinen  Voraussetzungen  einer  Mannigfaltigkeit  innerer  Zu- 
stände in  einem  realen  Wesen,  und  der  Hemmung,  Verbindung  und  Re- 
production  derselben,  eben  so  gut  auf  jedes  andere  reale  Wesen,  welches 
mit  mehrern   in  irgend   einer  Gemeinschaft  steht,    passen  müssen,  als  auf 

die  Seele. 

Ferner  weifs  man  aus  der  Ontologie,  und  noch  genauer  aus  der  Lehre 
von  der  Materie,  dafs  wenn  ein  Zusammen  mehrerer  realer  Wesen  vor- 
handen ist,  dann  auch  die  innern  Zustände  der  mehrern  einander  gegen- 
seitig entsprechen,  und  nach  diesen  wiederum  die  Bestimmungen  der  Lage 
sich  richten  müssen.  Also  wird  jenes  innere  Thun  und  Leiden,  welches 
wir  vorhin  bey  verbundenen  Vorstellungen  bemerkten,  nicht  blofs  in  andern 
realen  Wesen  ebenfalls  im  Kreise  ihrer  innern  Zustände  vorkommen,  son- 
dern es  wird  sich  [424]  unter  Umständen  auch  ein  äufseres  Thun  daran 
knüpfen,  welches  theils  die  innern  Zustände  mehrerer  realer  Wesen  durch- 
läuft, theils  sich  äufserlich  in  Bewegungen  verrathen  mufs. 

So  viel  von  der  Erweiterung  der  metaphysischen  Begriffe  in  der 
Eidolologie. 


[425]  Fünfter  Abschnitt. 

Umrisse  der  Naturphilosophie. 


Erste  Abtheilung. 

Synthetische  Untersuchungen. 


Vorerinnerung. 

Nachdem  wir  längst  den  Begriff  der  Materie,  als  einer  Masse,  deren 
wahre  Natur  in  der  Ausdehnung  liege,  —  und  eben  so  den  Begriff  der 
bewegenden  Kräfte,  als  ob  dieselben  die  Attribute  jener  Masse  wären, 
verworfen  hatten  :  zeigte  sich  uns  beydes  zugleich,  Materie  und  ihre  Kraft 
der  Cohäsion,  Configuration,  Elasticität,  u.  s.  w.  als  Folge  einer  blofsen 
Relation  ungleichartiger  Elemente,  welche,  einzeln  genommen,  nicht  das 
geringste  Prädicat  besitzen  würden,  das  an  Materie  auch  nur  erinnern 
könnte. 

Wir  fanden  aber  gleich  Anfangs  den  starren  Körper,  weil  wir  die 
vorausgesetzte  Relation  in  ihrer  Vollständigkeit  annahmen,  ohne  noch  auf 
die  denkbaren  Verminderungen  derselben  zu  achten.  Jetzt  hingegen  wird 
es  darauf  ankommen,  jene  Relation  durch  verschiedene  mögliche  Abstufungen 
zu  verfolgen,  und  zu  [426]  versuchen,  ob  wir  dabey  auf  der  Spur  des 
erfahrungsmäfsigen   Wissens  bleiben  können. 

Man  wird  nun  im  Folgenden  eine  Construction  finden,  welche  von 
der  für  die  Bildung  der  Materie  vortheilhaftesten  Annahme  allmählig  ab- 
wärts geht;  Anfangs  ohne  Rücksicht  auf  innere  Zustände,  dann  mit  Rück- 
sicht auf  dieselben,  allein  dies  letztere  innerhalb  gewisser  Gränzen.  Die 
Folge  wird  seyn,  dafs  die  Form  des  Daseyns,  welche  man  körperlich 
nennt,  sich  immer  schwankender  zeigen,  und  in  einigen  Fällen  jenen 
zweifelhaften  Stoffen  entsprechen  mufs,  welche  die  empirische  Physik  mit 
dem  Namen  der  Inponderabilien  zu  bezeichnen  pflegt,  eigentlich  aber  schon 
als  jenseits   der  Gränzen  des   Materialen  liegend  betrachtet. 

Hiebev  wird  sich  dem  Leser  die  Frage  aufdringen,  ob  eine  solche 
blofs  abwärts  gehende  Construction  nicht  einseitig  ausfallen  müsse?  Ob 
man  sie  nicht  auch  werde  aufwärts  führen  können  ?  Wobey  sie  alsdann 
gleichfalls  nicht  im  Gebiete  des  materialen  Dasevns  (wofür  die  vortheil- 
hafteste  Voraussetzung  Anfangs  gemacht  worden)  verbleiben,  sondern  das- 
selbe übersteigen  werde. 


2  i6  I-   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


Offenbar  können  wir  eine  solche  Frage  nicht  verneinen;  denn  es  ist 
klar,  dafs  diejenigen  Elemente,  welche  wir  Seelen  nennen,  und  welche  für 
den  Lauf  des  Lebens  mit  Leibern  verbunden  sind,  in  der  Richtung  jener 
aufwärts  verlängerten  Construction  liegen  müfsten.  Es  ist  schon  in  der 
Psychologie  bemerkt  worden  (dort  §.  154),  dafs  die  Seele  zwar  einen  Ort 
im  Leibe,  allein  schwerlich  einen  vest  bestimmten  Ort,  sondern  eher  eine 
für  sie  bewohnbare  Gegend  im  Gehirne  haben  möge,  wo  sie,  freylich 
gänzlich  unbewufst,  ihren  Standpunkt  wechsele,  während  ihre  mittelbare 
Gegenwart  stets  im  ganzen  Nervensystem  bleibt,  durch  welches  sie  die 
'Gemeinschaft  mit  fast  allen  Theilen  des  Leibes  unterhält. 

[427]  Ferner  wird  Niemand  glauben,  dafs  menschliche  Seelen  das 
Höchste  seyen;  denn  Jeder  kennt  die  engen  Gränzen  unseres  Erfahrungs- 
kreises. Wenn  schon  unsere  Seelen  einen  solchen  Vorzug  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Qualität  besitzen,  dafs  sie  in  dem  System,  welches  wir  unsern  Leib 
nennen,  nicht  eigentlich  material  gefesselt  werden,  dennoch  aber  darin 
wohnen,  und  es  grofsentheils  beherrschen:  so  kann  der  Abstand  der  Qua- 
litäten, worin  dieser  Vorzug  liegt,  auch  noch  gröfser  gedacht  werden ;  und 
die  Unabhängigkeit  vom  Leibe,  und  von  seiner  Einrichtung,  kann  wachsen. 
Schade  nur,   dafs  uns  hier  die   Erfahrung  gänzlich   verläfst! 

Endlich  könnte  man  auf  den  Gedanken  kommen,  ob  nicht  aur  sol- 
chem Wege,  wenn  man  alle  Abstände  unendlich  setzte,  sich  der  höchste 
Gegenstand  des  Glaubens  würde  erreichen,  und  gewissermaafsen  begreif- 
lich machen  lassen?  Dem  Mathematiker  ist  es  geläufig,  in  seinen  Formeln 
den  Werth  eines  oder  einiger  Zeichen  unendlich  grofs  anzunehmen;  als- 
dann pflegen  die  Formeln  sich  plötzlich  so  zusammenzuziehen  und  zu 
verändern,  dafs  man  ihre  vorige  Gestalt  nicht  mehr  erkennt.  Und  die 
Aussicht,  eine  Brücke  zwischen  Wissen  und  Glauben  zu  finden,  wäre  eben 
so  einladend,  als  die  Hoffnung,  dem  Pantheismus  zu  entgehen,  welchem 
sich  heutiges  Tages  so  Manche,  selbst  wider  Willen,  in  die  Hände  liefern. 

Auch  möchten  Diejenigen,  denen  hier  sogleich  eine  Weltseele  einfallen 
wird,  wohl  Ursache  haben,  zu  überlegen,  was  sie  bewege,  mit  diesem 
Worte  einen  Vorwurf  auszusprechen.  Wenn  eine  Seele  nach  der  Meinung 
einiger  Physiologen  das  Lebensprincip  des  Leibes  wäre  (welches  gänzlich 
falsch  ist),  alsdann  würde  eine  Weltseele  nur  Bedeutung  haben  für  die 
Veränderungen  der  Körperwelt.  Wofern  aber  Seele  soviel  ist  als  die 
eigentliche  Substanz  des  Geistes  (und  in  [428]  diesem  Sinne  nehmen  wir 
das  Wort),  so  dürfen  wir  wenigstens  erinnern  an  den  ganz  unvermeidlichen, 
aller  Religion  inwohnenden,  Anthropomorphismus,  nach  welchem  Gott 
ein  Geist  ist!  Wir  alle  nehmen  den  Weg  unserer  Gedanken,  wann  die- 
selben sich  zu  Gott  erheben  sollen,  Anfangs  in  der  Richtung  der  mensch- 
lichen Seele;  und  wenn  wir  auch  die  Gottheit  sondern  von  der  Welt,  so 
dürfen  wir  doch  in  der  Sonderung  selbst  die  Verbindung  nicht  ver- 
kennen. 

Jener  Gedanke  wäre  demnach  vielleicht  nicht  so  ganz  verwerflich, 
wenn  er  sich  nur  ausführen  liefse.  Hoffentlich  aber  wird  einem  Jeden 
sogleich  klar  seyn,  welcher  ungeheuren  Unsicherheit  des  Verfahrens  man 
sich  dabey  hingeben  würde.  Wollten  wir  in  irgend  einer  Theorie  auf 
einmal    gewisse  Abstände  unendlich  setzen:    so  würden  wir  Gefahr  laufen, 


5.Abschn.  Umrisse d. Naturphilosophie.    i.Abth.    Synthet. Untersuch.  Vorerinerung.   2A7 

dafs  der  geringste  darin  begangene  Fehler  sich  ins  Unendliche  vergröfsere, 
und  das   Ziel  der  Untersuchung  gänzlich   verfehlt  werde. 

Im  vorliegenden  Falle  aber  ist  das  Ziel  aufgestellt  durch  die  bekann- 
ten göttlichen  Eigenschaften,  in  denen  die  ästhetische  Auffassung  unver- 
kennbar ist.  Gottes  Heiligkeit,  Gröfse,  Güte,  richtende  und  vergeltende 
Gerechtigkeit  entspricht  so  unmittelbar  den  praktischen  Ideen,  dafs  sie 
daraus  hätten  gefunden  werden  können.  Die  eigentlich  moralischen  Be- 
ziehungen, Trost  im  Unglück,  Sanction  der  Pflicht,  und  Ermunterung  zur 
Tugend,  vereinigen  sich  mit  jenen  Eigenschaften,  um  die  unverletzliche 
Grundlage  der  Religion  zu  bilden. 

Diese  ästhetische  und  moralische  Auffassung  entbehren,  und  durch 
irgend  etwas  Anderes  ersetzen  zu  wollen,  —  wäre  ein  vollkommen  unge- 
reimtes Beginnen,  welches  Niemandem  in  den  Sinn  kommen  kann.  Es 
fragt  sich  blofs,  ob  ein  theoretisches  Wissen,  oder  auch  nur  ein  theore- 
tischer Gedanke  dargeboten  werden  könne,  welchem  die  längst  vorhandene 
ästhetische  Auffassung  [429]  möge  abgewonnen  werden?  Allein  wer  dar- 
nach strebt:  der  erinnere  sich  an  die  Fabel  von  der  Seniele,  die  sich  ihr 
Verderben  erbat! 

Oder  wer  so  weit  nicht  gehen  will,  der  beobachte  nur  die  Wirkung 
des  neuern  Pantheismus.  Ein  Theil  wenigstens  von  dem  Anstöfsigen, 
was  er  fühlen  läfst,  liegt  in  der  theoretischen  Ansicht,  welche  er  statt 
der  ästhetischen,  oder  doch  mit  derselben  verbunden,  aufstellt.  Keine 
Naturlehre  wird  Dank  gewinnen,  wenn  sie  sich  dem  Religionslehrer  auf- 
dringt. Für  ihn  quillt  keine  Begeisterung  aus  Magnetismus  und  Elektrici- 
tät,  aus  Säuren,  Alkalien  und  Metallen;  gleichviel  ob  von  der  Substanz 
dieser  Dinge,    oder  von    ihrer  gesetzmäfsigen   Verknüpfung    die   Rede  sey. 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  Teleologie.  Nicht  nur  wird  sie  wohl- 
thätig  empfunden,  sie  gehört  auch  wesentlich  zur  Auffassung  des  Gege- 
benen. Dafs  sie  von  Kant  und  Fichte  gering  geschätzt  wurde,  lag  in 
der  idealistischen  Richtung  beyder;  und  hätte  von  Realisten  nicht  nach- 
geahmt werden  sollen.  Aber  freylich  zeigt  sie  eine  Kunst,  die  wohl 
Manchem  überflüssig  scheint.  Das  Auge  und  das  Ohr  sind  gebaut  unter 
Voraussetzung  des  Lichts  und  der  Luft.  Wäre  es  nicht  kürzer  gewesen, 
das  Sehen  und  das  Hören  unmittelbar  zu  schaffen?  Dann  wäre  die  Augen- 
heilkunde mit  ihrer  Unsicherheit  ganz  erspart;  und  nach  Mitteln  gegen 
die  Taubheit  würde  nicht  vergeblich  gesucht.  Die  Füfse  dienen  zur  Be- 
wegung; die  Zähne  zum  Fangen  und  Zermalmen  der  Speisen.  Konnte 
sich  die  höchste  Kunst  auf  das  Nichtige  blofser  Raumverhältnisse  ein- 
lassen? —  Wer  so  fragt:  dem  antwortet  die  Natur  durch  die  blofse  That. 
Und  wer  die  Kunst  dieser  That  gering  achtet,  weil  sie  so  tief  in  die 
Welt  der  Erscheinungen  eingreift,  der  bemerke  wenigstens,  dafs  die  näm- 
liche Kunst  ins  Innere  der  Elemente,  und  ins  wahre  Gesche-[43o]hen,  auf 
eine  Weise  hinabsteigt,  wobey  unsrer  Chemie  schwindelt,  und  unsre  Physiologie 
wohl   schwerlich   auch    nur   die   Fragen  versteht,    die    ihr    aufgegeben    sind. 

Wenn  diese  Betrachtungen  sich  dem  Leser  am  Ende  des  nachfolgen- 
den Versuchs  von  einer  neuen  Seite  darbieten :  dann  werden  wir  glauben 
dürfen,  etwas  erreicht  zu  haben.  Denn  bey  solchen  Gegenständen  sind 
die  kleinsten   Ansprüche  die  besten. 


2a8  I-   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Nur  von  einer  einzigen  Seite,  und  blofs  um  einigermaafsen  die  Be- 
griffe aufzuklären ,   mag  hier  von  der  Teleologie  gesprochen  werden. 

In  der  Synechologie  ist  gezeigt,  dafs  unter  einer  Menge  von  gegen- 
seitig unabhängigen  Körpern  allemal  Bewegung  als  ihr  ursprüngliches 
Raumverhältnifs  zu  erwarten,  Ruhe  dagegen  unendlich  unwahrscheinlich 
ist;  weil  sie  unter  den  unzähligen  Möglichkeiten  der  gröfsern  oder  gerin- 
gern Geschwindigkeit  nur  ein  einziger  Fall,  nämlich  derjenige  Fall  ist,  in 
welchem  gerade  die  Geschwindigkeit  gleich   Null  seyn  würde. 

Angenommen  nun,  diejenigen  Weltkörper,  welche  wir  Fixsterne  nennen, 
stünden  wirklich,  der  Bedeutung  des  Wortes  gemäfs,  zu  einander  in  stets 
gleich  bleibenden  Raumverhältnissen  und  Entfernungen :  so  würden  wir, 
selbst  noch  ohne  die  Zweckmälsigkeit  einer  solchen  Bevestigung  gerade 
einzusehn,  uns  dennoch  hierüber  im  allerhöchsten  Grade  wundern,  und 
eine  Absicht  hinzudenken,  die  aus  dem  unermefslichen  Gebiete  der  Mög- 
lichkeiten diesen  Fall  herausgehoben  und  erwählt  habe.  Es  wäre  nun 
nicht  ein  von  uns  vollkommen  begriffener  Zweck,  —  denn  warum  sollten 
gerade  alle  Bewegungen  vom  Himmel  verbannt  seyn?  -—  aber  es  wäre 
das  Seltsame  und  aller  Wahrscheinlichkeit  ganz  Zuwiderlaufende,  welches 
uns  bestimmen  würde  zu  sagen:  sehet  hier  den  Finger  einer  unendlichen 
Macht;  [431]  denn  wir  kennen  nicht  glauben,  dafs  diese  Anordnung  der 
Dinge  von  selbst  da  sey. 

In  der  Wirklichkeit  ist  es  nun  der  Teleologie  nicht  vergönnt,  so  positiv 
aufzutreten,  wenigstens  nicht  in  diesem  Puncte.  Denn  von  einigen,  wie- 
wohl höchst  wenigen,  Fixsternen  ist  die  Bewegung  den  Astronomen  be- 
merkbar. 

An  unmittelbar  schlagender  Evidenz  hat  also  die  Teleologie  etwas 
verloren  ?  Allein  man  überlege  den  Verlust  nur  genauer.  Ist  denn  das- 
jenige, was  die  Erfahrung  lehrt,  in  der  That  das  Nämliche  mit  dem, 
welches  man  im  rohen  Zustande  einer  sich  selbst  überlassenen  Materie 
erwarten  konnte? 

Alle  möglichen  Geschwindigkeiten  waren  bey  einer  so  ungeheuren 
Menge  von  Weltkörpern,  wie  wir  erblicken,  der  Wahrscheinlichkeit  ge- 
mäfs. Welche  Geschiüindigkcit  ist  denn  wohl  die  gröfstc?  Und  wie  weit 
entfernt  müssen  wir  denn  wohl  von  denjenigen  Weltkörpern  seyn,  die  sich 
mit  der  gröfsten  möglichen  Geschwindigkeit  (wenn  dies  nicht  Unsinn  wäre), 
bewegen,  damit  dieselbe  für  uns  ganz  unmerklich  werde?  —  Freylich  ist 
es  die  Entfernung,  welche  uns  dahin  bringt,  sehr  viele  gegenseitige  Be- 
wegungen der  Fixsterne  gar  nicht  wahrzunehmen.  Aber  so  lange  man 
nicht  eine  Gränze  bestimmen  kann,  über  welche  hinaus  die  Geschwindig- 
keit sich  nicht  gröfser  denken  läfst,  bleibt  immer  die  natürliche  Erwartung 
diese:  es  werde  gar  manche  Bewegung  einzelner  Sterne  wohl  grofs  genug 
seyn,  um  leicht  bemerkt  zu  werden.  Die  Entfernung  ist  und  bleibt  eine 
endliche  Gröfse.  Warum  denn  sind  die  Geschwindigkeiten  aller  Fixsterne 
so  gering,  dafs  unserm  unbewaffneten  Auge  der  Himmel  mit  völlig  ruhi- 
gen Lichtern  zu  leuchten  scheint,  und  mit  dem  Fernrohre  noch  die  ange- 
strengteste Beobachtung  verbunden  werden  mufs,  damit  in  seltenen  Fäl-[\i2  2] 
len  eine  Spur  von  Bewegung  zum  Vorschein  komme?  —  Die  Abweichung 
des  Gesehenen  von  dem  Erwarteten,  vom  Wahrscheinlichen,  bleibt  immer 


5. Abschn.  Umrisse d. Naturphilosophie.  i.Abth.  Synthet. Untersuch.  Vorerinnerung.     249 

noch  so  ungeheuer,  dafs  der  Verlust,  den  die  Teleologie  glauben  könnte 
zu  erleiden  durch  die  entdeckten  Bewegungen  einiger  Sterne,  viel  zu  klein 
ist,  um  irgend  in  Betracht  zu  kommen.  Der  Himmel  ist  für  uns  immer 
noch  der  alte  Kosmos,  wenn  wir  nur  nicht  die  Kosmologie  als  ein  Netz 
von  bestimmten   Begriffen  betrachten,   womit  er  sich   umstricken   liefse. 

Nicht  mit  Unrecht  also  gebraucht  man  die  Worte  Glauben  und  Ahn- 
den im  Gegensatze  des  Wissens  in  Fällen  wie  dieser  hier.  Es  fehlt  etwas 
am  Belege  einer  dogmatischen  Behauptung.  Gleichwohl,  sobald  man  ver- 
sucht, ihr  zu  widersprechen,  und  einen  andern  nur  leidlich  vernünftigen 
Gedanken  an  die  Stelle  zu  setzen:  so  stöfst  man  auf  eine  so  ungeheure 
Unwahrscheinlichkeit,  oder  auf  ein  so  thörichtes  Hypothesen -Spiel,  dals 
selbst  der  kälteste  Verstand   sich  dagegen   erklären  mufs. 

Die  Teleologie  wird  daher  nicht  etwan  erbeten  vom  Gefühl,  wie  so 
Manche  sich  vorzustellen  scheinen.  Gerade  umgekehrt:  erst  sind  die  teleo- 
logischen Vermuthungen ,  als  höchste  Wahrscheinlichkeiten,  schon  in  der 
lediglich  theoretischen  Ansicht  vorhanden;  alsdann  liiefsen  sie  zusammen 
mit  dem  moralischen  Glauben,  der  in  jedem  menschlichen  Gemüthe  seine 
unvertilgbaren  Wurzeln  hat;  und  dies  Zusammenfliefsen  kann  Niemand 
hindern,   weil  gar  kein   Grund   dazu  vorhanden  ist. 

Es  liegt  nicht  an  der  Natur,  weder  in  uns  noch  aufsei  uns,  wenn 
irgendwo  die  Teleologie  ihre  Wirkung  zu  versagen  scheint.  Es  liegt  an 
den  falschen  Systemen.  Diese  sind  Schuld,  wenn  hier  Einer  fragt:  aber 
wo  ist  denn  der  Zweck  der  Pflanzen  und  Blumen,  die  ungesehen  wachsen, 
blühen  und  welken?  —  Dort  ein  [433]  Andrer:  aber  welchen  Werth  hat 
denn  die  Geniefsung,  das  Vergnügen,  welches  die  Thiere  und  der  Mensch 
von  so  künstlichen  Anstalten  gewinnt? 

Bevden  Fragen  liegt  der  Mangel  der  ästhetischen  Ansicht  zum  Grunde. 
Nicht  jedes  Kunstwerk  hat  einen  Zweck  aufser  sich ;  und  so  wenig  wir 
auch  uns  unterstehen  dürfen,  die  Analogie  mit  dem  menschlichen  Künst- 
ler überall  positiv  vesthalten  zu  wollen,  eben  so  wenig  dürfen  wir  doch 
in  Ansehung  der  höchsten  Kunst  Fragen  aufwerfen,  die  schon  den  Men- 
schen beleidigen  würden.  Wer  Blumen  zeichnet,  der  will  nicht  gefragt 
seyn,  warum  er  sie  zeichne?  Genug,  sie  gefallen  ihm!  Wer  darf  nun  fra- 
gen, zu  welchem  Zwecke  Blumen  geschaffen  wurden  ?  Das  ganze  blühende 
Pflanzenreich,  so  weit  es  vor  unsern  Augen  steht,  erfreut  uns;  aber  es 
braucht  nicht  gerade   Uns  zu  erfreuen.   — 

Nicht  ähnlich,  sondern  ganz  entgegengesetzt  scheint  die  andre  Frage. 
Der  Zweck,  nämlich  Genufs,  wird  eingeräumt;  aber  der  Genufs  wird  als 
werthlos  bezeichnet.  Was  liegt  denn,  so  lautet  die  Frage,  an  diesem 
Genüsse,  da  jede  nur  leidliche  Moral  denselben  verachten  lehrt?  Was  ist 
denn  Würdiges,  Hohes,  Religiöses  in  der  Verehrung  des  höchsten  Wesens, 
nachdem  die  Vorstellung  desselben  erniedrigt  worden  zur  Fürsorge  für 
das  Flüchtige    und  Gemeine    der  Empfindungen  von  Lust   und    Schmerz? 

Es  ist  wahrlich  schlimm,  dafs  man  zu  unserer  Zeit  noch  solche 
Reden  beantworten  mufs!  Der  Fehler  liegt  gerade  an  derselben  Stelle 
wie  zuvor;  es  fehlt  die  ästhetische  Ansicht:  hier  aber  nicht  der  Blumen 
und  Pflanzen,  sondern  gerade  des  allerhöchsten  Gegenstandes,  der  sich 
ihr  darbietet.     Es  fehlt  die  Idee  des  Wohlwollens. 


2tQ  !•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Das  Wohlwollen  selbst,  ohne  irgend  einen  Genufs,  den  es  hervor- 
bringen, ohne  irgend  einen  Schaden,  den  [434]  es  verhüten  möchte,  — 
ist  das  Schönste  unter  dem  Schönen;  so  wie  das  Übelwollen  das  Häfs- 
lichste  unter  dem  Häfslichen. 

Wo  nun  das  Wohlwollen  Macht  hat  zu  wirken,  da  wirkt  es.  Und 
das  Schauspiel,  welches  hier  der  Contemplation  dargeboten  ist,  zerfällt  in 
zwey  Theile;  der  eine  Theil  ist  das  Wirken,  der  andere  aber  ist  das 
Wohlwollen  selbst.  Unendlich  schöner  ist  der  zweyte  als  der  erste;  da- 
her wird  keine  Weisheit,  so  hoch  sie  stehe,  dem  Wohlwollen  Einhalt  thun 
in  seinem  Wirken,  wofern  nicht  bestimmte  Gründe  demselben  entgegen- 
stehen. Man  kennt  aber  das  Wohlwollen  gar  nicht,  wenn  man  es  erst 
durch  seine  Zwecke  adeln  will.  Es  hat  seinen  Adel  in  sich  selbst.  Die 
Anwendung  hievon  ist  leicht  zu  finden. 

Wir  wollen  nun  den  Irrthum  der  Systeme  nicht  härter  anklagen.  Er 
ist  schädlich  genug  geworden ;  aber  gleichwohl  hat  er  seine  Gründe  in 
der  ganzen  Verwickelung  philosophischer  Probleme.  Nur  sollten  Diejeni- 
gen, welche  gar  sehr  der  Nachsicht  bedürfen,  sich  auch  ihrerseits  hüten 
vor  jenem  spinozistischen  Übermuthe,  nach  welchem  es  eine  leichte  Sache 
seyn  soll,  alle  Fragen,  die  in  Ansehung  des  göttlichen  Verstandes  können 
vorgelegt  werden,  zu  beantworten.*  Die  erste  aller  religiösen  Tugenden 
ist  Demuth;  und  die  Resultate  der  teleologischen  Naturbetrachtung  sind 
eben  deshalb,  weil  sie  nicht  gestatten,  die  Welt  als  eine  geometrische 
Figur  zu  betrachten,  ganz  geeignet,  den  Menschen,  der  sich  auf  dieser 
Erde  stets   fremd  findet,   in  Demuth  zu   erhalten. 

Entgegengesetzt  dem  spinozistischen  Übermuthe  ist  derjenige  Muth, 
welcher  sich  bereit  erklärt,  der  Erfahrung  den  Rücken  zu  kehren,  wo  von 
über-[435]sinnlichen  Dingen  die  Rede  sey.  **  Wider  ihn  vermag  keine 
Metaphysik  etwas,  die  von  der  Erfahrung  ausgeht.  Wir  müssen  ihn  mit 
ähnlicher  Hochachtung  betrachten,  wie  den  Muth  der  Eleaten,  die  aus 
theoretischen  Gründen  mit  der  Erfahrung  brachen.  Allein  man  darf  zwei- 
feln, ob  es  zu  einem  solchen  Extrem  gekommen  wäre  ohne  die  Laune 
der  Zeit,  müde  zu  seyn  im  Bewundern  der  Natur.  Gewifs  eine  üble 
Laune;  denn  sie  führt  auf  Grübeley  und  Streit.  Grübeley  ist  jede  Frage, 
wie  die  Gottheit  wirke.  Unsre  Causalbegriffe  mögen  wie  immer  be- 
schaffen seyn:  dies  ändert  die  That  nicht,  die  vor  Augen  steht.  Soll  eine 
menschliche  Handlung  gewürdigt  werden:  so  fragt  man  zwar  nach  dem 
Thatbestande,  aber  nicht  nach  der  Verbindung  zwischen  dem  Willen,  den 
Nerven  und  den  Muskeln.  Das  Wie  ist  gleichgültig  für  den  Werth. 
Auf  Grübeley  führt  auch  sehr  leicht  die  Frage  von  der  Zulassung  des 
Gemeinen,  des  Übels,  und  des  Bösen.  Konnte  die  Gottheit  das  Böse 
ertragen,  so  kann  es  auch  der  Mensch,  soweit  dasselbe  nicht  in  seiner 
Macht  steht!  Man  hüte  sich  nur,  wo  vom  Ursprünge  der  Dinge  die 
Frage  ist,  Böses  und  Gutes,  so  in  Einen  Punct  zu  drängen,  als  wollte 
man  den  Unterschied  verwischen.  Diese  Einheit  bleibt  gleich  gefährlich, 
welche  Namen  man  ihr  auch    beylege. 


*  Man  sehe  zurück  auf  Seite   126  des  ersten  Theils. 
**  Bouterwecks  Religion  der  "Vernunft,  S.  311   und  316. 


5-Abschn.  Umrisse d.Naturphil.  i.Abth.  Synthet.Untersuch.  i.Cap.  V.Untersch.  etc.      25 1 

Erstes  Capitel. 

Vom  Unterschiede  des  synthetischen  und  analytischen  Theils  der 

philosophischen  Naturlehre. 

§•  33i. 

Reinhold  sprach  einst:  meine  Philosophie  weifs  wenig;  aber  sie 
meint  gar  Nichts.  Allein  es  zeigte  [436]  sich,  dafs  er  vom  Meinen  nicht 
so  frey  gewesen  war  als  er  glaubte;  und  das  ist  kein  Wunder.  Denn  die 
Gegenstände  des  Meinen  liegen  vor  Augen;  und  es  ist  fast  so  schwer, 
sich  in  Ansehung  derselben  in  die  Geduld  blofser  Unwissenheit  zu  ergeben, 
als  ein  achtes  Wissen  an  die  Stelle  der  Meinung  zu  setzen.  Denjenigen 
Naturforschern  nun  vollends,  welche  statt  aller  andern  Meinungen  die 
einzige  haben  und  behaupten,  dafs  wo  ihre  Kenntnifs  am  Ende  ist,  da 
die  natürlichen  Gränzen  alles  menschlichen  Wissens  bevestigt  seyen,  — 
diesen  können  wir  zeigen,  dafs  noch  Raum  genug  für  menschliches  Nach- 
denken vorhanden  ist;  wenn  wir  gleich  uns  begnügen  müssen,  diesen 
weiten  Raum  nur  durch  Meinungen,  in  welche  unser  Wissen  sich  fast  un- 
merklich verliert,  anzudeuten. 

Indessen  sollen  die  nachfolgenden  Bogen  nicht  dem  Streite  gewidmet 
seyn;  nicht  einmal  wider  die,  welche  neuerlich  den  Namen  Naturphilo- 
sophie, als  ob  er  ihr  ausschliefsendes  Eigenthum  wäre,  ihren  spinozistisch- 
platonisch  -  idealistischen  Meinungen  beygelegt,  und  ihn  dadurch  einem 
mannigfaltigen  Verdachte  Preis  gegeben  haben.  Unser  Zweck,  indem  wir 
Meinungen  über  die  Natur  vortragen,  ist  blofs  Erläuterung  der  metaphysi- 
schen Lehrsätze  durch  Anwendung  auf  bekannte  Gegenstände.  Mit  diesem 
Zwecke  beschäfftigt,  scheuen  wir  zwar  nicht  die  Gefahr,  uns  in  demselben 
Augenblicke  von  der  Spur  der  Wahrheit  zu  entfernen,  wo  vvir  den  streng 
geprüften  Grundsätzen  die  minder  genau  erwogenen  Anwendungen  abzu- 
gewinnen suchen;  aber  die  Besorgnifs  zu  irren,  wird  dennoch  unsern  noch 
übrigen  Vortrag  in  die  Gränzen  des  Nothwendigsten  einschliefsen.  Wir 
versprechen  nicht  Lehrsätze,  sondern  nur  Umrisse;  in  der  Überzeugung, 
dafs  gemäfs  den  zuvor  bewiesenen  Wahrheiten  der  Metaphysik  diese  Um- 
risse dereinst  ausgefüllt  werden  können,  sobald  man  [437]  Übung  genug 
erlangt  haben  wird,  um  sich  unter  den  möglichen  Versuchen,  sie  im  weitern 
Nachdenken  zu  benutzen,   gehörig  zu  orientiren. 

Je  unsicherer  aber  Anfangs  dergleichen  Bemühung  nothwendig  aus- 
fallen mufs :  desto  dringender  ists,  dafs  man  die  verschiedenen  Arten  der 
Untersuchung,  welche  bevorsteht,  gehörig  sondere,  um  nicht  gleich  mit 
fruchtlosen  Verirrungen  zu  beginnen.  Wiewohl  nun  schon  in  der  Psycho- 
logie die  Trennung  des  synthetischen  und  analytischen  Theils  deutlich 
genug  vor  Augen  liegt :  so  müssen  wir  dennoch  jetzt  eine  neue  Aufmerk- 
samkeit darauf  richten. 

Synthetisch  sind  diejenigen  Untersuchungen,  welche  von  den  meta- 
physischen Principien  ausgehn,  und  das  Mancherley,  was  daraus  folgen 
kann,  durch  Sonderung  der  möglichen  Fälle  vor  Augen  legen.  Analytisch 
hingegen  heifsen  die  Betrachtungen,  welche  von  den  Thatsachen  anheben, 
und    dieselben  auf   ihre   Erklärungs- Gründe    zurückführen.      Der  Sinn    der 


2K2  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Benennungen  bietet  sich  leicht  dar.  Könnten  wir  alle  Folgen  aus  den 
metaphysischen  Principien  entwickeln,  so  würden  wir  hiemit  eine  Natur  in 
Gedanken  zusammensetzen,  in  deren  Mitte  sich  derjenige  Theil  der  Natur, 
welcher  uns  als  Erscheinung  vor  Augen  liegt,  wiederfinden  müfste.  Könnten 
wir  andererseits  das  Gewebe  auflösen,  welches  erscheint,  so  würden  wir 
darin  zuletzt  das  Reale,  insofern  von  ihm  die  Erscheinung  ausgeht,  wieder- 
finden; sammt  allen  seinen  innern  und  äufsern  Zuständen,  vermöge  deren 
es  sich  uns  zu  erkennen  giebt.  Eigentlich  also  sollte  jeder  Theil  der 
Wissenschaft,  der  synthetische  sowohl  als  der  analytische,  sie  ganz  ent- 
halten, nur  in  verschiedener  Form,  so  dafs  einer  dem  andern  als  Probe 
der  Richtigkeit  diente.  Allein  man  mufs  zufrieden  seyn,  wenn  beyde  Arten 
der  [438]  Untersuchung  in  der  Mitte  zusammentreffen,  und  sich  passend 
verbinden  lassen. 

Wären  die  sogenannten  Deductionen  a  priori,  welche  in  der  Natur- 
philosophie so  oft  schon  versucht  wurden,  von  richtigen  Gründen  aus- 
gegangen, und  durch  richtige  Schlüsse  gewonnen  worden :  so  hätten  sie 
den  synthetischen  Theil  der  Wissenschaften  längst  geliefert;  und  wir 
brauchten  ihn  nicht  von  vorn  an  zu  suchen.  Umgekehrt:  wäre  eine  ge- 
naue Analyse  der  gegebenen  Thatsachen  angestellt  worden,  so  hätte  der 
Irrthum  sich  nicht  halten  können.  Allein  man  mufs  nicht  verlangen,  dafs 
die  Analyse  zum  Ziele  komme,  wenn  nicht  die  Synthese  vorgearbeitet 
hat;  denn  die  Verwickelungen  in  der  Erscheinung  sind  zu  grofs,  zu  täu- 
schend, und  von  den  ersten  Gründen  zu  weit  entfernt,  als  dafs  Beobach- 
tungen und  Experimente  für  sich  allein  zur  Naturlehre  genügen  sollten. 
Wenigstens  wäre  es  ein  Irrthum,  wenn  Jemand  die  in  der  Synechologie 
gelieferte  Deduction  des  starren  Körpers,  welche  wir  allem  Nachfolgenden 
zum  Grunde  legen  müssen,  für  eine  Frucht  der  Analyse,  oder  für  einen 
Fund   des  mehr  oder  weniger  glücklichen   Rathens  halten  wollte. 

§•    332. 

Schon  in  der  grofsen  Schwierigkeit  des  synthetischen  Theils  liegt  ein 
Hauptgrund,  weshalb  man  ihn  vom  analytischen  gesondert  halten  mufs. 
Gesetzt,  man  habe  sich  in  der  Synthesis  geirrt:  so  läfst  sich  durch  er- 
neuertes Nachdenken  der  Irrthum  finden,  so  lange  man  ihn  noch  nicht 
liebgewonnen  hat  durch  eine  Deuteley,  vermöge  deren  er  als  scheinbare 
Erklärung  irgend  eines  Naturgegenstandes  sich  gelten  macht.  Hingegen 
alle  Vorliebe  für  grundlose  Hypothesen  wurzelt  in  der  Einbildung,  die 
Natur  lasse  sich  nun  besser  überschauen  und  durchschauen,  als  vorhin. 
Daher  gehört  die  Ver-[439]niengung  der  Analyse  und  Synthese  zu  den 
wirksamsten   Künsten,   um   sich   und  Andre  zu    täuschen. 

Noch  mehr!  Sobald  eine  trügliche  Ähnlichkeit  zwischen  den  That- 
sachen und  den  synthetisch  abgeleiteten  Folgen  hervortrit,  läuft  man  Ge- 
fahr, im  weitern  Folgern  vorzeitig  gestört  zu  werden;  und  schon  blofs 
darum  die  Wahrheit  zu  verfehlen,  weil  man  zu  früh  aufhört,  darnach  zu 
suchen.  Die  Theorie  mufs  sich  Zeit  nehmen,  um  sich  vollends  zu  ent- 
wickeln; sonst  kann  sie  falsch  zu  seyn  scheinen,  blofs  weil  sie  mangelhaft 
ist.     Wie    würde    es    z.   B.    den    Gesetzen   des    Falls   schwerer   Körper   er- 


5. Absch.  Umrisse d.Xaturphil.   i.Abth.  Synthet.Untersuch.  i.Cap.  V.Untersch.etc.      253 

gehen,  wenn  man  sie  mit  der  Erfahrung  vergliche,  ohne  zugleich  die  Ver- 
zögerung durch  den  Widerstand  der  Luft,  und  deren  Verschiedenheit  bey 
gröfserji  und  kleinern  Dichtigkeiten  der  Massen,  in  Rechnung  zu  nehmen? 
Wie  ging  es  dem  Copernicanischen  Systeme,  ehe  man  die  grofse  Ent- 
fernung der   Fixsterne  hinreichend  darthun   konnte  ? 

Es  ist  nun  zwar  nicht  immer  ein  Ruhm  für  eine  Theorie,  wenn  sie 
scheint  auf  einmal  Alles  zu  erklären;  denn  so  lange  nicht  die  genaueste 
Vergleichung  angestellt  worden,  kann  man  eher  erwarten,  die  Theorie 
werde  schwerlich  die  Umstände  zugleich  umfassen,  und  daher  müsse  sie 
bey  völliger  Aufrichtigkeit  ihre  Abweichung  von  der  Erfahrung  an  den 
Tas  legen.  Andererseits  aber  ist  doch  auch  nicht  eher  die  volle  Be- 
stätigung  vorhanden,  bis  die  Abweichung  verschwindet.  Daher  mufs  man 
solche  Bestätigung,  so  erwünscht  sie  seyn  würde,  entbehren  lernen,  und 
desto  mehr  Sorgfalt  anwenden,  um  dem  synthetischen  Theile  der  Unter- 
suchung seine  eigentümliche  Evidenz   zu  erhalten. 


§•   333- 

Diese  letztere  ist  um  desto  nöthiger,  da  man  gar  nicht  Ursache  hat 
zu  glauben,  alle  richtige  Folgerungen  aus  [440]  den  metaphysischen  Prin- 
cipien  würden  sich  in  unserer  Sinnen  weit  bestätigt  finden.  Nur  zu  oft 
vergifst  man  die  engen  Schranken  irdischer  Erfahrung.  Die  Metaphysik 
aber  ist  keineswegs  ihrer  Natur  nach  eingeschlossen  in  diesen  Schranken. 
Sie  kann  zu  sehr  richtigen  Resultaten  führen,  die  wir  nicht  zu  gebrauchen, 
nicht  anzuwenden  wissen,  weil  die  Gegenstände,  worauf  sie  passen,  eher 
Platz  haben  auf  dem  Jupiter  und  Saturn,  als  auf  der  Erde.  Solche  Re- 
sultate müssen  alsdann  paradox  erscheinen;  und  Niemand  wird  im  Stande 
seyn,  dem   Übel  abzuhelfen. 

Man  suche  sich  nun  das  Verhältnifs  zwischen  dem  synthetischen  und 
analytischen  Theile  der  Naturphilosophie  deutlich  vorzustellen.  Jener  geht 
seiner  Bestimmung  nach  ins  Weite;  dahin  kann  ihm  dieser  nicht  folgen. 
Andererseits  braucht  dieser  ein  Detail,  was  jenem  nur  selten  möglich  seyn 
wird  zu  erreichen.  Für  die  Erklärung  unserer  Erscheinungswelt  auf  der 
Erde  wird  der  Plan  im  synthetischen  Theile  viel  zu  grofs  angelegt;  aber 
es  wäre  ein  wissenschaftlicher  Fehler,  ihn  kleiner  zu  verzeichnen.  Die 
Ausführung  eines  solchen  Plans  bis  zu  dem  Grade,  dafs  er  unserem  Er- 
fahrungskreise durch  genaue  Erklärung  entspräche,  ist  wiederum  zu  viel 
gefordert;  keine  menschliche   Kraft  wird  hierin  je  zu  Ende  kommen. 

Ist  nun  hier  ein  Misverhältnifs:  so  darf  man  sich  gleichwohl  nicht 
darüber  beklagen.  Menschliches  Nachdenken  mufs  das  Seine  thun,  un- 
bekümmert um  den  Erfolg.  Es  steht  unter  sittlichen  Gesetzen,  denen  es 
sich  nicht  durch  vorgeschützte   Bedenklichkeiten  entziehen  soll. 

Fürs  erste  jedoch  wird  dies  Misverhältnifs  wenig  sichtbar  werden 
können ;  denn  es  wird  nur  zu  sehr  bedeckt  und  verhüllt  durch  ein  anderes, 
dessen  Grund  in  unserer  mangelhaften  Kenntnifs  liegt.  Es  ist  nämlich 
noch  lange  nicht  zu  erwarten,  dafs  der  synthetische  [441]  Theil  der  Natur- 
philosophie sich  mit  einiger  Ausführlichkeit  selbstständig  entwickeln  könne. 
Wir  scheiden  ihn   vom  analytischen  Theile  mehr  deshalb,    um   seine  künf- 


2  :a  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


tige  und  gebührende  Stellung  richtig  zu  bezeichnen,  als  wegen  des  geringen 
Vorraths,  den  wir  zur  Ausfüllung  der  Stelle  besitzen.  Und  selbst  diesen 
Vorrath,  gering  wie  er  ist,  werden  wir  noch  mit  den  analytischen  Be- 
trachtungen hie  und  da  vermischen,  weil  es  gar  zu  schwer  seyn  würde, 
nur  einen  verständlichen  Ausdruck  in  der  Sprache  zu  finden,  ohne  Hülfe 
der  Beyspiele  aus  der  Erfahrung. 

Endlich  wird  sich  Niemand  verhehlen,  dafs  auch  der  analytische 
Theil  nur  insofern  zur  Entwicklung  gelangen  kann,  als  ihm  durch  die  vor- 
handene empirische  Physik  eine  sichere  Grundlage  dargeboten  wird.  Aber 
Jedermann  sieht  zugleich,  wie  veränderlich  die  noch  sehr  jungen  und  un- 
vollständigen Kenntnisse  und  Ansichten  sind,  welche  die  heutige  Chemie 
uns  liefert.  Von  der  Physiologie  wollen  wir  in  dieser  Beziehung  nur  gar 
nicht  reden. 


Zweytes  C a p i t e  1. 
Von  der  möglichen  Verschiedenheit  der  Materie. 

§•  334- 

Für  welche  und  wie  viele  verschiedene  Bestimmungen  jene  einfachen 
Gründe  empfänglich  sind,  auf  denen,  wie  in  der  Synechologie  gezeigt,  die 
Möglichkeit  der  Materie  beruht:  solche  und  so  viele  Verschiedenheiten 
bieten  sich  unserer  Betrachtung  dar,  um  in  diesem  gränzenlosen  Gebiete 
nach  der  wirklichen  Mannigfaltigkeit  [442]  der  Materien  uns  umzusehen. 
Dies  Gebiet  ist  für  einen  solchen  Zweck  viel  zu  grofs,  aber  gewils  nicht 
zu  klein. 

Nun  haben  wir  im  §.  330  eine  Erweiterung  bemerkt,  welche  die 
Causalbegriffe  in  der  Eidolologie  durch  den  Begriff  des  Strebens  und  Wir- 
kens in  Folge  der  Hemmungen  unter  innern  Zuständen,  nicht  blofs  zum 
Gebrauch  der  Psychologie,  sondern  der  gesammten  Naturbetrachtung 
erlangen. 

Um  einen  richtigen  Umrifs  des  synthetischen  Theils  der  Naturphilo- 
sophie zu  verzeichnen:  mufs  man  also  zuerst  die  nothwendige  Gränzlinie 
ziehen,  welche  zwischen  solcher  Materie  läuft,  worin  das  Gleichgewicht  der 
Attraction  und  Repulsion  ganz,  oder  doch  vorzugsweise,  von  den  ursprüng- 
lichen Störungen  und  Selbsterhaltungen  abhängt,  —  und  anderer  Materie, 
die  schon  in  ihren  äufseren  Zuständen  sich  nach  dem  Streben  und  Gegen- 
streben der  innern  Zustände  richtet.  Die  letztere  ist  höher  gebildet  als 
jene;  die  Grundlage  aber,  nämlich  Selbsterhaltung  jedes  Elements,  ist  in 
bevden  dieselbe;  da  die  Strebungen  nur  dann   erst  eintreten,  wann  schon 

• 

entgegengesetzte  Zustände  der  Selbsterhaltungen  in  einerlev  Elemente  sich 
unter  einander  hemmen,  nach  den  aus  der  Psychologie  bekannten  statischen 
und  mechanischen  Gesetzen. 

Die  höher  gebildete  Materie  kann  uns  nicht  eher  beschäfftigen,  als 
bis  wir  die  rohe  näher  kennen;  auf  die  letztere  also  richten  wir  nun  zu- 
nächst unsre  Aufmerksamkeit. 


5.  Abschn.  Umrisse d.  Naturphil.  i.Abth.  Synth.  Unters.  2.  Cap.  V.  d.  mögl.Versch.etc.  255 

§•  335- 

Man  gehe  zurück  bis  in  die  ersten  Gründe  der  materialen  Existenz. 
Die  Attraction  (§.  269)  setzt  die  Selbsterhaltung,  diese  aber  (§.  234)  hin- 
wiederum  den  Gegensatz   der  ursprünglichen  Qualitäten   (§.   207)   voraus. 

Die  mögliche  Mannigfaltigkeit  der  Materie  ist  dem-[443]nach  zum 
wenigsten  so  grofs,  als  wie  vielfach  der  Gegensatz  unter  je  zwey  solchen 
Elementen,   die  überhaupt   Materie  bilden  können. 

Um  nun  die  mögliche  Verschiedenheit  der  Gegensätze,  welche  an 
sich  unermefslich  grofs  ist,  wenigstens  symbolisch  zu  bezeichnen:  können 
wir  nur  an  das  einzige  passende  Beyspiel  erinnern,  welches  vorhanden, 
obgleich  höchst  dürftig  ist.  Passend  nämlich  wäre  keins,  das  von  solchen 
Gegenständen  hergenommen  würde,  in  welchen  eine  Vielheit  liegt;  wir 
müssen  uns  an  die  einfachsten  Begriffe  wenden,  weil  zur  Einfacheit  der 
ursprünglichen  Qualitäten  ein  Symbol  gesucht  wird.  Ein  solches  bieten 
uns  nur  die   einfachen   Empfindungen. 

Roth,  blau,  grün,  —  kurz,  die  Farben  mit  ihren  gröfsern  oder  ge- 
ringem Gegensätzen;  ferner  die  Töne  c,  d,  e,  fis  u.  s.  w. ;  dann  die  Em- 
pfindungen des  Geschmacks,  Geruchs,  Gefühls,  —  dies  Alles  nehme  man 
zusammen.  Man  vergegenwärtige  sich  die  verschiedenen  Formen  des 
Gegensatzes  unter  diesen  einfachen  Empfindungen.  Die  Töne  liegen  in 
der  Tonlinie,  welche  nur  Eine  Dimension  hat;  die  Vocale  aber  A,  Ä,  E, 
desgleichen  O,  Ö,  E,  und  U,  Ü,  J  u.  s.  w.  können  nicht  in  Eine  Linie 
geordnet  werden;  eben  so  wenig  die  Farben,  unter  denen  schon  Roth, 
Blau  und  Gelb  ein  Dreyeck  einschliefsen,  worin  zwey  Dimensionen  unter- 
schieden werden  müssen.  Man  vergesse  auch  nicht,  dafs  zwischen  einigen 
Empfindungen  des  Geschmacks  und  Geruchs  eine  entfernte  Ähnlichkeit  ist, 
vermöge  deren  die  Nase  zuweilen  vorkostet,  was  die  Zunge  geniefsen  solle; 
während  gleichwohl  keineswegs  alle  Gerüche  sich  mit  den  Empfindungen 
des  Geschmacks,  noch  diese  alle  wiederum  mit  jenen  sich  vergleichen  lassen. 
Man  erinnere  sich  hiebey,  dafs  sogar  die  ungleichartigsten  Empfindungen 
noch  entfernte  Ähnlichkeiten,  also  auch  Gegensätze  spüren  lassen.  So 
werden  hohe  Töne  [444]  mit  hellen  Farben,  und  beyde  mit  dem  Vocal  J 
verglichen;  tiefe  Töne,  dunkle  Farben,  der  Laut  Ü,  und  alles  Dumpfe, 
was  ein  Gefühl  der  Beklemmung  verursacht,  —  dies  läfst  sich  ebenfalls 
zusammenstellen. 

Von  allen  solchen  Zusammenstelhmgen  nun  gehört  hieher  nur  die  Form 
des  Verhältnisses.  Zwischen  einfachen  Elementen  können  wir  zum  ivenigstcn 
eben  so  viel  Verschiedenheit,  wie  zwischen  den  einfachen  Empfindungen, 
und  unter  den  Verschiedenen  mindestens  eben  solche  Verhältnisse  des 
Gegensatzes  annehmen;  und  dies  reicht  hin,  um  uns  von  der  Mannig- 
faltigkeit der  Materie  den  ersten  vorläufigen  Begriff  zu  schaffen.  Das 
Dürftige  dieses  Verfahrens  erinnere  übrigens  daran,  wie  weit  Naturphilo- 
sophie entfernt  ist,  jemals  Kosmologie  zu  werden,  oder  wohl  gar  a  priori 
die  Welt  zu  construiren!      Aber  es   pafst  zu  unserer  Physik. 

§•   336. 
Kommen  Elemente  zusammen,  die  sich  verhalten  wie  roth  und  blau, 
oder  wie  zwey  Töne,    die    um    eine  Octave   entfeint   sind,    so   müssen   sie 


2  c6  !•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

vollkommen  zusammen  seyn  (§.  269).  Aber  von  dieser  Nothwendigkeit 
giebt  es  geringere  Grade,  welche  den  geringem  Gegensätzen  entsprechen. 
Verhalten  sich  die  Elemente  wie  roth  und  violet:  so  kommt  es  darauf  an, 
in  welchem  Grade  Röthlich  oder  Bläulich  dieses  Violet  sey.  Mit  dem 
Gegensatze  wächst  die  Nothwendigkeit  des  vollkommenen  Eindringens, 
das  heilst,  die  Attraction;  mit  ihm  nimmt  sie  auch  ab,  und  wird  null 
bey  ganz  gleichartigen   Elementen. 

Eben  so  wird  sie  null  bey  disparaten  Elementen.  Sie  mögen  den 
Symbolen  Grün  und  Fis  entsprechen:  so  ist  zwischen  ihnen  kein  Ver- 
hältnifs,  folglich  kein  Gegensatz.  Angenommen  nun,  solche  Elemente  seyen 
[445]  in  einem  und  demselben  Orte  im  Räume,  so  sind  sie  dennoch  für 
einander  nicht  vorhanden;  sie  können  durch  einander  hindurchgehn,  als 
ob  der  Raum  völlig  leer  wäre.  Sowohl  diesen  Satz,  als  auch  das  Be- 
denkliche seiner  Anwendung,  wollen  wir  im  Symbol  zeigen.  Man  kann 
alle  Töne,  die  höchsten  wie  die  tiefsten,  auf  den  Vocal  O  und  auf  den 
Vocal  I  singen ;  die  Vocale  scheinen  also  völlig  durchdringlich  für  die 
Töne.  Dennoch  haben  wir  schon  erinnert,  dafs  doch  die  Behauptung, 
Vocale  und  Musiktöne  seyen  völlig  disparat,  nicht  ganz  sicher  seyn  würde; 
dem  O  entsprechen  die  tiefen,  dem  I  die  höhern  Töne.  Wir  werden 
uns  schon  deshalb  nicht  wundern,  wenn  wir  die  Durchdringlichkeit  der 
Elemente  für  einander  insofern,  als  dieselben  disparat  seyn  sollten,  sehr 
beschränkt  finden;  denn  die  Voraussetzung  ist  unsicher.  Aber  auf  diesen 
Punct  werden   wir  noch  zurückkommen. 

§•   337- 

Je  geringer  der  Gegensatz:  desto  mehr  nähert  sich  die  Lage  der 
Elemente  der  Unbestimmtheit  und  Gleichgültigkeit;  desto  leichter  also 
wird  sie  sich  abändern  lassen. 

Gesetzt  aber,  irgend  etwas  Drittes  käme  hinzu,  wodurch  die  Selbst- 
erhallungen,  oder  die  innern  Zustände,  welche  als  Folgen  des  Gegensatzes 
in  den  Elementen  entstehen  sollten,  gehemmt  würden:  so  wäre  es  soviel, 
als  ob  der  Gegensatz  ursprünglich  geringer  gewesen  wäre.  Ein  solches 
fremdartiges  Drittes  müfste  also  hinweggeschafft  werden,  wenn  der  Materie 
ihre  Fähigkeit,  sich  in  der  ihr  zukommenden  Constitution  zu  behaupten, 
wiederkehren   sollte. 

Andererseits  könnte  auch  ein  hinzukommendes  Drittes  der  Repulsion 
(§.  270)  einen  neuen  Grund  zur  Attraction  entgegensetzen;  wenn  es  nämlich 
demjenigen,  [446]  welches  der  Zurückstofsung  unterlag,  durch  ein  neues 
Verhältnifs  auch  eine  stärkere  Nothwendigkeit  auferlegte,  beysammen  zu 
bleiben. 

Materien,  welche  aus  je  drey,  oder  je  vier  entgegengesetzten  Elementen 
in  jedem  Puncte,  oder  welche  aus  eben  so  vielen  ungleichartigen  Stoffen 
bestehen,  kann  man  in  Gedanken  zerlegen  in  mehrere  Verbindungen  aus 
zweyen,  zu  welchen  ein  Drittes  gekommen  sey,  das  in  jenen  eine  Ab- 
änderung hervorbringe.  Am  natürlichsten  wird  man  alsdann  die  Betrach- 
tung bey  derjenigen  Verbindung  anfangen,  die  auf  dem  stärksten  Gegen- 
satze beruhet,  weil  diese  als  die  dauerhafteste  und  entschiedenste  mufs 
angesehen   werden. 


5.  Abschn.  Umrisse  d. Naturphil.    i.Abth.  Synth. Unters.  5.Cap.  V.  d.  mögl.Versch.  etc.    2^7 

Aber  hierin  können  wegen  gröfserer  oder  geringerer  Masse  eines 
oder  des  andern  Stoffes  Abänderungen  vorkommen,  von  denen  sich  tiefer 
unten  deutlicher  sprechen  läfst. 

§•   338. 

Nächst  dem  Unterschiede  der  stäikern  und  schivächern  Gegensätze 
kommt  deren  Gleichheit  oder  Ungleichheit  in  Anschlag.  Gleich  wollen  wir 
den  Gegensatz  alsdann  nennen,  wann  gerade  ein  Element  B  genügt,  um 
eins  von  anderer  Art,  A,  völlig  zu  stören  (§.  234),  das  heifst,  zu  einer 
vollständigen  Selbsterhaltung  zu  veranlassen.  Ein  solches  Verhältnifs  aber 
ist  sehr  unwahrscheinlich,  denn  es  liegt  in  der  Mitte  unendlich  vieler 
davon  abweichender  Möglichkeiten.  Wahrscheinlich  ist  jeder  Gegensatz 
ungleich,  das  heifst,  so  beschaffen,  dafs  mehrere  B  nöthig  seyen,  um  einem 
einzigen  A  eine  vollständige  Selbsterhaltung  abzugewinnen.  Der  möglichen 
Verhältnisse  giebt  es  hier  unendlich  viele.  Seyen  m  und  n  die  Anzahlen 
der  Elemente  von  der  Beschaffenheit  des  A  und  des  B,  welche  erst 
dann,  wann  sie  einander  vollkommen  durchdrungen  hät-[447]ten,  sich 
gegenseitig  genügen  würden,  damit  in  jedem  einzelnen  volle  Selbsterhaltung 
statt  finde:  so  wird  jede  geringere  Anzahl  der  A  einen  geringern  Grad 
der  Selbsterhaltung  in  den  sämmtlichen  B  veranlassen,  und  so  rückwärts. 
Die  Zahlen  m  und  n  können  jedes  rationale  oder  irrationale  Verhältnifs  be- 
deuten. Denn  für  die  einfachen  Qualitäten  ist  allemal  der  Gegensatz  zu- 
fällig;  er  ist  nichts   Reales. 

§•  339- 

Nun  verbinde  man  diesen  Unterschied  mit  dem  vorigen  :  so  hat  man 
vier  Fälle : 

1.  Starker  und  gleicher  (oder  doch  nahe  gleicher)  Gegensatz. 

2.  Starker,  aber  sehr  ungleicher  Gegensatz. 

3.  Schwacher,  und  nahe  gleicher  Gegensatz. 

4.  Schwacher,  und   sehr  ungleicher  Gegensatz.  * 

Der  erste  von  diesen  Fällen  ist  es  eigentlich  allein,  welcher  unsern 
frühern  Betrachtungen  über  den  Ursprung  der  Materie,  in  der  Synechologie, 
zum  Grunde  lag. 

Da  wir  für  die  Stärke  des  Gegensatzes  keinen  Maafsstab  haben,  so 
versteht  sich  von  selbst,  dafs  schwacher  Gegensatz  so  viel  heifst  als  ein 
solcher,  der  sich  dem  Verschwinden  nähert.  Dieser  nun  kann  für  sich 
allein  auch  nur  solche  Materie  erzeugen,  die  ihrer  Auflösung  nahe  ist,  das 
heifst,  die  kaum  den  Namen  der  Materie  verdient.  Daher  konnten  wir 
dort,  wo  zuerst  der  Begriff  derselben  sollte  construirt  werden,  den  Fall 
des  schwachen  Gegensatzes  noch  nicht  im  Auge  haben;  seine  Wichtigkeit 
wird  sich  erst  in  der  Folge  zeigen. 

[448]  Sehr  ungleicher  Gegensatz  aber  ist  wenigstens  auf  Einer  Seite 
schwach  in  den  einzelnen  Elementen.    Gesetzt,  es  müsse  eine  Million  von 


'•  Tiefer  unten  werden  die  Worte  Caloricum,  Electrtcum  und  Äther  vorkommen. 
Die  Namen  zwar  sind  bekannt;  allein  ihre  Bedeutung  in  diesem  Buche  entspringt  hier 
aus  der  angegebenen  Unterscheidung. 

Herbart's  Werke.     VIII.  17 


I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Elementen  der  Art  B  in  Einem  Puncte  beysammen  seyn,  um  ein  einziges 
Element  A,  welches  sich  in  dem  nämlichen  Puncte  befindet,  in  volle  Selbst- 
erhaltung zu  versetzen :  so  würde  ein  einzelnes  B  in  dem  A  nur  ein 
Milliontheilchen  dieser  Selbsterhaltung  veranlassen.  Und  alsdann  wäre  ein 
solches  Milliontheilchen,  der  Intensität  nach,  gleich  zu  schätzen  einer  vollen 
Selbsterhaltung  jedes  einzelnen  B;  damit  hievon  eine  Million  entspreche 
der  Selbsterhaltung  in  A.  Gewifs  wird  man  in  solcher  Vergleichung  nicht 
anstehn,  jedem  der  B  nur  einen  schwachen  Gegensatz  gegen  A  beyzulegen, 
wenn  auch  derselbe  Gegensatz  (abgesehen  von  der  Menge  der  B,  die  ihn 
gegen  A  realisiren  sollen)   stark  genug  könnte  genannt  werden. 

Es  ist  hieraus  klar,  dafs  der  vierte  Fall  eine  Schwäche  der  zweyten 
Potenz  darstellt  in  Ansehung  derjenigen  Elemente,  deren  Viele  zusammen 
in  Einem  Entgegengesetzten  doch  nur  eine  schwache,  oder  beynahe  ver- 
schwindende, Selbsterhaltung  hervorbringen  sollen.  Allein  auch  die  kleinsten 
Quantitäten  werden  wichtig,  wenn  sie  grofse  Coefficienten  bekommen. 

§•   340. 

Man  nehme  der  Wahrscheinlichkeit  gemäfs  an,  es  gebe  Elemente  der 
mannigfaltigsten  Art,  welche  vermöge  irgend  einer,  wenn  auch  ursprüng- 
lichen, Bewegung  (§.  280  u.  s.  f.)  Gelegenheit  haben,  zusammenzustofsen. 
Jeder,  auch  noch  so  schiefe,  Stofs  wird  eine  unvollkommene  Durchdringung 
zur  Folge  haben,  welche  sich,  wo  der  Gegensatz  nicht  gänzlich  fehlt,  in 
Attraction,  also  in  völlige  Durchdringung  verwandelt,  falls  nicht  sogleich 
irgend  eine  Repulsion  sich  entgegensetzt  (§.   270). 

[44g]  Wir  dürfen  also  erwarten,  dafs  jedes  Element,  welches  mit 
irgend  einem  andern  in  merklichem  Gegensatze  steht,  ein  solches  antreffe; 
und  dafs  Materien  der  mannigfaltigsten  Art  entstehn,  gemäfs  den  Systemen 
der  verschiedenen  Gattungen  der  Gegensätze. 

Sollen  irgend  welche  Elemente  übrig  bleiben,  die  sich  nicht  mit  den 
andern  zu  körperlichen  Massen  verdichten,  so  liegt  der  wahrscheinliche 
Grund  davon  entweder  in  der  grofsen  Ungleichheit,  oder  grofsen  Schwäche 
ihrer  Gegensätze  nicht  bloß  gegen  einige,  sondern  gegen  alle  andere  Arten 
von  Elementen;  oder  auch,  gemäfs  dem  vierten  vFalle,  in  jenen  beyden 
Umständen  zusammengenommen. 

Dergleichen  Elemente  von  schwachen  und  ungleichen  Gegensätzen 
gegen  alle  übrigen  sind  alsdann  in  den  Räumen  zu  suchen,  welche  leer 
bleiben  werden,  wenn  sich  in  gewissen  Gegenden  Alles,  was  Materie  bilden 
konnte,  in  verhältnifsmäfsig  geringe  Volumina  zusammengezogen  und  ver- 
dichtet hat.  Doch  können  sie  sich  unter  gewissen  Umständen  der  Materie 
anschliefsen,  wenn  auch  mehr  auf  eine  wandelbare  als  beständige  Weise. 
Dies  wird  bald  klärer  werden. 

§•   341- 

Nach  den  bisherigen  Vorbereitungen  müssen  wir  nun  versuchen,  die 

Existenz  bestimmter  materieller  Moleculen  zu  erklären.    Um  aber  hierüber 

deutlich  sprechen    zu   können,    ist   ein  Beyspiel   nöthig;    wir   werden   dazu 

das  Wasser  wählen.    Hieran  mufs  zuvörderst  gezeigt  werden,  dafs  in  unserm 


5.  Abschn.  Umrisse d.Naturphil.  i.  Abth.  Synth.Unters.  2.Cap.  V.d.mögl.Versch.etc.    25g 

frühern  Vortrage  noch  etwas  mangelt;  damit  nicht  ein  täuschender  Schein 
entstehe,  als  ob  wir  schon  weiter  vorgeschritten  wären,  wie  es  wirklich  der 
Fall  ist. 

Von  dem  Verhältnisse,  worin  Wasserstoff  und  Sauerstoff  sich  im  Wasser 
verbinden,  giebt  es  bekanntlich  [450]  verschiedene  Angaben.  Eine  der 
neuesten  ist,  dafs  88,91  Gewichtstheile  Sauerstoff  darin  mit  1 1,09  Wasser- 
stoff verbunden  seyen.  *  Da  es  uns  hier  nur  um  ein  Beyspiel  zu  thun 
ist :   so  wollen  wir  statt  dessen  der  Kürze  wegen  das  Verhältnifs  8  :  1  setzen. 

Nach  unseren  Lehrsätzen  (§.  269  u.  s.  f.)  würden  demnach  8  Elemente 
Sauerstoff  und  1  Element  Wasserstoff  noch  keine  Materie  bilden.  Und 
warum  nicht?  Darum,  weil  sie  ganz  in  einen  mathematischen  Punct  zu- 
sammenfallen, folglich  gar  keine  räumliche  Existenz  haben  würden.  Denn 
zur  völligen  Selbsterhaltung,  welche  dem  Wasserstoffe  gegen  das  genus 
Sauerstoff  möglich  ist,  gehört  der  Voraussetzung  gemäls,  dafs  mit  jenem 
achtmal  soviel  Saueistoß  vollkommen  zusammen,  das  heifst,  ineinander 
eingedrungen  sey.  Desgleichen,  wenn  zu  den  obigen  Sätzen  keine  neue 
Bestimmung  käme,  so  würden  acht  Elemente  Sauerstoff  nun  erst,  nachdem 
sie  sich  im  Wasserstoffe  vereinigt  fänden,  jedes  einzeln  genommen  die 
ganze  Selbsterhaltung  innerlich  ausüben,  welche  ihnen  gegen  das  genus 
Wasserstoff  überhaupt  zukommt.  Hier  wäre  also  noch  blofse  Attraction, 
und  durchaus  keine   Repulsion. 

Erst  dann,  wann  das  neunte  Element  Sauerstoff  hinzukäme,  würde 
Repulsion  beginnen,  und  durch  sie  ein  räumliches  Volumen  entstehen. 
Der  Wasserstoff  nämlich  würde  sich  nicht  mehr,  nicht  in  höherm  Grade 
selbsterhalten  können;  wenigstens  nicht  gegen  das  genus  Sauerstoff.  Dabey 
nun  würde  er  zwar  selbst  nichts  leiden  (wie  man  sich  durch  ein  Mis- 
verständnifs  unserer  Theorie  vielleicht  einbilden  möchte).  Aber  er  könnte 
auch  nicht  durch  Erhöhung  seines  innern  Zustandes  entsprechen  der  über- 
grofsen  Menge  des  Entgegengesetzten,  welches  in  ihn  eingedrungen  wäre. 
Folglich  [451]  müfste  der  äufsere  Zustand,  das  Ineinander,  sich  nunmehr, 
um  stets  dem  inneren,  d.  h.  den  Selbsterhaltungen,  zu  entsprechen  (und 
aus  keinem  andern  Grunde,  am  wenigsten  um  eingebildeter  Repulsiv- Kräfte 
willen),  dergestalt  verändern,  dafs  alle  neun  Elemente  Sauerstoff,  ohne  Vorzug 
des  einen  vor  dem  andern,  um  etwas  weniges  aus  ihrem  Kern,  dem  Wasser- 
stoff herauswichen,  so  dafs  sie  nunmehr  unvollkommen  mit  ihm  und  unter 
sich  zusammenwären.  Allen  Einwendungen,  die  man  dagegen  erheben 
möchte,  ist  durch  die  Theorie  des  intelligibeln  Raumes  sattsam  begegnet 
worden   (man   vergleiche  zunächst  §.   278). 

Diese  bisherige  Theorie  nun  ist  nicht  fehlerhaft,  aber  sie  ist  noch 
mangelhaft ;  wie  sich  durch  Vergleichung  mit  der  Erfahrung,  —  die  uns 
gerade  die  beste  Bestätigung  dafür  darbieten  wird,  sobald  der  Mangel  aus- 
gefüllt ist,  —  sogleich  zeigen  läfst. 

Man  lasse  in  Gedanken  das  zehnte,  elfte,  —  hunderte  und  tausende 
Element  Sauerstoff  hinzukommen.  Immer  unvollkommener  wird  nun  ihr 
Zusammen  mit  dem  einzigen  Element  Wasserstoff,  und  folglich  auch  unter 


*  Berzelius  Lehrbuch  der  Chemie,  S.  171. 


2ÖO  !•   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

einander;  aber  noch  zeigt  sich  kein  Grund  einer  solchen  Repulsion,  wo- 
durch irgend  eins  könnte  völlig  hinweggetrieben  werden. 

Man  lasse  einige  Elemente  Wasserstoff  hinzukommen;  mehr  oder 
weniger,  gleichviel !  Immer  wird  die  Folge  nur  darin  bestehn,  dafs  sich 
das  Gleichgewicht  zwischen  Attraction  und  Repulsion  etwas  verändert,  in- 
dem der  Sauerstoff  nun  bequemer  als  vorhin,  sich  in  und  um  die  dar- 
gebotenen entgegengesetzten  Elemente  hineinziehn  und  lagern  kann. 

Bliebe  die  Theorie  auf  diesem  Puncte  stehen :  so  könnte  nach  ihr 
niemals  Wasserstoffgas  oder  Sauerstoffgas  im  pneumatischen  Apparate  nach 
gewohnter  Art,  nämlich  über  dem  sperrenden  Wasser,  aufgefangen  wer- 
[452]den.  Sondern  von  dem  Wasser  würden  die  Gasblasen  verschluckt 
werden.  *  Materie  wäre  zwar  vorhanden,  aber  keine  bestimmte  Materie. 
Die  Stoffe  würden  sich  in  allen  Verhältnissen  mischen;  wovon  uns  die 
Chemie  das  gerade  Gegentheil  zeigt. 

§•   342. 

Jetzt  wollen  wir  die  Lücke  der  Theorie  ausfüllen.  Dazu  ist  eine  sehr 
einfache  Bemerkung  zureichend,  die  uns  aber  sogleich  zwey  neue  Lehrsätze, 
einen  über  die  Attraction,  den  andern  über  die  Repulsion,  darbietet. 

Man  gehe  zurück  in  den  §.  268.  Dort  wurde  gezeigt,  dafs,  un- 
geachtet der  Fiction,  durch  welche  der  Punct  Theile  bekommt,  doch  kein 
Unterschied  des  innem  Zustandes  in  Hinsicht  der  durchdrungenen  und 
nicht  durchdrungenen  Theile  eines  Elements  Statt  findet.  Sondern  wenn 
auch  im  obigen  Beyspiele  sogar  10  Theile  Sauerstoff  mit  einem  Theile 
Wasserstoff  dergestalt  verbunden  wären,  dafs  dieser  letztere  einen  Kern 
bildete,  aus  welchem  jene  10  Elemente  zum  Theil  herausragten,  so  würden 
doch  die  nicht  durchdrungenen  nach  aufsen  gekehrten  Theile  derselben 
sich  genau  in  demselben  Zustande  der  Selbsterhaltungen  befinden,  wie  die 
innem,  welche  in  den  Wasserstoff  eingedrungen  wären. 

Wir  setzen  nun  das  Beyspiel  bey  Seite.  Man  nehme  an,  dafs  zwey 
entgegengesetzte  Elemente  a  und  b  aus  irgend  einem  Grunde,  welcher  es 
auch  sey,  sich  unvollkommen  durchdrungen  haben,  und  in  dieser  Lage 
beharren.  So  ist  es  in  den  nicht  durchdrungenen  Theilen  genau  eben  so 
viel,  als  ob  darin  der  Gegensatz  auch  vorhanden  wäre,  welcher  in  den 
durchdrun-\j\^~\genen  Statt  findet,  und  die  Selbsterhaltungen  bestimmt. 
Hiedur ch  können  die  Folgen  des  Gegensatzes  eine  Erweiterung  erhalten; 
vermöge  deren  ein  Element  wirksam  wird,  in  einein  Orte,  wo  es  nicht  gegen- 
wärtig ist. 

Denn  wenn  ein  zweytes  a,  das  wir  durch  a'  bezeichnen  wollen,  ein- 
dringt in  diejenigen  fingirten  Theile  des  ersten  a,  welche  von  b  nicht 
durchdrungen  sind :  so  trifft  es  daselbst  zwar  nicht  wirklich  das  Element  b, 
aber  doch  den  Gegensatz  desselben  gegen  a;  und  mufs  sich  mithin  da- 
wider in  Selbsterhaltung  versetzen.  Folglich  bekommt  seine  äufsere  Lage 
dadurch  eine  Bestimmung,  die  einer  Attraction  gleich  gilt;    damit  nämlich 


*  Wenn  nämlich  nicht  in  der  Gasform  selbst  entgegenwirkende  Gründe  liegen  ; 
was  wir  um  so  mehr  unentschieden  lassen,  da  es  hier  blofs  um  Erläuterungen  zu 
thun  war. 


5-Abschn.  Umrisse d.Naturphil.  i.Abth.  Synth. Unters.  2.Cap. V. d.mögl.Versch.etc.    261 

nicht  in  ihm  ein  Unterschied  entstehe  zwischen  Theilen,  worin  Selbst- 
erhaltung vorgehn  und  nicht  vorgehn  sollte,  mufs  es  ganz  in  das  erste  a 
hineindringen,   wofern  ihm  nicht  irgend  eine   Repulsion   entgegen  ist. 

Dies  läfst  sich  ins  Unbestimmte  erweitern.  So  wie  a  mit  b  unvoll- 
kommen zusammen,  und  wie  a  und  a'  sich  in  eben  solcher  Lage  befinden, 
eben  so  sey  nun  ferner  a'  mit  a",  und  a"  mit  a'",  desgleichen  a'"  mit  a""  u.  s.  f. 
so  weit  man  will,  unvollkommen  zusammen.  Man  denke  sich  dies  unter 
dem  sinnlichen  Bilde  einer  Perlenschnur,  wobey  aber  je  zwey  nächste  Perlen 
zum  Theil  in  einander  eingeschoben  wären ;  die  Einschiebung  mag  so 
wenig  betragen  als  man  will.  So  folgt,  dafs  jede  in  die  nächste  tiefer  ein- 
dringen mufs.  Und  wenn  kein  Grund  der  Repulsion  einträte,  würde  dies 
so  fort  gehn,  bis  die  sämmtlichen  a  in  b  eingedrungen  wären.  Hier  nun 
scheint  b  in  die  Ferne  zu  ivirken ;  seine  scheinbare  Attractionskraft  erstreckt 
sich  mittelbar  bis  zum  äufsersten  a.  Allein  sie  würde  sogleich  verschwin- 
den, wenn  irgend  eine  Lücke  in  der  Reihe  wäre,  folglich  die  Vermittelwig 
aufhörte. 

Für  diese  scheinbare  Altraction  in  die  [454]  Ferne  mufs  es  irgend  ein 
Gesetz  geben,  nach  welchem  sie  mit  zunehmender  Entfernung  abnimmt.  Denn 
sobald  das  Zusammen  des  ersten  a  mit  b  nur  unvollkommen  ist,  kann 
auch  die  Selbsterhaltung  in  jedem  von  beyden  dem  Grade  nach  nur  der 
partialen  Durchdringung  entsprechen,  von  welcher,  als  ihrer  Bedingung, 
sie  abhängt.  Also  ist  für  a'  nicht  das  ganze  b  mittelbar  gegenwärtig;  und 
wenn  es  selbst  irgendwie  gehindert  wird,  der  Attraction  nachzugeben,  so 
bleibt  wiederum  sein  innerer  Zustand  bey  demjenigen  Grade  stehn,  wel- 
cher seinem  partialen  Eindringen  in  a  gemäfs  ist.  Noch  kleiner  also  ist 
die  Störung  für  a",   und  wiederum  geringer  für  a'",   und  so   fort. 

§•  343- 

Betrachten  wir  nun  noch  einmal  jene  mehrern,  etwan  acht  Elemente, 
beyspielsweise  Sauerstoff,  als  eingedrungen  in  Ein  entgegengesetztes  Element, 
etwan  Wasserstoff:  so  entdeckt  sich,  dafs  zwischen  ihnen  nothwendig  Re- 
pulsion entstehn  mufs.  Denn  jedes  Derselben  erhält  sich  selbst  nicht  blofs 
unmittelbar  gegen  den  Wasserstoff,  sondern  auch  gegen  den  vervielfältigten 
Gegensatz,  welcher  daraus  hervorgeht,  dafs  mehrere  gleichartige  Elemente 
durch  ihn  innerlich  bestimmt  sind.     Wir  wollen  dies  deutlicher  entwickeln. 

Die  Elemente  Sauerstoff  seyen  bezeichnet  durch  a,  a',  a",  a'"  u.  s.  f. 
Nun  ist  a  im  Zustande  der  Selbsterhaltung  gegen  den  Wasserstoff,  welchen 
wir  b  nennen.  Also  müfste  a'  sich  selbst  erhalten  erstlich  gegen  b;  zweytens 
gegen  jenes  a,  sofern  dasselbe  in  einem  Zustande  ist,  der  die  Gegenwart 
von  b  voraussetzt,  und  sie  repräsentirt.  Das  kann  es  aber  nicht.  Denn  b 
selbst  ist  für  mehr  als  Ein  a  hinreichend,  um  darin  volle  Selbsterhaltung, 
die  nicht  überstiegen  werden  kann,  zu  bewirken.  Folglich  gerathen  schon 
zwey  a  in  Repul- [455]  sion,  denn  ihre  äufsere  Lage,  so  lange  sie  beyde 
völlig  eingedrungen  in  b  und  in  einander  gedacht  werden,  findet  nicht  das 
Entsprechende  des  innern  Zustandes,  womit  sie  bestehen  könnte.  Daraus 
nun  entsteht  gleichwohl  keine  völlige  Trennung,  sondern  es  genügt,  dafs 
a    und    a'  nach    entgegengesetzten    Richtungen    ein    minder    vollkommenes 


2&2  I«    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.      182g. 

Zusammen  annehmen.  Man  glaube  nicht  etwan,  dafs  die  Bewegung  selbst 
sie  alsdann  weiter  führen,  und  völlig  trennen  müfste,  denn  diese  Bewegung 
wird  sogleich  retardirt  durch  wachsende  Attraction  (§.   272). 

Was  von  a  und  a',  das  gilt  natürlich  noch  in  höherm  Grade  von 
ihnen  in  Verbindung  mit  a"  und  a'"  u.  s.  w.  Weit  entfernt  also,  dafs 
8  Elemente  Sauerstoff  und  Ein  Element  Wasserstoff  noch  keine  Materie 
bilden  sollten  (§.  341),  treibt  vielmehr  ein  starker  Gegensatz,  den  sie  ver- 
vielfältigen, indem  jedes  ihn  übet  trägt  auf  die  ädrigen,  sie  auseinander;  bis 
sie  ein  Klümpchen  darstellen,  das  eine  genau  bestimmte  Figur  annehmen  mufs. 

§•   344- 

Der  übertragene  Gegensatz  wird  demnach  unter  verschiedenen  Um- 
ständen Attraction  oder  Repulsion  hervorbringen. 

Gesetzt,  zwey  gleichartige  Elemente  befänden  sich  in  einerley  Zustand 
der  Selbsterhaltung  wider  ein  Entgegengesetztes,  von  dem  sie  gleichwohl 
jetzt  getrennt  wären,  so  würden  sie,  falls  sie  einander  anträfen,  und  in 
irgend  ein  unvollkommenes  Zusammen  geriethen,  sich  vollends  durchdringen. 
Denn  jedes  würde  dem  andern  das  Entgegengesetzte  repräsentiren. 

Aber  drey  dergleichen  Elemente  würden  im  nämlichen  Falle  einander 
zurückstofsen ,  nachdem  die  erste  Bewegung  durch  Attraction  geschehen 
wäre,  und  die  [456]  Durchdringung  zur  Folge  gehabt  hätte.  Denn  mehr 
als  zwey  können  in  einander  nicht  bleiben,  weil  in  solcher  Lage  jedem 
das  Entgegengesetzte  zwiefach  repräsentirt  würde,  die  Selbsterhaltung  aber 
nur  einfach  wäre. 

Mit  der  Anzahl  der  Elemente  würde  die  Repulsion  wachsen;  die 
Voraussetzung  der  Attraction  ist,  dafs  sie  nur  paarweise  zusammen,  oder 
dafs  sie  nicht  vollkommen  ineinander  seyen. 

Kämen  aber  zwey  gleichartige  Elemente  mit  ungleichen,  ja  entgegen- 
gesetzten innern  Zuständen  zusammen,  so  würden  sie,  jedes  dem  andern, 
die  Eigenheit  desjenigen  Elements  repräsentiren,  wogegen  sich  jedes  einzelne 
in  Selbsterhaltung  befände.  Daher  müfste  jedes  in  den  Zustand  des  andern 
gerathen.  Dies  würde  eine  Hemmung  des  schon  vorhandenen  innern 
Zustandes  erfordern,  nach  den  bekannten  psychologischen  Begriffen.  Die 
Hemmung  würde  Zeit  brauchen;  die  Attraction  also  würde  nur  zögernd 
fortschreiten;  der  innere  Zustand  aber  würde  mit  einer  Verschmelzung  der 
Reste  nach  der  Hemmung  verbunden  seyn.      Hievon  tiefer  unten    weiter! 


§•   345- 

Wir  kehren  zurück  zu  der  Frage  nach  der  Figur,  welche  aus  der 
Repulsion  des  Gleichartigen  entstehn  mufs,  wenn  es  sich  im  Entgegen- 
gesetzten verbunden  findet.  Allein  wir  wollen  hier  keine  allgemeine  Unter- 
suchung wagen,  sondern   uns   auf  das  obige  Beyspiel  beschränken. 

Es  kann  nicht  zweifelhaft  seyn,  dafs,  wenn  8  Elemente  im  Begriff 
stehn,  sich  aus  einem  gemeinsamen  Mittelpuncte  gleichmäfsig  von  einander 
zu  entfernen,  und  nun  durch  eine  überwiegende  Attraction,  deren  Sitz  in 
eben  diesem  Mittelpuncte  ist,  in  einer  Lage  bleiben,  worin  sie  nicht  völlig 


5. Abschn.  Umrisse d.Naturphil.  i.Abth.  Synth.Unters.  2.Cap.  V. d. mögl. Versch. etc.    263 

getrennt  sind,    —    alsdann    die    Fi-[457]gur,    die    sie    um    den    nämlichen 
Mittelpunkt  bilden,   ein   Würfel  seyn  werde. 

Als  Würfel  also  müssen  wir  uns  die  Moleculen  des  Wassers,  oder 
vielmehr  des  Eises,  denken,  wenn  wir  die  obige  Angabe  eines  Verhält- 
nisses der  beyden   Bestandtheile  wie   8   zu    1    vesthalten. 

Ein  Zweifel  dagegen  kann  uns  einfallen,  wenn  wir  überlegen,  wie 
nun  zwey  und  mehrere  dergleichen  Würfel  sich  verbinden  mögen?  Dafs 
die  herausragenden  Ecken,  welche  vom  Sauerstoff  gebildet  werden,  sich  in 
zwey  Würfeln  anziehen  werden,  folgt  aus  dem  obigen  (§.  342).  Jede 
solche  Ecke  nämlich  repräsentirt  den  Wasserstoff,  von  welchem  die  darin 
vorhandene  Selbsterhaltung  herrührt;  sie  zieht  an  und  wird  angezogen,  so 
als  ob  Wasserstoff  an  ihrer  Stelle  wäre.  Aber  eben  darum  scheint  es, 
dafs  die  Moleculen  des  Eises  sich  nur  solchergestalt  anziehen  müfsten,  wie 
wenn  viele  Würfel  erst  aneinandergelegt  wären,  und  dann  in  gewissem 
Grade  mit  Beybehaltung  ihrer  Lage  in  einander  eindrängen.  Hieraus 
würden  gerade  Linien  entstehn,  die  sich  unter  rechten  Winkeln  schnitten, 
nicht  aber  Eisnadeln,  die  sich  unter  einer  Neigung  von  60  Grad  zu- 
sammenzulegen, und  in  den  Schneekrystallen  Sechsecke  zu  bilden  pflegen. 

Man  hat  eine  andere  Angabe,  nach  welcher  die  Bestandtheile  des 
Wassers  sich  verhalten  sollen  wie  14,33  zu  85,66.*  *  Dies  ist  nahe  wie 
1  zu  6.  Hiernach  würden  aus  der  Mitte  sechs  Elemente  hervorgedrängt. 
Wenn  dies  auf  den  körperlichen  Raum  bezogen  wird,  so  gelangen  wir 
zum  Oktaeder,  und  hiemit  zu  einer  Vermuthung  von  Hauy;**  doch  sollen 
seine  Oktaeder  aus  Tetraedern  bestehn,  welches  hieher  gar  nicht  passen 
[458]  würde.  Allein  die  von  ihm  verworfene  Meinung  des  Des-  Cartes 
könnten  wir  vielleicht  besser  unterstützen,  wenn  wir  hinzunehmen,  dafs 
irgend  eine  Ursache  eine  flächenförmige  Verbindung  bestimme,  nämlich 
so,  dafs  ein  regelmäfsiges  Sechseck  vom  Sauerstoff  um  den  Wasserstoff 
gebildet  werde.  Im  Fallen  des  Schnees,  oder  auf  einer  Wasserfläche,  die 
früher  erkaltet,  als  das  innere  Wasser,  ist  offenbar  die  Krystallbildung 
nicht  nach  allen  Seiten  gleich  frey;  und  vielleicht  ist  sie  es  selten  oder 
niemals,  da  der  Einflufs  der  Umgebung  schwerlich  überall  gleich  seyn  kann. 

§•   346. 

Das  Wesentliche  aber,  worauf  es  hier  ankommt,  ist  die  Bestimmtheit 
der  Figur,  welche  sich  die  Materie  in  dem  Verhältnisse  zueignet,  — 
wenigstens  vorzugsweise,  —  in  dem  die  Störungen  und  Selbsterhaltungen 
ihrer  entgegengesetzten  Elemente  vollständig  geschehen  können.  Es  er- 
öffnet sich  aber  hier  ein  unermefsliches  Feld  von  Untersuchungen;  theils 
für  die  Fälle,  wo  die  Verhältnisse  nicht  auf  die  Bildung  eines  regulären 
Körpers  hinweisen  (alsdann  könnten  verschiedene  Annäherungen  an  die 
bequemste  Lage  der  Elemente  Statt  finden),  theils  für  die  Verschiedenheiten, 


*  Schmidts  Naturlehre,  S.   222. 
**  Hauy,   traitc  de  physiquet  I,  p.   172. 


zu  95,66  SW. 


264  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


welche  aus  dem  gröfseren  oder  kleineren  Vorrath  an  Elementen  der  einen 
oder  andern  Art  entstehn  können;  theils  für  Zusammensetzungen,  deren 
Bestandtheile  selbst  nicht  gleichartig  sind,  so  dafs  in  Rücksicht  auf  einen 
oder  den  andern  Bestandtheil  solche  oder  andre  Configurationen  nöthig 
werden  mögen. 

Anhangsweise  noch  ein  paar  Worte  über  das  von  Thekard  entdeckte 
Hvperoxvd  des  Wasserstoffs.  Hier  verbindet  sich  Sauerstoff,  der  aus 
Barvt  abgeschieden  worden,  mit  demjenigen,  welchen  das  Wasser  enthält. 
Es  ist  kein  Wunder,  wenn  dazu  gerade  noch  einmal  [459]  soviel  Sauer- 
stoff gehört,  als  der  Wasserstoff  schon  aufgenommen  hatte*.  Denn  jedes 
Element  Sauerstoff  im  Wasser  kann,  ohne  seine  Lage  zu  verändern,  durch 
den  Gegensatz  gegen  Barvt.  der  in  einem  hinzukommenden  Element 
Sauerstoff  vorhanden  ist,  veranlafst  werden,  sich  mit  diesem  zu  verbinden 
(§.  344).  So  wird  der  Sauerstoff  des  Wassers  gerade  verdoppelt  werden. 
Hiebey  muls  einige  Hemmung  des  innern  Zustandes  eintreten,  worein  ihn 
der  Wasserstoff  versetzt;  nämlich  wegen  des  Unterschiedes  zwischen  Barium 
und  Wasserstoff.  Und  wenn  ein  neuer  Grund  solcher  Hemmung  hinzu- 
kommt, so  wird  die  Verbindung  desto  haltbarer  seyn;  wenn  im  Gegen theil 
die  geringste  Steigerung  jenes  Zustandes  eintrit,  wird  eine  plötzliche  Ent- 
mischung zu  erwarten  seyn.  Nun  leisten  jenes  die  Säuren,  dieses  die 
Alkalien;  und  man  weifs,  dafs  in  chemischen  Verhältnissen  die  erstem  als 
entgegenstehend  der  Natur  des  Wasserstoffs,  die  letztern  aber  als  demselben 
analog  zu  betrachten  sind.  Diese  Überlegung  kann,  wo  nicht  zur  sichern 
Erklärung  des  Phänomens,  so  doch  zur  Erläuterung  der  vorhin  aufgestellten 
Begriffe  dienen.  Die  Erhitzung,  während  das  Hyperoxyd  sich  zersetzt, 
läfst  sich  am  leichtesten  erklären,  aber  erst  weiterhin,  wo  vom  Feuer  die 
Rede  sevn  wird. 

Wir  haben  der  Versuchung  nicht  ganz  widerstehen  können,  Betrach- 
tungen über  das  Wasser,  welche  eigentlich  in  den  analytischen  Theil  ge- 
hören, hier  einzumengen.  Das  geschah  aus  Besorgnifs,  sonst  undeutlich 
im  Vortrage  zu  werden.  Der  Leser  suche  nun,  das  Wasser  zu  vergessen, 
die  Begriffe  aber  zu  behalten. 


[460J         Drittes  Capitel. 
Von  der  Veränderlichkeit  der  Materie. 

§•  347- 

Kann  überhaupt  die  Materie  zur  Stabilität  gelangen?  —  Diese  Frage 
wird  natürlich  genug  sevn,  wenn  man  sich  erinnert,  dafs  nach  der  Mechanik 
des  Geistes  kein  System    von  Vorstellungen    zur    absoluten  Ruhe    kommt. 

Gleichgewicht  der  Attraction  und  Repulsion  soll  (nach  §.  271)  der 
Grund  der  Materie  seyn.  Aber  wenn  irgend  eine  Bewegung  dieses  Gleich- 
gewicht erst  hervorbringen  mufste:  so  war  gerade  in  dem  Augenblicke,  als 


*  Vergleiche  Berzelics,  Chemie,  S.  171   des  ersten  Bandes. 


5.  Abschn. Umrisse d.Naturphil.  i.Abth.  Synth.Unters.  3-Cap.  V.d.Veränderlichk.etc.    265 

die,  dem  Gleichgewichte  angemessene  Lage  der  Elemente  eintrat,  die  Be- 
wegung zur  gröfsten  Geschwindigkeit  gelangt;  mit  dieser  ging  sie  fort,  bis 
sie  durch  eine  entgegengesetzte  Abweichung  von  der  richtigen  Lage  er- 
schöpft war,  und  nun  rückgängig  wurde.  Daraus  mag  wohl  eine  beständige 
Oscillation  entstehen ;   aber  keine   Ruhe. 

Gesetzt,  ein  paar  entgegengesetzte  Elemente  A  und  B  seyen  un- 
vollkommen zusammen.  Sie  werden  völlig  in  einander  eindringen,  wie 
getrieben  von  einer  beschleunigenden  Kraft,  welche  jedoch  abnimmt,  und 
in  dem  Augenblicke  Null  ist,  wo  das  vollkommene  Zusammen  der  Elemente 
erreicht  wird.  Allein  jetzt  ist  die  Geschwindigkeit  am  gröfsten.  Daher 
bewegen  sie  sich  gleich  zwey  Kugeln,  welche  durch  einander  hindurch- 
fahren. Nun  wird  zwar  ihre  Geschwindigkeit  vermindert,  weil  wiederum 
ihre  Lage,  je  weiter  sie  abweicht  vom  vollkommenen  Zusammen,  um  desto 
weniger  pafst  zum  innern  Zustande.  Die  Bewegung  wird  rückgängig  werden, 
wofern  die  Geschwindigkeit  früher  Null  wird,  als  sich  die  Elemente  völlig 
getrennt  haben.  Aber  in  entgegengesetzter  Richtung  wird  sie  nun  von 
neuem  be-[46i]schleunigt;  und  wenn  keine  andern  Gründe  hinzukommen, 
so  hört  die  innere   Oscillation  nimmermehr  auf. 

In  einer  gröfsern  materiellen  Masse  mögen  nun  die  vielen  wider 
einander  stofsenden  Oscillationen  sich  bald  gegenseitig  beschränken.  Ob 
aber  bis  zum  völligen  Stillstande?  Das  ist  eine  Frage,  die  natürlich  nur 
unter  bestimmten  Voraussetzungen  könnte  beantwortet  werden.  Wir  wollen 
uns  damit  nicht  beschäfftitren. 


\-^v 


s 


S-  MS- 

Aber  wir  müssen  bemerken,  dafs  die  Oscillationen  nothwendig  so 
vielemal  von  neuem  beginnen  werden,  als  wie  oft  die  Materie  chemisch 
verändert  wird. 

Kommt  zu  den  verbundenen  Elementen  A  und  B  ein  drittes  C, 
welches  dem  A  mehr  als  B,  oder  dem  B  mehr  als  A  entgegen  steht:  so 
verbinden  sich  die  beyden,  deren  Gegensatz,  folglich  deren  Attraction  die 
stärkste  ist;  und  das  übrigbleibende  scheidet  aus,  wenn  der  Zustand,  den 
es  früher  in  seinem  Verbundenen  hervorbrachte,  jetzt  gehemmt  wird. 
Falls  eine  solche  Hemmung  nicht  einzutreten  braucht,  das  heifst,  falls  die 
innern  Zustände,  welche  paarweise  in  jedem  der  drey  Elemente  gegen 
beyde  anderen  den  Actus  der  Selbsterhaltung  ausmachen,  sich  hinreichend 
mit  einander  vertragen,  so  wird  eine  Verbindung  aller  drey  Elemente 
entstehn.  Allein  auch  dabey  ist  eine  veränderte  Configuration  Derjenigen 
zu  erwarten,  welche  zuvor  mit  einander  verbunden  waren;  und  es  kann 
selbst  seyn,  dafs  blofs  die  Schwierigkeit  einer  für  alle  drey  passenden 
Anordnung,  wenn  auch  die  innern  Zustände  mit  einander  bestünden,  l  doch 
eine  Ausscheidung  des  einen  oder  des  andern  aus  der  Mischung  erfordere, 

(Man  wird  sich  hier  unwillkührlich  der  von  Berthollet  herrührenden 
Bemerkungen  über  die  Fälle  erinnern,  wo  nach  seiner  Ansicht  die  Cohäsion 
—  etwa  [462]  zwischen  Kalk  oder  Baryt  und  Schwefelsäure,  —  eine 
Absonderung  bewirkt.) 

1   beständen   S\V. 


2  66  !•   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

In  allen  diesen  Fällen  nun,  wo  veränderte  innere  Zustände  eine  neue 
Anordnung  der  Elemente  mit  sich  bringen,  müssen  die  neu  entstehenden 
Moleculen  auch  eine  Zeitlang  innerlich  oscilliren;  und  es  ist  zu  erwarten, 
dafs  sich  dies  in  irgend  einer  äufsern  Erscheinung  verrathen  werde. 


§•  349- 

Wir  richten  jetzt  unsre  Blicke  auf  jene  schwachen  und  ungleichen 
Gegensätze,  von  denen  wir  oben  (§.  340)  bemerkten,  dafs  sie  gewissen 
Elementen  das  Eingehn  in  bestimmte  Verbindung  mit  andern  versagen 
könnten.  Aber  hier  mufs  eins  nach  dem  andern  erwogen  werden.  Wir 
machen  den  Anfang  mit  dem  Falle,  wo  der  Gegensatz  gewisser  Elemente 
gegen  alle  diejenigen,  welche  zur  Bildung  der  Materie  taugen,  sehr  ungleich, 
aber  dabev  nicht  schwach  ist.  Wenn  also  sehr  viele  dieser  Elemente 
(man  mag  an  Tausende,  oder  an  Millionen  denken,  denn  wir  können  hier 
keine  Zahlen  vestsetzen)  zugleich  in  Ein  einziges  Element,  welches  Be- 
standtheil  einer  Materie  ist,  eingedrungen  wären:  so  würden  sie,  alle  ver- 
einigt, aber  nicht  einzeln  genommen,  dies  letztere  in  einen  bedeutenden 
Grad  der  Selbsterhaltung  versetzen. 

Dafs  sie  aber  in  dieser  Lage  nicht  bevsammen  bleiben  könnten,  ist 
oben  gezeigt  (§.  343),  denn  was  dort  schon  von  der  Voraussetzung  galt, 
nach  welcher  acht  Elemente  einer  Art  zusammen  seyn  sollten  in  einem 
einzigen  von  entgegengesetzter  Art,  das  gilt  um  so  mehr,  je  ungleicher 
der  Gegensatz  ist.  Jedes  würde  jedem  andern  das,  ihnen  allen  entgegen- 
gesetzte Element  repräsentiren;  die  Selbsterhaltung  eines  jeden  sollte  dem 
gemäfs  durch  die  Anzahl  der  Elemente  multiplicirt  wer-[4Ö3]den;  aber 
sie  bleibt  einfach,  und  ist  keiner  Steigerung  fähig;  daher  pafst  die  Lage 
nicht  zu  den  innern  Zuständen;  die  Elemente  müssen  wie  durch  eine 
Gewalt,  die  von  ihrer  Anzahl  abhängt,  und  mit  derselben  wächst,  nach 
allen  Richtungen  zerstreut  werden. 

Unter  diesen  Umständen  erscheint  das  entgegengesetzte  Element, 
von  welchem  aus  die  Zerstreuung  geschieht,  wie  ein  strahlender  Punct. 
Aber  hiebey  sind  verschiedene  Modifikationen  möglich.  Es  versteht  sich 
von  selbst,  dafs  zuvörderst  der  Gegensatz  verschiedener  Grade  fähig,  und 
doch  immer  noch  sehr  ungleich  seyn  kann;  dann  ereignet  sich  die  Strah- 
lung, aber  ihre  Heftigkeit  ist  verschieden.  Andre  Umstände  müssen  wir 
verweilender  betrachten. 

§•   350. 

Wie  ungleich  auch  der  Gegensatz,  und  wie  stark  die  von  dieser  Un- 
gleichheit herrührende  Repulsion  auch  seyn  möge:  es  wird  doch  eine 
gewisse  Zahl  von  Elementen  geben,  welche  von  dem  entgegengesetzten, 
das  wir  den  Kern  nennen  wollen,  —  so  stark  angezogen  werden,  dafs  sie 
dadurch  vor  der  Zerstreuung  geschützt,  und,  nach  allen  Seiten  aus  dem 
Kern  herausragend,  genöthigt  werden,  denselben  wie  eine  Sphäre  zu  umgeben. 
Gesetzt,  diese  Sphäre  habe  sich  gebildet,  und  liege  nun  ruhig:  so  vermag 
sie  eine  neue  Sphäre  durch  Anziehung  um  sich  zu  erhalten  (§.  3421, 
diese    wiederum    eine    neue,    und    so    fort    ins  Unendliche.     Jede    nächste 


5- Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  i.Abth.Synth.Unters.  3-Cap.  V.d.Veränderlichk. etc.    267 

Sphäre  strebt  einzudringen  in  die  vorhergehende;  und  sie  dringt  wirklich 
ein,  bis  Repulsion  entsteht,  die  mit  der  Attraction  ins  Gleichgewicht  trit. 
Aber  wo   finden  wir  dieses  Gleichgewicht? 

Die  erste  der  Sphären  wird  bestimmt  theils  von  der  Nothwendigkeit, 
nach  welcher  jedes  Element  derselben  ganz  vollkommen  in  den  Mittelpunct 
eindringen  sollte;  [464]  theils  von  der  Repulsion  unter  den  sämmtlichen, 
zu  dieser  Sphäre  gehörigen  Elementen.  Beydes  sind  Umstände,  die  man 
sich  als  entfrecenffesetzte  Kräfte  denken  kann.  Wenn  unter  ihnen  Gleich- 
gewicht  ist,  also  Ruhe  in  der  Sphäre  seyn  kann,  so  geschieht  der  Repulsion 
nicht  völlig  Genüge,  da  ihr  die  Attraction  entgegenwirkt.  Also  ist  die 
Sphäre  dichter,  und  ihre  Elemente  liegen  gedrängter,  als  sie  bleiben  könnten, 
wenn  auf  einmal  der  Kern  aus  ihrer  Mitte  verschwände.  Je  dichter  sie 
aber  ist:  desto  vielfältiger  ist  in  ihr  der  Kern  repräsentirt;  mithin  auch 
desto  gröfser  der  übertragene  Gegensatz  (§.  344)  und  die  daher  rührende 
Anziehung.  Die  zweyte  Sphäre  (auf  welche  nun  diese  Anziehung  wirkt) 
ist  also  auch  noch  dichter,  als  sie  für  sich  allein  bleiben  könnte;  und  so 
geht  das  fort;  aber  es  kommt  irgend  eine  Sphäre,  in  welcher  die  Anziehung 
so  sehr  abgenommen  hat  (§.  342),  dafs  jedes  Element  nur  gerade  zu  so 
starker  Selbsterhaltung  veranlafst  wird  (durch  diejenigen  Elemente,  mit 
denen  es  unvollkommen  zusammen  ist),  als  es  vollständig  in  sich  hervor- 
bringen kann.  In  weiterer  Entfernung  nimmt  die  Übertragung  des  Gegen- 
satzes, welche  vom  Kern  ausgeht,  immer  mehr  ab.  Die  Elemente  also 
sind  durch  keine  Repulsion  mehr  gehindert,  sich  tiefer  in  einander  ein- 
zusenken; folglich  drängen  die  äufseren  Sphären  nach  innen.  Diesem 
Drucke  nachgebend  müssen  die  innern  dichter  werden;  und  das  Gleich- 
gewicht, welches  wir  annahmen,  ist  gestört.  Der  Kern,  oder  irgend  eine 
seiner  innern  Sphären,  werden  nun  ausstrahlend  wirken,  und  zwar  mit 
einer  Geschwindigkeit,   welche   dem   Drucke   von  allen  Seiten  entspricht. 

§•   351. 

Bisher  nahmen  wir  zum  Kern  nur  ein  einzelnes,  der  Sphäre  ent- 
gegengesetztes Element.  Diese  Voraussetzung  [465]  läfst  sich  verändern. 
Eine  materiale  Masse  bilde  den  Kern.  Es  ist  zwar  nicht  gleichgültig, 
aus  was  für  Elementen  diese  Masse  bestehe  (§.  34g  am  Ende);  aber 
wir  setzen  jedenfalls  voraus,  dafs  die  Sphäre  gebildet  werde  von  solchen 
Bestandteilen ,  die  wegen  sehr  ungleichen  Gegensatzes  gegen  alles,  was 
sich  zur  Materie  verknüpfen  kann,  auch  keine  Art  von  Elementen  anderer  Art 
antreffen,  womit  sie  eine  veste  und  beharrliche  Verbindung,  die  nicht  durch 
Strahlung  aufgelöset  zu  werden  Gefahr  liefe,   einzugehen  im  Stande  wären. 

Nach  dem  Vorhergehenden  (§.  350)  sollten  sich  Sphären  um  jedes 
Element  des  Kerns  insbesondere  bilden.  Da  nun  der  Kern,  als  materiale 
Masse,  selbst  schon  eine  Verdichtung  vieler,  gröfstentheils  in  einander  ein- 
gedrungener, Elemente  ist:  so  müfsten  die  Sphären  eben  so  in  einander 
verschränkt  liegen;  woraus  eine  aufserordentlich  vermehrte  Dichtigkeit  der 
Bestandteile  derselben  hervorginge.  Aber  dies  würde  einen  hohen  Grad 
von  Repulsion  zur  Folge  haben  (§.  349);  woraus  klar  wird,  dafs  die  Vor- 
aussetzung einer  eignen  Sphäre  um  iedes  Element  des  Kerns  nicht  bestehn 


2ö8  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


kann.  Dennoch  bringt  es  die  angenommene  Ungleichheit  des  Gegensatzes 
so  mit  sich;  und  der  Kern  ist  daher  einer  Gewalt  ausgesetzt,  welche 
strebt,  ihn  aufzulösen,   damit  die   Sphären   sich  bilden  können. 

Der  strahlende  Stoff  also,  von  dem  wir  hier  reden,  mufs,  wenn  er  in 
hinreichender  Menge  vorhanden  ist,  als  ein  sehr  mächtiges  Wesen  erscheinen, 
welches  der  Cohäsion  stets  entgegenwirkt;  und  wiederum  durch  sie  be- 
schränkt wird.  Giebt  es  eine  Menge  von  strahlenden  Mittelpuncten,  — 
also  von  Körpern,  welche  den  Stoff  in  die  Repnlsioti  versetzen,  vermöge 
deren  er  sich  alsdann  strahlend  zeigt,  wenn  er  nicht  Sphären  bilden  kann,  — 
und  stehen  diese  Körper  einander  dergestalt  gegenüber,  dafs  sie  ihn  ein- 
[4Ö6]ander  gegenseitig  zusenden:  so  wird  die  Repulsion  um  desto  wirk- 
samer werden,  je  gewisser  die  Geschwindigkeit  der  Strahlung  den  Stoff 
durch  die  Oberflächen  der  Körper  hindurch  dringen  macht,  so  dafs  ihm 
stets  von  neuem  Gelegenheit  gegeben  wird,  auf  das  Innere  derselben  zu 
wirken.  Die  Cohäsion  wird  dieser  Wirkung  stets  in  gewissem,  bald  höherm 
bald  geringerm,  Grade  nachgeben  müssen;  und  die  Körper  werden  da- 
durch innerlich  gespannt  seyn,  äufserlich  aber  als  ausgedehnt  zu  einem 
gröfsern  Volumen  erscheinen. 

§•   352- 

Erinnern  wir  uns  nun  jener  Oscillationen  (§.  348),  in  welchen  eine 
eben  neu  gebildete  Masse  sich  befindet :  so  sehen  wir  leicht,  dafs  dieselben 
nicht  ohne  Einflufs  auf  den  strahlenden  Stoff  seyn  können.  Hatte  er 
vorher  Sphären  um  die  Elemente  gebildet,  so  weit  ihm  dieses  vergönnt 
war:  so  müssen  die  nämlichen  Sphären  in  die  stärkste  Unordnung  ge- 
rathen,  während  die  Oscillation  ihrer  Mittelpuncte  fortdauert;  und  beson- 
ders mufs  in  solchen  Augenblicken,  wo  zwey  dergleichen  Mittelpuncte 
völlig  in  einander  sind,  die  Strahlung  einen  hohen  Grad  erreichen. 

Etwas  Ähnliches  wird  sich  schon  dann  zutragen,  wann  die  Körper 
durch  Reibung  an  einander  in  der  gegenseitigen  Lage  ihrer  Bestandtheile 
gestört  werden. 

Sowohl  die  Oscillationen  als  das  Reiben  könnten  aber  noch  auf  ähn- 
liche Weise  eine  unähnliche  Folge  haben,  wenn  die  Voraussetzung,  die 
wir  zum  Grunde  legten,  abgeändert  würde;  so,  dafs  wiederum  ein  Stoff, 
der  keine  Materie  ist  und  auch  keine  zu  bilden  vermag,  wohl  aber  in  den 
Körpern  nach  Verschiedenheit  der  Umstände  bald  gegenwärtig  ist  und 
bald  herausgetrieben  wird,  —  durch  die  Unruhe,  worin  die  Bestandtheile 
des  Körpers  entweder  versetzt  sind  oder  leicht  [467]  versetzt  werden 
können,  genöthigt  seyn  möchte,  sich  durch  irgend  eine  Art  von  Erschei- 
nungen bemerklich  zu  machen. 

Die  Frage  hiernach  wird  bestimmt  herbeygeführt  durch  die  obige 
Unterscheidung  der  vier  Fälle  (§.  339),  von  denen  wir  erst  zwey  in  Be- 
tracht gezogen  haben.      Der  dritte  kommt  jetzt  an  die  Reihe. 

§•   353- 
Schwacher,  jedoch  nahe  gleicher  Gegensatz  ist  dieser  Fall.     Dachten 
wir  uns  also  im  vorigen  Falle  etwan  eine  Million  von  Elementen  einer  Art 


5.Abschn.  Umrisse d.Naturphil.  i.Abth.  Synth.Unters.  3-Cap.  V.d.Veränderlichk.etc.    269 

fähig,  zusammengenommen  eine  starke  Seibsterhaltung  in  einem  einzigen 
Elemente  der  Materie  hervorzubringen:  so  wollen  wir  jetzo  eine  Selbst- 
erhaltung in  dem  nämlichen  einzigen  Elemente  der  Materie  annehmen,  die 
zehntausendmal  schwächer  seyn  mag,  aber  dagegen,  um  hervorgerufen  zu 
werden,  nur  hundert  Elemente  des  neuen  Stoffes  nöthig  hat.  Hiebey  ver- 
steht sich  von  selbst,  dafs  wir  zugleich  voraussetzen,  die  zehntausendfach 
schwächere  Selbsterhaltung  sey  dennoch  in  ihrer  Art  vollständig,  und 
könne  als  eine  solche,  wie  sie  ist,  nicht  überstiegen,  nicht  erhöhet,  ob- 
gleich von  andern  Selbsterhaltungen  gar  leicht  übertroffen  werden.  Eben 
darin  besteht  die  Schwäche  des  Gegensatzes,  dafs  ihm  nur  eine  geringe 
Selbsterhaltung  entspricht. 

Die  hundert  Elemente  aber,  die  wir  beyspielsweise  annahmen,  befin- 
den sich  unter  einander  gegenseitig  genau  in  demselben  Falle,  worin  gleich- 
viel Elemente  jenes  strahlenden  Stoffes  unter  sich  seyn  würden.  Denn 
für  die  letzteren  ist  die  Möglichkeit,  dafs  ihrer  noch  viel  mehrere  könnten 
in  Selbsterhaltung  durch  ein  einziges  Element  der  Materie  versetzt  werden, 
etwas  Fremdes,  und  so  gut  als  gar  nicht  vorhanden.  Sind  sie  selbst  in 
diesem  Zustande:  so  können  sie  nicht  [468]  darüber  hinaus;  und  was 
anderwärts  darüber  hinausgeht,  ist  nichts  für  sie.  Hundert  Elemente,  von 
gleicher  Qualität,  auf  einerley  Weise  in  Selbsterhaltung  begriffen,  müssen 
sich  aus  einem  Puncte,  worin  wir  sie  allein,  und  sonst  Nichts,  vereinigt 
denken,  mit  eben  dem  Grade  von  Repulsion  zerstreuen,  als  hundert  andre 
Elemente,  deren  Qualität  ebenfalls  unter  sich  von  einerley  Art  ist,  in 
gleich  starker  Selbsterhaltung  und  in  der  nämlichen  Lage,  sich  gegenseitig 
zurückstofsen  werden,  wenn  auch  derAnlafs  zur  Selbsterhaltung  verschieden  ist. 

Ein  Umstand  jedoch  kommt  in  einem  Falle  hinzu,  der  im  andern 
fehlt,  oder  doch  viel  eher  verschwindet.  Gesetzt,  mit  einer  Million  von 
Elementen  jenes  erstem  strahlenden  Stoffes  sey  ein  einziges,  welches  gegen 
sie  alle  in  Selbsterhaltung  begriffen  ist,  vollkommen  zusammen:  so  wirkt 
ihrer  Repulsion  eine  starke  Attraction  entgegen.  Denn  das  eine  Element, 
welches  den  Kern  bildet,  soll  mit  allen  vollkommen  zusammen  seyn;  und 
dies  heifst  soviel,  als  ob  wir  ihm  eine  Kraft  beylegten,  sie  alle  in  sich, 
folglich  auch  unter  einander,  zusammen  zu  halten.  Hingegen  in  dem 
Falle,  welcher  uns  jetzt  beschäftigen  soll,  übt  der  Kern  nur  für  hundert 
ihm  entgegengesetzte  Elemente  die  nämliche  Wirkung  aus;  und  denken 
wir  uns  deren  eine  Million  in  ihm  vereint,  so  ist  der  Kern  nicht  ein 
Grund  von  Attraction,  sondern  nur  von   Repulsion. 

Übrigens  wird  die  Zahl  hundert,  die  wir  beyspielsweise  annahmen, 
noch  immer  einen  sehr  ungleichen  Gegensatz  darzustellen  scheinen;  allein 
wir  sehen  hier  nur  auf  die  Vergleichung  mit  dem  andern,  bey  weitem 
mehr  ungleichen  Gegensatz;  und  nehmen  auch  jetzt  noch  eine  nicht  ge- 
ringe Zahl,  weil  die  Wirkungen,  die  wir  darzustellen  beabsichtigen,  sich 
nur  von   einer  gleichzeitig  zusammen    aufgeregten  Menge    erwarten  lassen. 

[469]  §•  354- 

Bevor  wir  weiter  gehn,  dürfte  es  zur  Deutlichkeit  nöthig  seyn,  auf 
die  gewöhnliche  Voraussetzung  alle  Attraction   und  Repulsion  sev  gegenseitig, 


2~jO  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

einige  Rücksicht  zu  nehmen.  Sie  ist  zuvörderst  richtig  im  mechanischen 
Sinne,  sofern  dem  einmal  vorhandenen  Grunde  der  Annäherung  oder  Ent- 
fernung zwey  Materien  Folge  leisten,  dergestalt,  dafs  sich  jede  zu  der 
andern  gemäfs  ihrer  Masse  und  Beweglichkeit  hin  begiebt,  oder  von  ihr 
entfernt.  So  zieht  der  Magnet  das  Eisen,  oder  wird  von  ihm  gezogen, 
je  nachdem  er  selbst,  oder  das  Eisen  sich  leichter  bewegen  kann.  Zwey- 
tens  ist  die  nämliche  Voraussetzung  auch  noch  im  naturphilosophischen 
Sinne  bey  der  ursprünglichen  Attraction  zweyer  Elemente  richtig  (§.  269). 
Aber  schon  bey  dem  ersten  Begriffe  von  der  Repulsion  (§.  270)  hat  es 
sich  gezeigt,  wie  man  dieselbe  Voraussetzung  beschränken  müsse.  Das- 
jenige Element,  dessen  innerer  Zustand  den  in  ihm  angehäuften  anderen 
nicht  entsprechen  kann,  enthält  den  Grund  einer  nothwendigen  Trennung, 
oder  wirkt  repulsiv;  während  jene  anderen  Elemente  einen  Grund  des 
Eindringens  so  lange  in  sich  tragen,  bis  sie  in  zu  grofser  Anzahl  eindrin- 
gend einander  dergestalt  begegnen,  dafs  nunmehr  ihre  eignen  innern  Zu- 
stände dem  vervielfältigten  übertragenen  Gegensatze  (§.  343)  nicht  mehr 
entsprechen  können.  Daher  Einstrahlung  und  Ausstrahlung,  wofern  nicht 
die  Sphären  (§.  350)  eine  ruhige  Lage  erlangen  können.  Dies  mufs  aus 
den  vorgetragenen  Gründen  vollkommen  klar  seyn. 

jetzt  wollen  wir  die  beyden,  im  vorhergehenden  Paragraphen  ange- 
nommenen Stoffe  (welcher  Ausdruck  begreiflich  nicht  Materien,  sondern 
nur  Mengen  solcher  Elemente,  die  gleichartig  sind,  oder  für  gleichartig 
gelten  können,  bezeichnet),  der  Deutlichkeit  wegen,  mit  ein  paar  Buch- 
staben benennen.  Jener  erstere,  von  [470]  starkem,  aber  sehr  ungleichem 
Gegensatze  gegen  die  Materie,  heifse  C,  der  andere,  von  schwachem, 
aber  nahe  gleichem  (wenigstens  viel  minder  ungleichem)  Gegensatze,  heifse  E. 
Dem  Leser  sey  anheim  gestellt,  für  jenes  Caloricum,  für  dieses  Elec- 
tricum  zu  setzen;  jedoch  liegt  hierin  noch  keine  Zumuthung,  welche 
erst  aus  analytischen   Betrachtungen   hervorgehen  wird. 

Ist  in  irgend  einer  materialen  Molecule  der  Stoff  C  angehäuft:  so 
sind  drey  Begriffe  zu  sondern.  Erstlich,  jedes  Element  C  soll  vollkommen 
eindringen  in  die  Molecule,  damit  in  ihm  der  äufsere  Zustand  dem  innern 
entspreche  (§.  269).  Zweytens,  wegen  des  starken  und  ungleichen  Gegen- 
satzes soll  die  Molecule  in  jedes  Element  C  eindringen,  so  lange,  bis  in 
ihren  Elementen  die  volle  Selbsterhaltung,  welche  denselben  gegen  C  zu- 
kommt, vorhanden  ist.  Dies  sind  zwey  verschiedene  Gründe  scheinbarer 
Attraction.  Aber  drittens:  die  Elemente  C  können  dem  vervielfachten 
Gegensatze  (§.  343)  nicht  alle  entsprechen;  darin  liegt  der  Grund  der 
Repulsion. 

Beym  Stoffe  E  verhält  es  sich  mit  dem  ersten  und  dritten  Puncte 
eben  so;  aber  anstatt  des  zweyten  entsteht  bey  gleicher  Anhäufung  in 
den  Elementen  der  materialen  Molecule  ein  Grund  der  Repulsion;  wegen 
der  vorausgesetzten  Schwäche  des  Gegensatzes,  die  keine  starke  Selbster- 
haltung gegen  das  angehäufte  E  erlaubt.  Hiebey  aber  versteht  sich  von 
selbst,  dafs  Alles  darauf  ankommt,  wie  weit  durch  die  Anhäufung  diejenige 
Anzahl  der  Elemente  E,  wogegen  die  Materie  sich  selbsterhalten  könnte, 
überschritten  wurde;  denn  ist  sie  nicht  überschritten,  so  verhält  es  sich 
hier,   wie  im  vorigen   Falle. 


5.  Abchn.  Umrisse d.Naturphil.    i.Abth.  Synth.Unters.  3.  Cap.  V. d.Veränderlichk.etc.  27  I 

Beyde  Stoffe,  C  und  E,  haben  nun  das  mit  einander  gemein,  dafs 
sie  so  viel  als  möglich  um  jede  Molecule  der  Materie  Sphären  zu  bilden 
suchen,  welche  [471]  Sphären  gegen  einander  drängen,  und  bey  starker 
Anhäufung  die  Materie  zerreifsen,  so,  dafs  alle  Moleculen  getrennt  werden. 
Denn  die  Mittelpuncte,  von  wo  die  Repulsion  ausgeht,  sind  nach  dem 
Obigen  die  Moleculen  selbst;  und  an  eine  Wanderung  durch  Poren  dürfte 
dabey  wohl  kaum  zu  denken  seyn,  am  wenigsten  aber  an  eine  ursprüng- 
liche Repulsion  der  Elemente  C  oder  E,  ohne  Zuthun  der  Materie,  von 
welcher  letztern  vielmehr  das  ganze  Verhältnifs   abhängt. 

Ein  grofser  Unterschied  aber  liegt  nun  darin,  dafs  die  Materie  bey 
weitem  nachgiebiger  seyn  wird  gegen  C  als  gegen  E.  Von  jenem  läfst 
sie  sich  ausdehnen  (§.  351),  weil  ihre  Moleculen  vermöge  der  von  ihnen 
herrührenden  Attraction  den  Stoff  zusammenhalten;  und  eben  deshalb  auch 
von  ihm  gehalten  werden.  Vom  E  aber  wird  sie  sich  sehr  wenig  Aus- 
dehnung gefallen  lassen;  und  dies  nur  für  einen  Augenblick.  Denn  ge- 
setzt, die  Ausdehnung  sey  geschehen,  gewinnt  der  Stoff  nun  dadurch  eine 
besser  passende  Lage?  Unstreitig  ist  dies  der  Fall  bey  dem  Stoffe  C, 
dessen  Sphären  jetzt,  da  sie  minder  in  einander  gedrängt  liegen,  sich 
besser  um  die  Moleculen,  von  denen  sie  angezogen  werden,  ordnen 
können;  denn  die  Repulsion  ist  vermindert,  und  die  Gründe  der  Attraction 
bleiben.  Aber  beym  Stoffe  E  bleibt  derjenige  Grund  der  Repulsion, 
welcher  in  den  materialen  Moleculen  liegt,  auch  nach  geschehener  Deh- 
nung der  nämliche ;  die  innere  Spannung  der  Materie  ist  überdies  ge- 
wachsen; also  kann  die  Ausdehnung  nur  augenblicklich  sevn;  die  Molecu- 
len  ziehen  sich  wieder  zusammen;  die  Materie  ist  nur  erschüttert;  wenn 
nicht  durch  gar  zu  grofse   Anhäufung  des   E   zerrissen   und  zerstreut. 

§•   355- 

Da  die  Materie  das  E  nicht,  ohne  erschüttert  zu  wer-[472]den,  fort- 
treiben kann:  so  entstehn  neue  Unterschiede.  Die  innere  Configuration 
der  Materie  kann  mehr  oder  weniger  vest  bestimmt  seyn;  wie  sich  schon 
aus  §.  337  schliefsen  läfst.  Dem  gemäls  wird  sie  sich  eine  Erschütterung 
leichter  oder  minder  leicht  gefallen  lassen.  Ist  sie  sehr  dicht :  so  ergiebt 
auch  dies  einen  Grund  der  leichtern  Fortleitung,  weil  nämlich  die  Sphären 
des  E  sich  beym  Übergange  aus  einer  Molecule  in  die  andere  nicht  so 
sehr  erweitern  werden,  wie  sie  in  sehr  dünnen  Materien  jedesmal  vermöge 
der  Repulsion  thun  müssen,  bevor  sie  sich  zum  Eintrit  in  neue  Moleculen 
wieder  zusammenziehn. 

Gemäfs  diesen  Unterschieden  wird  nun  das  E  sich  in  sehr  unglei- 
chem Grade  mehr  oder  minder  frey  in  den  Materien  bewegen,  worin  es 
sich  befindet,  oder  durch  die  es  geht. 

Fangen  wir  an  bey  der  Voraussetzung  einer  körperlichen  Masse,  wo- 
rin das  E  sich  frey  bewegt:  so  sehn  wir  sogleich,  dafs  es  von  innen  her- 
aus gegen  die  Oberfläche  der  Masse  drängen  wird,  aber  nicht,  um  dort 
zu  bleiben,  sondern  um  hinaus  zu  fahren.  Damit  wir  es  nun  nicht  aus 
den  Augen  verlieren,  werden  wir  die  Masse  in  Gedanken  umgränzen 
müssen  mit  einer  Materie,  worin  es  sich  nicht  frey  bewegt;  und  nun  die 
Folgen  überlegen. 


2  72  I«    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

War  das  E  in  der  erstem  Masse  nicht  zu  stärkerer  Repulsion  ange- 
häuft, als  in  der  umgebenden  Materie;  war  die  ganze  Repulsion  in  jener 
auch  nicht  schwächer  als  in  dieser :  so  sind  die  Drückungen  im  Gleich- 
gewichte ;  und  die  Oberfläche  wird  nicht  williger  seyn  als  das  Innere,  um 
das  E  zu  beherbergen;  "  die  Sphären  desselben  werden  daher  überall,  im 
Innern  wie  aufsen,  sich  so  gleichförmig  als  möglich  bilden.  Allein  sobald 
in  der  Masse  Überschufs  oder  Mangel  entsteht:  mufs  die  Sphärenbildung 
einer  andern  Gestaltung  Platz  machen. 

[473]  Man  denke  sich  elastische  Sphären  von  einer  Seite  her  gedrückt. 
Sie  werden  sich  an  dieser  Seite  abplatten;  an  der  andern  ausdehnen;  hier 
verdichten,  dort  dünner  werden;  der  Kern,  um  den  herum  sie  sich  bil- 
deten, wird  nicht  mehr  genau  im  Mittelpuncte  bleiben,  wenn  er  durch 
andre  Gründe  in  seiner  Lage  einmal  bestimmt  ist.  Kommt  der  Druck 
von  einer  concaven  Fläche  her :  so  drängt  er  die  Sphären  wider  einander, 
und  sie  widerstehen  um  so  mehr;  kommt  er  von  einer  convexen  Fläche, 
so  divergiren  die  Richtungen;  die  Sphären  sind  nun  nachgiebiger,  und 
das  E,  welches  den  Druck  verursacht,  sammelt  sich  hieher  in  gröfserer 
Menge,  weil  es  mindern  Widerstand  findet  als  auf  concaven  oder  auf 
ebenen  Flächen.  Denn  wir  haben  stillschweigend  angenommen,  in  jener 
Masse  sey  das  E  angehäuft;  es  drängt  nun  nach  aufsen  besonders  an 
denjenigen  Puncten  der  Oberfläche,  welche  convex  gegen  die  Umgebung 
sind.  Alsdann  wird  der  Druck  sich  unbestimmt  in  die  umgebende  Materie 
hinein  fortpflanzen.  Nicht  die  Configuration  derselben  wird  sich  ändern, 
aber  die  Sphären  des  E  werden  ihre  Rundung  und  gleichförmige  Dichtig- 
keit verlieren;  die  Gewalt  jedoch,  welche  sie  erleiden,  werden  sie  auch  zurück- 
wirken  lassen,  und  dadurch  das  E  auf  der  Fläche  jener  Masse  vesthalten. 

Die  Scene  wird  sich  ändern,  sobald  eine  andre  Masse,  worin  gleich- 
falls dem  E  freye  Bewegung  gestattet  ist,  in  die  Nähe  jener  erstem  kommt. 
Der  eben  beschriebene  Druck  wird  in  ihr  alles  E  in  eine  Spannung  setzen, 
die  sich  bis  zu  den  entferntesten  Theilen  der  Oberfläche  fortsetzt;  so  dafs 
diese  fortgepflanzte  Spannung  gleichsam  die  erste  Nachgiebigkeit  der  Sphären 
in  einer  entfernteren  Umgebung  benutzen  kann,  um  mehr  Freyheit  an 
der  Stelle  zu  schaffen,  von  wo  der  Druck  ausging.  Dies  aber  war  in  der 
ersten  Masse  [474]  die  Stelle,  welche  der  zweyten  zunächst  gegenüber 
steht.  Dorthin  wird  das  E  sich  ziehen,  und  an  andern  Stellen  der  ersten 
Masse  wird  seine  Spannung  nachlassen.  Das  letztere  wird  noch  in  weit 
höherm  Grade  der  Fall  seyn,  wenn  aus  der  zweyten  Masse  das  in  freye 
Bewegung  versetzte  E  Gelegenheit  findet  zu  entkommen;  indem  alsdann 
sein  Gegendruck  wegfällt. 

§•   356. 

Hier  sind  wir  auf  den  Punct  der  Betrachtung  gekommen,  wo  sich 
uns  ein  Nichtleiter  zwischen  zweven  Leitern  darbietet,  deren  einer  un- 
begränzt,  der  andre  aber  mit  dem  E  beladen  mag  gedacht  werden.  Um 
also  nicht  ohne  Noth  unverständlich  zu  reden,  wollen  wir  auch  die  Aus- 
drücke Ladung  und  Belegung  nicht  scheuen,  wiewohl  hier  immer  noch 
nicht  Anspruch  gemacht  wird,  dafs  man  sich  anderer  angenommener  Mei- 
nungen  entschlage. 


5-Abschn.  Umrisse d.Naturphil.  i.Abth.  Synth.Unters.  3.Cap.  V. d.Veränderlichk. etc.  2*]\ 

Die  Sphären  des  E  im  Nichtleiter  sind  von  einer  Seite,  wegen  der 
Anhäufung  desselben  in  der  Belegung,  gegen  die  andere  Seite  gedrängt. 
Wenn  nun  dort  an  der  Oberfläche  ein  Theil  des  herausgetriebenen  E  ent- 
kommen kann:  so  wird  die  gegenüber  stehende  Fläche,  und  von  ihr  an 
gerechnet  jede  dazwischen  liegende  parallele  Schicht,  das  E  tiefer  in  sich 
einlassen  müssen,  weil  ein  Theil  des  vorigen  Widerstandes  fehlt.  Aber 
dies  Einlassen  ist  noch  kein  vollständiges  Durchdrungen  werden.  Es  gleicht 
vielmehr  für  jede  Sphäre,  welche  früher  das  E  um  die  einzelnen  Mole- 
culen  mochte  gebildet  haben,  dem  tiefern  Eindringen  einer  Halbkugel  in 
das  Centrum,  wobey  dieselbe  fast  in  die  Gestalt  eines  Kegels  übergehen 
mufs,  in  dessen  Spitze  das  Centrum  liegt.  Denn  die  andre  Halbkugel 
wiid  abgesprengt,  indem  die  ableitende  Bewegung  eben  so  viel  hinweg- 
führt, als  jenseits  hineindringt.  Eine  solche  Lage  des  E  in  [475]  dem 
Nichtleiter  ist  unstreitig  gezwungen ;  und  ganz  geeignet  zu  einer  plötzlichen 
Veränderung.  Sie  erhält  sich  nur  so  lange,  wie  lange  noch  die  Repulsion, 
die  von  den  Spitzen  der  Kegel,  den  ehemaligen  Mittelpuncten  der  Sphären, 
ausgeht,  kräftig  genug  wirkt,  um  vollkommenes  Eindringen  zu  verhindern. 
Gesetzt  aber,  diese  Repulsion  werde  überwunden:  so  müssen  in  Einem 
Augenblicke  die  eindringenden  Elemente  des  E  einander  begegnen  in  den 
Moleculen  der  Materie,  und  im  nächsten  Augenblicke  von  diesen  Moleculen 
als  Mittelpuncten  auseinanderfahrend  eine  sphärische  Form  gewaltsam  an- 
nehmen, wobey  die  verschiedenen  Sphären  wider  einander  stofsend  zurück 
geschleudert  werden,  und  die  ihnen  zum  Raube  gewordene  Materie  mit 
sich  zerreifsen  und  zerstäuben.  Der  bekannte  Erfolg  einer  zu  weit  ge- 
triebenen Ladung. 

§•  357- 

Wir  kommen  auf  die  Bewegungen,  welche  das  E  unter  gewissen  Um- 
ständen den  Körpern  ertheilen  kann.  Zunächst  den  vorigen  Betrachtungen 
liegt  der  Fall  der  seitwärts  gedrückten  Sphären  im  Nichtleiter,  wenn  in 
demselben  ein  Leiter  sich  bewegen  kann.  Den  letztern  bezeichnen  wir 
mit  B,  indem  wir  voraussetzen,  ein  andrer,  ihm  in  einiger  Entfernuno- 
gegenüber stehender  Leiter  A  sey  derjenige,  von  welchem  wegen  des  in 
ihm  angehäuften  Stoffes  der  Druck  ausgehe.  Beyde  Leiter  werden  in 
diesem  Falle  scheinbar  einander  anziehn,  wofern  B  unbegränzt  ist,  und 
den  durch  jenen  Druck  in  ihm  aufgeregten  und  zurückgetriebenen  Stoff 
entlassen  kann.  Denn  durch  dies  Entlassen  vermindert  sich  seine  Re- 
pulsion; und  die  schon  in  ihn  eindringenden,  obwohl  von  den  Moleculen 
des  Nichtleiters  noch  nicht  gesonderten  Elemente  des  E  ziehn  ihn  zu 
sich  hin;  eben  sowohl,  als  sie  bey  völliger  Freyheit  in  ihn  selbst  sich 
[476]  tiefer  hineinbewegt  haben  würden.  Indem  er  sich  nun  bewegt, 
geräth  er  in  eine  Gegend,  wo  der  Druck  zu  ihm  hin  noch  stärker,  die 
Anziehung  also  noch  gröfser  ist.  Kann  nicht  B,  wohl  aber  A  sich  be- 
wegen, so  geschieht  dieses,  weil  es  nur  auf  Annäherung  des  A  und  B 
ankommt. 

Umgekehrt    ereignet   sich    dasselbe,    wofern    in    A    sich     des    Stoffes 
weniger  befindet,  als  zum  Gleichgewichte  des  Druckes  aller  Sphären  nöthig 

Herbart's  Werke.     VIII.  l8 


2  7A  ■"■•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.     1829. 

ist.  Denn  alsdann  dehnen  sich  dieselben  aus  den  umgebenden  Theilen 
des  Nichtleiters  zu  ihm  hin;  und  der  unbegränzte  Leiter  B  mufs  von  der 
entgegengesetzten  Seite  her  ein  gröfseres  Quantum  des  E  in  sich  auf- 
nehmen, weil  der  Gegenstand  sich  vermindert.  Dennoch  vertauschen  nur 
B  und  A  ihre  vorigen  Rollen. 

Zwey  bewegliche  Leiter,  überfüllt  vom  E,  verbreiten  den  Druck  der 
Sphären  nach  allen  Richtungen,  also  auch  wider  einander;  sie  stofsen  sich 
ab,  indem  sie  gegen  die  Sphären  des  Nichtleiters,  der  etwa  zwischen  ihnen 
ist,  sich  stemmen.  Sind  sie  minder  als  die  Umgebung  erfüllt  vom  E,  so 
stofsen  sie  sich  scheinbar  zurück,  indem  sie  nach  entgegengesetzten  Seiten 
angezogen  werden;  weil  die  Dehnung  der  Sphären  zu  ihnen  hinwärts  aus 
den  Elementen   des  umgebenden   Nichtleiters  gerichtet  ist. 

Hievon  verschieden  ist  diejenige  Repulsion,  welche  entsteht,  wenn  das 
E  sich  wirklich  von  einer  Materie  losreifst,  und  in  eine  andre  übergeht. 
Man  wird  sie  am  leichtesten  bey  Spitzen  solcher  Körper  bemerken,  die 
sich  um  eine  Axe  drehen  lassen.  Ob  sie  das  E  ausgeben  oder  empfangen, 
gilt  gleich.  Denn  jedenfalls  ist  Repulsion  der  verschiedenen  Elemente 
des  E  unter  einander  der  Grund  ihres  Überganges;  und  sie  bilden  als- 
dann gleichsam  eine  gespannte  und  losschnellende  Feder  zwischen  beyden 
Materien. 

[477]       §•   3ö8. 

Dem  Vorigen  liegt  überall  die  Voraussetzung  zum  Grunde,  der  Gegen- 
satz zwischen  dem  E  und  den  sämmtlichen  Elementen  sev  schwach ;  und 
diese  Voraussetzung  ist  wesentlich,  weil  sonst  das  E  ein  bleibendes  Ver- 
hältnifs  der  Attraction  zu  denselben  Elementen  gewinnen,  und  folglich  (falls 
nicht  der  nämliche  Gegensatz  höchst  ungleich  wäre,  wodurch  wir  in  die 
Annahme  des  Stoffes  C  zurückfallen  würden)  selbst  ein  Bestandtheil  der 
Materie  werden  müfste. 

Es  wäre  aber  ein  unüberlegter  Schlufs,  wenn  man  darum  glauben 
wollte,  ein  schwacher  Gegensatz  sey  nicht  fähig,  in  den  Zusammenhang 
der  Materie  einzugreifen,  oder,  wie  es  in  der  gewöhnlichen  Sprache  heifst, 
chemisch  zu  wirken.  Was  der  Stärke  fehlt,  das  kann  die  Menge  und  ein 
schneller  Wechsel  ersetzen.  Und  wenn  eine  grofse  Anzahl  von  Elementen 
des  E  in  Selbsterhaltung  trit  gegen  ein  Element  A  der  Materie,  so  kann 
dieses  der  Grund  werden,  weshalb  es  theils  selbst  andre  Elemente  A  an- 
zieht, theils  von  solchen  Elementen  B,  die  im  Gegensatze  stehen  wider  A, 
angezogen  wird,  indem  es  dem  B  das  A  repräsentirt. 

Ferner  ist  nöthig  zu  bemerken,  dafs,  wenn  ungleiche  Leiter,  deren 
einer  dem  E  mehr  freye  Bewegung  gestattet  als  der  andere,  sich  berühren, 
alsdann  die  Repulsion  bcydcr  gegen  das  E  nicht  mehr  im  Gleichgewichte 
stehen  kann.  Es  wendet  sich  vielmehr  nothwendig  dorthin,  wo  die  Be- 
wegung freyer  ist.  Kann  es  hier  entkommen :  so  fehlt  nun  ein  Gegen- 
druck, der  zum  Gleichgewichte  nothwendig  war;  folglich  mufs  der  andre 
Leiter,  von  welchem  es  ausging,  neues  E  aufzunehmen  sich  gefallen  lassen, 
wofern  sich  ihm  solches  darbietet. 

Man  wird  vielleicht  einige  Mühe  haben,  dieses  auf  die  bekannten 
Verhältnisse  zwischen  Zink  und  Kupfer,  [478]  oder  dergleichen,  zu  deuten; 


5.  Abschn.  Umrisse d. Naturphil.    i.Abth.  Synth. Unters.  3.Cap.  V.d.Veränderlichk.etc.  27^ 

allein  wir  müssen  voraussagen,  dafs  nach  Verwerfung  der  Symmerschen 
Hypothese  zwar  die  Franklinsche  als  die  wahre  zurückbleiben  wird,  jedoch 
mit  Umkehrung  des  in  ihr  angenommenen   Plus  und   Minus. 

Überdies  wollen  wir  voraussagen,  dafs  bey  den  chemischen  Erschei- 
nungen des  E  zweyerley  in  Betracht  kommt,  nämlich  Polarisirung  eines 
flüssigen  Leiters,  —  das  heifst,  eine  Neigung  seiner  Elemente,  nach  ent- 
gegengesetzten Seiten  auseinander  zu  treten,  —  und  wechselnde  innere 
Zustände  des  E  selbst,  welche  von  den  Stoffen,  die  es  durchwandert,  her- 
rühren und  hervorgerufen  werden. 

Aufser  diesen  Vorbegriffen,  die  wir  uns  für  den  analytischen  Theil 
zurecht  legen,  ist  noch  zu  bemerken,  dafs  die  Erschütterungen  der  Materie, 
während  sie  das  E  leitet,  nicht  ohne  Folgen  bleiben  können  für  den  Stoff 
C,  der  sich  in  der  Materie  findet.  Er  wird  dadurch  theils  vorwärts  ge- 
trieben, theils  seitwärts  gedrängt.  Und  bey  dieser  seitwärts  gehenden  Be- 
wegung müfste  es  ein  Wunder  seyn,  wenn  nicht  seine  Sphären,  sofern  sie 
sich  noch  halten  können,  zugleich  eine  Neigung  zur  Umdrehung  bekämen. 
Hierin  werden  wir  im  analytischen  Theile  die  wahrscheinliche  Ursache 
des  circularen  und  vorübergehenden  Magnetismus  der  Leitungsdrähte  finden. 
Deutlicher  läfst  sich  an  diesem  Orte  noch  nicht  sprechen. 

§•  359- 

Wir  haben  noch  den  vierten  möglichen  Fall  (§.  339)  zu  überlegen; 
den  eines  sehr  schwachen  und  sehr  ungleichen  Gegensatzes.  Es  sey  also 
eine  Million  von  Elementen  eines  gewissen  Stoffes  nöthig,  um  in  einem 
Bestandtheil  der  Materie  eine  Selbsterhaltung  hervorzubringen,  welche,  ob- 
gleich in  ihrer  Art  vollständig,  doch  [479]  verglichen  mit  einer  solchen, 
wie  die,  welche  im  ersten  oder  im  zweyten  der  vier  Fälle  hervorgeht,  an 
Stärke  nur  ein  Milliontheil  betrage.  Dann  würde  ein  einzelnes  Ele- 
ment des  jetzt  zu  betrachtenden  Stoffes  nur  vermögen,  ein  Billiontheilchen 
Selbsterhaltung  nach  dem  angenommenen  Maafse  hervorzubringen.  Die 
Zahlen  sollen  blofs  dienen  um  anzudeuten,  dafs  man  den  innern  Zustand, 
welcher  dadurch  in  den  Elementen  der  Materie  entstehn  würde,  als  eine 
verschwindende  oder  wenigstens  neben  andern  Zuständen  nicht  zu  be- 
achtende Gröfse  vernachlässigen  dürfe.  Daraus  ist  noch  nicht  zu  schliefsen, 
dafs  aus  einem  solchen  Verhältnisse  gar  keine  Folgen  entstehn  würden; 
denn  für  den  Stoff,  von  dem  wir  reden,  giebt  es  keine  Vetgleichutig,  in 
welcher  seine  innern  Zustände  verschwinden  würden. 

Das  Nächste,  was  uns  einfallen  kann,  ist  die  Repulsion  unter  den 
Elementen  dieses  Stoffs,  falls  er  sollte  angehäuft  werden  in  irgend  einem 
Theil  der  Materie.  Aber  eine  bedeutende  Anhäufung  ist  eben  deswegen 
gar  nicht  zu  erwarten,  weil  sie  im  Beginnen  schon  durch  die  Repulsion 
vereitelt  werden  würde. 

Vielmehr  wird  ein  solcher  Stoff  die  Materie  vollkommen  durchdringlich 
finden,  weil  er  ihre  Zustände  nicht  merklich  abändern  kann.  Er  wird 
Sphären  bilden  gemäfs  dem  Quantum  der  Materie  J,   so  weit  es  die  in  ihm 


1   gemäfs  dem   Quantum  in   der  Materie  SW. 

18* 


2-6  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

selbst  entstehenden  innern  Zustände  erlauben;  und  in  dieser  Sphären- 
Bildung  wird  er  gleichförmiger  seyn,  als  einer  der  vorigen  Stoffe. 

Gesetzt,  er  habe  eine  grofse  Sphäre,  oder  vielmehr  Sphäre  um  Sphäre, 
so  weit  man  will,  um  einen  grofsen  Körper  gebildet;  und  es  komme  ein 
anderer,  verhältnifsmäfsig  kleiner  Körper  in  die  Nähe:  so  durchdringt  zwar 
der  Stoff  auch  diesen;  allein  beym  Eindringen  sollte  nun  zzvischen  beyden 
Körpern  die  Dichtigkeit  des  Stoffes  sich  vermindern.  Da  jedoch  die  [480] 
Sphären  um  den  grofsen  Körper  unter  sich  durch  Attraction  verknüpft 
sind  (§.  350),  so  kann  hierin  ein  Grund  des  Widerstandes  gegen  die  Ver- 
dünnung, die  sie  zu  erleiden  im  Begriff  sind,  mithin  ein  Grund  der  An- 
näherung des  kleineren  Körpers  an  den  grofsen,  vermuthet  werden,  welches 
eine  Erscheinung  von  Attraction  zur  Folge  haben  wird,  als  ob  der  grofse 
Körper  den  kleineren  zu  sich  hinzöge. 

Wir  wollen  hier  nichts  weiter  hinzusetzen,  weil  die  Brauchbarkeit  dieser 
Vorstellungsart,  und  die  Frage,  wie  man  zur  Natur- Erklärung  dieselbe  aus- 
bilden müsse,  noch  Zweifeln  unterliegt,  von  welchen  tiefer  unten  zu  reden  seyn 
wird.1  Gewifs  erforderte  die  Vollständigkeit  unserer  Betrachtung,  dafs  wir 
auch  dieses  Falles  erwähnten. 


§•   360. 

Die  Veranlassung,  eine  Bemerkung  auszusprechen,  welche  sich  dem 
Leser  schon  bey  den  vorigen  Fällen  aufdringen  konnte,  wollen  wir  vor- 
zugsweise an  diesem  Orte  benutzen,  wo  sie  am  meisten  bedeutend  zu  seyn 
scheint.  Man  konnte  fragen,  warum  wir  für  den  zweyten,  dritten  und 
vierten  Fall  jedesmal  nur  Einen  bestimmten  Stoff  annahmen,  während  im 
ersten  Falle  doch  eine  Menge  von  entgegengesetzten  Elementen  voraus- 
gesetzt wurde,  die  sich  zu  mancherley  Materien  verbinden  mögen?  Die 
Antwort  ist  leicht.  Wir  orientiren  uns  mitten  unter  Möglichkeiten,  die  wir 
nicht  begränzen,  aber  geordnet  überschauen  wollen.  Welche  von  diesen 
Möglichkeiten  für  wirklich  zu  halten  seyen?  das  kann  erst  die  Analysis 
der  physischen  Phänomene  aufklären.  Offenbar  kommt  es  hier  nur  auf 
Verhältnisse  an;  nämlich  auf  solche  Gegensätze  der  Elemente,  welche  in 
die   Erscheinungen   eine   merkliche   Verschiedenheit    hineinbringen   können. 

[481]  Daher  behaupten  wir  nicht  etwa,  es  gebe  ein  Caloricum,  ein 
Electricum,  und  einen  die  Gravitation  bewirkenden  Stoff;  dergestalt,  dafs 
alle  Elemente,  die  zu  einer  dieser  Gattungen  gehören,  unter  sich  voll- 
kommen gleich  seyen.  Sondern  in  jeder  Gattung  können  Verschieden- 
heiten statt  finden,  wofern  nur  diese  Unterschiede  der  Qualitäten  klein 
o-enug  sind,  um  neben  den  Bestimmungen,  wodurch  die  vier  Fälle  ge- 
sondert worden,  als  unbedeutend  zu  verschwinden.* 


*  Bekanntlich  führt  das  Prisma  auf  den  Gedanken,  das  Licht  bestehe  aus  ver- 
schiedenen Farbenstrahlen;  eben  so  gut  nun,  wie  das  Licht,  kann  auch  Caloricum  und 
Electricum  zusammengesetzt  seyn.     Dafs  aber  das  Licht  einfach  wäre,    und  die  Farben 


1  tiefer  unten  die  Rede  sein  wird  SW. 


5-Abschn.  Umrisse d.Naturphil.  i.Abth.  Synth. Uuters.  4.Cap.  V.d. Bildsamkeit  etc.      277 

In  dem  vierten  Falle  nun,  wo  wir  nicht  Phänomene  der  Repulsion, 
sondern  nur  einer  vermittelten  Attraction  erwarten,  mufs  hierauf  um  so 
mehr  gemerkt  werden,  weil  die  Sphären,  welche  der  Stoff"  um  grofse  Kör- 
per bilden  soll,  desto  sicherer  gleichmäfsig  und  beharrlich  zusammen- 
hängen werden,  wenn  ihre  Elemente  vermöge  einer  Spur  von  Ungleichartig- 
keit  noch  fähig  sind,  einander  anzuziehen.  Freylich  mufs  diese  Anziehung 
nicht  so  grofs  sevn,  dafs  sie  die  Sphären  in  ihrer  Abhängigkeit  von  den 
Körpern,  welche  den  Kern  ausmachen,  stören  könnte;  aber  dagegen  spricht 
schon  die  Voraussetzung  des   vierten  Falles  an  sich  selbst. 

§•   36i. 

Die  Veränderlichkeit  der  Materie  beruhet  nun  im  Allgemeinen  darauf, 
dafs  nicht  alle  Elemente  geeignet  sind,  starre  Körper  zu  bilden.  Gäbe 
es  unter  ihnen  nur  starke  Gegensätze  ohne  Ungleichheit,  so  würden  [482] 
sie  leicht  in  vesten  Formen  sich  verbinden,  und  in  den  einmal  gewonne- 
nen innern  Zuständen  eben  sowohl,  als  in  ihrer  äufsern  Lage,  unwandel- 
bar verharren.  Beym  Stofse  körperlicher  Massen  wider  einander  möchten 
sie   brechen,   aber  nur  auf  mechanische  Weise. 

Hingegen  die  strahlenden  Stoffe,  und  was  ihnen  durch  schwache 
und  dennoch  wirksame  Verbindung  mit  den  Körpern  ähnlich  ist,  — 
dienen  zu  Mittelgliedern,  wodurch  ein  beständiger  Wechsel  kann  unter- 
halten werden.  Sie  liefern  hiemit  die  allgemeinsten  Bedingungen  von 
Ereignissen  höherer  Art,  die  wir  jedoch  auf  einen  engen  Kreis  begränzt 
finden  werden.  Indem  wir  diesen  Kreis  betreten,  wird  es  Anfangs  scheinen, 
als  müfsten  wir  in  die  gröfste  Verlegenheit  gerathen,  weil  man  von  uns 
fordern  kann,  dafs  wir  innerhalb  desselben  Platz  anweisen  für  eine  uner- 
mefsliche  Mannigfaltigkeit  von  Erscheinungen.  Wir  können  wenigstens  die 
Gröfse  unserer  Unwissenheit  an  den  Tag  legen,  indem  wir  zeigen,  wie 
viel  Raum  noch  offen  liegt  für  künftige  Nachforschungen;  so,  dafs  man 
nur  nöthig  haben  wird,  unsere  Principien  weiter  anzuwenden. 


Viertes    Capitel. 
Von  der  Bildsamkeit  der  Materie. 

§•  302. 

Weder  diejenigen  Körper,  welche  durch  starke,  ursprüngliche  Gegen- 
sätze ihrer  Elemente  eine  bestimmte  Configuration  besitzen,  noch  die,  von 
den  Sphären  strahlender  Stoffe  ergriffenen  und  dadurch  isolirten,  Elemente 
liegen    zu    höherer    Bildung    bereit.      Ihre    innern    [483]    und    äufsern  Zu- 


nur  in  gegenseitiger  Beziehung  aus  ihm  entstünden ;  dies  widerlegen  die  von  Brewster 
entdeckten  monochromatischen  Lampen.  Siehe  Schweiggers  Jahrbuch  der  Chemie, 
1826.  Heft  12. 


278  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

stände  sind  zu  vest  geordnet;  sie  sind  dem  allmähligen  Übergehn  aus 
einer  Lage  in  die  andre  fremd  geworden,  wenn  auch  nicht  ursprünglich 
davon  ausgeschlossen  durch  innere  Unfähigkeit.  Stetige  und  mannigfaltige 
Umwandlung  erfordert  eine  Verbindung  von  Voraussetzungen,  wodurch 
einerseits  Zugänglichkeit  der  Elemente  zu  einander,  andererseits  ein  Hinder- 
nifs  solcher  Zustände,  die  ein  für  allemal  beharren  würden,  ohne  Künsteley 
begründet  werden  könne. 

Die  Zugänglichkeit  mag  durch  jenen  strahlenden  Stoff  (§.  349  —  351) 
auf  irgend  eine  Weise  bewirkt  werden,  die  für  jetzt  nicht  weitere  Unter- 
suchung braucht,  da  wir  unten,  in  der  analytischen  Betrachtung  des  Flüs- 
sigen, hierauf  zurückkommen.  Das  schwerere  Problem  liegt  in  der  Nach- 
weisung der  Ursache,  welche  verhindert,  dafs  ein  beharrlicher  Zustand 
plötzlich  eintrete;  und  welche  doch  zuläfst,  ja  erfordert,  dafs  ein  lang- 
samer Wechsel  durch  viele  verschiedene  Stufen  fortlaufe.  Nun  haben  wir 
keinen  andern  Begriff,  der  über  die  ursprünglichen  Gegensätze  und  deren 
plötzliche  Folgen  hinausginge,  als  nur  den  des  Strebens,  welcher  der  Eido- 
lolo°ie  angehört,  und  von  der  hier  als  bekannt  vorauszusetzenden  Psycho- 
logie weiter  bearbeitet  wird.  An  diesen  Begriff  also  müssen  wir  uns 
wenden;  und  es  entsteht  alsdann  die  wahrhaft  unermefsliche  Aufgabe, 
seine  Folgen  für  die  Lehre  von  der  Materie  zu  entwickeln. 

§•   303- 

Alle  Materie  beruhet  bekanntlich  darauf,  dafs  sich  der  äufsere  Zu- 
stand richten  mufs  nach  dem  innern,  um  demselben  so  genau  als  möglich 
zu  entsprechen.  Schon  oben  (§.  348)  wurde  bemerkt,  dafs,  wenn  ein 
innerer  Zustand  gehemmt  werde,  dann  auch  die  Verbindung,  welche  durch 
ihn  bestimmt  war,  in  ihrer  Auflösung  begriffen  sey.  Die  Hemmung  eines 
innern  Zustandes  ver-[484]wandelt  diesen  Zustand  selbst  in  ein  Streben, 
sich  wiederherzustellen;  woraus  schon  die  Psychologie  mannigfaltige  innere 
Folgen  ableitete.  Offenbar  nun  kommen  äußere  Folgen  hinzu,  wenn  die 
Elemente  sich  nach  ihrem  innern  Streben  auch  äufserlich,  durch  Bewegung, 
richten  können.  Und  überdies  vervielfältigt  sich  die  Anwendung  der  aus 
der  Psychologie  bekannten  Grundsätze,  wenn  das  Streben  in  jedem  ein- 
zelnen der  mehrern  auf  einander  wirkenden  Elemente  soll  untersucht 
werden.  Endlich  hängen  wiederum  die  innern  Zustände  von  den  Be- 
wegungen    ab;    so  dafs    die  Probleme  sich    noch    mehr  verwickeln    müssen. 

Hauptsächlich  aber  kommt  hier  der  langsame  und  stetige  Fortgang 
der  psychologischen  Hemmungen  und  Reproductionen  in  Betracht.  Sobald 
etwas  Ähnliches  in  jedem  Elemente  eines  Körpers  sich  ereignet,  haben 
wir  eine  stetige  Folge  von  Übergängen  zu  erwarten,  welche  für  einen  Zu- 
schauer nur  in  den  äufsern  Formen  der  Materie  bemerkbar  werden 
können,  ohne  dafs  der  innere  Lauf  des  Ereignisses  in  seine  Beobach- 
tuno: fiele. 


•e 


§•  364. 
Man  setze,  zwey  gleichartige   Elemente  befinden  sich  in  ungleicharti- 
gen  Selbsterhaltungen,    zwischen    denen    ein  Gegensatz,    und    folglich    ein 


5.Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  i.Abth.  Synth.  Unters.  4.  Cap.  V.  d.  Bildsamkeit  etc.      270 

bestimmter  Hemmungsgrad*  vorhanden  sey.     Können   diese  beyden  Ele- 
mente in  vollkommener  Durchdringung  verharren? 

Offenbar  nicht.  Denn  jedes  repräsentirt  dem  andern  ein  drittes 
Element,  sofern  es  durch  dessen  Gegensatz  in  Selbsterhaltung  versetzt  ist. 
Also  sollte  in  dem  andern  die  nämliche  Art  von  Selbsterhaltung  entstehn. 
Dann  müfste  der  vorige  Zustand  gehemmt  werden.  Dies  geschieht  zwar 
zum  Theil;  aber  nicht  ganz,  denn  [485]  von  zwey  entgegengesetzten 
innern  Zuständen  könnte  zwar  ein  dritter,  aber  niemals  einer  vom  andern 
auf  die  Schwelle**  getrieben  werden.  Da  nun  der  vollkommenen  Durch- 
dringung ein  völliger  Umtausch  der  beyden  ungehemmten  innern  Zustände, 
nebst  gänzlicher  Hemmung  der  vorigen,  entsprechen  würde;  dieser  Um- 
tausch aber  nicht  möglich  ist,  vielmehr  ein  Gleichgewicht  (nach  den 
Regeln  der  Statik  des  Geistes)  erfolgen  mufs :  so  pafst  die  vollkommene 
Durchdringung  nicht  zum  Ganzen  der  innern  Zustände:  fände  sie  Statt, 
so  könnte  sie  nicht  bleiben;  und  entstehen  kann  sie  höchstens  als  eine 
vorübergehende  Folge  irgend  einer  Bewegung. 

§•   365- 

Man  setze  nun,  dieselben  Elemente  seyen  in  einem  höchst  unvoll- 
kommenen  Zusammen.      Werden  sie  tiefer  in   einander  eindringen  ? 

Ohne  Zweifel.  Denn  in  solcher  Lage  beginnt  jedes  in  dem  andern 
die  nämliche  Selbsterhaltung  hervorzurufen,  worin  es  sich  selbst  befindet. 
Der  allgemeine   Grund   der   Attraction   (§.    26g)   ist  demnach   vorhanden. 

Aber  wie  schreitet  nun  die  Durchdringung  fort?  Keineswegs  mit 
jener  ungebundenen  Notwendigkeit,  wie  bey  ungleichartigen  Elementen. 
Vielmehr  entsteht  im  Eindringen  eine  wachsende  Hemmungssumme  in 
jedem  der  Elemente.  Diese  mufs  zwar  sinken,  aber  dazu  gehört  Zeit. 
Während  des  Sinkens  ist  der  noch  ungehemmte  Theil  derselben,  so  weit 
er  von  dem  frühern  Zustande  herrührt,  ein  Gegengrund,  welcher  die  fer- 
nere Durchdringung  verzögert;  jedoch  nicht  gleichmäfsig.  Denn  gesetzt, 
sie  sey  zum  Stillstande  gebracht,  oder  selbst  rückgängig  gemacht:  so  kann 
sie  nach  hin-[486]länglichem  Sinken  der  Hemmungssumme  wieder  vor- 
schreiten; bis  an  die  Gränze  desjenigen  Grades  von  Durchdringung,  welcher 
dem  Gleichgewichte  der  innern  Zustände  gebührt.  Und  auch  diese  Gränze 
kann  sie  oscillirend   überschreiten. 

Das  Gesetz  für  diese  Bewegung  mufs  nicht  blofs  sehr  verwickelt, 
sondern  die  Verwickelung  selbst  mannigfaltig  verschieden  ausfallen,  je  nach- 
dem der  Hemmungsgrad  der  beyden  Selbsterhaltungen  verschieden  ist. 
Man  kann  diesen  Hemmungsgrad  sehr  klein  nehmen;  so  mufs  eine  sehr 
langsame  Bewegung  erfolgen,  deren  Abwechselungen  weit  auseinander  treten, 
und  keinesweges  schnell   vorübergehn. 

§•   366. 

Statt  eines  jener  beyden  Elemente  nehme  man  jetzt  eine  unbestimmte 
Menge;    alle    in    einerley    Selbsterhaltung    schon    begriffen.     Diese    Menge 

*  Psychologie  I.  §.  41.  u.  s.  f.     (Bd.  V  vorl.  Ausgabe.) 
**  A.  a.  O.  §.  47. 


?8o  !•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

kann  nun  entweder  das  andere  Element,  welches  wir  aus  der  vorigen  Vor- 
aussetzung unverändert  bey behalten,  umringen ;  dann  geschieht  ein  ähnliches 
Eindringen  von  mehrern  Seiten,  wie  vorhin;  nur  nicht  so  tief,  und  mehr 
aufgehalten.  Oder  die  Menge  mag  fadenförmig  zusammenhängen,  wie 
oben  (§.  342);  so  findet  die  dortige  Attraction  statt;  aber  mit  einer  Ver- 
änderung. Indem  nämlich  der  ganze  Faden  herangezogen  wird,  sind 
jederzeit  die  hintern  Elemente  tauglicher  als  die  vordem,  um  in  jenes 
andere,  in  Ansehung  seines  innern  Zustand  es  ihnen  allen  entgegengesetzte, 
Element  einzudringen;  denn  sie  haben  noch  weniger  Hemmung  gelitten. 
Es  kann  also  dahin  kommen,  dafs  während  der  Oscillationen  das  zweyte 
Element  des  Fadens  die  Stelle  des  ersten  einnimmt,  bis  es  selbst  vom 
dritten  verdrängt  wird  u.   s.   w. 

Endlich  mögen  beyde,  zuvor  angenommene  Ele-[487]mente  in  Ge- 
danken vervielfältigt  werden.  Sie  mögen  auch  beyde  die  von  ihnen  aus- 
gehende Attraction  durch  eine  Masse  verbreiten,  die  ihnen  ähnlich  ist, 
und  deren  Elemente  aus  irgend  einem  Grunde  in  gegenseitiger  Durch- 
dringung weniger  vorgeschritten  sind.  So  können  jene  beyden  Veran- 
lassung geben,  dafs  andere  Elemente  sich  heranziehn,.  ihre  Stelle  ein- 
nehmen, sie  auseinander  drängen,  aber  sich  im  Zusammenhange  mit  ihnen 
behaupten;  und  abermals  neuen  Elementen  aus  gleichem  Grunde  den  Platz 
abtreten;  dergestalt,  dafs  die  Masse  stets  wachse  und  sich  ordne;  aber 
nicht  durch  Zusatz  von  aufsen,   sondern  durch  Assimilation  von  innen. 

§•   36/. 

Man  nehme  jetzt  drey  Elemente;  wiederum  gleichartig  an  sich;  aber 
in  drey  entgegengesetzten  Selbsterhaltungen  begriffen.  Wenn  diese  zu- 
sammenkommen, so  empfängt  jedes  zwey  neue  innere  Zustände  aufser 
demjenigen,  in  welchem  es  sich  schon  befindet.  Hier  giebt  es  in  jedem 
drey  Hemmungsgrade;  und  überdies  zwey  wachsende  Intensitäten  der 
neuen  innern  Zustände.  Aus  der  Psychologie  erinnern  wir  uns  hier  der 
Schwellen,  worauf  so  leicht  von  drey  innern  Zuständen  einer  gebracht 
werden  kann;  desgleichen  der  Geschwindigkeit,  womit  das  Sinken  zur 
Schwelle  geschieht;  also  auch  des  heftigem  Gegenstrebens,  welches  in 
unserm  Falle  eine  stärkere  Zurückstofsung,  und  eine  lebhaftere  Oscillation 
zur  Folge  haben  mufs.  Besonders  aber  erwähnen  wir  hier  der  grofsen 
Mannigfaltigkeit,  welche  in  diese  Voraussetzung  kann  gelegt  werden,  je 
nachdem  man  sich  andere  Hemmungsgrade,  und  andere  Intensitäten  der 
Selbsterhaltungen  denkt. 

Wir  könnten  übergehn  zu  vier  und  mehr  verschiedenen  Selbsterhal- 
tungen, wobey  die  Menge  der  mögli-]488]chen  Fälle  schon  ins  Ungeheure 
anwächst,  ohne  dafs  wir  noch  die  Annahme  gleichartiger  Elemente  ver- 
lassen haben.  Wenn  allen  Fällen  eine  eigne  Art  der  Assimilation  ent- 
spricht :  so  giebt  es  eben  so  viele  Formen  des  Wachsthums  für  die 
Materie. 

Wenn  aber  in  einigen  Elementen  die  innern  Zustände,  welche  sie 
mitbringen,  um  die  Assimilation  zu  bestimmen,  durch  etwas  Hinzu- 
kommendes   auf   die    Schwelle    gebracht   werden :    so   ist    eine    Bedingung 


5-Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  i.Abth.  Synth.  Unters.  4.Cap  V.d.  Bildsamkeit  etc.    28  I 

solcher  Assimilation  aufgehoben;  und  die  ihr  entsprechende  Form  des 
Wachsthums  unmöglich  gemacht.  Mit  andern  Worten,  das  Wachsende  ist 
getödtct.  Die  Annäherung  zum  Tode,  wenn  auch  nur  in  einer  vorüber- 
gehenden Oscillation,  und  vielleicht  nur  in  einem  Theile  des  Ganzen, 
werden  wir  Krankheit  nennen  dürfen. 

§•   368. 

Befinden  sich  mehrere  ungleichartige  Elemente  in  der  wachsenden 
Materie:  so  entsteht  daraus  die  Gefahr,  dafs  sich  dieselben  nach  ihrer 
ursprünglichen  Eigenthümlichkeit  paarweise  verbinden,  und  ein  beharrliches 
Ganzes  für  sich  allein  ausmachen. 

Die  Gefahr  fällt  jedoch  weg,  wenn  die  Elemente  schon  als  Verbundene 
in  die  Mischung  eingingen,  und  nun  als  ein  Ganzes  neue  innere  Zustände 
annehmen,  wodurch  ihre  gegenseitigen  Selbsterhaltungen  wenig  oder  gar 
nicht  gehemmt  werden.  Dies  wird  um  desto  wichtiger  seyn,  je  gröfser 
zwischen  zweyerley  Elementen  der  ursprüngliche  Gegensatz,  und  je  weniger 
es  zu  vermeiden  ist,   dafs  sie  dem  gemäfs   sich   vereinigen. 

Zugleich  aber  zeigt  sich  hier,  weshalb  wir  von  gleichartigen  Elementen 
in  ungleichen  Zuständen  die  Betrachtung  anfangen  mufsten;  und  man  wird 
vorzugsweise  diesen  Gesichtspunct  vesthalten,  um  die  bildsame  Materie  von 
der  rohen  zu  unterscheiden. 

[489]  Man  könnte  fragen,  ob  nicht  jede  Art  von  Elementen  für  sich 
allein  auf  besondere  Weise  eines  Wachsthums  fähig  sey?  Vielleicht  ist 
die  zureichende  Antwort  diese,  dafs  die  Gegensätze  der  Selbsterhaltungen 
zu  bald  ins  Gleichgewicht  kommen  würden,  wenn  nicht  solche  Elemente, 
von  denen  sie  veranlafst  worden,  in  der  Nähe  wären,  um  sie  zu  erneuern. 
So  viel  aber  leuchtet  ein,  dafs,  wo  mehrerley  Elemente,  da  auch  mehrere 
Systeme  des  Wachsthums  sich  gegenseitig  modificiren  müssen.  Und  wenn 
eine  Art  von  Elementen  ein  Übergewicht  bekommt,  so  mufs  die  Ver- 
bindung jener  Systeme  hiedurch  eine  besondere  Eigenthümlichkeit  erlangen. 
Es  dürfte  nöthig  seyn,  sich  hieran  zu  erinnern,  wenn  man  in  der  Erfahrung 
wahrnimmt,  dafs  ein  Organismus  sich  in  verschiedene  Organe  gleichsam 
theilt,  deren  jedes  ein  besonderes  Geschafft  übernimmt.  Zwar  hat  er  sich 
hier  nicht  in  so  viele  Systeme  zerlegt,  als  wie  viele  Urstoffe  er  enthält, 
sondern  die  letztern  sind  in  jedem  Organe  gemischt;  aber  eine  Ungleichheit 
des  Mischungsverhältnisses  konnte  dennoch  ungleiche  Arten  zu  leben,  zu 
wachsen   und  zu  wirken,   herbey führen. 

§•    369- 

Jeder  Körper  hat  eine  Oberfläche;  aber  für  die,  welche  von  innen 
heraus  wachsen,  entsteht  hiedurch  ein  besonderer  Unterschied  des  Innern 
und  Äufseren.  Denn  die  Theile  an  der  Oberfläche  sind  den  unmittelbaren 
Einwirkungen  der  Umgebung  ausgesetzt;  die  inneren  Zustände  ihrer  Elemente 
müssen  daher  fremdartige  Bestimmungen  aufnehmen,  für  welche  irgend 
ein   Äquivalent  nöthig  ist,  wenn  nicht    das   Ganze    soll    verändert    werden. 

Entweder  die  Elemente  an  der  Oberfläche  werden  untauglich  zum 
Ganzen;  alsdann  sondern  sie  sich  ab,  [490]  wenn  der  Grund  der  Attraction 


282  I-   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


■wegfällt,  und  äufsere  Umstände  die  Trennung  begünstigen;  vielleicht  auch 
bilden  sie  eine  Art  von  Hülle,  die  das  Ganze  mehr  umgiebt  als  ihm  an- 
gehört. Oder  ihr  inneres  Widerstreben  gegen  die  äufsere  Einwirkung  hat 
eine  andere  Folge,  die  wir  genauer  betrachten  müssen. 

Da  die  verschiedenen  Theile  der  Materie  einander  gegenseitig  die 
innern  Zustände  bestimmen,  und  zwar  um  desto  mehr,  je  näher  ihre  Lage 
der  völligen  Durchdringung  kommt:  so  hat  jede  Materie,  gegen  Abänderung 
ihrer  Zustände  durch  etwas  Fremdes,  ein  Hülfsmittel  darin,  dafs  sie  sich 
dichter  zusammenzieht.  Dies  wird  sie  gebrauchen,  wenn  ihre  Theile  be- 
weglich genug  sind,  und  wenn  die  innern  Zustände  der  Abänderung 
widerstreben*. 

Man  erblickt  hier  den  Keim  der  Irritabilität ;  aber  von  raschen  und 
wiederkehrenden  Zuckungen  der  besonders  dazu  gebauten  Muskelfasern 
ist  noch  nicht  die  Rede.  Vielmehr  gehört  hieher  das  Gerinnen  der  or- 
ganischen Flüssigkeiten. 

Genug  jedoch,  wenn  die  Theile  an  der  Oberfläche  ein  dichteres 
Gefüge  bekommen,  indem  sich  ihre  Lage  dem  innern  Streben  gemäfs  ver- 
ändert; so  wie  stets  der  äufsere  Zustand  der  Materie  dem  innern  sich 
anbequemt,   wenn  kein   Hindernifs  vorhanden   ist. 

Es  ist  aber  für  die  geforderte  Veränderung  der  gegenseitigen  Lage 
einerlev,  ob  die  äufsersten  Elemente  mehr  nach  innen,  oder  die  innern 
mehr  nach  der  Oberfläche  hin  fortrücken.  Indem  beydes  zugleich  geschieht, 
umgiebt  sich  erstlich  das  Ganze  mit  einer  Membran;  und  zweytens  wird 
diese  Membran  der  Sitz  eines  beständigen  Reizes,  vermöge  dessen  sich 
die  beweglichen  Elemente  im  Innern  dorthin  ziehn. 


[49i]  §•   370- 

Jede  Membran,  oder  überhaupt  jede  Verdichtung,  wodurch  sich  die 
gebildete  Materie  einer  Hemmung  ihrer  innern  Zustände  mehr  oder  weniger 
entzieht,  —  und  eben  so  der  Reiz,  welcher  von  ihr  nach  innen  oder 
nach  aufsen  geht,  wird  grofsentheils  abhängen  von  der  Art  des  äufsern 
Einflusses,   dem  sie  sich  entgegensetzt,   und  auf  den  sie  zurückwirkt. 

Es  läfst  sich  denken,  dafs  die  Membran  durchdringlich  sey  für  Stoffe, 
die  von  aufsen  oder  von  innen  kommen;  dann  nämlich,  wann  ihre  innern 
Zustände  wegen  der  Beschaffenheit  des  Eindringenden  nur  eine  geringe 
und  vorübergehende  Hemmung  erleiden;  so,  dafs  sie  sich  jeden  Augenblick 
nach  geschehenem  Durchgange  wieder  herstellen  kann.  In  solchem  Falle 
aber  wird  das  Eindringende  selbst  in  seinen  innern  Zuständen  verändert 
werden;  und  was  dieser  Veränderung  nicht  fähig  ist,  das  wird  auch 
nicht  den  Durchgang  erlangen,  oder  es  müfste  die  Membran  zerstören 
können. 

Jeder  Durchgang  durch  eine  Membran  von  besonderer  Art  wird 
demnach  einen  besonderen  Schritt  zu  innerer  Bildung  darstellen.  Man 
hat  nicht  nöthig,  hiebey  an  die  viel  zu  allgemeinen  und  deshalb  nichts- 
sagenden Erklärungen  aus  elektrochemischen  Kräften  zu  denken. 


ö 


*  Ausführlichere  Entwickelung  hievon  unten  im  §.  432. 


5-Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  i.Abth.  Synth.Unters.  4.  Cap.  V.d.  Bildsamkeit  etc.     283 

§•    371. 

Das  Weitere  wird  nun  vorzugsweise  darauf  ankommen,  welche  Con- 
figuration  die,  von  der  Membran  eingeschlossene  bewegliche  Materie  an- 
zunehmen strebt.  Darnach  richtet  sich  schon  der  Druck,  welchen  die 
umgebende  Membran  erleidet,  wenn  diese  auch  blofs  als  eine  Hülle  be- 
trachtet wird;  jedoch  sie  selbst  wächst,  und  trägt  ihrerseits  dazu  bey,  die 
Gestalt  des  Ganzen  zu  bestimmen.  Auch  ist  das  Streben  zur  Configuration 
[402]  veränderlich,  weil  es  hier  nicht,  wie  bey  roher  Materie,  von  den 
ersten  Gegensätzen  der  ursprünglichen  Qualitäten  allein  abhängt;  sondern 
vorzüglich  durch  die  Oscillationen   (§.   365)   bestimmt  wird. 

Ein  anderer,  sehr  wichtiger  Umstand  ist  das  umgebende  Medium. 
Entweder  das  System  der  innern  Zustände  in  jedem  Element  des  wachsenden 
Körpers  ist  dergestalt  zur  selbstständigen  Bestimmtheit  gelangt,  dafs  es  den 
neuen  Selbsterhaltungen,  die  von  der  Umgebung  veranlafst  werden  könnten, 
gröfstentheils  widerstrebt:  oder  es  ist  dafür  empfänglich  und  nachgiebig. 
Im  letztern  Falle  wird  die  Configuration  sich  nach  der  Verschiedenheit 
der  Umgebungen  einrichten  und  abändern;  im  Ganzen  aber  ist  nun  zu 
erwarten,  der  Wachsthum  werde  eine  Ausbreitung  nach  einer  oder  zwey 
Dimensionen  vorzugsweise  lieben,  um  viel  Oberfläche,  und  viel  Berührung 
mit  der  Umgebung  zu  gewinnen.  Hingegen  im  erstem  Falle  wird  die 
Materie  sich  mehr  zusammen  halten,  sich  mehr  innerlich  ausbilden;  in 
bestimmter  Form,  die  nicht  ohne  Schaden  von  der  Umgebung  könne  ver- 
ändert werden,  deren  Haupttheile  verhältnifsmäfsig  wenig  Oberfläche  im 
Vergleich  gegen  den  Inhalt  darbieten,  und  die  nur  eine  beschränkte  Ge- 
meinschaft mit  der  Aufsenwelt  zulasse. 

§•   372. 

Im  Falle  der  Nachgiebigkeit  gegen  das  Äufsere  darf  man  nicht  die 
ganze  Eigenthümlichkeit  eines  innerlich  wachsenden  Körpers  völlig  entwickelt 
zu  sehn  erwarten.  Er  wird  einer  grofsen  Summe  beständig  auf  ihn  wirkender 
Reize  unterworfen  seyn;  eben  dadurch  aber  an  Empfänglichkeit  dafür  so 
sehr  verlieren,  *  dals  in  bestimmten  Augenblicken  wenig  oder  nichts  von  Ver- 
än-[493]derungen  durch  neue  Reize  zu  spüren  ist.  Das  Ansehen  eines 
solchen  Körpers  wird  immer  noch  das  eines  todten  und  starren  seyn; 
und  nur  wenn  man  ihn  nach  längerer  Frist  wieder  beobachtet,  mag  er 
eine  neue  Gestalt  zeigen. 

Hingegen  bey  Körpern,  die  gegen  die  Angriffe  der  Aufsenwelt  ge- 
schützt sind,  und  dieselbe  nur  bedingungsweise  zulassen,  kann  man  erwarten, 
deutlicher  jene   Irritabilität  (§.   369)   hervortreten   zu  sehn. 

Ihrem  Begriffe  nach  ist  aber  die  Irritabilität  dem  des  Wachsens  (§.  366) 
entgegengesetzt.  Im  Wachsen  sollen  die  schon  verbundenen  Theile  etwas 
Neues  (jedoch  in  Hinsicht  der  ursprünglichen  Qualität  Gleichartiges) 
zwischen  sich  aufnehmen;  und  dies  soll  deswegen  geschehn,  weil  die 
frühere  Verbindung,  eben  indem  sie  fortschreitet,  an  zunehmender  Hemmung 
schon  vorhandener  innerer  Zustände  ein  Hindernifs  findet;  während  das 
eintretende  Neue  die  nämliche  Hemmung  noch  nicht   in   gleichem  Grade 


:  Vergl.  Psychologie  I,  §.  94.    (Bd.  V  vorl.  Ausgabe). 


284  *■    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfangen  etc.     1829. 

erfährt,  und  eben  deswegen  für  den  Augenblick  geschickter  ist  als  das 
Alte,  um  dessen  Stelle  einzunehmen.  Die  Irritabilität  soll  gerade  umgekehrt 
sich  darin  offenbaren,  dafs  die  Elemente  sich  inniger  durchdringen;  und 
der  Grund  soll  darin  liegen,  dafs  ein  Frei?ides  eine  Hemmung  hervorbringt, 
welcher  innerlich  widerstrebend  die  Elemente  diejenige  Lage  annehmen, 
worin  sie  sich  gegenseitig  ihre  innern  Zustände  erhöhn.  Also  ist  jede 
Zusammenziehung    auf  äulsere  Reize    eine    Unterbrechung    des    Wachsens. 

§•  373- 

Hieran  knüpfen  sich  zunächst  zwey   Betrachtungen. 

Erstlich:  man  wird  sich  nicht  wundern,  wenn  man  die  Irritabilität 
in  gewissen  Theilen  unmerklich  findet,  auf  denen  das  Wachsen  zunächst 
beruhet,  sofern  es  von  der  Assimilation  des  Neuen  abhängt. 

[494]  Zweytens:  es  ist  zu  erwarten,  dafs  Perioden  eintreten  müssen, 
in  welchen  die  andern  Theile,  worin  sich  die  Irritabilität  vorzugsweise 
zeigt,  nun  auch  ihrerseits  wachsen,  also  eben  deswegen  minder  geschickt 
sind,  auf  Reize  durch  Zusammenziehung  zu  antworten.  Wir  wollen  es 
wagen,  solche  Perioden  durch  den  bekannten  Namen  des  Schlafs,  im 
Gegensatze  des  Wachens,  zu  benennen.  Diejenigen  Körper  aber  werden 
nicht  eigentlich   schlafen,   welche  der  merklichem   Irritabilität  entbehren. 

Giebt  es  hievon  Ausnahmen ,  so  mufs  man  diese  einer  besondern 
Kunst  zuschreiben,  durch  welche  die  Möglichkeit  des  Wachsens  von  ge- 
wissen Seiten  her  fortdauert,  während  in  andern  Richtungen  die  Zusammen- 
ziehungen dennoch  regelmäfsig  fortdauern.  Eine  solche  Kunst  behält  immer 
ihre  Geheimnisse. 

§•   374- 

Nach  der  ersten  der  vorstehenden  Bemerkungen  können  wir  ein 
System  unterscheiden,  worin  die  Assimilation  oder  Reproduction  vorherrscht, 
und  ein  anderes,  welches  der  Irritabilität  dient. 

Aber  die  Energie,  womit  beyde  Systeme  wirken  können,  beruhet  nach 
allem  bisherigen  gänzlich  auf  den  innern  Zuständen  der  Elemente.  Es 
ist  zu  vermuthen,  dafs  hierin  durch  unvermeidliche  Einwirkungen  von  aufsen, 
durch  Aufnahme  des  Neuen,  ja  selbst  durch  den  Fortgang  der  innern 
Bewegungen  grofse  Veränderungen  vorgehn,  und  dafs  sehr  bald  die  ver- 
schiedenen Theile  eines  gröfsern  Ganzen  nicht  mehr  zur  Fortdauer  ihres- 
vorigen  Zusammenbestehns  geschickt  sevn  werden :  wofern  nicht  ein  drittes 
System  vorhanden  ist,  welches  dient,  die  innern  Zustände  aller  Theile l 
auf  einander  in  so  weit  zu  übertragen,  dafs  ihre  vorige  Gemeinschaft  fort- 
dauert. 

[495]  Giebt  es  ein  solches  System,  so  werden  wir  ihm  die  Sensibilität 
vorzugsweise  zueignen. 

Die  Möglichkeit  der  Sensibilität  im  Allgemeinen  ist  kein  RäthseL 
Alle  Materie  ohne  Ausnahme  besteht  nur  durch  ihre  innern  Zustände; 
den  rohen  Erfahrungsbegriff  derselben,  nach  welchem  sie  eine  blofs  räum- 
liche Masse  seyn  sollte,    haben   wir   längst   als   schlechthin   ungereimt  ver- 

1  innern  Zustände  aller  auf  .  .  SW  („Theile"  fehlt). 


5.Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  i.Abth.  Synth.Unters.  4.  Cap.  V.  d.  Bildsamkeit  etc.     285 

worfen.  Die  innern  Zustände  jedes  Elements  aber  hängen  ab  von  den 
andern,  mit  welchen  es  unmittelbar  (§.  334), 1  oder  mittelbar  (§.  344)  zu- 
sammen ist.  Daher  könnte  man  sich  eher  über  solche  Fälle  wundern,  in 
welchen  die  Sensibilität  nicht  deutlich  hervortrit,  als  über  andre,  in  denen 
sie  sich  verräth.  Man  wird  sie  betrachten  müssen  als  etwas,  das  längst 
vorhanden,  aber  gehindert  war ;  und  es  kommt  darauf  an,  die  Hindernisse, 
nebst  der  Möglichkeit  ihrer   Entfernung,   zu  überlegen. 

§•  375- 

Zuvorderst  ist  klar,  dafs  in  roher  und  starrer  Materie  die  Elemente 
ein  für  allemal  empfinden ;  indem  sie  sich  in  ihre  rechte  Lage  begeben. 
Diejenige  Selbsterhaltung,  welche  ihrem  Zusammen  mit  andern  Elementen 
entspricht,  bleibt  die  herrschende,  neben  welcher  andre  nicht  aufkommen; 
bis  die  Materie  aufgelöset  oder  sonst  verändert  wird ;  in  welchem  Falle 
eine  andre  Selbsterhaltung  eintrit,  die  nun  vorherrschend  bleibt. 

Weiter  sieht  man  leicht,  dafs  auch  ein  gleichförmiges  Geschafft  der 
Assimilation,  sofern  es  gut  von  Statten  geht,  einen  nahe  gleichförmigen, 
oder  doch  in  einem  eng  bagränzten  Kreise  wiederkehrenden  Zustand  der 
Empfindung  begründen  wird;  nachdem  an  der  ersten  Pforte  (der  allerdings 
eine  eigentümliche  Sensibilität  entspricht)  die  Nahrungsmittel  schon  einen 
Theil  ihrer  fremdartigen  Beschaffenheit  abgelegt  haben. 

[496]  Ferner  ist  die  Irritabilität  nicht  minder  der  Sensibilität,  als 
dem  Wachsen,  entgegengesetzt.  Denn  indem  durch  Zusammenziehung  sich 
die  Elemente  der  Hemmung,  und  der  Abänderung  ihrer  Zustände  ent- 
ziehn,  können  sie  unmöglich  eben  der  nämlichen  Abänderung,  welcher  sie 
entgehn,   unterworfen  bleiben. 

Nur  da  kann  die  Sensibilität  für  mannigfaltige  Eindrücke  hervortreten, 
wo  erstlich  keine  vorherrschende  Selbsterhaltung  der  Elemente,  zweytens 
keine  Gleichförmigkeit  der  Affection,  drittens  kein  Mittel  vorhanden  ist, 
durch  Veränderung  der  Lage,   der  Empfindung  zu  entgehn. 

Dann  aber,  und  insofern,  als  sich  die  Systeme  der  Reproduction  und 
der  Irritabilität  abgesondert  haben,  wird  die  Sensibilität  als  Rest  des  ur- 
sprünglich Vorhandenen  nunmehr  deutlicher  werden. 

§•   3  76. 

Etwas  anderes,  als  die  Sensibilität,  welche  übrig  bleibt,  nachdem  die 
Hindernisse  entfernt  wurden,  ist  die  höher  gebildete,  und  gleichsam  in 
Kunstfächer  getheilte  Empfänglichkeit  für  besondere  Classen  von  Eindrücken. 
Allein  statt  des  fruchtlosen  Versuchs,  in  diese  Kunstsphäre  einzudringen, 
wollen  wir  eine  allgemeinere  Betrachtung  diesem  ganzen  Capitel  hinzufügen. 

Niemand  kann  wissen,  wie  weit  die  Analogie  mit  den  psychologisch 
bekannten  Vorstellungsreihen  in  der  Seele  reichen  möge  in  ihrer  Anwendung 
auf  die  Elemente  gebildeter  Materie.  So  viel  aber  ist  gewifs,  dafs  die 
einfacheren  Gesetze  der  geistigen  Reproduction,  auf  welchen  ursprünglich 
Gedächtnifs  und  Phantasie  beruhen,  sich  allenthalben  wiederfinden  müssen, 


1  (§•  234)  O. 


286  I«   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

wo  irgend  etwas  von  den  Bedingungen  zutrifft,  unter  welchen  wir  bestimmte 
und  geordnete  Verknüpfungen  der  Empfindung  erzeugen.  Mag  es  daher 
immerhin  eine  Hyperbel  [457]  seyn,  wenn  wir  sagen:  jedes  Element  der 
gebildeten  Materie  erinnere  sich  seiner  frühem  Geschichte,  und  suche  sie 
von  neuem  sich  zu  wiederholen,  —  dennoch  können  wir  keinen  kürzern 
und   passendem  Ausdruck  finden  für  das,  was  wir  sagen  wollen. 

Frühere  Vegetation  läfst  Vegetationskraft  zurück,  welche  in  dem 
Thiere  die  Pflanze  wiederholt.  Und  frühere  Empfindung  verstärkt  den 
Reiz,  den  neue  Gelegenheiten  herbey führen.  Darum  bauen  sich  höhere 
Bildungen  auf  niedere;  jedoch  nicht  zufällig;  sonst  würde  das  Verzerrte 
und  Entstellte  sich  ungleich  häufiger  finden  als  das  Zweckmäfsige. 

§•   377- 

Sollte  die  synthetische  Naturbetrachtung  genauer  ausgeführt  werden; 
so  würde  ihr  nicht  minder,  als  dem  synthetischen  Theile  der  Psychologie, 
die   Mathematik  zu   Hülfe  kommen  müssen. 

Dafs  dies  geschehen  könne:  ist  klar  genug.  Durch  die  nothwendige 
Fiction,  von  welcher  die  ganze  Untersuchung  über  Materie  als  Erscheinung 
ausgeht,  nämlich:  ihre  Elemente  seyen  Kügelchen,  und  von  dem  Grade 
ihres  unvollkommenen  Zusammen  hänge  sowohl  Attraction  als  Repulsion 
ab,  dergestalt,  dafs  dieser  Grad  sich  durch  den  Unterschied  durchdrungener 
und  nicht  durchdrungener  Theile  der  Kügelchen  darstellen  lasse:  —  durch 
diese  Fiction  ist  Alles  auf  einmal  der  Geometrie  und  der  Rechnung 
unterworfen. 

Allein  wir  würden  eine  grofse  Thorheit  begehn,  wenn  wir  uns  hierauf  ein- 
lassen wollten.  Naturwissenschaft  ist  längst  in  den  Händen  der  Mathematiker. 
Anders  verhielt  sichs  mit  der  Psychologie,  die  unsrer  Hülfe  bedurfte,  weil 
es  in  Hinsicht  ihrer  sogar  an  dem  ersten  Begriffe  ihrer  Zugänglichkeit  für 
die  Rechnung  fehlte.  Was  wir  dort  unternehmen  mufsten,  das  wird  hier 
so-[4g8]gleich  von  geschickten  Meistern  unternommen  werden,  sobald  man 
es  der  Mühe  werth,  oder  vielmehr  der  Würde  der  Wissenschaft  einzig 
angemessen  erachten  wird,  der  schmähligen  Ausflucht,  als  brauche  man 
sich  um  die  Streitigkeiten  der  Metaphysiker  nicht  zu  kümmern,  ein  für 
allemal  zu  entsagen. 


5.  Abschn.Umnssed.  Naturphil.  2.Abth.  Analyt.  Unters.  i.Cap.  V.d.  Mittheilung  etc.      287 

Zweyte  Abtheilung. 
Analytische  Untersuchungen. 


Erstes   Capitel. 
Von  der  Mittheilung  der  Bewegung. 

§•  378. 

Mechanik,  Chemie,  Physik,  Physiologie  der  Pflanzen  und  der  Thiere,. 
das  sind  die  Wissenschaften,  welche  nun  gemäfs  ihrem  heutigen  Stand- 
puncte  mit  dem  Vorigen  sollten  verglichen  werden.  Nicht  um  sie  der 
Metaphysik,  als  einer  Herrschaft,  zu  unterwerfen;  das  hiefse  vielmehr  den 
analytischen  Theil  der  Naturlehre  gänzlich  seines  eigenthümlichen  Cha- 
rakters berauben.  Sondern  weil  erst  aus  der  Verbindung  der  Analysis  mit 
der  Synthesis  ein  möglichst  sicheres  Wissen  hervorgehn  kann,  worin  jede 
der  andern   zur  Probe  und   Erläuterung  dienen  mufs. 

Hier  könnte  nun  das  heutige  Zeitalter  seine  eigenthümliche  Stellung, 
an  den  Tag  legen,  indem  es  den  Grad  und  die  Ausbildung  seines  er- 
fahrungsmäfsigen  Wissens  gelten  machte,  während  eigentliche  Metaphy- 
[499]sik  allenfalls  das  Werk  früherer  Zeiten  hätte  seyn  können.  Aber  es 
ist  zu  besorgen,  dafs,  wie  die  Vorzeit  hinter  ihren  möglichen  Leistungen 
zurückgeblieben  ist,  so  auch  die  Gegenwart  das,  was  sie  thun  sollte,  der 
Zukunft  anheimstellen  wird.  Wie  die  Sachen  stehen,  kann  wenigstens- 
Niemand  verlangen,  der  Metaphysiker  solle  alle  zuvor  genannten  Wissen- 
schaften, die  sich  weit  getrennt  haben,  umfassen;  während  es  sich  der 
Mechaniker  nicht  übel  nimmt,  unwissend  zu  seyn  in  der  Physiologie,  und 
so  rückwärts.  Wenn  wir  nun  gleichwohl  die  sämmtlichen  vorgenannten 
Wissenschaften  berühren,  so  geschieht  es  nicht  mit  der  Anmaafsung,  die 
Natur  vollständig  zu  erklären ;  sondern  wir  werden  froh  seyn,  wenn  wir 
jeder  von  ihnen  Etwas  abgewinnen  können,  das  uns  die  Richtigkeit  der 
vorhergehenden  Untersuchungen  bestätige;  und  in  dieser  ganzen  Sphäre,. 
nach  der  Weise  der  alten  Akademiker,  nur  das  Wahrscheinliche  zu. 
erreichen  suchen. 

§•  379- 

Unter  den  vorgenannten  Wissenschaften  ist  offenbar  die  Chemie,, 
welche  nach  den  Elementen  der  Materie  sucht,  auch  ganz  natürlich  die- 
jenige, womit  wir  die  Vergleichung  beginnen  könnten,  wenn  sie  ein  mög- 
lichst vortheilhaftes  Licht  auf  unsere  Untersuchung  werfen  sollte.  Dafs- 
sich  das  Entgegengesetzte  verbindet  und  verdichtet,  dafs  es  in  der  Ver- 
dichtung bestimmte  Gestalten  annimmt,  dies  lehrt  die  Chemie  in  den  ein- 
zelnen Fällen,  so  wie  wir  es  im  Allgemeinen  gelehrt  haben.  Aber  die 
Chemie  weifs  nicht,  ob  sie  die  letzten  Bestandtheile  wirklich  gefunden  hat; 
sie  weifs  nicht  einmal,  ob  sich  die  Elemente  durchdringen  oder  nur  mit 
geheimen  Kräften  anziehen.     Sie  denkt  sich  ihre  Muleculen  oder  Atomen 


288  !•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den   Anfängen  etc.     1829. 

immer  noch  als  Körperchen,  und  [500]  ist  von  den  gemeinen  Erfahrungs- 
begriffen des  Mechanikers  keineswegs  losgekommen. 

Indem  wir  nun  Leser  voraussetzen,  denen  die  Übereinstimmung  der 
chemischen  Thatsachen  mit  unserer  Lehre  längst  auffallen  mufste,  und  die 
darüber  gar  keiner  Nachweisung  bedürfen:  wenden  wir  uns  lieber  gleich 
gegen  die  falschen  Begriffe,  wodurch  die  Chemie  verdunkelt  wird;  diese 
aber  müssen  wir  zuerst  in  der  Mechanik  aufsuchen,  denn  sie  haben  ihren 
Sitz  in  dem  Vorurtheil  von  der  Undurchdringlichkeit,  die  sich  zeigen  soll, 
wenn  körperliche  Massen  wider  einander  stofsen. 

Jedoch  müssen  wir  für  jetzt  den  Satz:  alle  Körper  sind  schwer,  gänz- 
lich bey  Seite  setzen.  Die  körperliche  Masse  läfst  sich  recht  gut  blofs 
als  träge  betrachten;  die  Mechaniker  sind  hieran  gewohnt,  und  wir  haben 
nicht  nöthig,  erst  zu  zeigen,  dafs  die  Schwere  ein  ganz  zufälliges  Merkmal 
im  Begriffe  des  Körpers  ist. 

§•   080. 

Vertheilung  der  Bewegung  in  die  Masse,  dies  ist  der  Umstand,  wel- 
cher die  Materie  als  träge  erscheinen  läfst.  Denn  wo  die  kleinere  Masse 
gegen  die  gröfsere  anstöfst,  da  wird  sie  aufgehalten,  weil  ihre  Bewegung 
geringer,  oder  gar  entgegengesetzt,  ausfallen  mufs,  nach  den  Regeln  des 
Stofses  für  harte  und  für  elastische  Körper. 

Es  ist  nun  hierin  von  jeher,  seitdem  die  Gesetze  des  Stofses  gefunden 
wurden,  Manches  unbegreiflich  erschienen.  Zwar  ist  nichts  leichter,  als 
einzusehn,  dafs  von  zwey  vollkotninen  harten  Körpern  der  vordere  lang- 
samere erst  so  viel  Geschwindigkeit  zum  ive?iigsten  annehmen  mufs,  bis  er 
dem  andern  nicht  mehr  im  Wege  steht,  wofern  nämlich  dieser  sich  weiter 
bewegen  soll.  Es  ist  auch  klar,  dafs  im  Falle  des  geraden  An-[50i] 
stofses  an  eine  absolut  harte  und  absolut  unbewegliche  Wand  ein  absolut 
harter  Körper  nicht  allmählig,  und  nach  stetigen  Übergängen  aus  Bewegung 
in  Ruhe,  sondern  plötzlich,  ganz  stille  stehen  mufs,  indem  die  zunächst 
an  die  Wand  anstofsenden  Theile  nicht  im  mindesten  weiter  können,  und 
von  ihnen  wiederum  die  nächsten  Theile  des  Körpers  aufgehalten  werden, 
welches  durch  alle  der  Wand  parallele  Schichten  des  Körpers  bis  zur 
letzten  so  fort  geht.    Aber  sind  die  vorausgesetzten  Begriffe  auch  haltbar? 

Eine  merkwürdige  Stelle  hierüber  findet  sich  in  Kästners  höherer 
Mechanik.  „Der  Widerspruch  zwischen  dem  Gesetze  der  Stetigkeit,  und 
vollkommen  harten  Körpern,  den  Herr  Euler  als  einen  Beweis  der  un- 
endlichen Theilbarkeit  der  Materie  ansieht,  liefse  sich  gleichwohl  auf  eine 
Art  heben,  die  der  P.  Boscowich  angegeben  hat.  Was  wir  nämlich  einen 
Stofs  nennen,  geschieht  nicht  vermittelst  wirklicher  Berührung.  Körper,  die 
sich  einander  nähern,  wirken  in  einander  durch  anziehende  und  zurück- 
treibende Kräfte,  und  so  ändern  sich  ihre  Geschwindigkeiten  nach  dem 
Gesetze  der  Stetigkeit.  Hiebey  aber  die  Frage,  ob  dies  Gesetz  in  aller 
Schärfe  dargethan  sey?  Mir  ist  kein  stärkerer  Beweis  davon  bekannt,  als 
die  Erinnerung,  dafs  es  in  unzähligen  Fällen,  in  der  Natur  vermöge  der 
Erfahrung  für  richtig  befunden  wird.  —  Ist  es  schlechterdings  unmöglich, 
dafs  ein  Punct  seinen  Weg  plötzlich  ändert,  so  kann  kein  Punct  in  dem 
Umfange  eines  Vierecks  oder  Dreyecks  herumgehn.     Wenn  also  das  Ge- 


5.Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.   2.Abth.  Analyt.  Unters.  i.Cap.  V.d.  Mittheilung  etc.    280 

setz  der  Stetigkeit  in  der  Geometrie  so  grofse  Ausnahmen  leidet,  so  erregt 
dies  Zweifel  gegen  seine  Allgemeinheit  in  der  Mechanik.  —  Ich  will  jetzo 
nicht  fragen,  ob  man  ohne  das  Gesetz  der  Stetigkeit  begreifen  könne,  wie 
ein  folgender  Zustand  aus  dem  vorhergehenden  entsteht;  ich  will  erst 
fragen,  ob  man  [502]  es  dadurch  begreift?  In  einer  unendlichen  Reihe 
mittlerer  Geschwindigkeiten  sehe  ich  den  Grund  der. Folge  nicht.  Un- 
endlich kleine  Sprünge  sind  auch  Sprünge.  — ■  Erhellet  aus  der  Natur  der 
Sache,  dafs  nach  dem  jetzigen  Zustande  nicht  jeder  andre  ihm  nach  Ge- 
fallen folgen  könne,  sondern  ein  gewisser  betimmter  folgen  müsse,  der  sich 
von  jenem  auf  eine  Art,  die  sich  angeben  läfst,  unterscheidet:  so  möchte 
Mac-Laurin  wohl  recht  haben,  wenn  er  sagt,  das  Gesetz  der  Stetigkeit 
werde  ohne  zureichenden  Grund  für  allgemein  angenommen.  Aus  ihm 
zu  schliefsen,  dafs  es  keine  harten  Körper  geben  könne,  ist  man  nicht 
mehr  berechtigt,  als  daraus  zu  folgern,  dafs  es  keine  geradlinichten  Figuren 
geben  könne.  —  Unsre  ganze  Kenntnifs  der  Natur  ist  doch  nichts  weiter 
als  eine  Kenntnifs  von  Erscheinungen,  die  uns  ganz  was  anderes  darstellen 
würden,   wenn  wir  das  Wirkliche  in  ihnen  sähen." 


§•   38i. 

Wenn  man  das  sogenannte  Gesetz  der  Stetigkeit  in  seiner  Ungesetz- 
lichkeit erkennt:  so  ist  doch  damit  noch  nicht  der  Begriff  der  absolut- 
starren Körper  gerechtfertigt.  Ide,  in  seiner  Mechanik  vester  Körper, 
vermeidet  den  Begriff  der  harten  Körper  ganz;  obgleich  ihm  ohne  Zweifel 
Kästners  Mechanik  vor  Augen  lag.  Statt  der  harten  redet  er  von  un- 
elastischen Körpern,  und  bringt  nun  zwar  die  nämlichen  Resultate  heraus, 
welche  sonst  für  jene  gelten  sollen;  aber  die  Voraussetzung  ist  völlig  ver- 
ändert; er  nimmt  eine  Dauer  des  Stofses  während  einer  gewissen  Zeit, 
und  eine  veränderte  Form  der  Körper  an,  die  sich  bey  unelastischen  nicht 
wieder  herzustellen  strebe.  Er  sagt:  „Der  eine  Körper  wird  so  lange  in 
den  andern  eindringen,  bis  die  [503]  Kraft,  die  er  dazu  anwendet,  dem 
Widerstände  der  Cohäsion  des   andern  gleich  geworden   ist." 

Gerade  dieses  Eindringen  ists,  was  unter  der  Voraussetzung  harter 
Körper  nicht  vorkommen  kann;  daher  auf  den  ersten  Anschein  die  Lehre 
vom  plötzlichen  Stillstehn  zweyer  Massen,  die  einander  mit  gleichem  Quan- 
tum der  Bewegung  entgegenkommen,  oder  des  plötzlichen  Verlusts  aller 
Geschwindigkeit  beym  Anstofsen  an  eine  veste  Wand,  sich  durch  gröfsere 
Klarheit  empfiehlt. 

Bey  elastischen  Körpern  kann  jedoch  das  Eindringen  gar  nicht  um- 
gangen werden.  Und  hier  giebt  sich  wiederum  Kästner  eine  auffallende 
Mühe,  um  zu  zeigen,  „dafs  bey  Körpern,  die  nicht  gänzlich  hart  sind, 
einerley  Wirkung  ihre  Gestalt,  und  ihre  Bewegung  ändert."  Allein  er  hebt 
nicht  die  Schwierigkeit;  er  verräth  sie  nur.  Denn  sobald  die  Änderung 
der  Gestalt  von  einer  neuen  Anordnung  der  Theile  begleitet  ist,  entsteht 
die  unvermeidliche  Frage,  ob  denn  dabey  nicht  Reibung,  oder  irgend  ein 
anderes,  unbekanntes  Hindernifs  eintreten  müsse,  wodurch  Bewegung  ver- 
mindert und  verzehrt  werde  ?     Und  dies  würde  den  Hauptsatz  der  ganzen 

Herbart's  Werke.     VIII.  19 


2qo  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

Lehre  aufheben,  dafs  nämlich  die  Summe  —  oder  mit  gehöriger  Ab- 
änderung wegen  der  entgegengesetzten  Richtungen,  der  Unterschied,  der 
Producte  aus  den  Massen  in  die  Geschwindigkeiten,  vor  und  nach  dem 
Stofse  gleich  sey.  Denn  dabey  ist  darauf  gerechnet,  dafs  keine  Bewegung, 
wenn  nicht  wegen  des  Gegensatzes  der  Richtungen,  verloren  oder  ge- 
wonnen werde. 

§•  382. 

Nachdem  wir  hiemit  vorläufig  an  bekannte  Schwierigkeiten  erinnert 
haben :  ist  es  nöthig,  die  Begriffe,  auf  welche  theils  die  Erfahrung,  theils 
die  früher  dar-[504]gelegte  Untersuchung  führen  kann,  vollständiger  an- 
zugeben. 

Wir  sehen  Massen,  die  sich  in  wenigen  Puncten  berühren,  und  doch 
ihrer  Gröfse  gemäfs  bevm  Stofse  auf  einander  wirken.  Was  ist  natürlicher, 
als  die  Bewegung:  wie  ein  Fluidum  zu  betrachten,  das  durch  die  Be- 
rührungspuncte  sich  plötzlich  ergiefse,  und  alsdann  in  den  Massen  gleich- 
förmig vertheile? 

Jedermann  sieht  nun  zwar  die  Nichtigkeit  dieses  Fluidums  deutlich 
ein,  welches  selbst  wiederum  müfste  bewegt  werden.  Aber  welcher  Be- 
griff trit  nun  an  die  Stelle?  Man  denkt  sich  die  Bewegung  wie  einen 
Zustand,  in  welchen  die  Körper  gerathen,  und  den  sie  einander  mittheilen 
können.  Und  warum  denn  verhält  es  sich  bey  dieser  Mittheilung  anders, 
als  beym  Magnetismus  und  der  Elektricität  ?  Diese  wirken,  man  möchte 
sagen,  durch  Ansteckung;  der  Magnet  verliert  nichts  von  seinem  Zustande, 
indem  er  das  Eisen  in  denselben  versetzt. 

Oben,  in  der  Synechologie,  haben  wir  gezeigt,  dafs  die  Bewegung 
auch  nicht  als  Zustand  des  Realen,  sondern  lediglich  als  ein  objectiver 
Schein,  oder  bevm  unvollkommnen  Zusammen  als  eine  veränderte  Be- 
stimmung desselben,  gemäfs  den  innern  Zuständen,  könne  gedacht 
werden. 

Was  nun  den  objectiven  Schein  anlangt,  so  bleibt  dieser  im  Wesent- 
lichen gleich,  ob  sich  dichtere  oder  dünnere  Massen  einander  vorüber  be- 
wegen :  und  aus  der  blofsen  Form  seiner  Auffassung  würde  der  Zuschauer 
nimmermehr  die  Gesetze  des  Stofses  errathen.  Sieht  er  die  bewegte  Masse 
an  die  ruhende  stofsen,  so  kann  er  eins  von  bevden  erwarten:  entweder, 
die  bewegte  werde  ihre  Geschwindigkeit  behalten,  folglich  die  ruhende  ihr 
eben  so  schnell,  wie  jene  ankommt,  voran  gehn  müssen;  oder,  die  ruhende 
werde,  weil  sie  [505]  ruht,  jede  weitere  Bewegung  der  andern  unmöglich 
machen,  demnach  sie  plötzlich  zum  Stillstande  bringen.  Sucht  er  zwischen 
beyden  ein  mittleres,  so  wird  er  etwa  die  Unterschiede  des  Volumens  zur 
Richtschnur  nehmen;  wie  es  im  Grunde  auch  diejenigen  thun,  die  sich 
vorstellen,  die  Dichtigkeit  der  Materie  hinge  ab  vom  Mangel  der  Poro- 
sität; denn  sie  rechnen  das  Volumen  der  Poren  ab  vom  erfüllten 
Räume. 

Gehen  wir  aber  auf  unsre  erste  Lehre  vom  gänzlich  vollkommenen 
Zusammen  zurück:  so  fragt  man  uns  vielleicht  gar,  warum  denn  nicht 
ein  Körper  gerade  durch  den  Raum  des  andern  hindurch  seinen  Weg 
fortsetze,   als  ob  ihm  kein   Hindernifs  aufgestofsen   wäre? 


5.Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  2.Abth.  Analyt. Unters,  i.  Cap.  V. d.Mittheilungetc.    2QI 

§•    383- 
Sollen  wir  endlich  den  Grund  aller  Täuschungen  über  die  Mittheilung 
der  Bewegung  aufdecken,   so  ist  es  folgender: 

Bey  der  Bewegung  scheint  die  Qualität  des  Bewegten  gar  nicht  in 
Betracht  zu  kommen.  Dieses  nun  ist  nur  richtig  bey  der  unabhängigen 
Bewegung,  die  auch  ursprünglich  seyn  kann  (§.  297);  aber  es  fällt  weg 
bey  jeder  Bewegung,  die  einem  Causalverhältnifs  unterworfen  ist.  Wenn 
zwey  Massen  einander  stofsen,  so  ist  das  Innere  derselben  nicht  gleich- 
gültig, sondern  es  liegt  in  ihm  der  bestimmende  Grund,  weshalb  die  Be- 
wegung nach  solchen  oder  andern  Gesetzen  sich  mittheilt.  Härtere, 
weichere,  biegsamere,  zähere,  mehr  oder  weniger  flüssige  Körper,  machen 
hier  Unterschiede,  auf  welche  in  den  Abstractionen  der  Mathematiker,  die 
nur  von  vollkommen  harten,  elastischen,  oder  flüssigen  Körpern  zu  reden 
pflegen,  nicht  Rücksicht  genommnn  wird.  Von  Flüssigkeiten  weifs  man, 
dafs  sie  den  empfangenen  Druck  auch  seitwärts  fortpflanzen;  an  jedem 
Haufen  Sandes  oder  Asche  sieht  man  dasselbe.  Und  [506]  wenn  man 
bey  elastischen  Körpern  den  Seitendruck  nicht  wahrnimmt,  wo  anders 
liegt  der  Grund,   als  in  Wiederherstellung  ihrer  Figur? 

Durch  die  schon  vorhandenen,  aus  der  ursprünglichen  Qualität  her- 
rührenden, innern  Zustände,  von  welchen  nach  unserer  obigen  Lehre  der 
Zusammenhang  der  Elemente  mit  seinen  mannigfaltig  verschiedenen,  näheren 
Bestimmungen  lediglich  abhängt,  ist  zwar  die  Möglichkeit,  neue  innere 
Zustände  anzunehmen,  in  so  hohem  Grade  beschränkt,  dafs  die  eieen- 
thümliche  Natur  der  Materien,  welche  einander  im  Stofse  begegnen,  gänz- 
lich verlarvt  zu  seyn  scheint.  Und  deshalb  mufs  die  Chemie  das  Feuer 
und  mancherley  Künste  anwenden ,  wenn  sie  die  Elemente  für  einander 
wieder  gleichsam  eröffnen  will,  welches  noch  überdies  in  den  meisten 
Fällen  lange  Zeit  erfordert.  Aber  dennoch  giebt  es  ein  bekanntes,  nur 
seltener  bemerktes  Phänomen,  welches  sich  augenblicklich  ereignet,  sobald 
die  Körper  in  Berührung  treten.  Es  ist  die  Adhäsion,  von  welcher  Munke 
(im  ersten  Bande  des  neu  bearbeiteten  Gehlerschen  physikalischen  Wörter- 
buchs) sagt:  unter  die  Erscheinungen  derselben  dürfe  mit  Recht  gezählt 
werden,  dafs  die  kleinen  Partikeln  aller  Körper  sich  als  Staub  an  loth- 
rechte  Wände,  oder  unter  den  Decken  der  Zimmer  anhängen,  ohne  ver- 
möge ihres  Gewichts  herab  zu  fallen.  Das  Anhängen  ist  so  viel  stärker, 
je  kleiner  die  Theilchen  sind,  weshalb  der  feinste  Staub  sich  am  dicksten 
und  stärksten  anlegt.  —  Diese  Staubtheilchen  sind  nun  noch  lange  nicht 
einfache  Elemente;  es  sind  schon  körperliche  Massen;  und  dennoch  reichen 
sie  hin,  zu  zeigen,  was  geschehen  würde,  wenn  anstatt  der  ganzen  Massen 
die  Moleculen  der  Körper  einander  begegneten. 

Im  Stofse  der  Massen  sehen  wir  ein  Phänomen,  welches  zwischen 
der  Adhäsion  und  der  chemischen  Ein-[507]wirkung  in  der  Mitte  liegt. 
Giefst  man  Wasser  auf  Glas:  so  adhäriren  die  nächsten  Theile;  alsdann 
laufen  die  entferntem  Wassertheilchen  über  die  Wasserfläche  hinweg;  läfst 
man  aber  Wasser  Monate  lang  in  gläsernen  Gefäfsen  digeriren,  so  wird 
Glas  von  ihm  aufgelöset,  nach  Lavoisiers  Versuchen.  * 


*  Berzelius  Chemie  I,  S.   274. 

IQ5 


2Q2  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

Man  wird  nun  vielleicht  glauben,  die  Adhäsion,  welche  nach  Ver- 
schiedenheit der  Elemente  nothwendig,  und  auch  erfahrungsgemäfs,  ver- 
schieden ausfällt,  würde  die  Gesetze  der  Bewegung  durch  ihren  Einflufs, 
wenn  ein  solcher  Statt  finde,  merklich  abändern;  allein  dies  kann  nicht 
eintreten,  wie  wir  sogleich  sehn  werden. 

§•   384- 

Wann  beginnt  der  Stofs?  Gewifs  noch  nicht  dann,  wann  die  Massen 
blofs  an  einander  sind;  oder  wir  müfsten  ihnen  im  Ernste,  gleichsam  als 
Vorläufer,  jene  eingebildeten  anziehenden  und  zurücktreibenden  Kräfte 
(§.  380)  voranschicken,  gegen  welche  zu  reden  hier  nicht  mehr  nöthig  ist. 
Der  Stofs  kann  nicht  eher  beginnen,  als  in  dem  Augenblicke,  wo  ein 
Körper  dem  andern  den  Raum  schon  streitig  macht;  also  wo  jener  Druck 
eintrit,  auf  welchen  Ide  (§.  381)  sich  beruft;  das  heifst,  wann  das  Ein- 
dringen begonnen  hat. 

Der  Anfang  des  Eindringens  nun  ist  schon  ein  unvollkommnes  Zu- 
sammen, und  hiemit  ein  Causalverhältnifs ;  aber  es  ist  noch  nicht  der  Stofs, 
sondern  es  ist  Anziehung.  Denn  wenn  die  unmittelbar  in  Berührung  ge- 
tretenen Theile  der  einen  Masse  als  Staubtheilchen  frey  schwebten,  so 
würden  sie  der  andern  Masse  adhäriren. 

Die  Adhäsion  ist  ein  Anfang  der  chemischen  Wirkung:  welche  Wir- 
kung jedoch  nicht  weit  fortschreiten  [508]  kann,  weil  dadurch  die  schon 
vorhandenen  innern  Zustände,  auf  denen  die  ganze  Constitution  der  Ma- 
terien beruht,  müfsten  abgeändert  werden.  Die  neuen  Selbsterhaltungen 
der  Elemente  in  der  Adhäsion  werden  gleich  im  Entstehen  von  der,  aus 
der  Psychologie  bekannten,  Hemmung  ergriffen;  die  um  so  stärker  wird, 
weil  das  Innere  der  Massen  (nach  §.  342)   darauf  einfliefst. 

Sobald  die  Gränze  der  Adhäsion  bestimmt  ist:  ergiebt  sich  hiemit 
die  Unmöglichkeit  des  tiefern  Eindringens.  Und  jetzt  erst  machen  die 
Massen  einander  den  Raum  streitig.  Die  von  der  Adhäsion,  —  gleich- 
viel ob  mehr  oder  weniger  ■ —  ergriffenen  Theile  werden  nach  innen  ge- 
drängt. Hier  widersetzt  sich  ihnen  das  vorhandene  Gleichgewicht  der 
Attraction  und  Repulsion,  oder  die  ursprünglich  der  Materie,  als  solcher, 
eigene  Spannkraft;  denn  wir  wissen  schon,  dafs  alle  Materie  elastisch  ist 
(§.  272).  Was  nun  aus  dem  Widerstreite  werde,  das  ist  nach  den  Um- 
ständen verschieden.  Die  Körper  können  zerbrechen,  sich  biegen,  sich 
erhitzen;  der  Seitendruck  kann  sichtbar  werden;  jede  solche  Bewegung 
aber  wird  durch  ein  Causalverhältnifs  bestimmt,  welches  seinen  letzten 
Grund  im  Innern,  in  der  ursprünglichen  Qualität  der  Elemente  hat;  und 
niemals  kann  es  dabey  blofs  auf  die  Masse,  als  Masse,  ankommen. 

§•   385- 

Die  beyden  Hauptgedanken,  worauf  die  mathematische  Theorie  des 
Stofses  beruht,  sind  nun  ohne  Zweifel  ganz  richtig.  Erstlich  mufs  die 
Differenz  der  Geschwindigkeiten  ausgeglichen  werden ;  zweytens  mufs  die 
Materie,  deren  innere  Constitution  dabey  leidet,  sich  in  so  weit  wieder 
herstellen,    als   dies   nicht   schon   durch   völlige  Trennung  der   früher  ver- 


5.  Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  2.  Abth.  Analyt. Unters.  i.Cap.  V.  d.Mittheilungetc.      20\ 

bundenen,  oder  durch  Einschiebung  andrer  Theile,  unmöglich  geworden 
[509]  ist.  Aber  die  Nothwendigkeit,  dafs  die  Geschwindigkeiten  sich 
ausgleichen,  mufs  erst  entstehn;  und  sie  entsteht  nicht  plötzlich,  sondern 
allmählig,   von  einem   Theile  der  Masse  fortschreitend  zum  andern. 

Käme  nichts  auf  die  innern  Zustände  an,  —  brauchten  sie  nicht 
erst  sich  zu  bilden,  dann  sich  zu  hemmen,  so  würde  jede  Materie  den 
Raum  leer,  und  den  Weg  offen  finden,  wieviel  andere  Massen  auch  aufser 
ihr  vorhanden  wären.  So  geht  die  strahlende  Wärme  frey  durch  dieselbe 
Luft,  welche  der  Electricität  den  Raum  dergestalt  anfüllt,  dafs  sie  nur  mit 
Gewalt,  auf  einem  engen  Passe,  durchbrechen  kann.  Dies  Beyspiel  scheint 
das  stärkste  und  sprechendste  zu  seyn,  was  man  wünschen  mag. 

Körper,  welche  zusammenstofsen,  müssen  erst  einander  auf  die  Probe 
stellen,  ob,  und  in  wie  weit,  sie  für  einanander  durchdringlich  sind.  Die 
innern  Theile  jeder  Masse  haben  diese  Proben  schon  gegenseitig  gemacht. 
Auch  die  Gränze  der  Adhäsion  ist  augenblicklich  gefunden  •  daher  geht 
es  schnell  mit  der  Probe;  doch  nicht  so  schnell,  dafs  man  die  allmälige 
Fortpflanzung  der  Bewegung  in  keinem  Falle  wahrnehmen  könnte.  Be- 
kanntlich reifst  ein  Faden,  der,  von  einem  fallenden  Gewichte  gespannt, 
ein  anderes  plötzlich  in  Bewegung  setzen  soll,  welches  mit  jenem  durch 
Hülfe  einer  Rolle  oder  eines  Wagebalkens  verbunden  ist;  wenn  er  gleich 
die  Last  des  andern  recht  gut  tragen  könnte.  * 

Nach  allem  bisher  Gesagten  ist  nun  Bewegung  nicht  irgend  Etwas, 
das  mitgetheilt  würde,  und  überginge  aus  Einem  ins  Andre.  Sondern  in- 
dem die  eine  Masse  an  Geschwindigkeit  verliert,  weil  die  zuerst  anstofsen- 
den  Theile  sonst  zu  dicht  würden  auf  die  inneren  gedrängt  werden,  er- 
zeugt sich  dagegen  Geschwindigkeit  [510]  in  der  andern,  weil  auch  ihre 
Elemente  sonst  entweder  verdichtet  oder  getrennt  werden  würden.  Dies 
geht  so  fort,  bis  die  Geschwindigkeiten  aller  Theile  gleich  sind,  oder 
(wenn  der  Stofs  nicht  central  ist)  einander  durch  ihre  Bewegung  nicht 
mehr  hindern;  alsdann  folgt  Herstellung,  soweit  sie  noch  möglich  ist,  in 
Ansehung  derjenigen  Verdichtung  oder  Spannung,  welche  nicht  schon  war 
vermieden  worden.  Fragt  man,  wo  denn  die  verlorne  Geschwindigkeit 
bleibe?  oder  wo  denn  die  neu  erzeugte  herkomme?  so  erinnern  wir,  dafs 
die  Geschwindigkeit  an  sich  Nichts  ist;  dafs  alle  Gesetzmäfsigkeit  ihrer 
Erscheinung  bey  Körpern,  die  auf  einander  wirken,  nur  Ausdruck  der 
innern  Zustände  ist,  denen  die  Lage  der  Theile  entsprechen  mufs;  und 
dafs  die  Materie  überhaupt  kein  anderes  Daseyn  hat,  als  nur  in  Folge 
dieser  Nothwendigkeit. 

§•   386. 

Das  Gegenstück  des  Drucks,  welchen  die  Massen  beym  Stofse  leiden, 
ist  die  Spannung  eines  Fadens,  einer  Stange,  oder  jedes  Körpers,  der  auf 
mechanische  Weise  dem  Zerreifsen  durch  Kräfte  von  entgegengesetzter 
Richtung  ausgesetzt  wird.  Nimmt  man  absolut  harte  Körper  an,  so  müß- 
ten sie  die  gleiche  Vestigkeit,  welche  der  Verdichtung  entgegensteht,  auch 


Kästners  höhere  Mechanik,  S.  557. 


2  94  !■   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

wider  Verdünnung  und  Ausdehnung  gelten  machen,  wenn  man  nicht  den 
Begriff  des   einmal  bestimmten  Zusammenhangs  verlieren  will. 

Es  kommt  nun  hiebey  eine  andre  Art  von  scheinbarer  Mittheilung 
der  Bewegung  vor;  die  jedoch  aus  gleichem  Grunde,  wie  die  vorige,  zu 
erklären  ist,  und  derselben  mehr  Licht  geben  kann.  Der  gespannte  Faden 
hat  bekanntlich  nach  allgemeinem  Geständnifs  überall  gleiche  Spannung,  er 
sey  nun  lang  oder  kurz,  gerade  oder  gekrümmt;  wofern  er  nicht  etwa,  wie 
bey  der  Ket-[5  1  i]tenlinie,  durch  sein  eignes  Gewicht,  oder  andre  ungleich 
einwirkende  Kräfte  besondere  Bestimmungen  annimmt.  Hier  scheint  die 
Länge  des  Fadens  die  bewegende  Kraft  zu  multipliciren;  wovon  beym 
Flaschenzuge  ein  nützlicher  Gebrauch  gemacht  wird,  indem  man  durch 
öfteres  Umwinden,  mit  Hülfe  mehrerer  Rollen,  seine  Wirksamkeit  gegen 
die  Last  wiederholen  kann.  Woher  kommt  denn  nun  die  Vervielfältigung 
der  Kraft?  Es  ist  sehr  sichtbar,  dafs  sie  sich  nur  durch  die  Cohäsion  des 
Fadens  vervielfacht,  welcher  in  allen  seinen  Puncten  der  Gefahr  zu  zer- 
reifsen  ausgesetzt  wurde.  Wiederum  also  sind  es  die  innern  Zustände, 
welche  mit  der  Cohäsion  zugleich  diese  ganze  Erscheinung  von  bewegen- 
der Kraft  begründen. 

§•  387. 

In  dem  nämlichen  Zusammenhange  können  wir  noch  des  Hebels 
erwähnen.  Die  bekannte  Beweisart  in  der  Lehre  vom  statischen  Momente, 
nach  welcher  man,  von  gleichen  Gewichten  an  gleichen  Armen  des  Hebels 
ausgehend,  allmählig  durch  Substitutionen  solcher  Gewichte,  die  sich  auf- 
heben, zu  beliebigen  Längen  der  Arme  und  zu  Gewichten  von  umgekehr- 
tem Verhältnisse  fortschreitet,  —  ist  ohne  Zweifel  genügend,  wenn  man 
nur  die  Erkenntnifs  des  Resultats  sicher  stellen  will ;  aber  sie  erklärt  nicht, 
warum  und  wie  dies  Resultat  zur  Wirklichkeit  gelangt.  Denn  die  fingirten, 
successiv  am  Hebel  angebrachten  und  wieder  weggenommenen  Gewichte 
sind  nur  in  Gedanken  vorhanden.  Der  wirkliche  Hebel  ist  im  Gleich- 
gewichte ohne  diese  Fictionen. 

Als  fehlerhaft  aber  müssen  wir  den  von  Fries,  in  seiner  Naturphilo- 
sophie, gebrauchten  Beweis  betrachten.  Er  läfst  nämlich  den  Hebel  schon 
in  Bewegung  gerathen,  und  beruft  sich  nun  auf  die  Kreisbogen,  welche 
nach  Verhältnifs  der  Arme  durchlaufen  werden.  Aber  [512]  diese  Über- 
legung hat  einen  andern  Platz,  wohin  sie  gehört,  nämlich  das  Moment  det 
Trägheit;  welches  sich  bekanntlich  gerade  darum  nach  dem  Quadrate  der 
Entfernung  jeder  Masse  von  der  Umdrehungsaxe  richtet,  weil  zu  dem 
schon  vorausgesetzten  statischen  Momente  noch  die,  im  Verhältnifs  jener 
Entfernung  wachsende,  Geschwindigkeit  hinzukommt.  Woher  nun  das 
Quadrat  der  Entfernung,  wenn  das  statische  Moment  selbst  keinen  andern 
Grund  hatte,   als   eben   die  erwähnte  Geschwindigkeit  ? 

Überdies  hängt  an  dem  Hebel,  so  lange  er  ruht,  jedes  Gewicht  wie 
an  einem  vesten  Puncte.  Das  Gewicht  weifs  nichts  vom  Hebel;  es  strebt 
nur  zu  sinken. 

Aber  die  Vergleichung  mit  dem  Faden  am  Flaschenzuge  scheint  die 
Sache  aufzuklären.  Gerade  so  wie  jeder  Punct  des  Fadens,  sofern  er 
durch   seinen   materialen    Zusammenhang    im    Stande    ist    ein    Gewicht   zu 


5.  Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.   2.  Abth.  Analyt.  Unters.   2.  Cap.  Von  der  Wärme  etc.    205 

tragen,  sich  aus  der  Gefahr  des  Zerreifsens  selbst  die  Kraft  des  Tragens 
erzeugt,  —  eben  so  mufs  auch  die  unbiegsame  Linie  am  Hebel  von  Ort 
zu  Ort  den  Druck  des  Gewichts  fortpflanzen.  Ohne  diese  Fortpflanzung 
und  Erneuerung  des  Drucks,  vermöge  dessen  der  Hebel  in  jedem  Puncte 
brechen  müfste,  wenn  er  zu  schwach  wäre,  würde  kein  Gewicht  auf  das 
andre  wirken,  und  die  Gemeinschaft  beyder,  welche  in  ihrem  Gleichge- 
wichte liegt,  könnte  gar  nicht  entstehn.  Es  ist  also  geradezu  die  Summe 
der  Drückungen,  welche  mit  der  Länge  der  Hebelarme  im  Verhältnifs 
steht,  und  welche  durch  das  umgekehrte  der  Gewichte  mufs  ausgeglichen 
werden. 

Da  die  Lehre  von  der  Zerlegung  der  Kräfte  offenbar  aus  der  von 
der  Zerlegung  der  Richtungen  hervorgehn  mufs,  wovon  in  der  Synecho- 
logie  (§.  254)  gehandelt  worden;  da  ferner  die  Grundformeln  der  höhern 
Mechanik,  dx  =  vdt  und  dv  =  pdt,  von  selbst  klar  [513]  sind,  sobald 
man  nur  hinter  der  Kraft  p  kein  metaphysisches  Geheimnifs  sucht,  son- 
dern bev  dem  Begriffe  der  Intensität  augenblicklich  erzeugter  Geschwindio;- 
keit  stehen  bleibt  (über  welchen  Begriff  die  Formel  ihrer  Absicht  gemäls 
nicht  hinausgeht);  da  überdies  das  sogenannte  Princip  der  virtuellen  Ge- 
schwindigkeiten l  offenbar  kein  Princip,  sondern  gleich  dem  Pythagoräischen 
Satze  ein  sehr  fruchtbarer  Lehrsatz  ist,  welchen  die  Mathematiker  auch 
längst  bewiesen  haben,  wie  sichs  gebührte:  so  scheint  es  nicht,  dafs  wir 
Ursache  hätten,  uns  hier,  wo  es  nur  auf  Umrisse  ankommt,  länger  bey 
Gegenständen  der  mathematischen  Physik  aufzuhalten.  Wir  suchen  dem- 
nach nunmehr  die  wirkliche  Natur,  wie  sie  in  der  Erfahrung,  und  nicht 
mehr  in  Abstractionen  gegeben  ist,  genauer  ins  Auge  zu  fassen;  und 
können  wohl  kaum  irgendwo  zweckmäfsiger  anfangen,  als  bey  der  Wärme, 
welche  man  füglich  als  das  wirksamste,  wiewohl  nicht  als  das  einzige 
Mittelglied   unter  den   Naturwesen,   betrachten  kann. 


Zweytes    Capitel. 

Von  der  Wärme,  und  den  durch  sie  bestimmten  Formen 

der  Materie. 

§•  388. 

In  der  Physik  hat  von  jeher  die  Ansicht  der  Wärme,  nach  welcher 
sie  vom  wirklichen  Wärmestoff  herrührt,  das  Übergewicht  behauptet  über 
die  Meinung  von  innerer  Bewegung  oder  Gährung  der  Körper,-  und  sie 
wird  diesen  Vorzug  wohl  immer  behalten.  Wie  die  Oscillations- Theorie 
des  Lichts  an  dem  Bilde  der  Nichtigkeit,  [514]  dem  Schatten,  einen 
Gegner  findet:  so  stufst  sich  jede  Vorstellung  der  Wärme  als  einer  innern 
Bewegung  am  Schalle,  den  sie  in  vielen  Fällen  weit  eher  hervorrufen,  als 
sich  selbst  mittheilen  könnte:   wenn  es  anders  überhaupt  möglich  ist,    mit 


1  der  virtuelleD  Geschwindigkeit  SW 


2o6  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


jener   blofs    eingebildeten    innern  Aufregung   der  Körper   einen  Begriff  zu 
verbinden,  vermöge  dessen  sie  selbst  schon  Wärme  sey. 

Aber  die  Lehre  vom  Wärmestoffe  hatte  auch  ihr  Unbegreifliches; 
und   dies  ists,  was  wir  suchen  müssen  hinwegzuräumen. 

Man  nahm  den  Wärmestoff  für  eine  Maier ie,  was  er  nicht  ist;  denn 
man  kannte  nicht  den  Unterschied  zwischen  materialen  Molecule?i,  die 
allemal  schon  zusammengesetzt  sind,  und  Elementen,  welche  einfach,  aber 
eben   deshalb  an  sich  ganz  unräumlich  sind. 

Man  schrieb  femer  dem  Wärmestoffe  eine  ursprüngliche  Expansivkraft 
zu,  weil  man  die  Ungereimtheit  der  ursprünglich-bewegenden  Kräfte  über- 
haupt nicht  einsah.  Was  Wunder  nun,  dafs  man  einen  für  material  ge- 
haltenen Stoff  nicht  begreifen  konnte,  der  gerade  das  Widerspiel  aller 
Materie,  nämlich  der  Gegner  der  Cohäsion,  seyn  sollte? 

Und  dennoch  leuchtet  uns  in  dieser  Lehre  ein  Chemiker  voran, 
der  wenn  nicht  an  glücklichen  Experimenten,  so  doch  an  Scharfsinn, 
vielleicht  alle  andern  übertroffen  hat,  nämlich  Berthollet.  Er  stiefs  die 
Vorstellung,  als  ob  der  Wärmestoff  in  die  leeren  Zwischenräume  der 
Körper  gleich  dem  Wasser  in  den  Schwamm,  eindringe,  entschieden  zu- 
rück;* behauptete  die  Rechte  der  Affinität;  und  fand,  daß  nur  darum 
der  Wärmestoff  die  Temperatur  erhöhet,  weil  er  in  dem  Streben,  dem  Körper 
neue  Dimensionen  zu  geben,  auf  Hindernisse  stößt.  Dieser  [515]  wichtige 
Satz  entfernt  schon  die  Einbildung  einer  ursprünglichen  Repulsivkraft,  die 
man  als  Grund  der  erhöhten  Temperatur,  und  hiemit  der  fühlbaren  Wärme, 
würde  ansehn  wollen.  Er  deutet  hin  auf  den  wahren  Zusammenhang  der 
Sachen;  nämlich  darauf,  dafs  der  Wärmestoff  eine  andre  Configuration  der 
Materie  in  ihrem  Innern  bewirken  würde,  wenn  ihm  die  vorhandene  Con- 
stitution derselben  nicht  entgegen  wäre,  und  dafs  die  Gewalt  der  letzteren 
den  Grund  seines  Auswanderns  und  Ausstrahlens  enthält.  Hierin  ist 
freylich  die  Erklärung  der  Repulsion  noch  bey  weitem  nicht  vollständig 
gegeben;  sie  konnte  auch  auf  dem  Wege  blofser  Erfahrung  unmöglich 
gefunden  werden.  Vergleicht  man  aber  jetzt  unsre  obigen  synthetischen 
Untersuchungen  (§.  349  —  352):  so  wird  sich  bald  zeigen,  wie  Theorie 
und  Erfahrung  in  einander  greifen. 

§•  389- 

Kommt  es  zuvörderst  auf  einen  Erfahrungsbeweis  an,  dafs  die  Re- 
pulsion, wodurch  sich  die  Wärme  verräth,  nicht  ursprünglich  im  Wärme- 
stoffe als  eine  eigene  Kraft  desselben  ihren  Sitz  hat :  so  bietet  sich  hiezu 
der  Umstand  dar,  dafs  die  Wärmestrahlen,  wenn  sie  durch  ein  Brennglas 
gehn,  einander  nicht  fliehn,  sondern  gerade  in  den  Focus  hineinfahren, 
und  erst  von  dem  Körper,  den  sie  daselbst  antreffen,  nach  allen  Seiten 
gewaltsam  zerstreut  werden,  indem  er  sich  erhitzt  und  glüht.  Davy's 
Untersuchung  über  die  Flamme,  welche  stärker  leuchtet,  wenn  sich  in  ihr 
eine  veste  Materie  erzeugt,  scheint  eben  dahin  zu  gehören. 

Hat  man  sich  nun  mit  dem  Hauptgedanken  vertraut  gemacht,  dafs 
der  Grad  der  Repulsion,  welche  sich  als  Temperatur- Erhöhung  zu  erkennen 

*   Statiqiie   ch/miquc,  1.  p.  174. 


5. Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  2.  Abth.  Anatyt.  Unters.  2.  Cap.  Von  der  Wärme  etc.    207 

giebt,  nicht  von  dem  Wärmestoff  allein ,  sondern  von  dem  Körper  be- 
stimmt wird,  in  welchem  er  sich  anhäuft:  so  kann  man  sich  [516]  auch 
nicht  wundern  über  die  verschiedenen  Capacitäten.  Im  Allgemeinen  wird 
der  dichtere  Körper,  schon  weil  die  Anzahl  seiner  Elemente  gröfser  ist  im 
gegebenen  Volumen,  mehr  Puncte  besitzen,  von  denen  die  Repulsion  aus- 
geht. Er  wird,  um  mit  gleicher  Energie  die  Wärme  fortzustofsen  —  also 
auch  zu  leiten,  —  weniger  Wärmestoff  als  der  dünnere  Körper  bedürfen. 
Um  dies  mehr  ins  Licht  zu  setzen,  mag  es  dienlich  seyn,  eine 
Schwierigkeit  offen  anzuzeigen,  die  uns  gewisse  Versuche  in  den  Weg  zu 
legen  scheinen.  Nach  Böckmanns  Versuchen*  soll  es  einen  sehr  be- 
deutenden Unterschied  geben  zwischen  der  Erwärmungs-  und  Erkältungs- 
Fähigkeit  der  Körper.  Sollten  wohl  die  Versuche  richtig  ausgelegt  seyn? 
Was  heifst  denn,  ein  Körper  ist  warm?  Doch  wohl  dies:  er  offenbart 
seine  Wärme,  indem  er  sie  uns,  oder  dem  Thermometer,  mittheilt;  also, 
vermöge  des  augenblicklichen  Verlustes,  den  er  leidet.  Was  heifst  denn: 
er  wird  wärmer?  Doch  wohl  dies:  der  Grad  der  augenblicklichen  Ab- 
kühlung steigt.  Wenn  nun  seine  Erwärmung  nichts  anders  ist  als  die 
Steigerung  der  Notwendigkeit,  sich  abzukühlen,  so  ist  schwer  einzusehn, 
wie  er  mehr  Fähigkeit  haben  könne  zur  Erwärmung  als  zur  Abkühlung. 
Gesetzt,  ein  System  von  Körpern,  z.  B.  im  geheizten  Zimmer,  sey  und 
bleibe  eine  Zeitlang  gleich  warm:  so  ist  der  Drang,  die  Wärme  von  sich 
zu  lassen,  in  allen  gleich  grols;  und  aus  dem  innern  Druck  entsteht  eine 
gleich  starke  Strahlung  durch  die  Luft,  welche  den  Wärmestoff  frey  durch- 
läfst;  so  dafs  die  Auswechselung,  welche  hieraus  hervorgeht,  Abkühlung 
und  Wieder  -  Erwärmung  in  der  nämlichen  Zeit  in  sich  schliefst.  Die 
Körper  bleiben  alsdann  gleich  waim,  wie  ein  Gefäfs  mit  Wasser  stets  voll 
bleibt,  während  unten  Abflufs  [517]  und  oben  eben  so  grofser  Zuflufs 
Statt  findet.  Wie  aber,  wenn  das  Gefäfs  mehr  geneigt  wäre,  sich  zu 
füllen,  oder  mehr,  sich  zu  leeren?  Dann  könnte  es  ohne  Zweifel  nicht 
gleich  voll  bleiben.  —  Wenn  aber  verschiedene  Gefäfse  auch  verschiedene 
Gröfse  des  Abflusses  und  des,  ihm  gleichen,  Zuflusses  hätten,  dann  würden 
alle  diese  Gefäfse  voll  bleiben;  obgleich  die  Geschwindigkeit  des  Wechsels 
in  ihnen  verschieden  wäre.  So  nun  denken  wir  uns  auch  das  System 
der  Körper  von  gleichei  Temperatur  bey  ungleicher  Capacität.  Gute 
Wärmeleiter  nehmen  viel  Wärmestoff  an,  aber  nur,  um  ihn  schnell  wieder 
auszugeben;  die  Körper  von  gröfserer  Capacität  leiden  keinen  so  grofsen 
Wechsel;  während  sie  mehr  Wärmestoff  enthalten. 

§•  390. 

Jetzt  wollen  wir  versuchen,  in  wie  weit  wir  die  Gründe  der  ver- 
schiedenen Capacitäten  werden  begreifen  können.  Als  Prinzip  stellen  wir 
nach  §.  350  und  351  den  Satz  auf:  Je  dichtere  und  freyere  Sphären  der 
Wärmestoff  um  die  Elemente  eines  Körpers  bilden  kann,  desto  gröjser  ist  die 
Capacität. 

1.  Die  Dichtigkeit  hängt  ab  vom  Grade  und  der  Ungleichheit  des 
Gegensatzes,   welcher  statt   findet  zwischen  der  Qualität  des  Wärmestoffes 

*  Schmidts  Naturlehre,  §.   146. 


2g8  !•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

des  Elements.  Als  Beyspiel  eines  vorzüglich  hohen  Grades  wird  wohl 
der  Wasserstoff  gelten  können,  der  überhaupt  gröfsere  Quantitäten  andrer 
Elemente,   und  diese  sehr  wirksam,   mit  sich  zu  vereinigen  pflegt. 

2.  Die  Freyheit  der  Sphärenbildung  hängt  ab  von  der  Dichtigkeit 
des   Körpers;  und  zwar  mit  folgendem   Unterschiede: 

a)  Je  mehr  Elemente  in  einem  gegebenen  Volumen,  [518]  desto 
mehr  Vereinigungs-  und  Mittelpuncte  giebt  es,  um  welche  sich  die  Sphären 
bilden  könnten;  aber 

b)  je  dichter  die  Elemente  liegen,  desto  weniger  Freyheit  haben  die 
äußern  Sphären  (§.  350),  in  welchen  die  Repulsion  kleiner  ist,  oder  sich 
in  Anziehung  verwandelt,   sich   den  innern  Sphären  anzuschliefsen. 

Aus  dem  ersten  Grunde  sollte  bey  dichtem  Körpern  die  Capacität 
gröfser  seyn;  aber  aus  dem  zwevten  wird  sie  nicht  blofs  kleiner,  sondern 
sie  vermindert  sich  mit  der  besondern  Bestimmung,  dafs  bey  dichten 
Körpern  mehr  Wärmestoff  in  deren  Elementen,  hingegen  bey  dünneren 
weit  mehr  um   dieselben  angehäuft  wird. 

3.  Das  Vorige  wird  ohne  Zweifel  näher  bestimmt  durch  jede  be- 
sondere Configuration  der  Materie.  Je  gleichförmiger  ein  Körper  den 
Raum  ausfüllt,  desto  weniger  Freyheit  läfst  er  den  äulsern  Sphären,  und 
insofern  mufs  seine  Capacität  sich  verringern;  z.  B.  bev  gehämmerten 
Metallen. 

Dafs  nun  hieraus  sehr  zusammengesetzte  Verhältnisse  entspringen 
können,  ist  klar;  und  es  wird  wohl  noch  lange  schwierig  bleiben,  die 
Erscheinungen,  welche  hieher  gehören,  mit  Genauigkeit  zu  sondern ;  zudem 
da  bekanntlich  auch  die  Verschiedenheit  der  Oberflächen  darauf  einfliefst. 


§•  39i- 

Es  scheint  nicht  nöthig,  über  so  leicht  zu  erklärende  Gegenstände, 
wie  die  Wärme -Entbindung  bey  Verminderung  des  Volumen,  oder  die 
Erkältung  bey  plötzlicher  Vergrölersung  desselben,  noch  etwas  hinzuzufügen. 
Auch  die  Ausdehnung  aller  Körper  durch  die  Wärme  ist  im  Allgemeinen 
aus  den  aufgestellten  Grundsätzen  klar  (§.  351);  aber  dabey  kommt  ein 
merkwürdiger  Umstand  vor,  den  man  auf  den  ersten  Blick  nicht  erwarten 
würde.  Einen  starren  Körper  auszudehnen,  erfor- [5 1  ordert  ohne  Zweifel 
desto  mehr  Gewalt,  je  mehr  die  Spannung  desselben  zunimmt.  Dem 
gemäfs  sollte  der  Wärmestoff  bey  höhern  Temperaturen  mehr  Schwierigkeit 
finden,  die  Ausdehnung  noch  weiter  zu  treiben.  Das  Gegentheil  zeigt  die 
Erfahrung.  Der  schon  erhitzte  Körper  ist  nachgiebiger  im  Innern ,  und 
weniger  fähig,  nach  aufsen  hin  den  Wärmestoff  zu  treiben,  welches  letztere 
sich  durch  gröfsere  Temperatur  -  Erhöhung  bey  geringerer  Ausdehnung 
verrathen  würde.  Die  Gasarten  aber  machen  davon  eine  Ausnahme,  indem 
sie  Temperatur  und  Volumen  in  gleichen  Schritten  fortgehn  lassen.  Woher 
dieser  Unterschied? 

Die  innern  Zustände,  auf  welchen  die  Verbindung  der  Elemente  in 
den  Moleculen  beruht,  müssen  eine  Hemmung  erleiden  von  den  neuen 
Zuständen,  worein  die  nämlichen  Elemente  durch  den  Wärmestoff  versetzt 
werden;  wenn  nicht  etwan  aller  Gegensatz  fehlt  zwischen  diesen  und  jenen 


5.  Abschn.  Umrisse  d.Naturphii.   2.  Abth.  Analyt.  Unters.   2.  Cap.  Von  der  Wärme  etc.    299 

Zuständen.  Diese  Hemmung  mufs  gröfser  werden  mit  Vermehrung  des 
Wärmestoffs.  Die  P'olge  ist,  dafs  die  Verbindung  der  Elemente,  welche 
man,  mit  dem  gewohnten  Namen,  der  chemischen  Verwandtschaft  zu- 
schreibt, loser  wird.  Und  hieraus  ergiebt  sich  weiter,  dafs  der  Wärmestoff 
es  leichter  findet,  sich  jener  eigenthümlichen  Sphärenbildung  zu  nähern, 
die  ihm  zukommt;  während  die  Cohäsion,  das  Werk  der  chemischen,  oder 
innern   Zustände,   im  Abnehmen  begriffen  ist. 

Dieser  Umstand  wird  wegfallen,  wo  schon  die  Sphären  gebildet  sind, 
und  nur  noch  neue  Sphären,  als  Umhüllungen,  von  aufsen  annehmen. 
Folglich,  wenn  er  wirklich  wegfällt,  so  ist  die  starke  Vermuthung  begründet, 
hier  seyen  die  Elemente  schon  isolirt,  oder  doch  die  Moleculen,  welche 
sich  aus  ihnen  zuerst  bilden,  gesondert;  und  die  Materie  bestehe  nur  noch 
aus  den  eingehüllten  Moleculen.  Alsdann  wird  Repulsion  aller  [520] 
Theile,  welche  man  in  der  Materie  unterscheiden  kann,  die  Stelle  der  vorigen 
Attraction  oder  Cohäsion  eingenommen  haben;  weil  sich  noch  immer  Sphäre 
um  Sphäre  bilden  soll,  so  lange  es  an  freyem  Wärmestoffe  nicht  fehlt.  Und 
•dieses  nun  ist  die  bekannte  Eigenthümlichkeit  der  Gasarten   und   Dämpfe. 

Doch  vor  weiterer  Betrachtung  der  Formen,  welche  die  Körper  durch 
den  Wärmestoff  erlangen ,  müssen  zwey  wichtige  Phänomene  erwähnt 
werden,  nämlich  die  Hitze  und  das  Feuer  beym  Reiben  und  beym  Ver- 
brennen,  welche  noch  neuerlich  grofse  Schwierigkeit  gemacht  haben. 


§•  392- 

Vom  Reiben  bemerkt  Berzelius  mit  Beziehung  auf  Rumfords  Ver- 
suche, es  könne  nicht  durch  Zusammenpressung  der  Theile  so  viel  Wärme 
hergeben,  als  sich  in  der  Erfahrung  vorfindet.  Und  das  läfst  sich  wohl 
einsehen,  sofern  man  blofs  an  ähnliche  Wirkungen  denkt,  wie  jene,  wo 
•die  Compression  im  pneumatischen  Feuerzeuge  den  Wärmestoff  aus  den 
Sphären  losreifst,  die  er  bildete  um  die  einzelnen  Lufttheilchen. 

Derselbe  Chemiker  erinnert  bey  Gelegenheit  des  Sauerstoffgases,  man 
könne  nicht  die  aus  ihm  sich  entbindende  Wärme  als  das  Princip  des 
Feuers  beym  Verbrennen  ansehen,  weil  auch  dann  Feuer  entstehe,  wann 
das  Sauerstoffgas  nicht  condensirt  werde ;  daher  scheint  ihm  nichts  übrig 
zu  bleiben,  als  das  Feuer  für  eine  elekt?-ische  Erscheinung  zu  halten. 
Konnte  ein  so  grofser  Chemiker  einen  solchen    Schlufs   machen? 

Wir  haben  oben  (§.  348)  von  einer  innern  Oscillation  gesprochen, 
welche  nothwendig  unter  Elementen  Statt  finden  müsse,  wenn  sie  so  eben 
plötzlich  zu  materialen  Moleculen  zusammentreten.  Es  liegt  vor  Augen, 
dafs  alsdann  der  Wärmestoff  keine  bleibende  Stätte  [521]  bei  den 
oscillirenden  Elementen  finden  kann,  sondern  an  der  Sphärenbildung,  die 
ihm  eine  ruhige  Lage  sichern,  und  ihn  unfühlbar  machen  würde,  ge- 
hindert ist.  Was  ist  nun  natürlicher,  als  dafs  er  in  allen  solchen  Fällen 
mehr  oder  weniger  heftig  fortgestofsen  wird;  was  also  ist  natürlicher,  als 
Hitze  beym  Reiben,  beym  Ursprünge  der  Producte  des  Verbrennens,  bey 
Explosionen'  die  auf  plötzlicher  Scheidung  und  Zusammensetzung  der 
Materie  beruhen  (wie  beym  Knallgolde  und  was  dem  ähnlich  ist);  endlich 
bey    jenem    merkwürdigen    Wasserstoff  -  Hyperoxyd ,     worauf    schon    oben 


tqo  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.     182g. 

(§.  346)  aufmerksam  gemacht  worden?  Ja  wir  können  hierher  auch  die 
mäfsige  thierische  Wärme  rechnen,  welche  mit  der  beständigen  Umwandlung 
und  neuen  Zusammensetzung  der  lebenden  Materie  verbunden  ist;  so  wie 
manche   Phänomene   der  Erhitzung  gährender  Substanzen. 

Demnach  ist  zwar  etwas  Wahres  an  der  Meinung,  Wärme  bestehe 
in  der  innern  Aufregung  der  Körper.  Hier  ist  jedoch  die  zuweilen  vor- 
kommende Veranlassung  für  die  Sache  selbst  genommen.  Die  innere 
Aufregung  erlaubt  dem  Wärmestoffe  nicht,  sich  der  Moleculen  nach  Ge- 
wohnheit zu  bemächtigen;  indem  er  es  versucht,  wird  er  in  diejenige 
Repulsion  versetzt,  in  welcher  allein  er  unserm  Gefühle  und  dem  Thermo- 
meter sich  offenbart.  Es  scheint  wirklich,  man  hätte  durch  Überlegungen 
dieser  Art,  die  von  chemischen  Begriffen  füglich  ausgehn  konnten,  in  die 
Naturphilosophie  auf  dem  Wege  der  Analysis  hineinkommen  können; 
wenn  man  nur  nicht  die  eingebildeten  ursprünglichen  Kräfte,  als  Zugaben 
zum  Realen,  stets  vor  den  Augen  zu  sehen  geglaubt  hätte.  Aber  freylich 
können  alle  Betrachtungen  solcher  Gegenstände  nicht  eher  einen  Ruhe- 
punct  finden,  als  bis  sie  auf  die  ursprüngliche  Construction  der  Materie 
aus  ihren  unräumlichen  Elementen  zurück-[52  2]geführt  werden,  die  wir 
in  der  Synechologie  entwickelt  haben. 

§•   393- 

Schon  vorhin  (J.  391)  haben  wir  des  Unterschiedes  der  Gase  von 
den  übrigen  Körpern  erwähnt.  Dies  erinnerte  ohne  Zweifel  an  die  be- 
kannte Form -Änderung  der  Körper,  vermöge  der  Schmelzung  und  Ver- 
dampfung. Im  Allgemeinen  kann  unsere  Theorie  nur  das  bestätigen  und 
vollständiger  begreiflich  machen,  was  hierüber  schon  längst  richtig  gelehrt 
worden;  wiewohl  nicht  ohne  Anfechtung  und  Verkünstelung.  Unmittelbar 
und  ungezwungen  ergiebt  es  sich  aus  dem  Vorigen,  dafs,  wenn  der  Wärme- 
stoff sich  anhäuft,  er  irgend  einmal  die  ihm  entgegengesetzten  innern  Zu- 
stände der  Materie  durch  andre,  die  er  selbst  hervorruft,  weit  genug; 
hemmen  könne,  um  das  körperliche  Band  zu  lösen,  und  in  manchen 
Fällen  die  Elemente,  in  andern  die  Moleculen,  wie  sie  waren,  in  noch  andern 
Fällen  (wie  bey  Destillationen  gewöhnlich)  einige  aus  der  Menge  der  vor- 
handenen Elemente  herausgehoben  und  zu  neuen  Moleculen  vereinigt,  mit 
seinen  Sphären  einzuhüllen,  welche,  wofern  kein  äufseres  Hindernis  vorhanden 
ist,  davon  fliegen  werden,  getrieben  durch  die  Repulsion  in  der  freyen  Wärme. 

Und  wir  wissen  erfahrungsmäfsig,  dafs  in  der  That  der  starre  Körper 
sich  sogleich  in  seinen  Dampf  aufzulösen  anfängt;  jedoch  freylich  meistens- 
sich  selbst  am  weitem  Fortschreiten  dieser  Entwickelung  dergestalt  hin- 
dernd, dafs  der  Druck  des  Dampfes  dem  Reste  des  Körpers  nur  die 
Form  des  tropfbar  Flüssigen  erlaubt,  wobey  wiederum  der  Druck  der  At- 
mosphäre, oder  der  Gefäfse,  als  Hindernifs  in  Anschlag  kommt,  indem  er 
sich  der  Dampfbildung  widersetzt. 

[523]  §•  394- 

Tropfbare  Flüssigkeit  ist  bekanntlich  keine  selbstständige  Form  der 
Körper;  sie  hält  sich  nicht  ohne  äufsern  Druck;  und  man  hat  hinreichenden 


5-Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.Abth.  Analyt.  Unters.  2.  Cap.  Von  der  Wärme  etc.  301 

Grund,  sie  in  allen  Körpern  als  abhängig  von  der  Temperatur  anzusehen. 
Ihre  merkwürdige  Eigenschaft,  den  Druck  nach  allen  Seiten  gleichmäfsig 
fortzupflanzen,  mufs  also  wenigstens  zum  Theil  auf  den  Wärmestoff  zurück- 
geführt werden. 

Wollte  zuvörderst  Jemand  die  Frage  aufwerfen,  ob  wohl  die  Mole- 
culen  der  Körper  als  starr,  oder  als  flüssig  zu  betrachten  seyen?  So 
würden  wir  bemerken  können,  dafs  zwar  jede  Molecule  einzeln  genommen 
ihre  völlig  bestimmte  Gestalt  haben  mufs,  sobald  in  ihr  völliges  Gleich- 
gewicht der  Attraction  und  Repulsion  eingetreten  ist  (§.  274);  dafs  aber 
um  jedes  Element,  wie  um  eine  Kugel  (§.  267),  sich  die  ganze  Molecule 
drehen  kann,  ohne  Verlust  ihrer  Gestalt,  so  lange  nicht  von  aufsen  her, 
durch  Verbindung  einer  Molecule  mit  der  andern  (wie  im  §.  345),  die 
Lage  bestimmt  wird,  in  der  sie  bleiben  soll.  Demnach  braucht  nur,  um 
die  Beweglichkeit  wieder  herzustellen,  die  Verbindung  der  einzelnen  Mole- 
culen  wandelbar  zu  werden.  Nun  wird  sie  wandelbar,  sobald  der  Wärme- 
stoff, der  im  unaufhörlichen  Wechsel  des  Einströmens  und  Ausströmens 
begriffen  ist,  dahin  gelangt,  den  starren  Körper  auch  nur  zu  enoeichen; 
wobey  freylich  auffällt,  dafs  der  Mittelzustand  der  Weichheit,  der  zwischen 
Starrheit  und  Tropfbarkeit  steht,  wohl  schwerlich  bisher  von  den  Physikern 
so  genau,  als  er  es  verdiente,  ist  beachtet  worden.  Man  wird  nicht  ver- 
langen, dafs  wir  eine  so  schlüpfrige  Stelle  hier  mehr  als  berühren  sollen; 
welches  nur  einer  vollständigen  Naturphilosophie  könnte  angemuthet  werden. 

Giebt  es  nun  eine  körperliche  Masse,  in  welcher  je-[524]des  Ele- 
ment als  Mittelpunct  einer  möglichen  Drehung,  die  gänzlich  unbeschränkt 
ist  in  Hinsicht  ihrer  Richtung,  darf  angesehen  werden:  so  scheint  es,  dafs 
an  dieser  Masse  die  Eigenschaften  der  tropfbaren  Flüssigkeit  nachzuweisen, 
füglich  den  Mathematikern  könne  überlassen  bleiben.  Der  aufgestellte  Be- 
griff aber  folgt,   wie  man  sieht,   unmittelbar  aus  unsern   Principien. 


§•  395- 

Fragt  man  weiter,  wie  denn  die  Moleculen  des  Flüssigen  unter  sich 
zusammenhängen  mögen  (welches  bekanntlich  die  Bedingung  der  Tropfen- 
bildung ist):  so  ist  zu  bedenken,  dafs  der  äufsere  Druck,  unter  welchem 
das  Liquidum  steht,  dem  Wärmestoffe  noch  nicht  erlaubt,  Sphäre  um 
Sphäre  zu  bilden,  und  hiemit  die  einzelnen  Moleculen  vollständig  ein- 
zuhüllen. Sondern  einerley  Element  des  Wärmestoffs  befindet  sich  jetzt 
noch  im  unvollkommenen  Zusammen  mit  mehr  als  Einer  Molecule;  er 
vermittelt  dadurch  einen  Zusammenhang,  den  man  künstlich  nennen  möchte, 
weil  er  eine  Art  von  Surrogat  des  ursprünglichen,  den  Moleculen  zu- 
kommenden, ausmacht;  und  weil  er  sich  beym  beständigen  Aus-  und  Ein- 
gehn  des  Wärmestoffes  nur  schwebend  erhalten  kann;  wie  denn  die  ganze 
Form  des  Tropfbaren  lediglich  schwebt;  und  stets  im  Begriff  steht,  über- 
zugehn  in  die  Form  des  Dampfs. 

Fragt  man  endlich,  weshalb  dem  tropfbaren  Körper  die  besondere 
Gewalt  zukommen  möge,  womit  er  sich  jeder  Compression  widersetzt:  so 
sind  wir  erstlich  nicht  gewifs,  ob  man  diese  Eigenschaft  schon  bey  höheren 
Temperaturen    des    Liquidum    untersucht    habe?    und   bitten    zweytens   zu 


■JQ2  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


überlegen,  was  wohl  geschehen  müfste,  wenn  dasselbe  sollte  zusammen- 
gedrückt werden.  Der  Wärmestoff  müfste  dann  auf  ähnliche  Weise  heraus- 
geprefst  werden,  wie  bey  Gasarten,  aber  im  Tropfbaren  [525]  hat  er  die 
loser  verbundenen  äufsern  Sphären  noch  nicht  gebildet,  wohl  aber  übt  er 
seine  grüfste  chemische  Gewalt,  indem  soviel  als  möglich  von  ihm  inner- 
lich, in  die  Elemente  des  Körpers,  ist  aufgenommen  worden.  Ferner 
müfste  nun  bald  die  starre  Form  des  Körpers  zurückkehren;  alsdann  aber 
würde  das  Wasser  wenigstens  (auf  welches  die  bisherigen  Versuche  wohl 
dürften  beschränkt  gewesen  seyn)  sich  der  Form  des  Eises  nähern,  mithin 
(falls  es  unter  4  Grad  abgekühlt  wäre)  sich  wieder  ausdehnen.  Also  Com- 
pression  hätte  Ausdehnung  zur  nothwendigen  Folge,  welches  sich  aufhebt. 
Ob  nun  dies  der  vollständige  Grund  der  Erscheinung  sey,  mufs  dahin- 
gestellt bleiben,  so  lange  nicht  Versuche  mit  verschiedenen  Arten  des  Tropf- 
baren, bey  verschiedenen  Temperaturen,  vor  Augen  liegen. 


§•   396. 

Will  man  nach  allem  Vorstehenden  noch  zweifeln,  ob  der  Dampf, 
in  welchen  das  Tropfbare  wirklich  übergeht,  sobald  die  äufsern  Schranken 
weggenommen  werden,  —  und  ob  die  Gase,  welche  sich  vom  Dampfe 
nur  durch  gröfsere  Haltbarkeit  unterscheiden,  durch  den  mit  ihnen  ver- 
bundenen Wärmestoff  ihre  Elasticität  erlangen;  oder  auch,  will  man  dem 
letztern  allein,  ohne  Rücksicht  auf  die  von  ihm  rings  umher  vielfach  ein- 
gehüllten Elemente,  die  Spannkraft  beylegen :  so  mag  man  sich  nun  noch 
einmal  Rechenschaft  zu  geben  suchen  über  die  Grundbegriffe  von  der 
Materie  überhaupt.  Dazu  ist  hier,  wir  möchten  fast  sagen,  die  letzte  Ge- 
legenheit. Denn  im  Gebiete  der  Erfahrung  fällt  Alles,  was  man  mit  Ent- 
schiedenheit Materie  nennt,  zwischen  die  beyden  Extreme  des  starren  und 
des  gasförmigen  Körpers;  so  dafs  jener  durch  Cohäsion,  also  Attraction, 
dieser  durch  Repulsion  aller  seiner  unterscheidbaren  Theile,  ausgezeichnet 
ist.  Insbesondere  liegt  alles  Be- [5 2 6] lebte,  sofern  es  Materie  darstellt, 
zwischen  diesen  beyden  Extremen;  es  ist  weich,  oder  aus  dem  Weichen, 
halb  Flüssigen  entstanden;  und  die  Natur  desselben  begreifen  zu  wollen, 
bevor  man  über  Starrheit  und  Spannkraft  mit  sich  selbst  einig  ist,  gehört 
offenbar  zu  den  ganz  vergeblichen  Bemühungen. 

Der  Gang  unsrer  Untersuchungen  führte  uns  so,  dafs  wir  weit  früher 
das  Starre,  als  die  Gasform,  begreifen  konnten.  Allmählig  zeigte  sich  auch 
von  dieser  die  Erklärung.  Aber  eben  darum,  weil  fast  unvermerkt  der 
Begriff  vom  Dampfe  und  Gase  herbeygekommen  ist,  erinnere  sich  der 
Leser,  dafs  wir  keine  übereilte  Vestsetzung  von  ihm  begehren.  Er  rufe 
sich  aus  der  Ontologie  und  Synechologie  die  Gründe  zurück,  um  derent- 
willen wir  überhaupt  den  Dingen  keine  ursprünglichen  Kräfte,  am  wenigsten 
räumliche  Kräfte,  beylegen  können;  wobey  das  Seyn  und  das  Geschehen 
und  der  Schein,  welches  wir  sorgfältig  sonderten,  wieder  durch  einander- 
fallen  würde.  Er  gehe  dann  zurück  zum  Entstehen  der  ursprünglichen 
Moleculen;  hier  aber  findet  er  sogleich  Cohäsion,  und  erst  dann  kommt 
Repulsion,  wann  die  Attraction  an  ihr  eigenes  Übermaafs  anstöfst.  Dort 
also  zeigt  sich  noch  keine  Aussicht,  das  Gas  zu  begreifen. 


5.Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.   2.Abth.  Analyt.  Unters.  2.Cap.  Von  der  Wärme  etc.    303 

§•  397- 

Am  kenntlichsten  macht  sich  die  Natur  der  Gase  durch  das  Mariottesche 
Gesetz,  in  Verbindung  der  durch  Compression  sich  entwickelnden  Wärme, 
und  mit  Voraussetzung  der  Begriffe  vom  Wärmestoff.  Man  drückt  ein 
Gas  zusammen;  es  verliert  Wärme,  aber  es  behält  seine  Spannkraft.  Also 
ist  erstlich  allerdings  in  dem  Gase  viel  Wärmestoff,  aber  zweytens:  es  kann 
einen  grofsen  Verlust  an  demselben  ertragen,  ohne  darum  das  Princip  der 
Elasticität  zu  entbehren. 

[527]  Will  man  nun  den  Wärmestoff  als  eine  zufällige  Beymischung 
betrachten?  Ohne  ihn  wird  man  weder  bey  den  einfachen  Elementen, 
noch  bey  den  aus  ihnen  vielleicht  zusammengesetzten  Moleculen,  irgend 
einen  denkbaren  Grund  entdecken,  warum  sie  einander  fliehen  sollten. 
Auch  haben  die  höchst  bekannten  Versuche  vom  Verschwinden  der  Wärme 
bey  der  Verdampfung,  und  umgekehrt,  längst  dahin  geführt,  dafs  man  im 
Wärmestoffe  die  unentbehrliche  Bedingung  der  Elasticität  sucht.  Also 
durch  ihn,  aber  nicht  durch  ihn  allein,  mufs  die  Gasform  begriffen  werden, 
sondern  so,  dafs  immer  das  Quantum  der  Bestandtheile,  wodurch  ein  jedes 
Gas  sich  von  andern  Gasen  unterscheidet,  auch  das  Quantum  der  Spann- 
kraft bestimme,  welche  bey  mehr  oder  weniger  Wärmestoff  dem  Gase 
eigen   ist. 

Wenn  nun  viele  Elemente,  z.  B.  des  Wasserstoffs  oder  des  Sauer- 
stoffs, sich  in  einem  gegebenen  Räume  beysammen  finden;  wenn  jedes 
von  ihnen  umhüllt  ist  von  vielen  Sphären  des  Wärmestoffs;  «wenn  man 
jetzt  durch  Zusammendrückung  das  Volumen  vermindert:  so  werden  die 
Sphären  des  Wärmestoffs  in  einander  gedrängt;  dadurch  wächst  die  Re- 
pulsion; die  Temperatur  steigt;  und  von  den  äufsern  Hüllen,  in  welchen 
die  mittelbare  Attraction  (§.  342)  schon  schwächer  ist,  wird  sich  etwas  ab- 
lösen und  entweichen,  damit  das  Gas  sich  abkühle.  Alsdann  aber  besitzt 
es  noch  immer  die  sämmtlichen,  wesentlichen  Elemente,  durch  welche 
eigentlich  erst  Repulsion  in  den  Wärmestoff  kommt.  Und  diese  Elemente 
besitzen  noch  immer  ihre  nähern,  dichtem  Hüllen.  Was  Wunder  also, 
wenn  die  Repulsion  immer  noch  die  nämliche  Summe  aller  Spannkräfte 
zeigt,  wie  Anfangs;  nur  in  einem  engern   Räume  vereinigt? 

§•   398. 

Dafs  die  wesentlichen  Elemente  des  Gases  oder  des  [528]  Dampfs 
durch  ihre  Wärmestoff- Hüllen  isolirt,  und  von  einander  gesondert  sind, 
verräth  sich  durch  einen  andern  Umstand  fast  unverkennbar,  nämlich 
durch  den  Mangel  an  chemischer  Wirksamkeit  in  Mischungen  verschiedener 
Gase;  und  durch  die  Freyheit,  womit  sich  der  Wasserdampf  in  allen  Gasen 
ausbreitet,  als  ob  sie  nicht  da  wären. 

Bekanntlich  glaubte  man  lange,  die  Luft  sey  das  Auflösungsmittel  der 
Wasserdämpfe;  man  hielt  ferner  die  gemeine  Luft  der  Atmosphäre  für  ein 
Oxyd  des  Stickstoffs;  man  erwartete,  dafs  aufserdem  ihre  Bestandtheile 
durch  den  Unterschied  der  Schwere  würden  getrennt  werden;  man  dachte 
in  Rindsblasen  ein  Gas  einschliefsen  zu  können;  man  hielt  wenigstens 
irdene  Gefäfse,  welchen  die  Luftpumpe  ihre  Luft  wegnehmen  konnte,    für 


:>04  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

fähig,  Gasarten  vest  und  abgesondert  zu  erhalten.  Nichts  von  dem  x\llen! 
Die  Gase  dringen  durch ;  jedes,  und  eben  so  der  Dampf,  geht  seinen 
Weg,  folgt  seiner  eignen  Spannung,  und  breitet  sich  aus  im  Räume,  un- 
geachtet des  Unterschiedes  der  Schwere.  Diese  Verbreitung  wird  von 
andern  Gasen  nur  verzögert,  nicht  verhindert;  und  es  scheint  am  Ende, 
als  wäre  der  Raum,  welchen  schon  ein  Gas  einnahm,  noch  frey  gewesen 
für  jedes  andere. 

Fehlt  es  etwan  hiebey  an  der  chemischen  Affinität?  Warum  ver- 
wandeln sich  nicht  Sauerstoffgas  und  Wasserstoffgas  sogleich  bey  der  Be- 
rührung in  Wasser?  Warum  treibt  nicht  der  Druck  selbst,  den  die  elasti- 
schen und  wider  einander  gespannten  Moleculen  gegenseitig  ausüben,  den 
Sauerstoff  in  den  Wasserstoff  hinein?  Und  wie  kann  der  blofse  elektrische 
Funke,  der  in  dies  Gemenge  der  Gase  hineinschlägt,  es  mit  so  ungeheurer 
Gewalt  plötzlich  in  Wasser  verwandeln;  als  ob  er  den  Elementen  ihren 
Gegensatz  erst  ins  Gedächt-[52  9]nifs  gerufen  hätte,  und  sie  nun  sogleich 
zur  Besinnung  kämen,   um  ihre  Schuldigkeit  zu  thun? 

Die  Antwort  liegt  vor  Augen.  Jedes  Element  des  Wasserstoffs  war 
verhüllt,  jedes  Element  des  Sauerstoffs  eben  so;  sie  konnten  nicht  zu- 
sammen kommen.  Der  Druck,  welchen  die  Moleculen  der  Gase  wegen 
ihrer  Elasticität  ausübten,  brachte  nicht  Sauerstoff  und  Wasserstoff  in  Be- 
rührung, sondern  die  Hüllen  des  Wärmestoffs  drängten  sich  neben  ein- 
ander vorbev.  Denn  sie  waren  gröfstentheils  undurchdringlich  für  einander, 
weil  jede  die  innere  Constitution  der  andern  beym  Eindringen  hätte  ver- 
ändern müssen;  und  jede  durch  ihre  eignen  innern  Zustände  zu  vest  be- 
stimmt war.  Die  Repulsion  fand  nur  statt  zwischen  Moleculen  von  einerley 
Art,  weil  sie  nicht  ursprünglich  im  Wärmestoff  liegt,  sondern  herrührt  von 
den  gleichartigen  Selbsterhaltungen  gegen  einerley  Elemente.  Die  Hüllen 
verschiedener  Elemente  könnten  einander  anziehn,  aber  die  Attraction  ist 
schwach,  denn  sie  ist  sehr  mittelbar;  und  bedarf  der  Erfahrung  zufolge, 
um  wirksam  zu  werden,  einer  Unterstützung  durch  höhere  Temperatur. 
Denn  allerdings  sollen  sich  nach  Davy  jene  Gase  ohne  Explosion  ver- 
binden können,  durch  gehörige  Hitze.  Das  heifst  doch  wohl  nichts  anders, 
als  durch  Strahlung  des  Wärmestoffes,  wobey  seine  Hüllen  aus  ihrer  Lage 
kommen.  Und  dasselbe  leistet  der  elektrische  Funke  plötzlich  mit  Ex- 
plosion, wenn  er  sich  seinen  Weg  durch  die  Luft  bricht,  das  heifst,  die 
Wärmestoff- Hüllen  zertrümmert,  und  die  Elemente  einander  nackt  gegen- 
überstellt, so  dals  sie  sich  erreichen  können. 

§•  399- 

Noch  eines  merkwürdigen  Phänomens  können  wir  hier  erwähnen; 
nämlich  der  Absorption,  worin  besonders  die  Kohle  sich  auszeichnet. 
Diese  ist  bekanntlich  [530]  ein  poröser  Körper;  worauf  hiebey  viel  an- 
kommt, denn  zu  grofse  oder  zu  kleine  Poren  verhindern  die  Absorption 
der  Gase.*  Hiemit  hängt  sehr  nahe  der  Umstand  zusammen,  dafs  Kohle 
die  Wärme  schlecht  leitet,  wie  natürlich  bey  Körpern,  die  in  sich  schwach 


*  Berzelius  Chemie,  I.  S.   219. 


5.  Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  2.Abth.  Analyt.  Unters.  3.  Cap.  V.  d. Elektricität  etc.      305 

zusammenhängen.  Wenn  nun  die  Kohle  l  gebrannt  ist,  so  mufs  schon 
wegen  des  Drucks  der  Atmosphäre,  oder  eines  unter  diesem  Drucke  con- 
densirten  Gases,  neue  Luft  allmählig  in  sie  eindringen.  Die  Moleculen 
des  Gases  oder  der  Luft  sind  aber  nicht  bestimmt  begränzt,  wie  die  der 
starren  Körper;  denn  sie  sind  mit  Wärmestoff  mehr  oder  weniger  um- 
hüllt, je  nachdem  das  Gas  dünner  oder  dichter  ist.  (Dies  erhellet  sehr 
leicht  aus  §.  350.)  Man  kann  sie  daher,  wenn  man  die  Hüllen  mit  zu 
ihnen  rechnet,  füglich  für  so  grofs  annehmen,  dafs  sie  in  den  feinern 
Poren  nicht  Platz  haben,  sondern  etwas  von  den  äufsersten  Hüllen  ab- 
gestreift wird,  welches  sich  nun  als  freve  Wärme  offenbaren  mufs,  sobald 
es  von  der  Kohle  selbst  nicht  mehr  aufgenommen  wird.  Die  freye  Wärme 
zeigt  sich  der  Erfahrung  zufolge  wirklich;*  und  eben  so  die  Erkältung, 
wenn  mit  Hülfe  der  Luftpumpe  das  Gas  wieder  herausgezogen  wird.  Die 
Verdichtung  der  Luft  in  der  Kohle  ist  also  der  umgekehrte  Procefs  zu 
jenem  andern,  da  man  erst  durch  mechanische  Gewalt  beym  Verdichten 
anfängt,  woraus  die  Entbindung  des  Wärmestoffs  folgt.  Denn  bey  der 
Absorption  wird  im  Gegentheil  erst  die  Gröfse  der  Umhüllung  vermindert, 
mithin  ganz  eigentlich  Wärmestoff  abgestreift,  woraus  alsdann  die  Ver- 
dichtung des  Gases  von  selbst  folgt. 

Damit  stimmt  zusammen  der  Umstand,  dafs  in  einer  dünneren  At- 
mosphäre, —  in  welcher  die  Hüllen  [531]  zahlreicher  über  einander  liegen, 
—  mehr  von  ihnen  abgestreift,  oder  dem  Volumen  nach  mehr  Luft  ein- 
gesogen wird;  während  doch  nach  dem  Geivichte  gerechnet  weniger  ein- 
dringt, weil  der  Druck  schwächer  ist. 


Drittes  Capitel. 
Von  der  Elektricität  und  dem  Magnetismus. 

§•  400. 

Die  Lehre  von  der  Elektricität  ist  wegen  der  Vielförmigkeit  der  Er- 
scheinungen, die  sie  in  Zusammenhang  bringen  soll,  ganz  besonders  geeignet, 
der  Naturphilosophie  zur  Rechnungsprobe  zu  dienen  ;  und  wir  wollen 
suchen,  sie  zu  diesem  Zwecke  zu  benutzen.  Einige  wenige  Versuche,  von 
denen  der  Verfasser  (vielleicht  aus  Mangel  an  Belesenheit)  glaubt,  dafs 
sie  ihm  eigen  seyen,  und  welchen  in  diesem  Falle  Wiederholung  durch 
Andre  zu  wünschen  ist,  sollen  zuerst  als  blofse  Erfahrungen  erzählt  werden. 
Versuch  1.  Eine  Siegellackstange  von  gewöhnlicher  Länge  stehe  vertical 
auf  einem  kleinen  Fufsbrette ;  sie  trage  oben  ein  kleines  Quadranten- 
Elektrometer.  Dies  Werkzeug  stelle  man  auf  ein  isolirendes  Stativ,  und 
gebe  demselben  einen  Funken  aus  einer  geladenen  Flasche.  Noch  zeigt 
sich  nichts  am  Elektrometer.    Allein  jetzt  berühre  man  es  mit  einem  Leiter. 

*  A.  a.  O.    S.   218. 

1  Wenn  die  Kohle  .  .   SW  („nun"  fehlt). 
Hkrbart'b  Werke.     VIII.  20 


r>o6  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

Sogleich  divergirt  es,  und  steigt  plötzlich  etwan  auf  60  bis  70  Grad.  Man 
versuche,  ihm  wie  gewöhnlich  die  Elektricität  durch  Berührung  mit  einem 
Leiter  zu  entziehn ;  diese  Absicht  wird  man  nicht  erreichen,  dagegen  aber 
wird  die  sonderbare  Erscheinung  zu  bemerken  seyn,  [532]  dafs,  bey  An- 
näherung des  Leiters,  die  Kugel  des  Elektrometers  ihm  auszuweichen  sucht, 
anstatt  ihm  entgegen  zu  kommen.  Jetzt  entziehe  man  dem  Stativ  die 
mitgetheilte  Elektricität.  Noch  divergirt  das  Elektrometer  wie  zuvor.  Aber 
nun  sucht  die  Kugel  desselben  den  angenäherten  Leiter;  die  Elektricität 
läfst  sich  herausziehn ;  und  bey  gehöriger  Prüfung  findet  sie  sich  derjenigen 
entgegengesetzt,  welche  dem  Fufsbrette  war  mitgetheilt  worden. ' 

Versuch  2.  Um  zu  erfahren,  ob  nicht  der  Erdboden  einige  freye 
Elektricität  besitze,  stecke  man  eine,  zwey  oder  mehrere  Metallstangen  etwan 
anderthalb  Fufs  tief  in  die  Erde.  Es  mag  auch  ein  langer  Drath,  an  der  Ober- 
fläche des  Bodens  liegend,  mit  einer  solchen  Stange  verbunden  seyn.  Man 
sammle  durch  Hülfe  eines  grofsen  und  eines  kleinen  Condensators  die 
Elektricität,  und  falls  sie  nicht  von  selbst  am  Elektrometer  merklich  wird 
(welches  nach  öfterer  Wiederholung  in  sehr  geringem  Grade,  jedoch  kennt- 
lich, zu  geschehn  pflegt),  bediene  man  sich  des  bekannten  Multiplicators. 
Diese  Werkzeuge  werden  zeigen,  dafs  der  Erdboden  eine  schwache  negative 
Elektricität  hergiebt ;  welche  man  eben  so  auch  aus  der  Mauer  eines 
Hauses,  und  fast  aus  jedem  beliebigen  Gegenstande  erhalten  kann,  der 
mit  dem  Erdboden  in  Verbindung  steht.  —  Da  die  Condensatoren  von 
Messing  gemacht  zu  sevn  pflegen,  so  kann  man,  um  Berührung  verschie- 
dener Metalle  zu  vermeiden,  auch  eine  Messingstange  in  den  Boden  stecken; 
sie  wird  nichts  anders  ergeben,  als  was  statt  ihrer  eine  Eisenstange  leistet. 

Vielleicht  ist  hier  eine  kurze  Beschreibung  der  zum  Versuche  ge- 
brauchten Werkzeuge  nicht  überflüssig. 

Die  Condensatoren  bestehn  jeder  aus  drey  parallelen,  durch  Luft- 
schichten getrennten  Messingplatten,  von  welchen  die  mittlere  isolirt  ist, 
und  zum  Auffangen  [533]  dient.  Die  beyden  andern  lassen  sich  von 
jener  durch  Drehung  um  eine  Axe,  an  der  sie  bevestigt  sind,  entfernen ; 
und  dies  reicht  gewöhnlich  hin;  allein  man  kann  sie  auch  an  dieser  Axe 
verschieben,  ohne  sie  zu  drehen;  indem  sie  daran  nur  durch  kleine  Schrauben 
gehalten  werden,  die  leicht  zu  lüften  und  wieder  anzuziehen  sind. 

Den  Multiplicator  wolle  man  nicht  verwechseln  mit  dem  jetzt  beym 
Elektromagnetismus  üblich  gewordenen.  Es  ist  dasselbe  Werkzeug,  welches 
beyläufig  im  §.  177  erwähnt  wurde;  nur  bequemer  und  sicherer  ein- 
gerichtet. Statt  einer  einzigen  multiplicirenden  Platte  drehen  sich  deren 
acht  zugleich  im  Kreise;  dicht  vorüber  an  derjenigen,  welche  die  zu 
prüfende  Elektricität  aufgenommen  hat;  während  sie  zugleich  hinten  eine 
ableitende  Metallfeder  berühren.  Sie  sind  bevestigt  an  der  Peripherie  einer 
starken  und  überfirnifsten  Glasscheibe,  welche  um  eine  durch  ihren  Mittel- 
punct  gehende  isolirte  Axe  gedreht  wird.  Der  Condensator,  welchem  die 
vervielfachte  Elektricität  abgegeben  wird,  hat  beynahe  den  dreifachen 
Durchmesser  der  Messingplatten;  mit  Hülfe  einer  Schraube  läfst  er  sich 
behutsam  schliefsen  und  offnen ;  neben  ihm  steht  ein  kleiner  Condensator, 

1  welche  dem  Fufsbrette  mitgetheilt  worden  SW  („war"  fehlt). 


5-Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.Abth.  Analyt. Unters.  3.  Cap.  V.d.  Elektricität  etc.  ^07 

verbunden  mit  einem  Elektrometer;  und  beydes  kann  vermöge  einer  leichten 
Drehung  dem  gröfsern  Condensator  genähert  oder  von  ihm  entfernt  werden. 
Endlich  läfst  sich  ein  zweytes,  kleineres  und  möglichst  empfindliches  Elektro- 
meter mit  jenem  verbinden,  oder  auch  davon  trennen ;  es  darf  nämlich 
den  stärkern  Vervielfältigungen,  welche  das  Instrument  häufig  bewirkt,  nicht 
Preis  gegeben  werden,  damit  nicht  die  Goldstreifen  zerreifsen.  Natür- 
lich zeigt  der  Multiplicator  allemal  das  Entgegengesetzte  des  ihm  dar- 
gebotenen  E. 

Den  Werkzeugen  dieser  Art  pflegt  man  Untreue  vorzuwerfen.  Die 
Wahrheit  ist,  dafs  man  sie  vor  und  [534]  nach  jedem  ernstlichen  Versuch 
prüfen  mufs,  ob  sie  auch  vielleicht  für  sich  allein  Elektricität  erzeugen,* 
und  dafs  man  sie  durchaus  keiner  unnützen  und  gewaltsamen  Berührung 
aussetzen  darf.  Eigentlich  aber  ist  bedeutende  Gefahr  lediglich  an  der 
isolirenden  Glassäule  vorhanden,  welche  die  erste  Messingplatte  trägt,  die 
zur  Aufnahme  der  zu  prüfenden  Elektricität  dient.  Diesen  Theil  des  In- 
struments mufs  man  in  mehrern  Exemplaren  vorräthig  haben,  welche  sich 
einschrauben,  und  wieder  herausnehmen  lassen,  sobald  sie  eigne  Elektricität 
verrathen.  Das  höchst  empfindliche  Werkzeug  zeigt  übrigens  seine  Fehler 
sogleich  selbst  an,  wenn  man  es  nur  fragt;  daher  kann  der  Experimentator 
nur  durch  eigne  Nachlässigkeit  getäuscht  werden.  Die  gewöhnlichen  Multi- 
plicatoren  mit  einer  einzigen  vervielfältigenden  Platte  sind  freylich  langweilig 
zu  gebrauchen;  und  wenn  man,  um  geschwind  fertig  zu  werden,  rasch  und 
gewaltsam  dreht,  so  ists  kein  Wunder,  wenn  das  Werkzeug  gleichsam  un- 
willig wird,   und  mit  eigner   Elektricität  in  die  Versuche  eingreift. 

Dafs  mehrere  Metallstangen  in  die  Erde  gesteckt  wurden,  geschah 
blofs  zur  Abkürzung,  weil  es  bequem  ist,  diesen  Stangen  gleich  nach  ein- 
ander die  Elektricität  abzunehmen,  welche  sie  darbieten.  Sonst  kann  man 
auch  den  grofsen  Condensator  mit  einer  Stange  verbunden  stehn  lassen, 
und  ihm,  nachdem  er  eine  Weile  ge-[535]standen  hat,  mittelst  des  kleinen 
den  gesammelten  Vorrath  entziehn,  welchen  der  Multiplicator  sogleich  un- 
zweydeutig  anzeigen  wird. 

Versuch  3.  Auf  einem  starken  Brette  seyen  drey  grofse,  kreisrunde, 
isolirte  Messingplatten  vertical  und  parallel  dergestalt  aufgestellt,  dafs  die 
mittlere  ganz  vest  stehe,  die  beyden  äufsern  aber  sich  wenigstens  um 
anderthalb  Zoll  von  der  mittlem  abwärts  schieben  lassen.  Zwischen  den 
drey  Scheiben  müssen  zwey  andre,  die  sich  um  eine  horizontale  Axe 
drehen  lassen,  eingeschoben  werden  können,  so  dafs  nur  möglichst  dünne 
Luftschichten  zwischen  den  fünf  Platten  (die  alle  von  gleicher  Gröfse  sind) 
übrig  bleiben.  An  der  Axe  müssen  die  beyden  von  ihr  getragenen  Scheiben 
sich  verschieben  lassen ;  auch  ist  wegen  der  Schwere  der  Scheiben,  und 
da  ihr  Mittelpunct  weiter  als  um  ihren  Halbmesser  von  der  Axe  entfernt 
liegt,  an  der  entgegengesetzten  Seite  ein  Gegengewicht  angebracht;  so  dafs 


*  Wer  nicht  daran  gewöhnt  ist,  mit  schwachen  Elektricitäten  umzugehn,  der  kann 
leicht  noch  in  einen  andern  Irrthum  gerathen.  Er  wird  nämlich  glauben,  das  "Werkzeug 
habe  eigne  Elektricität,  während  blofs  die  mitgetheilte  demselben  noch  anhängt.  Denn 
die  schwachen  Elektricitäten,  zu  deren  Prüfung  der  Multiplicator  nöthig  ist,  bewegen 
sich  langsam ;  und  um  sie  zu  entfernen,  mufs  man  den  ableitenden  Körper  in  längere 
Berührung  und  an  verschiedenen  Puncten  mit  dem  elektrisirten  setzen. 

20* 


308  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      182g. 

die  beyden  Scheiben  sich  sanft  und  ohne  Anstofs  zwischen  jene  drey 
niederlassen,  und  auch  wieder  gehoben  werden  können.  Endlich  sey  durch 
Drähte  eine  Verbindung  der  drey  isolirten  Scheiben  gemacht.  Man  lasse 
jetzt  mit  Hülfe  eines  langen  Glasstabes  (denn  die  Hand,  wenn  sie  warm 
ist,  darf  das  Werkzeug  nicht  berühren,  eben  so  wenig  als  irgend  ein  andrer 
elektrischer  Einfiufs  zuzulassen  ist)  die  Axe  sich  drehen,  so  dafs  die  zwey 
daran  bevestigten  Scheiben  zwischen  die  andern  niedersinken,  und  unten 
die  Verbindungsdräthe  berühren.  In  dieser  Lage  mufs  das  Instrument, 
wenn  es  mit  Hülfe  des  kleinen  Condensators  und  des  Multiplicators  geprüft 
wird,  gar  keine,  oder  höchstens  jene  äufserst  schwache  negative  Elektricität 
zeigen,  die  man  nach  Versuch  2  in  allen  Körpern  zu  finden  pflegt.  Als- 
dann drehe  man  rückwärts;  zuerst  nur  so  weit  als  nöthig  ist,  um  die  Be- 
rührung der  niedergelassenen  Scheiben  mit  [536]  den  Verbindungsdrähten 
aufzuheben.  Nachdem  dies  geschehen,  halte  man  die  Auffange  -  Spitze 
eines  kleinen  Condensators  an  die  Verbindungsdräthe ;  und  öffne  nun 
vollends  das  Werkzeug,  indem  die  Axe  so  lange  gedreht  wird  (jedoch  mit 
der  sanftesten  Bewegung),  bis  die  an  ihr  bevestigten  Scheiben  völlig  aus 
dem  Cylinder,  welchen  die  drey  isolirten  einschliefsen,  werden  hervor- 
getreten seyn.  Jetzt  trage  man  den  Condensator  zum  Multiplicator.  Dieser 
wird  positive  Elektricität  anzeigen;  welche  bey  öfterer  Wiederholung  sich 
bald  aufs  deutlichste  verstärken  wird,  falls  sie  nicht  gleich  Anfangs  kennt- 
lich genug  gewesen  wäre. 

Versuch  4.  An  dem  vorigen  Werkzeuge  verändere  man  weiter  nichts, 
als  nur  dies,  dafs  man  die  Verbindungsdrähte  von  den  äufsern  Scheiben 
entfernt,  und  alsdann  von  der  mittleren  isolirten  Scheibe  die  beyden  andern, 
ebenfalls  isolirten,  so  weit  als  möglich  abwärts  schiebt.  Die  vorige  Be- 
wegung der  Axe  werde  wiederholt,  genau,  wie  zuvor,  und  mit  denselben 
Werkzeugen  fortgefahren.  Der  Multiplicator  wird  nicht  positive,  sondern 
eine  höchst  schwache  negative  Elektricität  anzeigen. 

Die  beyden  vorigen  Versuche  lassen  sich  nun  wegen  der  Beweglich- 
keit der  Scheiben  auf  verschiedene  Weise  abändern;  man  wird  endlich 
finden,  dafs,  so  oft  die  isolirten  Scheiben  ein  enges  Behältnifs  bilden,  aus 
welchem  die  Leiter,  von  denen  es  beynahe  ausgefüllt  war,  hinweggehen, 
alsdann  das  Behältnifs  in  dem  Zustande  der  sogenannten  positiven  Elek- 
tricität zurückbleibt;  dafs  aber  eher  das  Gegentheil  statt  findet,  wann  eine 
isolirte  Scheibe  nackt  stehen  bleibt,  nachdem  ihre  leitende  Umhüllung  weg- 
genommen ist.  — 

Dürfte  man  von  Versuchen  reden,  die  kein  Resultat  gegeben  haben, 
so  wäre  hier  noch  von  einer  Vorrichtung  zu  sprechen,  vermöge  deren  ein 
Magnet,  der  über  [537]  zehn  Pfunde  trägt,  in  isolirter  Lage  einer  Scheibe 
von  weichem  Eisen,  die  ebenfalls  isolirt  mit  einem  Condensator  verbunden 
ist,  auf  mannigfaltig  abgeänderte  Weise  dargeboten  wurde  (die  Scheibe  läfst 
sich  noch  überdies  um  ihre  Axe  drehen);  um  zu  erfahren,  ob  vielleicht 
der  Magnetismus  irgend  einige,  für  den  erwähnten  Multiplicator  merkliche, 
Elektricität  während  seiner  Einwirkung  auf  das  dafür  so  empfängliche  weiche 
Eisen  hervorbringe.  Alles  war  vergeblich;  einige  frühere  Versuche  mit 
Feilspänen  wurden  als  ganz  unsicher  aufgegeben;  und  dies  Bemühen  endigte 
mit  dem   Glauben,    dafs    zwischen   Magnetismus    und  Elektricität   keine    un- 


5.  Abschn.  Umrisse d. Naturphil.    2.Abth.  Analyt.  Unters.  3-Cap.  V.  d.  Elektricität  etc.  30Q 

mittelbare  Verbindung,   sondern  nur  eine  durch   ein  sehr  bekanntes  Mittel- 
glied  statt  findet,   wovon  weiterhin   zu   reden  seyn  wird. 

Was  über  die  hier  erzählten  Versuche   weiter  zu   sagen  ist,   das   wird 
in   dem  nachfolgenden   Vortrage  gelegentlich   seinen   Platz  finden. 


§.   401. 

Es  ist  nun  zuerst  nöthig,  der  beyden  bekannten  Hypothesen  zu  er- 
wähnen, die  unter  den  Naturforschern  Beyfall  gefunden  haben.  Die 
Symmersche,  von  zweyen  Flüssigkeiten,  deren  Qualität  lediglich  in  einer 
gegenseitigen  Relation  bestehn  würde,  bedarf  eigentlich  hier  keiner  Wider- 
legung; die  Franklinsche  hat  Vertheidigung  und  nähere  Bestimmung  zu 
erwarten,  denn   auch  sie  konnte   für  sich   allein  nicht  genügen. 

Da  jedoch  hier  die  Elektricitäts-Lehre  nicht  blofs  aufgehellt,  sondern 
die  Bestätigung,  welche  unserm  ganzen  Vortrage  durch  die  Erfahrung  zu 
Theil  wird,  soll  ins  Licht  gesetzt  werden:  so  ist  es  nicht  überflüssig, 
fürs  erste  der  Symmerschen  Hypothese  durch  empirische  Gründe  entgegen- 
zutreten. 

Ein  Elektrometer  divergire;  und  man  nähere  ihm  [538]  einen  Kör- 
per mit  entgegengesetztem  E;  es  fällt  zusammen.  Sind  nun  zwey  Fluida 
chemisch  gebunden  und  neutralisirt  im  Electrometer  vorhanden?  Nach 
aller  Erfahrung  und  Theorie  müssen  sie  alsdann  in  gegenseitiger  Anziehung 
verharren;  oder  wenigstens  irgend  eine  Kraft,  irgend  ein  Streben  dazu 
verrathen.  Aber  nun  werde  der  angenäherte  elektrische  Körper  entfernt; 
sogleich  divergirt  das  Elektrometer  wie  zuvor,  wenn  nur  die  Luft  gehörig 
trocken  war.  Wo  ist  nun  die  geringste  Spur  einer  Anziehung,  die  mit 
chemischer  Verwandtschaft  könnte  verglichen  werden  ?  Warum  wurde  das 
neutral isirende  E  nicht  vestgehalten,  da  es  doch  den  Körpern,  von  denen 
es  aufgeregt  wurde,  z.  B.  dem  Knopf  einer  geladenen  Flasche,  zu  ent- 
fliehen sucht,   und  ihnen   daher  sehr  leicht  kann  entzogen   werden? 

Einen  andern  Gegengrund  giebt  uns  der  oben  angeführte  erste  Ver- 
such, dessen  Erfolg  nicht  im  mindesten  zu  den  unsichern  und  zweydeuti- 
gen  gehört.  Wenn  ein  Elektrometer  divergirt,  so  mufs  sein  E  nach  der 
Symmerschen  Lehre  durchaus  das  entgegengesetzte  anziehn  und  das  gleich- 
artige zurückstofsen.  Warum  denn  flieht  das  auf  70  Grad  gespannte 
Elektrometer  den  angenäherten  Leiter?  Ohne  Zweifel  darum,  weil  von 
dem  bis  oben  hinauf  polarisirten  Siegellack  eine  entgegengesetzte  Ver- 
theilung  bewirkt,  und  hiedurch  der  angenäherte  Leiter  in  einen  dem  Elek- 
trometer gleichartigen  Zustand  versetzt  wird.  Aber  eben  dies  ist  nach 
der  Symmerschen   Theorie  nicht  zu  begreifen. 

Nach  ihr  sollten  die  beyden  E,  —  eine,  vermöge  welcher  das  Elektro- 
meter, die  andre,  vermöge  welcher  der  obere  Theil  des  Siegellacks  eine 
entgegengesetzte  Verkeilung  bewirkte,  —  sich  sogleich  vereinigen,  da  sie 
in  Einem  Puncte,  dem  Fufse  des  Elektrometers,  welcher  zugleich  der 
oberste  des  Siegellacks  ist,  beysammen  sind.  Noch  mehr!  Da  das  Elektro- 
meter, be-[539]vor  es  berührt  wurde,  ohne  alle  Divergenz  in  Ruhe  war, 
so  enthielt  es  damals  beyde  E  zugleich,  und  sie  neutralisirten  sich  in  ihm. 
Hätten   sie  nun   einander  angezogen,  so  hätte  unmöglich  das  Elektrometer, 


3IO  !•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


als  es  berührt  wurde,  das  eine  E  hergeben  können,  um  alsdann  mit  dem 
andern   zu  divergiren. 

Um  dies  noch  mehr  zu  entwickeln,  wollen  wir  annehmen,  man  gebe 
dem  Stativ,  worauf  das  Werkzeug  steht,  -f-  E.  Nach  der  Symmerschen 
Lehre  wird  nun  —  E  angezogen,  und  sein  Gegentheil  zurückgestofsen. 
Oben  im  Elektrometer  müfste  -f~  E  frey  werden,  und  es  müfste  damit 
divergiren.  Aber  es  liegt  ruhig ;  vielleicht  weil  die  Siegellackstange  zu  lang 
ist,  um  die  Vertheilung  so  hoch  hinauf  fortzusetzen.  Jetzt  berührt  man 
es,  und  entzieht  ihm  -f-  E.  Nun  divergirt  es  mit  —  E.  Dies  war  das 
Erste,  was  nach  der  Theorie  gewils  nicht  geschehn  sollte,  denn  wofern 
im  Elektrometer  von  der  vorgeblichen  Flüssigkeit,  die  man  —  E  nennt, 
noch  genug  vorhanden  war,  um  damit  zu  divergiren,  so  müfste  das  abge- 
stofsene  -)-  E  nicht  frey  genug  seyn,  um  durch  blofse  Berührung  mit  dem 
Finger  herausgezogen  zu  werden;  und  doch  geschieht  es  so.  Ferner, 
nachdem  einmal  wirklich,  gleichviel  ob  mit  oder  ohne  Zustimmung  der 
Hypothese,  -j-  E  dem  Elektrometer  entzogen  wurde,  kann  nun  wenigstens 
oben  nichts  anderes  vorhanden  seyn  als  —  E.  Dies  ist  auch  vorhanden, 
und  bewirkt  Divergenz.  Aber  warum  will  es  sich  keinem  Leiter  mittheilen? 
Vielleicht,  weil  es  gebunden  wird  durch  das  im  Stativ  vorhandene  -(-  E? 
Warum  flieht  es  denn  sogar  vor  dem  angenäherten  Leiter?  Dies  Fliehen 
ist  nach  allen  unsem  Kenntnissen  nur  möglich,  wofern  der  Leiter,  der 
übrigens  gar  nicht  isolirt  ist,  sich  in  einem  dem  Elektrometer  gleichartigen 
Zustande  befindet.  Also  mufs  irgend  eine  Vertheilung  im  Leiter  vorgehn; 
diese  aber  ist  derjenigen,  welche  von  dem  di-[540]vergirenden  Elektro- 
meter berühren  könnte,  gerade  entgegengesetzt;  und  übertrifft  dieselbe  an 
Stärke ;  wofern  das  Elektrometer  selbst  irgend  einen  Einflufs  auf  den  ange- 
näherten Leiter  ausübt;  und  das  thut  es  gewifs,  da  es  vor  ihm  flieht, 
obgleich  diese  Wirkung  gerade  das  Gegentheil  der  erwarteten  ist.  Woher 
denn  kommt  die  übermächtige  Vertheilung?  Sie  kann  nur  aus  dem  obem 
Theile  des  Siegellacks  kommen;  und  dort  mufs  -f-  E  vorhanden  seyn, 
um  das  —  E  des  Leiters  herbeyzuziehn.  Noch  mehr!  dies  -f-  E  mufs 
vermöge  des  -f-  E,  welches  dem  Stativ  ist  mitgetheilt  worden,  oben  wirk- 
sam seyn,  denn  sobald  man  letzteres  berührt,  hört  alles  Paradoxe  der  Er- 
scheinung auf,  und  das  Elektrometer  bietet  von  selbst  dem  Leiter  sein 
—  E  an ;  zum  Zeichen,  dafs  der  Leiter  sich  nun  allerdings  von  ihm  nach 
gewohnter  Weise  beherrschen  läfst.  Die  Symmersche  Hypothese  wird 
aber  nimmermehr  begreiflich  machen,  woher  oben  noch  -\-  E  komme, 
nachdem  schon  die   erste   Berührung  es  hinwegnahm. 

Jetzt  wollen  wir  das  Phänomen  nach  der  Franklinschen  Theorie  er- 
klären. Allerdings  ist  oben  -\-  E  frey  geworden,  und  hinweggenommen. 
Nun  divergirt  das  Elektrometer,  weil  es  von  der  umgebenden  Luft  ange- 
zogen wird.  Zugleich  geht  der  Druck  des  -f-  E,  durch  welchen  jenes  im 
Elektrometer  frey  wurde,  noch  weiter  fort  in  die  Luft  hinaus,  welche  hier 
als  eine  Verlängerung  der  Siegellackstange  anzusehn  ist;  und  dadurch  wird 
dieselbe  Vertheilung  (wie  man  es  nennt),  bis  in  den  angenäherten  Leiter 
hinein  fortgesetzt ;  daher  nun  kein  Wunder  ist,  dafs  er,  weit  entfernt,  das 
Elektrometer  entladen   zu  können,   es  vielmehr  zurücktreibt. 

Hätte  man  umgekehrt  dem  Stativ  Elektricität  entzogen,  oder  es  negativ 


5-Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  2.Abth.  Analyt. Unters.  3-Cap.  V.d.Elektricitätetc.     3  1  1 

elektrisirt :  so  würde  die  Polarisirung  der  Siegellackstange  nunmehr  unter- 
wärts gerichtet  worden  seyn.  Oben  im  Elektrometer  hätte  Elektri-[54i] 
cität  gemangelt;  die  Berührung  hätte  sie  herbeygeschafft,  und  Divergenz 
bewirkt;  durch  die  Luft  aber  würde  sich  dennoch  der  Druck  nach  unten 
hin  fortgepflanzt  haben ;  der  angenäherte  Leiter  mufste  demnach  Elektricität 
herbeyführen,  und  das   schon   divergirende  Elektrometer  zurückstofsen. 

So  leicht  ist  hier  die  Erklärung;  blofs  darum,  weil  nicht  eine  zweyte 
Flüssigkeit  im  Wege  steht,  die  nach  der  vorigen  Ansicht  alles  verdarb, 
weil,  wenn  sie  sich  einmischte,  die  ganze  Erfahrung  unmöglich  wurde. 
Wer  die  vorgetragenen  ontologischen  Grundsätze  gefafst  hat,  wird  ohnehin 
an   die  Symmersche   Hypothese  nicht  weiter  denken. 


&.   402. 

Der  Franklinschen  Hypothese  fehlt  bekanntlich  zuvörderst  eine  An- 
gabe des  Grundes  und  eine  genaue  Bestimmung  in  Ansehung  der  Repul- 
sion und  Attraction;  zweytens  eine  Entscheidung,  welche  von  beyden 
Elektricitäten  eigentlich  die  wahre  positive  sey.  Über  den  ersten  Punct 
mag  man  die  bekannten  Thatsachen  mit  den  Begriffen  im  §.  353  und  354 
vergleichen;  über  den  zweyten  haben  wir  die  Gründe  anzugeben,  derent- 
wegen nicht  die  Glas-Elektricität,  sondern  die  des  Harzes  als  die  positive 
anzusehen  ist. 

Das  Vorurtheil,  alle  Attraction  und  Repulsion  sey  gegenseitig,  war  sehr 
natürlich,  da  es  sich  ursprünglich  in  der  That  so  verhält;  aber  eben  so 
schädlich  und  verwirrend,  sobald  man  es  auf  die  bekannten  elektrischen 
Erscheinungen  anwandte.  Dafs  hier  zu  allererst  auf  die  Anhäufung  zu 
sehen  ist,  zeigen  schon  die  einfachsten  Thatsachen.  Mit  grofser  Gewalt 
entladet  sich  eine  Flasche;  aber  mit  grofser  Mühe  bringt  man  es  dahin, 
sie  ganz  von  merklicher  Elektricität  zu  befreyen.  Im  ersten  Falle  wirkt 
die  heftigste  Repul-[542]sion;  hingegen  wenn  es  darauf  ankommt,  durch 
Mittheilung  an  den  Condensator  den  letzten  Rest  aus  der  Flasche  zu 
ziehn,  dann  schleicht  die  Elektricität  so  langsam,  dafs  es  scheint,  sie  habe 
kaum  Grund  von  der  Stelle  zu  gehn.  Die  Verwirrung,  welche  angerichtet 
wurde,  indem  Einige  gar  keine  Repulsion,  sondern  lediglich  Anziehung  des 
Electricums  gegen  die  Körper  sehen  wollten,*  Andre  die  letztre  ganz 
leugneten,  *  :  hätte  vermieden  werden  können ,  wenn  man  sich  nur  einge- 
stehn  wollte,  dafs  beynahe  alle  elektrische  Ereignisse  mit  Attraction  be- 
ginnen, auf  welcher  aber  sogleich  Repulsion  folgt.  Ohne  Anziehung  käme 
kein  Electricum  in  die  Körper  hinein,  noch  aus  einem  in  den  andern; 
ohne  Repulsion  gäbe  es  keine  Verbreitung  auf  die  Oberflächen,  und  keinen 
Schlag,  keine  Ausdehnung  und  Zerstreuung  der  Moleculen ;  lauter  höchst 
bekannte  Gegenstände,  worüber  zu  reden  nicht  nöthig  ist,  da  die  Gründe, 
weshalb  es  so  seyn  mufs,  im  §.  354  und  dem  dortigen  Zusammenhange 
deutlich  genug  entwickelt  sind.  Man  mufs  nur  nicht  an  dem  Vorurtheil 
kleben,  als  wären  repulsive  und  attractive  Kräfte  Grund-Eigenschaften  der 


*  Z.  B.  Singer  in  seinen  Elementen  der  Elektricität,  S.  44. 
"  *   Bi<  IT   in   seinem   bekannten   Werke. 


t  12  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Materie  oder  der  Stoffe;  man  mufs  begreifen,  dafs  dies  allemal  Resultate 
der  innern  und  äufsern  Zustände  derselben  sind,  die  sich  nach  den  Um- 
ständen oftmals  augenblicklich  verändern. 

Sollten  wohl  Diejenigen,  welche  zwey  mit  heftiger  Anziehung  sich 
verbindende  elektrische  Fluida  annehmen,  sich  über  die  gewaltsamen  Aus- 
dehnungen, welche  bey  Funken  unter  Wasser,  und  in  ähnlichen  Versuchen 
vorkommen,  jemals  ernstlich  Rechenschaft  gegeben  haben?  Anziehung  ist 
Verdichtung,  aber  nicht  Ausdehnung.  Dafs  bey  Explosionen,  wo  sich 
etwa  Wasser- [543]s'Loff  und  Sauerstoff  verbinden,  Ausdehnung  vorkommt, 
kann  uns  nicht  wundern,  wenn  wir  den  Wärmestoff  (nach  §.  392)  als 
eesenwärtig-  voiaussetzen.  Aber  wollen  wir  denn  auch  das  Elektricum  als 
umhüllt  vom  Wärmestoff  betrachten?  Kann  hier  eine  Analogie  mit  explo- 
direnden  Gasen  statt  finden?  Vielmehr  das  Electricum  selbst  dehnt  sich 
aus,  in  dem  Augenblick,  wo  es  den  Leiter  verläfst,  wegen  der  nämlichen 
Repulsion,  um  derentwillen  es  ihn  verläfst.  Findet  es  Wasser  oder  ähn- 
liche Materien,  so  dringt  es  mit  der  Attraction,  deren  Grund  in  ihm  selbst 
liegt  (§.  354),  hinein,  an  die  Stelle  derselben  trit  wiederum  sogleich  ein 
zwiefacher  Grund  der  Repulsion  (ebenfalls  §.  354),  und  mit  dieser  zer- 
streut es  die  Moleculen,  in  welche  es  so  eben  eindrang. 

Weit  länger,  als  bey  solchen  Dingen,  die  unmittelbar  aus  den  aufge- 
stellten Principien  folgen,  müssen  wir  bey  den  verschiedenen  erfahrungs- 
mäfsigen  Beweisen  verweilen,  dafs  die  Harzelektricität  die  wahre  positive 
ist.      Bevm   Bekanntesten   wollen  wir  anfangen. 


"O* 


§•  403. 

1)  Den  Unterschied  des  elektrischen  Lichts  kennt  Jedermann.  Ge- 
setzt, die  leuchtenden  Büschel  oder  Puncte  wären  Körper,  welche  vom 
fremden  Lichte  bestrahlt  werden  müfsten,  um  sichtbar  zu  werden,  so  hätte 
man  doch  noch  keinen  hinreichenden  Grund,  die  Büschel  als  kommend 
von  dem  Orte,  wo  sie  schmal  sind,  anzusehn ;  sie  können  auch  sehr  wohl 
einem  Strome  gleichen,   der  viele   Quellen   und  nur  eine   Mündung  hat. 

Nun  sind  aber  diese  Büschel  nicht  durch  fremdes  Licht  sichtbar; 
sondern   jeder    sichtbare   Punct    in    ihnen    strahlt    selbst   nach    allen  Seiten. 

Wenn  also  viele  sichtbare,  das  heifst,  viele  strahlende  Puncte  vor- 
handen sind,  so  wird  die  Elektricität  [544]  aus  eben  so  vielen  Puncten 
entlassen  und  fortgetiieben.  Wenn  hingegen  viele  unsichtbare  Puncte, 
aber  nur  ein  einziger  sichtbarer  Punct,  statt  finden,  dann  wird  von  dem 
Einen  die  Elektricität  ausgesendet,  und  von  vielen  angenommen,  bey 
welchen  letztern  die  Strahlung  einwärts  geht,  und  daher  nicht  in  unsere 
Augen  kommt. 

Diejenigen  Spitzen,  welche  nur  einen  leuchtenden  Punct  zu  zeigen 
pflegen,  müssen  für  die  aussendenden  gelten;  das  heifst,  diejenigen,  welche 
gewöhnlich  als  die  negativen  bezeichnet  werden,  sind  die  wahren  positiven. 

Etwas  Ähnliches  gilt  von  den  Lichtenbergischen  Figuren  auf  dem 
Harzkuchen.  Die  wahre  Elektricität  kann  sich  auf  dem  Harze  nicht 
strahlenförmig  verbreiten;  denn  das  Harz  ist  einer  der  besten  Isolatoren. 
Wenn  aber  irgendwo  einem  Puncte  das  Elektricum  entzogen  worden,  dann 


5.Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  2.  Abth.  Analyt. Unters.  3.Cap.  V.d.Elektricitätetc.      ?  1  ? 

giebt  es  nicht  blofs  einen  bestimmten  andern  Punct,  von  wo  der  Ersatz 
des  Mangels  kommen  könnte,  sondern  die  zufälligsten  Umstände  können 
nun  in  gewissen  Radien  um  den  ersten  Punct  mehr  Ersatz  aus  der  Um- 
gebung,  von  andern   Richtungen  her  weniger,   herbey führen. 

2)  Auf  Kartenblättern,  mit  Zinnober  gefärbt,  soll  der  elektrische  Funke 
seinen  Weg  zeichnen,  indem  er  vom  sogenannten  positiven  Drahte  an, 
erst  eine  Strecke  auf  dem  Blatte  zurücklegt,  und  alsdann  in  den,  um  einen 
Zoll  entfernt,  darunter  gehaltenen  Draht  durch  die  Karte  hindurchschlägt; 
und  dort  einen  ausgebreiteten  Fleck  hervorbringt.  —  Aber  gerade  umge- 
kehrt! Der  Funke  breitet  sich  aus,  wo  er  hervorbricht,  nicht  wo  er  sich 
zusammenzieht;  er  schlägt  ein  Loch,  wo  er  am  stärksten  ist,  nicht  wo  er 
durch  vorhergegangene  Ausstrahlung  schon  geschwächt  ist;  und  es  ent- 
steht durch  den  Druck  auf  die  in  der  Luft  schon  zuvor  befindliche  Elek- 
tricität,  welche  letztere  in  den  empfangenden  Draht  [545]  zuerst  hinein- 
geht, ein  Weg,  auf  welchem  der  jenseits  hervorgebrochene  Funke  nach- 
folgt, weil  derselbe  ihm  vorgezeichnet  und  geöffnet  wurde.  In  verdünnter 
Luft  rückt  das  Loch  mehr  gegen  die  Mitte  vor,  weil  der  Funke  beym 
Hervorbrechen   weniger  Widerstand  findet.  * 

3.  Ein  Flugrad  zwischen  zwey  entgegengesetzt  elektrischen  Drähten 
soll  sich  nach  dem  negativen  Drahte  hin  bewegen,  weil  der  Strom  aus 
dem  positiven  kommt.**  Aber  wieder  umgekehrt!  Die  Absicht  des  Ver- 
suchs mit  zwey  Drähten  war  eben,  die  Strömung  zu  vermeiden.  Die 
Anziehung  also  bleibt  allein  übrig;  und  diese  erfordert,  dafs  das  Flugrad 
dem  Electricum  entgegenkomme.  Die  Elektricität  ist  kein  Wind,  der  die 
Körper  mechanisch  fortführt;  auch  gehn  ihre  Repulsionen  nicht  nach  Einer 
Richtung,  sondern  nach  allen;  aber  so  lange  sie  attractiv  wirkt,  zieht  sie 
die  Körper  dorthin,  woher  sie  selbst  kommt. 

4.  Bey  den  chemischen  Wirkungen,  welche  vorzugsweise  an  der 
Voltaischen  Säule  beobachtet  werden,  gehen  die  besten  Leiter,  die  Metalle, 
und  was  ihnen  ähnlich  ist,  zu  dem  sogenannten  negativen  Pole.  Denn 
dorthin  treibt  sie  die  Anziehung.  Von  der  Wanderung  der  Säuren  u.  s.  w. 
kann   erst  weiterhin  gesprochen  werden. 

5.  Wo  Kupfer  und  Zink  zu  Voltaischen  Wirkungen  zusammengestellt 
werden,  braucht  man  mehr  Kupfer,  und  weniger  Zink.  Marianini  will 
gefunden  haben,  dafs  man  mit  Vortheil  die  Kupferfläche  zehnmal  so  grofs 
nehme,  als  die  Zinkfiache.***  Ginge  nun  die  Elektricität  vom  Kupfer  zum 
Zink:  so  müfste  sie  sich  verdichten,  also  würde  ihre  Repulsion  wachsen, 
und  [546]  davor  hütet  sie  sich.  Vielmehr  geht  sie  vom  schlechtem  Leiter 
zum  besseren,  und  in  diesem  desto  leichter  und  reichlicher,  je  mehr  Fläche 
er  ihr  darbietet. 

6.  Jetzt  wird  von  dem  oben  (§.  400)  angeführten  dritten  Versuche 
gesprochen  werden   können. 

Jeder  veste  Körper  ohne  Ausnahme  wird,  der  Wahrscheinlichkeit  nach 
irgend  einmal  vom  Electricum  ergriffen  worden  seyn.    Er  hat  es  allmählig 


*  Singer  a.  a.  O.  S.    109.  verglichen   mit  S.   361. 
**  A.  a.  O.  S.    110. 
***  Schweiggeks  Journal,   Heft  3,   von    1827. 


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I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


wieder  ausgesendet;  aber  dieses  Aussenden  ist  immer  langsamer  geworden; 
gerade  so  wie  nach  psychologischen  Gesetzen  eine  Hemmungssumme 
immer  langsamer  sinkt,  eine  von  der  Hemmung  freygewordene  Vorstellung 
nicht  plötzlich,  sondern  immer  langsamer  steigt,  indem  der  Grund,  weshalb 
der  Zustand  verändert  wird,  immer  abnimmt.  Der  Körper  behält  daher 
in  jeder  endlichen  Zeit  noch  ein  geringes  Residuum  solcher  Elektricität, 
die  er  einem  Condensator  abzutreten  geneigt  ist;  auch  findet  man,  wie 
oben  angeführt  worden,  wirklich  ein  Residuum  vor;  und  dafs  sich  dasselbe 
als  Harz -Elektricität  zu  erkennen  giebt,   kann  jetzt  nicht  mehr  befremden. 

Wenn  nun,  wie  im  dritten  der  obigen  Versuche,  eine  Reihe  von 
Metallscheiben  in  einem  cylindrischen  Räume  dicht  beysammen  steht,  so 
ist  jede  solche  Scheibe,  falls  das  ganze  Werkzeug  mit  der  Umgebung  ins 
elektrische  Gleichgewicht  gesetzt  wurde,  ein  Ursprung  von  Repulsion  des 
Electricums;  und  diese  Repulsion  wird  durch  die  dünnen  Luftschichten, 
welche  zwischen  den  Scheiben  sind,  ihren  Druck  auf  das  darin  befindliche 
Electricum  fortpflanzen.  Alle  Drückungen  aller  Scheiben  zusammen- 
genommen sind  demnach  nothwendig,  und  es  darf  keine  fehlen,  wofern 
das  Gleichgewicht  des  elektrischen  Drucks  mit  der  Umgebung  bestehen 
soll.  Nun  wurde  aber  in  dem  Versuch  ein  Theil  dieser  Drückungen 
hinweggenommen,  indem  die  zwischen  ge-[547]schobenen  Scheiben  aus 
dem  cylindrischen  Räume  heraustreten.  Also  fehlt  in  demselben  Räume 
ein  geringer  Grad  von  Repulsion;  das  Electricum  verliert  in  den  übrig 
bleibenden  isolirten  Scheiben  an  Spannung;  der  daran  gehaltene  kleine 
Condensator  bekommt  dadurch  Gelegenheit,  etwas  von  dem  ihm  eignen 
Electricum  abzutreten,  und  verräth  nun  bey  der  Prüfung  am  Multiplicator 
in  der  That  einen  Mangel  an  Electricum;  welcher  Mangel  jedoch  nach 
den  gewöhnlichen  Meinungen  und  Redensarten  positive  Elektricität  genannt 
wird.      Und  so  wurde  es  durch  den  Versuch  gefunden. 

Der  vierte  Versuch  kann  nichts  Ähnliches  zeigen.  Denn  hier  wird 
eine  isolirte  Scheibe  enthüllt,  nachdem  sie  zuvor  den  von  ihr  ausgehenden 
Druck  durch  die  Luftschicht  auf  die  ableitenden  Scheiben  hatte  fortpflanzen, 
und  eben  deshalb  als  Condensator  etwas  weniges  mehr  vom  Electricum 
aufnehmen  können  (wiewohl  ihr  dieses  selbst  nur  durch  die  ableitenden 
Scheiben  zugeführt  werden  konnte):  so  steht  sie  nunmehr  nackt;  und 
wendet  ihre  Repulsion  gegen  den  dargebotenen  Leiter,  der,  wenn  er  selbst 
ein  Condensator  ist,  eine  höchst  geringe  Quantität  des  wahren  Electricum 
empfangen  wird.  Daher  dient  der  vierte  Versuch  eigentlich  nur,  um  die 
Richtigkeit  des  dritten,  in  Ansehung  der  Werkzeuge,  womit  er  angestellt 
wurde,  und  die  so  leicht  einer  unerlaubten  Mitwirkung  verdächtig  werden, 
zu  bezeugen  und  zu  bekräftigen;  und  um  deutlicher  auf  den  Punct  hin- 
zuweisen,  worauf  es  beym  dritten  Versuche  eigentlich  ankommt. 

7.  Endlich  dürfen  hier  wohl  noch  ein  paar  Versuche  von  Gerboin 
und  von  Erman  angeführt  werden,*  deren  Erklärung  sehr  schwer  scheint. 
Zuvor  ist  zu  bemerken,  dafs  allemal  das  Ausströmen  des  Electri-\_^^\ums 
leichter  von  Statten  gehen  mufs  als  das  Zusammenziehen  desselben  in  einen 
Leitungsdraht.      Denn      im      letzten     Falle     entsteht     nothivendig     Oscillation. 


*  Singer,  S.  404. 


5. Abschn.  Umrisse d.Naturphil.  2.Abth.  Analyt. Unters.  3-Cap.  V.d.Elektricitätetc.  315 

Indem  sich  das  Electricum  anfängt  zu  sammeln,  erzeugt  die  Anhäufung 
zuerst  Repulsion;  diese  wirkt  der  fernem  Sammlung  auf  einen  Augenblick 
entgegen,  bis  die  Ableitung  weit  genug  vorgeschritten  ist;  alsdann  gelingt 
wiederum  die  Ansammlung  an  der  Drahtspitze  schneller,  aber  die  Ver- 
dichtung hat  erneuerte  Repulsion  zur  Folge  u.  s.  f.  Was  wird  man  nun 
erwarten  müssen  in  Fällen,  wo  die  Vorrichtung  so  getroffen  ist,  dafs  an 
den  Endpuncten  der  Leitungsdrähte  einer  Voltaischen  Säule  sich  leicht 
bewegliche  Materien  befinden,  die  den  entweder  gleichförmigen  oder 
tumultarischen  Durchgang  des  Electricums  verrathen  können?  —  Von 
dieser  Art  nämlich  sind  Gerboins  und  Ermans  Vorrichtungen.  Jener 
brachte  Quecksilber  in  den  Biegungswinkel  einer  doppelschenklichten  Glas- 
röhre, darüber  Wasser,  und  leichte  Körperchen  verschiedener  Art,  dann 
wurden  leitende  Voltaische  Golddrähte  ins  Wasser  geführt.  Der  positive 
Golddraht  (so  lautet  die  Erzählung)  regte  die  leichten  Körperchen  zu 
Bewegungen  auf,  aber  nicht  der  negative.  Verwechseln  wir  nun  die 
Worte  positiv  und  negativ,  so  ist  die  Sache  begreiflich.  Denn  das  Elec- 
tricum ging  aus  den  sogenannten  negativen,  das  heifst,  dem  wahren 
positiven  Drahte  gleichförmig  sich  ausbreitend  ins  Wasser,  ohne  dasselbe 
in  unruhige  Bewegung  zu  versetzen;  und  von  da  ins  Quecksilber;  hingegen 
es  kam  aus  dem  Quecksilber  nicht  wieder  so  gleichförmig  in  den  so- 
genannten positiven,  das  heifst,  in  den  ableitenden  Draht  hinein,  sondern 
hier  entstanden  wechselnde  Attractionen  und  Repulsionen  des  Wassers 
gegen    den   Draht,    folglich    mitgetheilte   Bewegungen    der   leichten   Körper. 

[549]  Noch  sprechender  ist  Ermans  Versuch,  mit  einer  Adhäsions- 
Platte  an  einer  Wage,  welche  im  Begriff,  durch  das  Gegengewicht  los- 
gerissen zu  werden,  einen  Wasser -Cylinder  von  einer  Quecksilber- Fläche 
emporgehoben  hielt.  Die  Platte  zog  sich  herunter,  wenn  von  der  Säule 
ein  Draht  mit  ihr,  der  andre  mit  dem  Quecksilber  in  Verbindung  trat; 
der  Wasser -Cylinder  mufste  sich  demnach  ausbreiten.  Diese  Attraction 
der  Platte  und  des  Quecksilbers  war  jedenfalls  zu  erwarten,  und  sie  blieb 
ziemlich  gleich,  wenn  man  auch  die  Drähte  verwechselte.  Aber  ein  Hin- 
und  Herströmen  des  Wassers  in  der  Richtung  der  Halbmesser  der 
Adhäsions-  Platte  —  also  Oscillation,  —  wurde  nur  dann  bemerkt,  wann 
der  sogenannte  negative  Draht  ins  Quecksilber,  der  sogenannte  positive 
zur  Adhäsions -Platte  reichte.  Das  heifst,  wann  aus  der  breiteren  Fläche 
des  Quecksilbers  das  Electricum  sich  zusammenziehen  mufste,  um  durch 
die  schmalere  Adhäsions -Platte  den  Ausweg  zu  suchen,  den  es  sich  noth- 
wendig  selbst  versperrte  und  dann  wieder  frey  liefs  in  beständiger  Ab- 
wechselung. Im  entgegengesetzten  Falle  konnte  es  gleichförmig  ausströmen, 
und  dann  (sagt  die  Erzählung)  „liegt  das  Wasser  wie  erstarrt  auf  dem 
Quecksilber." 

Wo  nun  so  viele  ganz  verschiedenartige  Versuche  in  dem  nämlichen 
theoretischen  Resultate  zusammentreffen:  da  wird  man  wohl  glauben  dürfen, 
einen  Beweis  geführt  zu  haben,  sofern  es  überhaupt  zu  erwarten  ist,  dafs 
ein  solcher  aus   Erfahrungen  könne  geführt  werden. 

Sehr  natürlich  war  es  übrigens,  dafs  Franklins  richtige  Auffassung 
von  einem  Plus  und  Minus  sich  nur  mühsam  behaupten  konnte,  so  lange 
man  die  Anwendung  dieser  Begriffe  auf  verkehrte  Weise  versuchte.     Diesem 


316  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Irrthum  wurde  das  Hirngespinnst  eines  neutralen  Products  aus  zweyen 
entgegengesetzten  Flüssigkei-[55o]ten  vorgezogen;  in  der  Wirklichkeit  konnte 
Niemand  es  nachweisen. 

§•   404- 

Nachdem  schon  bemerkt  worden,  dafs  in  jedem  Körper  ein  schwaches 
Residuum  der  wahren,  oder  Harz-Elektricität  zu  erwarten  ist,  weil  die 
Repulsion  abnimmt,  und  unendlich  gering  wird,  wenn  der  Zustand  des 
Körpers  dem  elektrischen  Gleichgewichte  mit  der  Umgebung  unendlich 
nahe  kommt:  kann  der  zweyte  der  oben  angegebenen  Versuche,  welchem 
zufolge  der  Erdboden  mit  Hülfe  der  Condensation  jene  Harz-Elektricität 
wirklich  verräth ,  nicht  mehr  auffallen.  Aber  er  giebt  eine  interessante 
Zusammenstellung  mit  der,  nach  gewohnter  Sprache  positiven,  Elektricität 
der  trockenen  Atmosphäre  an  die  Hand. 

Wenn  wir  eine  spitzige  isolirte  Metallstange  hoch  aufrichten,  so  zieht 
sie  nicht  Elektricität  aus  der  Luft  an  sich ,  sondern  sie  entläfst  einen 
Theil  derjenigen,  die  sie  enthielt.  Und  das  ist  ganz  natürlich.  Oben  in 
der  Atmosphäre  ist  es  kalt,  weil  die  Sphären  des  Caloricums  sich  dort 
freyer  bilden  als  unten,  folglich  dasselbe  weniger  zurückgestofsen  wird. 
Aus  dem  nämlichen  Grunde  ist  oben  das  Electricum  ebenfalls  mehr  ge- 
bunden; und  es  kann  auch  noch  mehr  desselben  sich  den  Sphären,  die 
es  schon  bildete,  anschliefsen;  daher  findet  unsre  isolirte  Metallstange  nach 
oben  hin  weniger  Widerstand  gegen  die  Repulsion,  womit  sie  sich  von 
dem  in  ihr  enthaltenen  Electricum  zu  befreyen  sucht.  Prüfen  wir  sie 
nun  mit  den  Werkzeugen,  die  sich  in  unserer  Umgebung  befinden,  so 
zeigen  diese  den  entstandenen  relativen  Mangel,  welchen  wir  unrichtig 
positive  Elektricität  nennen.  Steigen  wir  selbst  auf  einen  Berg:  so  befreyt 
sich  fortwährend  unser  Leib  von  dem  ihm  inwohnenden  Electricum,  und 
wir  fühlen  uns  erfrischt,   indem  diesem  Streben   Genüge  geschieht. 

[551]  Enthielte  wirklich  die  Atmophäre  einen  elektrischen  Überschufs: 
was  würde  folgen?  Sie  würde  ihn  dem  Erdboden,  als  dem  bereit- 
stehenden Leiter,  allmählig  aufdringen;  das  wäre  längst  geschehen,  und 
wir  fänden  den  Boden  damit  mehr  beladen  als  die  Atmosphäre. 

Aber  wirklich  wird  das  Electricum,  welches  um  die  völlig  zerstreuten 
Moleculen  des  Wassers  in  der  Atmosphäre  eben  so  wohl  als  um  die  der 
Luft,  seine  Sphären  gebildet  hat,  frey,  und  merklich,  sobald  jene  Moleculen 
sich  zu  Dünsten  verdichten.  Gerade  wie  beym  Caloricum  im  ähnlichen 
Falle.  Der  Regen,  welcher  herabfällt,  zeigt  daher  oft  genug  starke  negative 
Elektricität.  Jedoch  nicht  immer,  da  mehrere  Wolkenschichten  nach  den 
Gesetzen  der  sogenannten  Vertheilung,  das  heifst,  des  Drucks  der  elek- 
trischen Sphären  (§.  355  und  356)  gegen  einander  wirken.  Der  Regen 
mufs  Glas-Elektricität  zeigen,  wenn  er  bey  seinem  Ursprünge  in  ähnlicher 
Lage  gegen  eine  benachbarte  Wolke  ist,  wie  die  multiplicirenden  Platten 
des  Multiplicators  gegen  diejenige  Platte,  deren  Elektricität  man  prüfen 
will.  Ursprünglich  aber  geht  in  der  Atmosphäre  keine  Zersetzung  der 
Elektricität  vor,  denn  es  ist  an  ihr  nichts  zu  zersetzen,  und  man  würde 
auch  keine  begreifliche  Ursache  anführen  können,  weder  wie  die  Zer- 
setzung entstehe,  noch  wie  sie  Fortdauer  in  einer  durchaus  feuchten  Luft 


5.Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.Abth.  Analyt. Unters.  3.Cap.  V.  d.  Elektricität  etc.    317 

gewinnen  könne;  sondern  der  ganz  natürliche  Anfang  der  elektrischen 
Meteore  ist  die  Verdichtung  der  Elemente  oder  Moleculen,  um  welche, 
so  lange  sie  zerstreut  umherschwebten,  das  Electricum  seine  Sphären 
bildete,   die   bey  der  Verdichtung  nicht  bestehen   können. 

Hier  beyläufig  ein  Wort  über  die  Wirkung  unserer  gewöhnlichen 
Elektrisirmaschine.  Schwerlich  läfst  sich  eine  einfachere  Erklärung  denken 
als  folgende :  Das  Glas,  zur  Schwingung  gereizt  und  doch  daran  gehindert 
[552]  durchs  Reiben,  geräth  in  eine  gezwungene  Lage  seiner  Moleculen. 
In  dieser  Lage,  die  fortdauernd  im  Wechsel  begriffen  ist,  verliert  das 
Electricum  an  der  geriebenen  Stelle  seinen  Zusammenhang  mit  dem  Glase; 
entweicht  also  ins  reibende  Kissen;  desto  leichter,  wenn  letzteres  mit  dem 
leitenden  Amalgama  bedeckt,  und  mit  gehöriger  Ableitung  verbunden  ist. 
Nähert  sich  nun  die  geriebene  Stelle  des  Glases  dem  Conductor,  nachdem 
man  ihr  bis  dahin  durch  die  Hülle  von  Wachstaffent  die  Gemeinschaft 
mit  der  Umgebung  versagte,  so  giebt  ihr  der  Conductor  den  Ersatz  ihres 
Mangels;  wobey  die  ihn  umschliefsende  Luft  sogleich  die  Sphären  des  in 
ihr  enthaltenen  Electricums  gegen  ihn  hin  ausdehnt,  ohne  doch  sich  von 
denselben  zu  trennen.  Die  Begriffe,  welche  hier  vorausgesetzt  werden, 
liegen  in  den  §§.  355 — 357.  Die  Gröfse  des  Conductors  ist  hier  wesent- 
lich, wegen  der  Leichtigkeit,  womit  die  Luft  den  elektrischen  Druck  aus- 
üben soll,  ohne  welchen  das  Metall  nicht  hinlänglich  bereit  zum  schnellen 
Ersatz  des  Mangels  im  Glase  seyn  würde. 

§•   405- 

Bey  weitem  schwerer,  als  Alles,  was  vorhergeht,  ist  die  Frage  nach 
dem  Unterschiede  der  Leiter  und  Nicht -Leiter.  Dafs  man  den  Grund 
dieses  Unterschiedes  in  chemischen  Verhältnissen  am  wenigsten  suchen 
dürfe,  lehren  die  bekanntesten  Beyspiele;  als  von  der  Kohle  und  dem 
Diamanten,  vom  Kali  und  den  andern  Metalloxyden  u.  s.  w.  Möge  nur 
dieser  Umstand    nicht    über    der   neuern   Elektrochemie   vergessen  werden. 

Um  unsrer  Betrachtung  eine  erfahrungsmäfsige  Grundlage  zu  geben, 
erinnern  wir  uns  zuerst  der  ausdehnenden  Gewalt,  welche  alle  Körper 
zu  leiden  haben,  wann  sie  im  hohen  Grade  vom  Electricum  ergriffen 
werden;  einer  Gewalt,  welche  offenbar  nicht  blofs  hie  und  da,  [553]  son- 
dern in  allen  Moleculen  gegenwärtig  ist,  da  sie  dieselben  gänzlich  zerstäuben 
und  neuen  chemischen  Einwirkungen  Preis  geben  kann.  Dasselbe  nun, 
was  die  stärkern  Angriffe  des  Electricums  deutlich  an  den  Tag  legen,  mufs 
bey  schwächerer  Einwirkung  in  geringerm  Grade  geschehen.  Die  Mole- 
culen des  Leiters  also  erleiden  eine  Dehnung,  und  ziehen  sich  wieder 
zusammen;  die  des  Nichtleiters  widersetzen  sich,  wenn  sie  nicht  gesprengt 
werden. 

Dem  gemäfs  werden  wir  als  Grundsatz  annehmen  müssen,  dafs  jeder 
Körper,  den  das  Electricum  ergreift,  es  auch  leitet,  wenn  nicht  entweder 
seine  Configuration ,  oder  die  innern  Zustände  seiner  Elemente,  jener 
Dehnung  ein  Hindernifs  entgegenstellen.  Soll  es  noch  einen  dritten  Fall 
geben,  so  ist  es  dieser,  dafs  der  Körper  vom  Electricum  nicht  wirklich 
ergriffen  wird. 


-.rg  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

O "_ 

Hiemit  kann  nun  zuerst  ein  allgemeiner  Erfahrungssatz  verglichen 
werden.  Erwärmte,  erhitzte  Körper  leiten  allemal  (wofern  nicht  die  Luft 
eine  Ausnahme  macht,  nach  Singers  Behauptung).  Dagegen  wird  Eis 
bey  13  Grad  F.  ein  Nicht-Leiter.  Die  Kälte  ist  ohne  Zweifel  ein  Grund, 
die  Configuration  starr  zu  machen;  die  Wärme  erweicht  das  Starre;  seine 
Moleculen  sind  beweglich;  daher  wird  auch  das  Elektricum  leicht  diejenige 
Erschütterung  oder  Bebung  der  Moleculen  erreichen,  welche  die  Leitung 
erfordert.  Die  geschmeidigen  Metalle  gehören  ebenfalls  hieher;  und  bey 
dieser  Classe  von  Körpern  ist  noch  überdies  die  grofse  Dichtigkeit  ein 
Grund  der  stärkern  Repulsion  und  zugleich  des  leichtern  Übergangs,  wie 
schon  im   §.   355   bemerkt   wurde. 

Beym  Glase  hingegen,  dessen  Durchsichtigkeit  auf  eine  sehr  homogene 
Verbindung  der  Elemente  deutet,  und  dessen  Elasticität  nahe  an  Härte 
sränzt,  wird  wohl  Niemand  eine  leichte  Veränderlichkeit  seiner  innern 
[554]  Configuration  voraussetzen;  wir  dürfen  uns  also  nicht  wundern,  es 
beynahe  an  der  Spitze  der  Nichtleiter  zu  erblicken. 

Dasselbe  mag  vom  Schwefel  gelten ;  desgleichen  von  allen  durch  starkes 
Austrocknen  zusammengeschrumpften   Substanzen. 

Was  aber  sollen  wir  nun  einerseits  von  der  Kohle,  als  einem  Leiter, 
andererseits  vom  Harze  und  seinen  Verwandten  sagen? 

Vielleicht  hilft  uns  bey  der  Kohle  der  Umstand,  dafs  sie  nicht  blols 
zusarnmengetrocknet,  sondern  eine  wahre  Ruine  eines  organischen  Körpers 
ist,  worin  gar  kein  System  von  zusammenpassenden  innern  Zuständen  der 
Elemente  mehr  anzutreffen  ist,  nachdem  wesentliche  Bestandtheile  des- 
selben durchs  Feuer  gewaltsam  hinweggenommen  wurden.  Beherbergt  sie 
nun  vollends  irgend  etwas  von  jenen  fremden  Stoffen,  die  sie  so  begierig 
zu  absorbiren  pflegt,  oder  hat  sie  Wasserstoff  und  Kali  und  Erde  in  sich, 
so  bildet  dies  Alles  in  ihr  ein  Aggregat,  worin  Nichts  genau  zum  Andern 
sehört ;  daher  bev  solcher  Unbestimmtheit  wohl  auch  trotz  dem  äufsern 
Schein  von  Starrheit  eine  innere  Veränderlichkeit  und  Nachgiebigkeit  der 
Elemente  statt  finden  mag,  wie  zur  Leitung  des  so  leicht  in  Repulsion 
versetzten  Electricums  nöthig  ist. 

Dies  gewinnt  an  Wahrscheinlichkeit,  wenn  wir  an  das  Gegenstück 
denken,  was  die  Harze  aufstellen.  Harz,  Öl,  Wachs,  vermuthlich  auch 
Bernstein,  sind  organische  Producte  von  grofser  Beharrlichkeit  und  Be- 
stimmtheit in  dem  System  ihrer  Elemente.  Man  sieht  dies  schon  bey  der 
Vergleichung  mit  Wasser,  welches  leichter  siedet,  während  dagegen  die 
Hitze  das  Öl  nicht  so  leicht  in  Dampf  verwandelt,  und  bey  der  Destilla- 
tion erst  allmählig  einen  Bestandtheil  nach  dem  andern  daraus  losmacht. 
Vermuthlich  würde  das  Electricum,  [555]  wenn  es  sich  der  Elemente 
jener  Körper  bemächtigen  sollte,  eben  so  dieselben  erst  chemisch  trennen 
müssen,  wogegen  sich  das  System  aller  innern  Zustände,  die  dabey  müfsten 
gehemmt  werden,  noch  mehr  als  die  Configuration  sträubt.  Kurz,  es  ist 
wahrscheinlich  ein  Analogon  oder  ein  Rest  von  organischer  Gesundheit, 
wodurch  jene  Nicht -Leiter  das  Electricum  eben  so  abwehren,  wie  der 
lebende  Leib  sich  gegen  eine  Menge  von  äufsern  Einflüssen  stemmt,  die  das 
Leblose  unfehlbar  überwältigen  würden.  So  räthselhaft  dies  klingen  mag, 
so  kann  es  doch  Denjenigen  durchaus  nicht  unerwartet  seyn,  welche  dem 


J.Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.Abth.  Analyt.Unters    3.  Cap.  V.d.Elektricitätetc.      319 

Ganzen  unseres  Vortrags  gefolgt  sind.  Harze  und  Öl  sind  nun  einmal 
zuverlässig  nicht  blolse  Aggregate  ihrer  chemischen  Bestandtheile,  sondern 
ihre  Elemente  besitzen  noch  eine  innere  Bildung,  die  ihnen  in  den  leben- 
den Körpern  zu  Theil  wurde,  welchen  sie  einst  angehönen.  Und  des- 
halb ist  auch  Harz  nur  als  Harz,  nicht  aber  vermöge  seines  Kohlenstoffs, 
Wasserstoffs  u.  s.  w.  ein  Nicht -Leiter  der  Electricität.  Haare,  Federn 
u.   dergl.   befinden  sich  im  gleichen   Falle.   — 

Eben  so  grofs  scheint  endlich  das  Räthsel,  was  uns  die  Luft  als 
Nicht -Leiter  aufgiebt.  Hier  ist  keine  bestimmte  Configuration,  hier  ist 
kein   Svstem  bestimmter  innerer  Zustände  zu  überwinden.      Aber  eine  Er- 

J 

innerung  an  die  Entzündung  explodirender  Gasmischungen  möchte  uns 
wohl  der  Auflösung  des  Räthsels  schnell  genug  nahe  bringen.  Sauerstoff- 
gas und  Wasserstoffgas  sind  lange  Zeit  einander  unzugänglich,  obgleich 
gemischt;  demnach  wahrscheinlich  verhüllt  durch  ihre  Wärmestoff- Sphären. 
Ferner  weifs  man,  dafs  eine  Luftschicht  geladen  wird,  ehe  der  Funke 
durchbricht;  man  kennt  auch  die  Bedingungen  der  Ladungen,  nämlich 
Entweichen  eines  der  Ladung  gleichen  Quantums  von  Elektricität  auf  der 
entgegengesetzten  Seite;  und  der  oben  angeführte  Versuch  [556]  vom 
Elektrometer  oben  auf  der  Siegellackstange  hat  gezeigt,  wie  selbst  die 
besten  Nicht- Leiter  in  beträchtliche  Entfernung  hinaus  ein  solches  Ent- 
weichen oder  wenigstens  Frey -Werden  begünstigen.  Endlich  ist  früherhin 
(§.  356)  die  Veränderung  der  Sphären  des  Electricums  in  kegelähnliche 
Formen  bey  der  Ladung,  und  die  plötzliche  Herstellung  der  Sphären  im 
Augenblicke  des  Durchbrechens,  in  Betracht  gezogen.  Dies  zusammen- 
genommen macht  denn  wohl  begreiflich,  was  da  geschieht,  wo  ein  Funken 
die  Luft  durchbricht.  Das  Elektricum  dringt  von  einer  Seite  in  Kegel- 
form in  die  Elemente  der  Luft;  und  dehnt  sich  im  nächsten  Augenblicke 
aus  den  Elementen  hervortretend  sphärisch  aus;  —  kein  Wunder,  wenn 
dadurch  die  Wärmestoff  -  Hüllen  abgesprengt,  und  die  Elemente  zweyer 
Gasarten  (etwa  Sauerstoff  und  Wasserstoff)  für  einander  entblöfst,  und 
erreichbar  gemacht  werden.  Aber  eben  darum  ist  es  dann  auch  klar, 
worin  der  Widerstand  besteht,  den  die  Luft  dem  Elektricum  nicht  leitend 
entgegensetzt.  Es  sind  die  Wärmestoff- Hüllen,  welche  lange  zusammen- 
haltend das  Electricum,  so  lange  es  nicht  gewaltsam  den  Durchgang  er- 
zwingt, abhalten,  dafs  es  jene  Umwandlungen  seiner  Form  in  Beziehung 
auf  die  Elemente  der  Luft  gar  nicht  zu  Stande  bringen  kann.  Es  erreicht 
also  dieselben  nicht  vollständig  genug,  um  geleitet  zu  werden:  aufser  bey 
verdünnter  Luft,  wo  die  Menge  des  Electricums  gegen  die  Luft  verhältnifs- 
mäfsig  gröfser,   und  seine   Wirkung  stärker  ist. 

§.   406. 

Ohne  Vergleich  bestimmter  und  sicherer,  als  über  den  so  eben  be- 
rührten schwierigen  Gegenstand,  kann  über  die  Voltaischen  Erscheinungen 
gesprochen  werden.  Volta  selbst  hat  den  Anfang  des  Weges  unserer 
Betrachtung  richtig  gebahnt.  Man  mufs  sich  in  der  [557]  Naturphilosophie 
eben  so  sehr  vor  überkünstlichen  Erklärungen  hüten,  als  vor  Oberfläch- 
lichkeit bey   dem,   was  wirklich  tiefer  liegende   Gründe   hat. 


t2o  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


Es  versteht  sich  ganz  von  selbst,  dafs,  wenn  zwey  Körper  zusammen- 
kommen, die  beyde  das  Elektricum,  was  sie  enthalten,  zurückstofsen,  aber 
sich  darin  unterscheiden,  dafs  einer  ihm  freyere  Bewegung  in  seinem 
Innern  gestattet  als  der  andere,  alsdann  das  Electricum  dahin,  wo  es  diese 
Freyheit  findet,  sich  vorzugsweise  wendet;  nicht  aber  als  ob  es  hier  ge- 
bunden wäre,  sondern  so,  dafs  es  hier  einen  Ausweg  sucht,  und  sich  jeder 
etwa  dargebotenen  Ableitung  bedient,  um  zu  entkommen. 

Dies    ist    der    Fall    bey    der    Berührung    von  Zink    und   Kupfer;    oder 
jeder  andern,   die   den   gleichen   Unterschied  in   sich   trägt.     Sowohl  Kupfer 
als  Zink   stofsen,    wenn    sie   können,    das    Electricum   zurück.     Aber  wenn 
man  einem  oder  dem  andern  den  Condensator  darbietet,   so  findet   dieser 
das    Electricum    nicht    im    Zink,    aus    welchem    es    in    den    bessern   Leiter, 
nämlich  ins  Kupfer,   hinübertrat;   sondern   in   dem   letztern,   worin  es  jedoch 
keinesweges  angezogen  wird,    sondern  wegen   der  gröfsern  Anhäufung    nun 
vielmehr    noch    stärkere    Zurückstofsung    erleidet.      Trennt    man    den    Zink 
vom   Kupfer,   um  ihn  allein  durch   einen  Condensator  zu  prüfen,   so  findet 
das  Electricum  des  Condensators  mehr  Freyheit  im  Zink,  der  eine  kleine 
Menge  desselben  ans  Kupfer  abgegeben  hatte;  also  verliert  nun  der  Con- 
densator, und  in  der  gewöhnlichen,  nach  §.  403  unrichtigen  Sprache,  heifst 
alsdann  der  Zustand   desselben   positiv,    während   er   in    der  That    negativ 
ist.      Läfst    man    dagegen    Zink    und   Kupfer    in   Berührung,    entzieht    aber 
dem    Kupfer  seinen    angenommenen    Überschufs:    so    wird    der  Zink    em- 
pfänglich   für   neues  Electricum,    welches    er  jedoch    sogleich    wieder    zum 
Kupfer  hin  fortschickt;   und  dies   [558]    kann    sich  wiederholen,    so   lange 
die  Umstände    die  nämlichen    bleiben.      Häuft    man    die   Plattenpaare,    mit 
zwischen   gelegten  Leitern,   nach  Voltas  Anleitung:    so  sammelt    sich  das 
Electricum  im  Kupferpole ;  und  zwar  immer  von  neuem,  wofern  der  Zink- 
pol ohne  Isolirung  hingestellt,  dem  Kupfer  aber  fortwährend  sein  Vorrath 
entzogen  wird.     Der  Anfang   des  Processes   ist   also   im  Zink;    und   wenn 
beyde  Pole  verbunden  werden,  so  giebt  es  nicht  blofs  dem  Namen  nach, 
sondern  wirklich    einen   elektrischen  Strom  und   Kreislauf,    indem  aus  dem 
Kupferpole  das  Electricum  wieder  in  den  Zink  eintrit,  und  so  fort.     Dies 
setzt   jedoch    voraus,    dafs    der   Andrang    des   im    Kupferpole    angehäuften 
Electricums  grols  genug  sey,  um  die  Rückwirkung  der  ersten  Zinkplatte  zu 
überwinden.     Nach  einiger  Zeit  mufs  daher  bey   fortdauernder  Schliefsung 
der  Kette  der  Strom  zur  Ruhe  kommen.    Die  Zambonischen  Säulen,   welche 
rein  elektrisch  wirken,  zeigen  dies  am  deutlichsten. 


Anmerkung. 

Es  dürfte  nöthig  seyn,  hier  über  den  Begriff'  der  Polarität  etwas  All- 
gemeines einzuschalten;  oder  vielmehr  über  das  Wort;  denn  der  Begriff 
ist  im  Vorigen  schon  längst  entwickelt  worden.  Wenn  ein  Paar  ungleiche 
Elemente  A  und  B  unvollkommen  zusammen  sind,  so  sollen  sie  voll- 
kommen in  einander  eindringen  (§.  269).  Gesetzt  aber,  irgend  eine  Ur- 
sache halte  sie  in  der  Lage  des  unvollkommnen  Zusammen  vest,  so  ist 
jedes  Ende  der  geraden  Linie,  die  sie  bilden,    ein  Pol;    und    beyde    Pole 


5-Abschn.  Umrisse d. Naturphil.   2.  Abth.  Analyt.  Unters.  ß.Cap.  V.  d.Elektricitätetc.  -i*>i 

sind  entgegengesetzt.  Denn  die  innem  Zustände  erfordern,  dafs  die  Linie 
verlängert  werden  sollte.  Geht  man  in  Gedanken  von  A  nach  B,  so  sollte 
dort  ein  neues  A  folgen;  geht  man  von  B  nach  A,  so  fehlt  ein  neues  B. 
Die  Begriffe  hievon  sind  schon  im  §.  342  entwickelt  und  vollständig  er- 
klärt. Will  man  das  Beyspiel  von  Kupfer  und  Zink  hier  unter  der  Vor- 
[559]aussetzung  gebrauchen,  dafs  wirklich  beyde  in  der  Berührungsfläche 
anfingen  in  einander  einzudringen  (welches  bev  Voltaischen  Säulen,  die 
lange  gestanden  haben,  nach  Biot  zuweilen  wirklich  vorkommt),  so  ergiebt 
sich,  dafs  nun  in  der  vom  Kupfer  abgekehrten  Zinkfläche  eine  Forderung 
nach  neuem  Kupfer,  und  eben  so  in  der  von  dem  Zink  abgewendeten 
Kupferfläche  eine  Forderung  nach  neuem  Zink,  vorhanden  ist:  das  Wort 
Forderung  aber  heifst  hier  nichts  anderes  als  dies:  wenn  dort,  wo  Kupfer 
gefordert  wird,  Kupfer  wirklich  einträte,  so  wäre  dies  demjenigen  innern 
Zustande,  welcher  ohnehin  schon  im  Zink  vorhanden  ist,  angemessen; 
und  wenn  dort,  wo  Zink  gefordert  wird,  Zink  wirklich  einträte,  so  wäre 
dies  dem  innem  Zustande,  worin  das  Kupfer  sich  schon  befindet,  an- 
gemessen. 

Dem  allgemeinen  Begriffe  der  Polarität  sind  also  die  Elemente  A  und 
B,  welche  wir  voraussetzten,  gleichgültig;  es  kommt  nur  auf  ihren  Gegen- 
satz, und  darauf  an,  dafs  sie  in  der  gezwungenen  Lage  des  unvollkommnen 
Zusammen,  worin  sie  sich  befinden,  aus  was  immer  für  einem  Grunde 
verharren  müssen.  Polarität  kann  daher  oft  genug  vorhanden  seyn,  ohne 
merklich  zu  werden. 

In  dem  Falle  der  Voltaischen  Säule,  so  lange  man  sie  blofs  als 
Electromotor  betrachtet,  ist  eigentlich  der  wahre  Begriff  der  Polarität  noch 
nicht  dadurch  allein  begründet,  dafs  überhaupt  an  einem  Ende  Elektricität 
ausgestofsen,  und  alsdann  wieder  an  der  andern  Seite  zugelassen  wird. 
Allein  wir  werden  sogleich  die  genaueste  Anwendung  desselben  Begriffes 
zu  machen  Gelegenheit  haben,  indem  wir  zu  den  chemischen  Wirkungen 
der  Säule  übergehn. 


§■   407. 

Die  elektrochemischen  Erscheinungen  bedürfen  be-[56o]kanntlich  nicht 
immer  der  Säule,  sondern  sie  zeigen  sich  in  ihrer  einfachen  Gestalt  schon 
alsdann,  wann  ein  Paar  verschiedenartige  Metalldrähte  in  einerley  Flüssig- 
keit nahe  beysammen  stehn,   und   aufserhalb   derselben   sich   berühren. 

Am  bequemsten  zur  Darstellung  ist  uns  der  Versuch,  in  welchem  ein 
Eisendraht  und  ein  Silberdraht  in  eine  Kupfer -Auflösung  gestellt  werden. 
Berühren  sich  die  Drähte  aufserhalb  des  Flüssigen:  so  legt  sich  metal- 
lisches  Kupfer  an  das  Silber.      Und  warum? 

Zuvörderst  geht  hier  aus  dem  Eisen  das  Electricum  an  der  Be- 
rührungsstelle über  ins  Silber.  An  dem  andern  Ende  des  Silbers  sey  es 
nun  so  eben  im  Begriff  wieder  hervorzutreten:  alsdann  befindet  es  sich  im 
unvollkommenen  Zusammen  mit  dem  Silber.  Gerade  im  Heraustreten  be- 
griffen, bedarf  es  dort,  wo  es  anfängt  hervorzuragen,  neuen  Silbers.  Es 
findet  ein  ähnliches  Metall,  nämlich   Kupfer.     Dies  erfüllt  im  Allgemeinen 

Hi-khart's  Werke.     VIIL  2I 


•3  2  2  I.  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfangen  etc.      1829. 

die  Forderung  nach  Metall;  daher  ist  hier  ein  Grund  der  Attraction  vor- 
handen. Der  Grund  wird  verstärkt,  indem  immer  neues  Electricum  her- 
vordringt, also  die  Forderung  unterhält  und  vervielfältigt.  In  diesem  Augen- 
blicke des  Hervordringens  also  ist  erstlich  Polarität  zwischen  dem  Electricum 
und  dem  Metall  vorhanden;  zweytens  aber  wird  nun  die  Flüssigkeit  auf 
allen  den  Wegen  polarisirt,  die  zwischen  den  Spitzen  der  beyden  Drähte 
können  durch  sie  hindurch  genommen  werden. 

Denn  indem  ein  Element,  oder  einige,  des  Kupfers  sich  der  An- 
ziehung des  aus  dem  Metall  hervordringenden  Electricums  hingeben:  wird 
das  chemische  Gleichgewicht  in  der  Flüssigkeit  dergestalt  gestört,  dafs  die 
Elemente  der  Säure,  aus  welchen  das  Kupfer  zu  scheiden  im  Begriff 
steht,  eine  stärkere  Anziehung  für  das  an  der  entgegengesetzten  Seite 
liegende  Kupfer  gewin-[5Öi]nen.  Dieser  Zug  setzt  sich  nothwendig  fort 
bis  zur  entgegengesetzten  Drahtspitze,  von  der  sich  nun  etwas  ablösen 
sollte,  um  den  Mangel  des  Metalls  in  dem  Puncte,  wo  sie  die  Flüssigkeit 
berührt,  zu  ersetzen.  Umgekehrt  also  zieht  sie  das  nächste  Element  der 
Säure  zu  sich  heran,  da  sie  selbst  unbeweglich  ist.  Die  Verschiedenheit 
des  Erfolgs,  wenn  mehr  oder  weniger  oxydirbare  Metalle  zu  ähnlichen 
Versuchen  genommen  werden,  indem  entweder  Sauerstoffgas  hervortrit  oder 
die  Drahtspitze  oxydirt  wird,  ist  bekannt,  und  bedarf  keiner  Erläuterung. 
Eben  so  wenig  das  entwickelte  Wasserstoffgas,  in  Fällen,  wo  das  her- 
vordringende Electricum  sich  am  Kupferpole  mit  Wasserstoff  anstatt  Metall 
behelfen  mufs;  oder  ähnliche  leicht  begreifliche  Abänderungen  des  näm- 
lichen Versuchs.  Eigentlich  fordert  das  Electricum  gerade  das  Metall, 
aus  welchem  es  so  eben  hervordringt;  und  dies  wird  ihm  zu  Theil,  wo  es 
angefangene  Metall -Vegetationen  fortwachsen  macht.  Darum  setzen  sich 
die  neu  reducirten  Metalltheilchen  nirgends  sonst  hin,  als  nur  an  das 
gleichartige  Metall. 

Der  Hauptpunct  der  Erklärung  liegt  darin,  dafs  die  chemische  Wirkung 
ihren  Anfang  an  dem  Kupferpole  nimmt,  indem  hier  das  Electricum  un- 
mittelbar im  Heraustreten  diejenige  Gewalt  ausübt;  die  es  eben  darum  be- 
sitzt, weil  es  aus  dem  Metall  hervorgeht,  ohne  dafs  eine  Kraft  dieser  Art 
ihm   selbst  als  bleibende   Eigenschaft  inwohnte. 

Wer  nicht  an  die  Anziehung  des  Kupferpols  glaubt,  den  mögen  die- 
jenigen Versuche  überzeugen,  in  welchen  durch  eine  Scheidewand  von 
Blase  in  einer  Glasröhre  das  Wasser  dergestalt  hindurchdringt,  dafs  es  zu- 
letzt in  demjenigen  Schenkel  der  Röhre,  worin  der  Kupferpol  sich  befindet, 
höher   steht  als  im   andern.* 

[562]  Wer  aber  noch  nicht  einsieht,  dafs  er  in  seinen  Gedanken 
den  Begriff  von  eigenthümlichen  Kräften  der  Dinge  rein  aufgeben,  und 
dagegen  den  Begriff  von  inneren  Zuständen  aufnehmen  mufs,  welche  die 
Dinge  eben  insofern  erlangen,  als  sie  mit  einander  zusammen  sind,  der 
findet  vielleicht  Anlafs  zu  besserem  Nachdenken  in  dem  Umstände:  dafs 
die  Flüssigkeit,  womit  die  Zwischenräume  der  Plattenpaare  in  der  Volta- 
ischen  Säule  ausgefüllt  werden,  von  der  gröfsten  Wichtigkeit  ist  für  die 
chemische  Wirkung  der  Säule.      Wir  haben    nämlich    noch    zu    reden    von 


*  Singer  a.  a.  O.    S.  41; 


5-Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  2.Abth.  Analyt. Unters.  3-Cap.  V. d. Elektricität etc.  323 

den  inneren  Zuständen,   in   welche  das  Electricum   bey  seinem  Durchgänge 
durch   die  Säule   abwechselnd  versetzt  wird. 


§•   408. 

Allgemein  ist  anerkannt,  dafs  in  dem  feuchten  Leiter  der  Säule,  also 
am  deutlichsten  in  den  Zellen  des  Trogapparats,  ohne  Zweifel  ähnliche 
Veränderungen  vorgehen,  wie  in  der  Flüssigkeit,  wodurch  die  Kette  ge- 
schlossen wird.  Das  heifst  zuvörderst:  wenn  das  Electricum  aus  einer 
Kupferplatte  in  die  Zelle  übergeht,  so  zieht  es,  im  Augenblicke  des  Her- 
vortretens  aus  dem  Kupfer,  denjenigen  Bestandteil  des  Flüssigen  an  sich, 
welcher  dem  Sauerstoff  entgegengesetzt  ist. 

Nach  dieser  Ansicht  ist  also  eigentlich  der  Sauerstoff  etwas  Über- 
flüssiges, welches  beseitigt  wird,  indem  es  sich  mit  der  nächsten  Zinkplatte 
anfängt  zu  verbinden.  Demnach  wäre  gar  kein  Grund  vorhanden,  noch 
mehr  Sauerstoff  heranzuziehn.  Man  könnte  zwar  sagen:  der  Zink,  indem 
er  das  ihm  inwohnende  Electricum  an  das  Kupfer  abgebe,  mache  sich  da- 
durch freyer,  und  seine  Verwandtschaft  mit  dem  Sauerstoff  könne  desto 
deutlicher  hervortreten.  Allein  das  circulirende  Electricum  in  geschlossener 
Kette  dringt  sich  ihm  stets  [563]  wieder  auf,  und  der  Zink  wird  davon 
im   Grunde   nie  freyer  als  er  Anfangs  war. 

Aber  die  Erfahrung  lehrt,  dafs  die  Säule,  besonders  wenn  ihre  Pole 
verbunden  sind,  Sauerstoff  aus  der  Atmosphäre  rasch  verschluckt.  Es 
mufs  also  in  den  Zellen  an  Sauerstoff  fehlen;  obgleich  er  ursprünglich 
nicht  das  herangezogene,  sondern  das  zurückgestofsene  Element  war.  Eben 
dahin  gehört  der  bekannte  Umstand,  dafs  die  Säule  am  besten  chemisch 
wirkt,   wenn   ihre   Zellen  mit  saurer  Flüssigkeit  gefüllt  sind. 

Wenn  nun  durch  den  Anfang  des  Processes  eher  Überflufs  als  Mangel 
an  Sauerstoff  entstand;  wenn  ferner  die  Verwandtschaft  des  Zinks  zu  ihm 
nicht  erhöht  wird;  wenn  er  endlich  an  Platindrähten,  wo  doch  etwas 
Ahnliches  vorgehn  mufs  wie  an  den  empfangenden  Zinkflächen  der  Säule, 
wirklich  wie  ein  überschüssiges  Wesen  in  Gasgestalt  fortgeschickt  wird:  so 
bleibt  wohl  schwerlich  ein  andrer  Gedanke  zu  fassen  übrig  als  dieser: 
das  Electricum  selbst  trägt  den  Sauerstoff  dorthin,  wo  er  sich  absetzt  oder 
abscheidet. 

Diese  aus  der  Erfahrung  geschöpfte  Annahme  aber  würde  sich  mit 
unserer  frühern  Behauptung  gar  schlecht  vertragen,  wenn  wir  jene  An- 
ziehung, wodurch  das  Metall  oder  jede  Basis  zum  Kupferpole  getrieben  wird, 
einer  eigenthümlichen  und  zur  Natur  des  Electricums  gehörigen  Kraft  des- 
selben zugeschrieben  hätten.  Dann  wäre  der  Widerspruch  vorhanden :  das 
Electricum  sey  von  solcher  Natur,  dals  es  den  Sauerstoff  abstofse  und  auch 
anziehe,  um  ihn  mit  sich  zu  tragen.  In  der  That  werden  alle  Diejenigen, 
welche  sich  ohne  ursprüngliche  Kräfte  der  Dinge  nicht  zu  helfen  wissen, 
die  Last  des  Widerspruchs  fühlen.  Basis  und  Sauerstoff  gehen  nach  ent- 
gegengesetzten Seiten ;  beydes  in  Folge  eines  einzigen  elektrischen  Stromes! 
Mag  nun  in  diesem  Strome  [564]  An:  iehung  oder  Abstofsung  das  herr- 
schende seyn,  immer  giebts  entgegengesetzte  Bewegung  in  einerley  Strom ! 
Wirklich  ist  zu  besorgen,  man  werde  wieder  zwey  Stöme  in  Gang  setzen, 

21* 


3  24  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den   Anfängen  etc.      1829. 

ohne  Scheu  vor  der  engen  Mündung,  womit  sie  sich  behelfen  müfsten; 
daher  es  wohl  nöthig  seyn  könnte,  an  §.  401 — 403  zu  erinnern,  wo  die 
Einheit  des   Elektricums  nachgewiesen,   und   die   Zweyheit  widerlegt  ist. 

Die  Auflösung  des  Räthsels  scheint  nicht  gar  schwer  zu  seyn.  Das 
Elektricum  nämlich  hat  zwar  beym  Ausgange  aus  dem  Metall  in  sich  die 
Forderung,  ganz  von  Metall  erfüllt  zu  seyn,  also  überall  auf  seinem  Wege 
dergleichen  zu  finden,  oder,  wenn  man  diesen  Ausdruck  erlauben  will, 
sich  einen  metallenen  Weg  zu  bauen.  Und  das  thut  es  wirklich,  so  lange 
es  kann;  wie  die  Metall -Vegetationen  sehr  schön  zeigen.  Aber  endlich 
mufs  es  aus  dem  Metall,  oder  was  dem  ähnlich  ist,  hervor.  Nun  stöfst 
es  auf  den  Sauerstoff;  diesem  repräsentirt  es  eben  jetzt  dasselbe  Metall, 
gegen  welches  es  in  Selbsterhaltung  begriffen  ist.  Und  was  ist  die  Folge 
davon?  Zwar  nicht  die,  dafs  etwa  in  dem  Electricum  selbst  nunmehr  ein 
Grund  von  Attraction  zum  Sauerstoff  läge.  Gerade  umgekehrt;  wenn  beyde 
in  Verbindung  treten,  so  mufs  jenes  seinen  innern  Zustand  abändern;  dazu 
gehört  eine  Hemmung  des  vorhandenen  Zustandes;  und  ihr  widersetzt 
sich  demnach  das  Electricum.  Aber  die  Erfahrungen  sagen  auch  nicht, 
dafs  mit  der  unbegreiflich  schnellen  Bewegung  des  letzteren  eine  eben  so 
schnelle  Reise  des  Sauerstoffs  zum  Zinkpole,  oder  zu  den  Zinkflächen  im 
Innern  der  Säule  verbunden  wäre,  wie  es  geschehn  müfste,  wenn  wirklich 
das  Electricum  seinerseits  den  Sauerstoff  ergriffe,  und  ihn  so  mit  sich 
fortführte,  wie  etwan  in  dem  Falle  eines  verflüchtigten  Drahts  oder  Wasser- 
strahls durch  den  Schlag  vieler  geladenen  Flaschen.  [565]  Das  Phänomen 
der  Forttragung  des  Sauerstoffs  durch  die  Wirkung  Voltaischer  Säulen 
macht  bekanntlich  sehr  wenig  Geräusch,  und  es  ereignet  sich  ohne  besondere 
Eile.  Denn  der  Sauerstoff  ist  es,  welcher  das  Electricum  aufsucht,  in 
dem  Augenblick,  wo  es  aus  Metall,  oder  was  dem  ähnlich,  hervortrit. 
Für  ihn  ists  in  diesem  Augenblick  so  viel,  als  verbände  er  sich  mit 
dem  Metall,  dessen  Spur  er  in  dem  Electricum  noch  findet.  Die  Begriffe 
hievon,  nämlich  vom  übertragenen  oder  repräsentirten  Gegensatze,  wurden 
entwickelt  im  §.   343    und  dem   folgenden. 

Der  Sauerstoff  wird  demnach  von  demjenigen  Electricum,  welches  so 
eben  aus  dem  Metall  oder  der  Basis  hervortrit,  so  viele  Elemente  in  sich 
sammeln,  als  er  erreichen  kann.  Er  wird  durch  sie  in  eine  Bewegung 
gerathen,  die  zum  Zinkpol  hin  ihre  Richtung  hat.  Die  innern  Zustände 
der  von  ihm  angezogenen  Elemente  werden  nun  durch  ihn  selbst  gehemmt; 
hiemit  verschwindet  der  Grund  der  Anziehung;  und  das  Electricum  folgt 
seinem  Strome  ohne  den  Sauerstoff.  Aber  der  Strom  ist  nicht  abgelaufen; 
es  kommt  neues  Electricum  in  den  nämlichen  Zuständen  heran,  und  auch 
von  diesem  läfst  der  nämliche  Sauerstoff  sich  eine  Weile  führen,  und  eine 
Strecke  fördern.  So  kommt  er,  langsam  in  einem  höchst  raschen  Strome, 
bis  zu  dem  Metall  hin,  von  welchem  er  entweder  in  Gasform  abgestofsen 
oder  zur  Bildung  einer  Oxyd-Schicht  angenommen  wird.  Und  das  Elec- 
tricum war  gleichsam  wider  Willen  sein  Führer.  Indem  es  aber  von  ihm 
sich  wieder  scheidet,  trägt  es  nunmehr  eine  Selbsterhaltung  gegen  Sauer- 
stoff in  sich;  dadurch  repräsentirt  es  ihn  dem  Metall,  in  welches  sein 
Lauf  es  trägt,  hiedurch  erlangt  es  einen  gesteigerten  Reiz  fürs  Metall,  und 
es  ist  kein  Wunder,  wenn  letzteres  ihm  entgegenkommt,  ja  wenn  allmählig 


5.Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.  Abth.  Analyt. Unters.  3.  Cap.  V.d.Elektriciüitelc.      325 

das  Metall  eine  dem  elektrischen  [566]  Strome  entgegengesetzte  Bewegung 
wirklich  verräth,  wie  man  dies  in  Biots  Beschreibung  derjenigen  Säulen 
finden  wird ,  deren  Platten  nach  lang  anhaltend  geschlossener  Kette  sich 
schwer  trennen  liefsen,  indem  theilweise  das  Kupfer  an  beyden  Seiten  mit 
Zink    bedeckt    gefunden  wurde,    theilweise    sogar  Messing    entstanden  war. 

Hätte  ein  Naturphilosoph  das  Glück  gehabt,  diese  Erfolge  im  Vor- 
aus zu  vermuthen :  man  würde  seine  Behauptungen  nicht  von  gemeinen 
Träumereyen  unterschieden  haben.  In  der  Wirklichkeit  aber  sind  die 
Thatsachen  nun  einmal  gegeben.  Wir  benutzen  sie  als  Beläge  zu  der 
Lehre  von  den  Selbsterhaltungen,  den  aus  ihnen  entstehenden  Attractionen, 
und  jenen  nähern  Bestimmungen,  welche  aus  der  Übertragung  des  Gegen- 
satzes hervorgehn.  Und  schwerlich  wird  man  verlangen  können,  dafs 
Theorie  und  Erfahrung  genauer  zusammenstimmen  sollen,  als  es  hier 
geschieht. 

Wozu  dient  nun  die  Säure  in  der  Flüssigkeit  der  Säule?  Ohne  Zweifel 
um  die  Polarisirung  des  Flüssigen  zu  erleichtern,  und  um  dem  Metall 
mehr  Anziehung  für  das  Electricum,  welches  eben  den  Sauerstoff  verläfst, 
zu  geben.  Wozu  aber  dienen,  im  geringem  Grade,  alkalische  oder  mittel- 
salzige Zusätze  zum  Flüssigen?  Ebenfalls  um  dessen  Polarisirung  zu  er- 
leichtern, und  vielleicht  um  die  Absorption  des  Sauerstoffs  aus  der  Atmo- 
sphäre zu  befördern.  In  der  Säule  selbst  wird  solchergestalt  schon  das 
Electricum  in  diejenigen  innem  Zustände  versetzt,  welche  während  der 
chemischen  Wirkung  in  ihm  abwechselnd  hervortreten  und  gehemmt  wer- 
den  sollen. 

Am  Ende  wollen  wir  hier  noch  des  interessanten  Versuchs  gedenken, 
in  welchem  vier  gebogene  Glasröhren,  gefüllt  mit  einem  blauen  Pflanzen- 
safte, in  die  Kette  gebracht  werden.  Verbindet  man  die  Röhren  durch 
Metalldrähte,  so  werden  die  Schenkel  abwech-[5ö7]selnd  eine  grüne  und 
rothe  Färbung  zeigen;  verbindet  man  sie  aber  mit  angefeuchteter  Baum- 
wolle, so  werden  zwey  Glasröhren  die  grüne  Farbe,  zwey  andre  die  rothe 
annehmen.  Im  letztern  Falle  hängt  das  Flüssige  zusammen,  und  bekommt 
durchgehends  einerley  Polarisirung;  im  ersten  Falle  polarisirt  jeder  Metall- 
draht das  ihm  zunächst  erreichbare  Flüssige.  '  Denn  so  oft  das  Electricum 
aus  dem  Metall  hervortrit,  sucht  es  Metall,  oder  Ähnliches;  so  oft  es 
dem  Sauerstoff"  zugänglich  wurde,  führte  es  ihn  bis  ans  nächste  Metall,  wo 
er  seine  Gränze  findet.  Eben  daher  die  wiederholte  Wasserzersetzung 
durch   mehrere   Metalldrähte  in  einer  Linie. 


§•   409- 

Es  hiefse  aufser  Acht  lassen,  was  sich  von  selbst  aufdringt,  wenn 
man  hier  dem  Wärmestoffe,  der  in  den  Körpern  enthalten  ist,  keine  Auf- 
merksamkeit gönnen  wollte.  Die  Erfahrung  selbst  nöthigt  uns,  zu  be- 
kennen, dafs  es  zweifelhaft  ist,  ob  die  bekannten  Säulen  mit  mehrerem 
Rechte  Calorimotoren  oder  Electromotoren  heifsen.  Der  blofse  Empiriker 
wird  nicht  entscheiden  können,  ob  Voltas  oder  Childrens  Batterie  die  Ab- 


1  ihm  zunächst  Flüssige  SW  („erreichbare"  fehlt). 


ot6  !•  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


änderung  der  andern  sey,  wenn  er  von  der  Priorität  und  der  Wichtigkeit 
der  Entdeckung  hinwegsieht.  Aber  auch  dem  Theoretiker  möchte  leicht 
der  Calorimotor  ein  unbegreifliches  Geheimnifs  bleiben,  wenn  nicht  durch 
die  Kenntnifs  des  Electromotors  vorgearbeitet,  und  der  Weg  der  Betrach- 
tung bezeichnet  wäre. 

Was  mufs  wohl  da  geschehn,  wo  eine  grofse  Menge  Electricum  (auf- 
geregt durch  wenige,  aber  grofse  Platten)  durch  einen  sehr  dünnen  Draht, 
also  gleichsam  durch  eine  enge  Röhre,  in  welcher  jeder  Punct  einigen 
Widerstand  leistet,  hindurchgehn  soll  ?  Je  langsamer  die  Bewegung  anfing, 
um  desto  bedeutender  ist  die  nachfolgende  Beschleunigung ;  daher  wird 
um  desto  gewis-[.5Ö8]ser  ein  Augenblick  eintreten,  in  welchem  die  vordem 
Elemente  den  Widerstand,  den  sie  im  Fortgehn  antreffen,  noch  nicht  über- 
wunden haben,  während  die  hintern  mit  gröfserer  Geschwindigkeit  nach- 
drängen. Die  Repulsion  wird  also  rückwärts  wirkend  diese  Geschwindig- 
keit vermindern,  bis  der  Widerstand  vorn  zum  Weichen  gebracht  ist.  Es 
scheint  demnach,  dafs  hier  keine  gleichförmige  Geschwindigkeit  möglich 
sey,  sondern  vielmehr  eine  Art  von  Pulsschlag  entstehn  müsse,  dessen 
Gewalt  der  Draht  auszuhalten  hat.  Diese  Gewalt  ist  eine  Repulsion  nach 
allen  Seiten,  also  auch  nach  der  Oberfläche  des  Drahts  von  innen  heraus. 
Die  Ungleichförmigkeit  der  Bewegung  wird  an  beyden  Enden  des  Drahts 
am  gröfsten  seyn;  denn  auch  beym  Ausgange  des  Electricums  findet  ein 
ähnlicher  Grund  statt  wie  am  Eingange ;  indem  die  Nachgiebigkeit  einer 
gröfsem  Fläche,  vvorauf  das  Electricum  sich  verbreitet,  die  Geschwindigkeit 
in  den  Augenblicken  vermehrt,  wo  der  Pulsschlag,  der  am  Eingange  sich 
erzeugt,  eine  Beschleunigung  am  Ende  fordert;  während  gleich  darauf  eine 
Art  von  Pause  eintrit,  in  welcher  die  Materie  vermöge  ihrer  Spannung 
die  vorige  Lage  zu  gewinnen  sucht. 

Xun  hat  das  Caloricum  in  der  Materie  eine  solche  Verbindung  ge- 
wonnen, dass  es  sich  so  viel  möglich  einer  Sphären -Bildung  um  die  Ele- 
mente, oder  wenigstens  um  die  Moleculen,  nähert  (§.  350).  Wenn  aber 
die  ruhige  Lage  der  letztern  gestört  wird,  so  können  jene  Sphären,  oder 
was  ihnen  nahe  kommt,  nicht  bestehn ;  sondern  das  Caloricum  erleidet 
Pressungen,  vermöge  deren  es  theils  in  der  Materie  selbst  sich  weiter  zu 
verbreiten  sucht,  theils  aus  ihr  hervorstrahlt.  Mit  andern  Worten,  der 
Draht  wird  sich  erhitzen,  indem  ihm  theils  von  den  Platten,  zwischen 
denen  er  die  Verbindung  stiftet,  Wärmestoff  zugeführt  wird,  theils  eben 
dieser  [56g]  Stoff,  sammt  dem,  welchen  er  schon  enthielt,  als  fühlbare 
Wärme  nach  aufsen  getrieben  wird.  Diese  Erhitzung  wird  an  beyden 
Enden  anfangen,  und  sich  nach  der  Mitte  hin  verbreiten. 

Childrex  beobachtete,  dafs  die  Erhitzung  der  Drähte  allgemein  von 
den  Polen  der  Batterie  anfange;  aber  übrigens  gleich  sey,  von  welchem 
Pole  man  auch  ausgehe,*  und  dies  scheint  mit  der  eben  versuchten  Erklärung 
zusammen  zu   treffen. 

§•   410. 

Wiewohl  nun  die  Aufregung  des  Caloricums,  blofs  in  Ansehung  der 
Erwärmung    betrachtet,    einen    gleichen   Druck    desselben   gegen    die    Mitte 

*  Singer  a.  a.  O.  S.  45;,  459. 


5-Abschn.  Umrisse d. Naturphil.   2.  Abth.  Analyt.Unters.  3.  Cap.  V.d.Elektricitätetc.  327 

sowohl  als  nach  der  Oberfläche  hin,  von  den  beyden  Polen  her,  zur  Folge 
haben  mag:  so  liegt  doch  ein  auffallender  Unterschied  darin,  dafs  es  vom 
Kupferpole  ausgehend ,  einerlev  Weg  mit  dem  elektrischen  Strome  zu 
nehmen  veranlafst  ist;  während,  vom  Zinkpole  herkommend,  es  wider 
diesen  Strom  laufen  soll.  Gleichgültig  kann  dieser  Unterschied  nicht  seyn, 
wenn  wir  voraussetzen  dürfen,  dafs  stets  das  Electricum,  indem  es  sich 
der  Moleculen  der  Materie  bemächtigt,  die  Verbindung  des  Caloricums 
mit  derselben  schwächt,  welches  anzunehmen  wir  Grund  fanden  (§.  405 
am   Ende). 

Hier  läfst  nun  zwar  der  Verfasser  den  Faden  seiner  theoretischen 
Betrachtungen  fallen,  um  nicht  unbehutsame  Behauptungen  zu  wagen. 
Dafs  aber  dieser  Faden  dennoch  wieder  aufgenommen  werden  könne, 
scheint  eine  ganze  Classe  der  merkwürdigsten  Versuche  zu  beweisen.  Es 
sind   die  Versuche  über  den    Thermomagnetismiis. 

Soweit  dem  Verfasser  die  Seebeckschen  Versuche  [570]  bekannt 
geworden  sind,  kommen  sie  sämmtlich  in  dem  Hauptpuncte  zusammen, 
dafs  zwey  Strömungen  der  Wärme  unter  verschiedenen  Umständen  zu- 
sammenstofsen.  Solche  zwey  Strömungen,  und  ein  Unterschied  derselben, 
sind  so  eben  nachgewiesen. 

Erinnern  wir  uns  überdies  an  die  Neigung  des  Caloricums  zur  Sphären- 
bildung um  die  Moleculen  der  Materie ;  und  nehmen  wir  den  Umstand 
hinzu,  dafs  wegen  jenes  elektrischen  Pulsschlages  im  Leitungsdrahte  das 
aufgeregte  Caloricum  nicht  gleichförmig  ausstrahlen  kann,  sondern  immer 
aufs  neue  solche  Pausen  eintreten ,  in  welchen  es  sich  einer  wieder  zu 
gewinnenden  Anschliefsung  an  die  Materie  nähern  mufs:  so  geht  die 
Sphärenbildung  nie  ganz  verloren;  sie  ist  immer  wieder  im  Entstehen  be- 
griffen. Werden  denn  nun  diese  Sphären  (wir  wollen  sie  uns  für  einen 
Augenblick  als  vorhanden  denken)  genau  einen  centralen  Druck  und 
Gegendruck  empfangen  und  ausüben?  Oder  ist  nicht  vielmehr  zu  erwarten, 
dafs  bey  so  grofser  innerer  Aufregung,  wie  beschrieben  worden,  ein  seit- 
wärts gehender  Druck  entstehen  werde,  vermöge  dessen  die  Sphären  sich 
um  die  Moleculen  der  Materie  herumzudrehen  anfangen?  Wenn  aber  alle 
Sphären  einen  Antrieb  dieser  Art  empfangen:  so  mufs  es  eine  Gesammt- 
bewegung,  oder  wenigstens  einen  Gesammtdruck  aller  Sphären  zur  Um- 
drehung nach  einerlev  Richtung  geben;  und  wenn  überhaupt  Magnetismus 
aus  entgegengesetzter  Strömung  der  Wärme  entspringt,  so  ist  die  trans- 
versale oder  vielmehr  circulare  Polarität  um  den  Leitungsdraht  herum 
wenigstens  insofern  erklärt,  als  der  elektrische  Strom  die  Axe  dieser  mag- 
netischen  Kreisung  ausmacht. 

Man  wird  nämlich  von  selbst  bemerken,  dafs  die  Aufregung  des 
Caloricums,  wovon  wir  sprachen,  in  jedem  Puncte,  und  nicht  blofs  an  den 
Enden  des  Leitungsdrahtes  vir  sich  geht.  Überall  wird  die  Materie  [571] 
erschüttert  und  in  Bebung  versetzt,  indem  sie  das  Electricum  fortleitet; 
überall  schwankt  also  auch  das  Caloricum,  und  drängt  von  zwey  Seiten 
her  wider  sich  selbst.  Dies  Drängen  ist  kein  Fortschreiten  nach  der 
Richtung  der  Axe;  wohl  aber  findet  sich  dabey  der  Unterschied,  den 
wir  bemerkten,  in  Ansehung  der  Richtung  des  elektrischen  Stromes,  und 
die    Frage   ist,    ob     nicht   der    gegenseitige    Druck    eben    deshalb,    weil    er 


-J2  8  !•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

schwerlich   für  die  Sphären   genau   central  seyn  kann,   zu  einer  Umdrehung 
antreiben  werde? 

§.   411. 

Jedenfalls  hat  uns  Seebeck  auf  die  Spur  geleitet,  den  Grund  des 
Magnetismus  im  Caloricum  zu  suchen ;  und  es  wird  sich  zeigen,  dafs  diese 
Spur  sich  zu  den  gewöhnlichen  Erscheinungen  des  Magneten  verfolgen 
läfst;  wenn  man  nur  die  Analogie  mit  der  Elektricität,  als  dem  weit  klarem 
Gegenstande,  weder  vernachlässigt  noch  übertreibt.  Es  mufs  sich  nämlich 
einem  Jeden  von  selbst  die  Frage  aufdringen:  ob  denn  das  Caloricum, 
da  es  doch  mit  dem  Electricum  eine  offenbare  Ähnlichkeit  hat,  schlechter- 
dings unfähig  sev,  in  der  Materie  einem  polarischen  Verhältnisse  unter- 
worfen zu  werden  ?  Und  welches  wohl  hiezu  die  Bedingungen  seyn 
mögen  ? 

Wir  stellen  uns  nochmals  jene  polarisirte  Siegellackstange  vor  Augen, 
welche  ein  Elektrometer  trägt  (§.  400  und  401).  Nachdem  aus  dem 
letztern  durch  Berührung  die  oben  frey  gewordene  Elektricität  herausge- 
zogen ist,  bietet  die  Stange  uns  das  Bild  eines  Magneten  dar;  welches 
vollends  ähnlich  seyn  würde,  wenn  es  möglich  wäre,  dasjenige  Electricum, 
welches  dem  Fufsbrette  mitgetheilt  wurde,  in  ihr  zu  fixiren.  Nun  mag 
zwar  ein  so  flüchtiges  Wesen  wie  das  Electricum,  —  welchem  von  Seiten 
der  Materie  keine  Attraction,  wenig-[572]stens  nicht  in  den  gewöhnlichen 
Fällen  seiner  Anhäufung  entgegenkommt  (§.  354),  —  keiner  Fixirung 
fähig  sevn:  aber  mit  dem  Caloricum  verhält  es  sich  anders;  es  pafst  voll- 
kommen zur  Tenacität  des  Magnetismus.  Daher  mag  es  der  Mühe  werth 
seyn  zu  überlegen,  wie  wohl  eine  Materie  beschaffen  seyn  müfste,  worin 
das  Caloricum  sich  in  solcher  Lage  bleibend  befinden  sollte,  wie  das  Elec- 
tricum  vorübergehend  in  der  Siegellackstange. 

Diese  Lage  ist  keine  andre,  als  in  jedem  geladenen  Nichtleiter. 
Statt  der  natürlichen  Sphärenbildung  ist  das  Electricum  von  einer  Seite 
näher  daran,  in  die  Moleculen  der  Materie  einzudringen,  von  der  andern 
mehr  zurückgetrieben.  Dafs  eine  solche  Lage  vorübergehend  entstehe, 
setzt  einen  Druck  durch  Anhäufung  vermittelst  einer  Belegung  voraus; 
sollte  sie  aber  bleibend  werden,  so  müfsten  die  Moleculen  der  Materie 
selbst  so  beschaffen  seyn,  dafs  sie  von  einer  Seite  her  den  Stoff  mehr 
verdichteten,  und  nach  der  andern  hin  ihn  mehr  der  Repulsion  überliefsen, 
die  aus  der  Verdichtung  entspringt. 

Moleculen  von  gleichartiger  Bildung  nach  allen  Richtungen  von  ihrem 
Mittelpuncte  aus  können  so  etwas  nicht  leisten.  Sie  müssen  nicht  blofs 
aus  sehr  ungleichartigen  Elementen  bestehn,  sondern  diese  Elemente  selbst 
müssen  entweder  von  Natur,  oder  durch  einen  Zwang,  der  ihnen  angethan 
worden,  nach  einer  Richtung  gleichsam  auseinander  zu  treten  im  Begriff 
stehn.  Es  mufs  in  ihrer  Anordnung  eine  Folge  wie  a,  b,  a,  b,  u.  s.  w. 
vorkommen,  dergestalt,  dafs  a  und  b  nicht  vollkommen  in  einander  seyen. 
Wenn  nun  der  Gegensatz,  also  die  Anziehung  des  a  gegen  das  Caloricum, 
stärker  ist,  als  des  b;  oder,  wenn  b  wenigstens  demselben  eine  frevere 
Bewegung  gestattet  (ähnlich  dem  Zink  und  Kupfer  für  das  Electricum,  nur 
dafs  dort  Repulsion  un-[573]gleich  war,  so  wie  hier  Attraction):  alsdann 


5.Abschn.  Umrisse  d.Naturphil.  2.  Abth.  Analyt.Unters.  3-Cap.  V. d.Elektricitätetc.      32Q 

mufs  das  Caloricum  um  die  ganze  Molecule  ab  eine  ungleiche,  oder  ver- 
schobene Sphäre   zu  bilden  geneigt  seyn. 

Jetzt  benutzen  wir  eine  Bemerkung  von  Berzelius,  nämlich  dafs 
stets  das  Eisen,  um  Magnetismus  vest  zu  halten,  mit  einem  geringen  An- 
theile  eines  fremdartigen  Stoffes  vereinigt  seyn  mufs ;  mit  Kohle,  oder  mit 
Sauerstoff,  oder  mit  Schwefel,  oder  mit  Phosphor.  Gewifs  sind  diese  Frem- 
den unter  sich  sehr  verschieden;  die  Fremdartigkeit  also  ist  die  Haupt- 
sache. 

Wir  erinnern  uns  ferner,  dafs  Wärme  (das  heilst,  bewegtes  Caloricum) 
den  Magnetismus  schwächt;  Glühen  ihn  zerstört;  Bohren,  Schlagen,  Häm- 
mern ihn  manchmal  hervorbringt.  Das  alles  sind  Gelegenheiten  für  die 
Elemente  der  Moleculen,  eine  besondere  Stellung  entweder  anzunehmen 
oder  zu  verlieren.  Insbesondre  wird  Erweichung  durch  die  Wärme  jeder- 
zeit veranlassen,  dafs  die  Elemente  aus  einer  ihnen  minder  angemessenen 
Lage  in  die  natürliche  zurückstreben.  Wenn  sie  nun  eben  hiemit  den 
Magnetismus  schwächt,  ja  zerstört,  so  dürfen  wir  seinen  ersten  Grund  in 
einer  gezwungenen  Lage  der  Elemente  suchen;  und  dies  war  eben  die  Be- 
dingung verschobener  Sphären  des  gebundenen  Caloricums. 

Es  kommt  nun  darauf  an,  die  Folge  dieser  Voraussetzung  zu  unter- 
suchen. Das  Caloricum  erhält  sich  selbst  sowohl  gegen  die  Bestandteile  a, 
als  gegen  b.  Es  überträgt  auch  seine  innern  Zustände  auf  das  benach- 
barte Caloricum,  wenn  es  gleich  demselben  keine  Bewegung  ertheilt,  weil 
dieses  in  der  bem  chbarten  Materie  seine  bestimmten  Stellen  schon  be- 
sitzt. Die  Übertragung  geht  in  doppelter  Reihe  fort;  denn  sowohl  von  a 
als  von  b  geht  eine  Folge  von  Übertragungen  aus,  die  stets  mit  einander 
fortlaufen.  Dieses  kann  nun  für  andere  Materien  keine  Wirkung  haben, 
wofern  ihr  Ge- [574]  gensatz  gegen  das  Caloricum  keine  hinreichende 
Ähnlichkeit  hat  mit  dem  des  Eisens.  Findet  sich  aber  irgendwo  Eisen 
in  der  Nähe :  so  gelangt  die  doppelte  Reihe  der  übertragenen  Gegensätze 
im  Caloricum  dorthin.  Nun  enthält  dieses  Eisen  schon  das  ihm  zukom- 
mende Caloricum,  es  hat  auch  schon  in  demselben,  und  in  der  ganzen 
Umgebung,  die  ihm  entsprechenden  innern  Zustände  hervorgerufen;  es  ist 
gleichmäfsig  mit  einer  Sphäre  desselben  umgeben.  Sowohl  in  dieser  Sphäre, 
als  im  Innern  des  Eisens,  pflanzt  sich  jene  Verschiebung  fort  (oder  er- 
zeugt sich  von  neuem),  die  wir  im  Magneten  als  die  Folge  seiner  ungleich- 
artigen Elemente,  und  der  Lage  derselben,  voraussetzten.  Wird  nun  das 
Caloricum  von  einer  Seite  gegen  die  andre  gedrängt:  so  fehlt  den  Sphären 
desselben  von  jener  Seite  eine  Ergänzung;  und  an  der  entgegengesetzten 
bietet  es  eine  solche  dar;  wodurch  denn  ein  ähnlicher  Grund  der  schein- 
baren Attraction  entstehen  mufs,  wie  schon  oben  beym  Electricum  bemerkt 
wurde. 

Hierüber  bestimmter  zu  sprechen,  verbietet  uns  zum  Theil  schon  der 
Mangel  an  Erfahrungen.  Die  Kenntnifs  des  Thermomagnetismus  bleibt 
einseitig,  so  lange  man  nur  Magnetismus  durch  Wärme,  und  noch  nicht 
umgekehrt  Wärme  durch  Magneten  zu  erregen  weifs.  Vielleicht  fehlt  es 
auch  noch  an  Versuchen  über  diejenige  Schwächung,  welche  ein  Magnet 
erleidet,  wenn  entweder  sein  Nordpol,  oder  sein  Südpol  allein,  erwärmt 
wird.      Keine  Spur   will    sich    zeigen,    woraus    man    so,    wie    oben    bey  der 


330  !•    Allgemeine  Metaphysik  Debst  den  Anfängen  etc.     1829. 


Elektricität  (§.  403),  den  wahren  Unterschied  des  positiven  und  des  nega- 
tiven Pols  auch  nur  vermuthen  könnte.  Nicht  einmal  darüber  läfst  sich 
etwas  bestimmen,  ob  in  dem  reinen  Eisen  die  Elemente  der  Moleculen 
eine  Verschiebung  erleiden,  wenn  der  Magnet  auf  sie  wirkt,  oder  ob  blofs 
dem  gebundenen  Caloricum  eine  Verschiebung  seiner  Sphären  müsse  [575]  zu- 
geschrieben werden.  Fast  möchte  man  glauben,  dafs  nicht  blofs  das  Zweyte, 
sondern  auch  das  Erste  wirklich  statt  finde.  Denn  sonst  ist  schwer  zu 
begreifen,  warum  auf  den  Unterschied  der  Weichheit  oder  Härte,  nicht 
blofs  des  Eisens,  sondern  auch  des  Stahls,  so  sehr  viel  ankomme,  um  die 
Empfänglichkeit  für  den   Magnetismus   zu  bestimmen. 

Noch  mehr!  Bey  der  Mittheilung,  wodurch  künstliche  Magneten 
gebildet  werden,  müssen  wir  nothwendig  eine  Veränderung  in  der  Lage 
der  Elemente  des  Stahls  selbst  annehmen;  vermöge  welcher  die  ver- 
schobenen Sphären  des  Caloricums  gehindert  sind,  ihre  natürliche  Gestalt 
wieder  zu  gewinnen.  Kann  nun  in  dem  harten  Stahl  eine  so  gewaltsame 
Veränderung  vorgehn,  so  erwarten  wir  nicht  zu  viel,  wenn  wir  annehmen, 
dals  schon  in  dem  reinen  Eisen  die  Moleculen  eine  innere  Spannung 
ihrer  ungleichartigen  Elemente  erleiden,  gemäfs  der  Richtung,  nach  welcher 
ein  Magnet  auf  sie  wirkt;  welche  Spannung  sich  jedoch  augenblicklich 
verliert,  oder  verändert,  sobald  der  magnetische  Einfiufs  aufhört,  oder  auch 
indem  etwa  die  Eisenstange  umgekehrt  wird,  in  welchem  Falle  sie  be- 
kanntlich sogleich  die  Pole  wechselt. 

Gemäfs  dieser  Ansicht  nun  würden  die  fremdartigen  Bestandteile, 
welche  vorhanden  seyn  müssen,  wofern  der  Magnetismus  sich  im  Eisen 
vestsetzen  soll,  eigentlich  nur  dazu  dienen,  um  die  Rückkehr  in  den 
vorigen  Stand  zu  erschweren;  und  die  Polarisirung  läge  demnach  in  der 
That  ganz  in  den  wesentlichen  Bestandtheilen  des  Eisens  selbst.  Hiemit 
wird  auch  begreiflicher,  dafs  nur  so  wenige  Metalle  (Eisen,  Nickel,  Kobalt) 
des  Magnetismus  fähig  sind.  Denn  unsre  vorigen  Betrachtungen  waren 
so  allgemein,  dafs  man  erwarten  könnte,  sie  in  einer  gröfsern  Menge  von 
Fällen  passend  zu  finden. 

[576]  Es  ist  hier  der  Ort,  der  Versuche  Coulombs  zu  erwähnen,  nach 
welchen  kleine  Cylinder  von  Körpern  aller  Art,  an  einfachen  Seidenfäden 
aufgehängt,  sich  von  zweyen  Magneten,  zwischen  denen  sie  schweben, 
in  deren  Richtung  versetzen.  Daraus  folgt  noch  nicht,  dafs  Magnetismus, 
wenn  auch  in  geringem  Grade,  ihnen  zukomme.  Sondern  wenn  einmal 
eine  doppelte  Reihe  innerer  Zustände  des  Caloricums  vom  Magneten  aus 
fortgepflanzt  wird,  so  mufs  man  in  der  Richtung,  worin  die  Fortpflanzung 
statt  findet,  beständige  Oscillation,  wenn  auch  nur  schwach,  zwischen  den 
verschieden1  afficirten  Elementen  des  Caloricums  erwarten  (§.  365);  und 
es  ist  natürlich,  dafs  die  Körper,  in  deren  gebundenem  Caloricum  eine 
solche  Oscillation  entweder  zu  Stande  kommt,  oder  doch  hervorgerufen 
wird,  hiedurch  einen  mechanischen  Antrieb  erhalten,  sich  in  die  Richtung 
der  Oscillation  zu  begeben.  Hätte  Coulomb  nicht  so  vielerley  Körper 
auf  einmal  des  Magnetismus  empfänglich  erachtet,  so  wäre  diese  Em- 
pfänglichkeit annehmlicher;  nachdem  wir  aber  einmal  wissen,    dafs  hiebey 

1  von  den  verschiedenen  afficirten   .   .    .  SW. 


5-Abschn.  Umrisse d. Naturphil.   2.Abth.  Analyt.Unters.  3.Cap.  V.  d.  Elektricitätetc.  33 1 

auf  die  eigentümliche  Natur  des  Eisens,  Nickels,  Kobalts,  sehr  viel,  ja 
beynahe  Alles  ankommt,  so  ist  es  sehr  unerwartet,  den  geringern  Grad 
des  Magnetismus  ohne  besondere  Abstufung  nun  auf  einmal  Allem  zu- 
schreiben zu  huren,  was  in  Form  von  kleinen  Cylindern  an  Seidenfäden 
hängen  kann.  Weit  wahrscheinlicher  ist  eine  allgemeine  mechanische 
Ursache,  welcher  diese  verschiedenen  Körper  ohne  Rücksicht  auf  das 
Eigne  ihrer  Natur  nachgeben   können. 

§.   412. 

Zu  dem  Klarsten,  was  die  Erfahrung  über  den  Magnetismus  darbietet, 
gehört  der  Unterschied  desselben  von  der  Bildung  bestimmter  und  wahr- 
nehmbarer  Pole. 

Polarität  müssen  wir  in  jeder  Molecule  des  Magne-[577]ten  annehmen; 
bleibt  man  aber  bey  diesem  Begriffe  stehen,  so  scheint  die  Reihe  solcher 
polarisirten  Moleculen  einer  unbestimmten  Verlängerung  fähig.  Und 
während  überall  in  der  Reihe  die  zusammenstofsenden  freundschaftlichen 
Pole  sich  binden:  bleibt  nur  an  den  Extremen  eine  kaum  wahrnehmbare 
Polarität.  So  könnte  jeder  Magnet  eine  beliebige  Länge,  aber  nur  zwey 
sichtbare   Pole  haben. 

Nach  der  Erfahrung  aber  hat  ein  zerbrochener  Magnet  nicht  nur 
die  gehörige  Polarität  in  jedem  Stück:  sondern  diese  Polarität  bildet  sich 
allmählig  bestimmer  aus.  Der  magnetische  Mittelpunct  liegt  Anfangs  der 
Bruchfläche  näher;  mit  der  Zeit  rückt  er  mehr  gegen  die  Mitte  hin.* 
Und  überdies  sieht  Jedermann,  dafs  die  magnetische  Wirksamkeit  zwar  von 
den  Polen  gegen  die  Mitte  hin  schnell  abnimmt,  doch  aber  nicht  auf 
einen  Punct  beschränkt  ist;  ein  Gegenstand,  den  die  Physiker  durch  ihre 
Wirkungen  in  die  Ferne  erklären,**  und  dann  doch  noch  zwey  magnetische 
Flüssigkeiten   nöthig  haben ! 

Wir  werden  bey  der  Bildung  zweyer  oder  mehrerer  Pole  soviel  mit 
Wahrscheinlichkeit  annehmen  können,  dafs  die  gleichmäfsige  Polarisirung 
der  Moleculen  im  Magnete,  wovon  schon  gesprochen  worden,  nicht  blofs 
eine  verschobene  und  gleichsam  von  einer  Seite  zur  andern  gedrückte 
Gestalt  der  Sphären  des  Caloricums  um  die  einzelnen  Moleculen,  sondern 
eben  deshalb  auch  ferner  noch  eine  wirkliche,  wenn  auch  nur  geringe, 
Verdrängung  des  Caloricums  von  einem  Pole  zum  andern  hin,  zur  Folge 
habe.  Dem  Druck  von  einer  Seite  her  entspricht  alsdann  der  Widerstand 
von  der  andern;  und  [578]  das  hieiaus  entstehende  Gleichgewicht  mufs  sich 
ändern,  sobald  der  Magnet  zerbrochen  wird;  anfangs  schnell,  dann  langsamer. 

Mehrere  entgegengesetzte  Pole  in  Einer  Reihe  (Folgepuncte)  innerhalb 
des  Wirkungskreises  eines  Magneten  entstehen  zu  sehen,  ist  auffallend;  es 
geschieht  bekanntlich  bey  langen  Stäben;  und  es  ist  offenbar,  dafs  der 
Magnet  diese  Stäbe  nicht  ganz,  oder  wenigstens  nicht  auf  einmal  beherrscht; 
allein  Biots  Erklärung,  wornach  der  entstandene  Magnetismus  dicht  neben 
sich  den  entgegengesetzten  hervorrufen  soll ,  *  möchte  doch  den  Erzeuger 
zu  gering,   und  dessen   Kinder  zu  hoch     schätzen.      Ohne    dabey    zu  ver- 


*  Abhandlung  der  Lehre  vom   Magnet,   von   Tiberius  Cavatxo.      S.   134. 
**  Z.   B.   Haüy,  traue  de  physique,  II,   561. 


332  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


weilen,  bemerken  wir  kurz,  dafs  die  magnetische  Wirkung  Zeit  braucht;** 
dafs  also  der  erzeugende  Magnet  seine  erste  und  stärkste  Wirkung  durch 
einen  langen  Stab  nicht  augenblicklich  fortpflanzt,  sondern  mit  einem 
zurückwirkenden  Widerstände;  dafs,  nachdem  dieser  Widerstand  sich  ver- 
loren hat,  eine  zweyte  schwächere  Wirkung  erfolgen  wird,  die  gleichsam 
eine  zweyte  kürzere  Welle  in  dem  Stabe  hervorbringt;  wiederum  nicht 
ohne  Rückwirkung;  und  dafs  alsdann  eben  so  eine  dritte,  vierte  Welle 
u.  s.  w.,  jede  kürzer  als  die  vorige,  auch  einen  nähern  Pol  bestimmen 
wird;  daher  denn  die  Pole  sich  nicht  in  der  Ordnung  erzeugen  werden, 
wie  man  vom  Magneten  ausgehend  den  Stab  durchlaufen  kann,  sondern 
in  umgekehrter  Richtung.  Diese  Pole  werden  gleichnamig  seyn;  und  ihre 
entgegengesetzten  zwischen  sich  bilden.  Das  beschriebene  Ereignifs  kann 
kaum  ausbleiben,  wenn  es  gewifs  ist,  dafs  erstlich  die  magnetische  Wirk- 
samkeit sich  nur  successiv,  und  mit  Überwindung  eines  Widerstandes, 
fortpflanzt;  zweytens,  dafs  sie  auch  nicht  [579]  im  ersten  Augenblicke 
ganz  ausgeübt  wird,   sondern   mit  abnehmender  Energie  fortdauert.*** 

Den  vorstehenden  Betrachtungen  über  einen  noch  immer  sehr  dunkeln 
Gegenstand  mögen  folgende  Umstände  nachträglich  zur  Bestätigung  dienen. 

Es  ist  allgemein  bekannt,  dafs  ein  Magnet  an  Kraft  verliert,  wiewohl 
nur  langsam,  wenn  er  ungebraucht  liegt.  Aber  das  Liegen  wirkt  auf  keinen 
Gegenstand,  der  mit  sich  selbst  im  völligen  Gleichgewichte  ist.  Irgend 
eine  innere  Abweichung  vom  regelmäfsigen  Zustande  wird  da  vorausgesetzt, 
wo  die  blofse  Ruhe  eine  Veränderung  hervorbringen  soll.  Dennoch  mufs 
die  Anomalie  im  Magneten  sehr  stark  an  der  Construction  aller  Theile 
in  ihm  bevestigt  seyn,  und  man  kann  sie  nicht  in  Demjenigen  suchen, 
was  leicht  kommt  und  geht.  Dieser  Umstand  trifft  zusammen  mit  der 
Voraussetzung  einer  besondern  Lage  der  Elemente  in  den  Moleculen,  die 
sich  beym  Erweichen  durch  Wärme  nicht  würde  halten  können,  und  schon 
in  der  gewöhnlichen  Temperatur  sich  allmählig  einer  mehr  angemessenen 
Configuration  annähert. 

Umgekehrt  wächst  die  Kraft  eines  Magneten,  wenn  er  ein  Gewicht 
trägt,  und  wenn  dies  täglich  verstärkt  wird.  Plötzliches  Abreifsen  aber 
des  Gewichts  bringt  plötzlich  einigen  Verlust  der  schon  gewonnenen  Kraft. 
Wie  kann  denn  der  Magnet  dadurch  gewinnen,  dafs  er  wider  die  Schwere 
kämpft  und  von  ihr  Gewalt  leidet?  Denn  die  Vermehrung  eines  an- 
gehängten Bleygewichts  ist  nicht  in  dieselbe  Classe  zu  setzen  mit  der 
Bewahrung  des  Magnetismus  durch  angelegtes  Eisen,  welches  sich  mit  ihm 
in  einerley  Polarisirung  versetzt;  sondern  die  blofse  Gewichtsvermehrung 
ist  nur  eine  Gewalt,  welche  der  innern  Neigung  des  Magneten,  seine 
Ano-[58o]malie  zu  heilen,  entgegenwirkt.  Aber  das  Gewicht,  indem  es 
beständig  herabfallen  will,  zieht  an  den  Elementen  des  polarisirten  Calori- 
cums,  wodurch  es  gehalten,  und  selbst  aus  der  Ferne  schon  zum  Magneten 
hingetrieben  wird.  Dies  Caloricum  seinerseits  ist  in  Attraction  mit  den 
Elementen  sämmtlicher  Moleculen,  und  pflanzt  auf  diese  die  Gewalt  fort, 


*  Biot  a.  a.  O.  Zw.  Bd.  S.  42. 
**  CaVAIXO  a.  a.  O.  S.    165. 
***  Cavallo  a    a.  O.  S.  50. 


5.Abschn.  Umrisse d.  Naturphil.  2.  Abth.  Analyt.Unters.  3.Cap.  V.  d.  Elektricitätetc.      3^3 

die  es  selbst  leidet,  indem  seine  Sphären  noch  mehr  in  die  Länge  gezogen 
werden.  Dadurch  steigt  die  Anomalie,  welche  schon  vorhanden  war  in 
der  Lage  der  Elemente  in  den  Moleculen.  Folglich  steigt  der  Magnetismus 
selbst.  Reifst  man  das  Gewicht  los,  so  wirkt  dies  wie  das  Loslassen  einer 
gespannten  Feder;  die  Elemente  der  Moleculen  ziehn  sich  zurecht,  und 
der   Magnetismus   nimmt  ab. 

Überlegt  man  ferner  die  Stärke  der  magnetischen  Anziehung:  so 
dient  ihr  zwar  die  Schwere  zum  Maafse,  doch  ist  jene  dieser  letztem 
weit  überlegen.  Denn  zum  Gewicht  eines  Schlüssels,  der  schon  einem 
schwachen  Magnet  nur  eine  geringe  Last  ist,  giebt  die  ganze  Erdkugel 
ihren  Beytrag;  da  auf  einem  kleinern  Planeten  das  Gewicht  desselben 
Körpers  geringer  seyn  würde.  Zur  ungefähren  Schätzung  der  magnetischen 
Kraft  und  der  Gravitation  dient  also  das  Verhältnifs  der  Masse  des  Mag- 
neten und  der  Masse  der  Erde.  Andererseits  ist  die  magnetische  Kraft 
sehr  schwach  in  Vergleich  gegen  die  Gewalt  der  elektrischen  Repulsion, 
wenn  sie  die  Moleculen  zerreifst  und  zerstreut,  oder  gar  des  strahlenden 
Caloricums,  wenn  es  trotz  aller  Anziehung  der  Materie  sie  dennoch  ver- 
flüchtigt; oder  auch,  wenn  man  will,  des  Eises,  wenn  es  sich  krystallisirend 
alle  Gefäfse  sprengt,  um  einen  geringen  Zuwachs  an  Volumen  zu  gewinnen. 
Die  gröfste  Gewalt  ist  die,  womit  die  veste  Materie  sich  selbst  aus  ihren 
Elementen  configurirt ;  Caloricum  aber,  und  Electricum  müssen  in  grofsen 
Quantitäten,  und  in  eigner  Bewegung  wirken,  um  [581]  bedeutende  Ge- 
walt zu  äufsern;  und  dann  kommt  ihnen  diese  scheinbare  Kraft  dennoch 
von  den  Elementen  der  Materie,  mit  denen  sie  in  Verbindung  stehn.  Die 
ruhige  Wirkung  des  Magnetismus,  wobey  das  Caloricum  dient,  um  über- 
tragene Gegensätze  in  die  Ferne  zu  verbreiten,  ist  einerseits  nur  ein 
Zeichen  von  der  Gewalt,  womit  die  Elemente  in  den  Moleculen  eine 
bestimmte  Lage  des  Caloricums,  das  sie  umhüllt,  vorschreiben;  anderer- 
seits verräth  sie  durch  ihr  Bleiben  und  Haften  an  der  körperlichen  Masse 
des  Magneten  immer  noch  die  ursprüngliche  Stärke  des  Gegensatzes 
zwischen  der  Materie  und  dem  Caloricum.  Man  wolle  sich  also  nicht 
wundern,  wenn  wir  der  Gravitation  einen  Grund  anweisen,  der  ursprüng- 
lich schwächer  ist  als  der  Grund  des  Magnetismus. 

Auch  darüber  sollte  vielleicht  kaum  Verwunderung  statt  finden,  dafs 
nur  das  Eisen,  und  allenfalls  noch  ein  Paar  andre  Metalle  für  Magnetismus 
empfänglich  sind.  Denn  Magnetismus  ist  Anomalie;  und  Anomalien  sind 
Seltenheiten.  Doch  ist  die  Voraussetzung  des  Magnetismus  nicht  so  streng 
an  bestimmte  Qualitäten  gebunden,  dafs  schlechterdings  keine  Spur  davon 
anderwärts,  als  beym  Eisen,  vorkommen  könnte;  sondern  hier,  wie  überall 
im   Gebiete   unserer  Erkenntnifs,  kommt  es  auf    Verhältnisse  an. 


334  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebsl  den  Anfängen  etc.    1829. 

Viertes  Capitel. 
Von  der  Schwere  und  dem  Lichte. 

§•  413- 

Anziehung  in  die  Ferne,  als  Princip  der  Schwere,  war  bey  dem 
grofsen  Newton  eine  blofse  Redensart,  [582]  um  etwas  Unbekanntes 
einstweilen  zu  beseitigen.  Sie  war  bey  Kant  eine  Kraft;  jedoch  mit 
dem  Vorbehalt  des  Idealisten,  diese  Kraft  sey  dennoch  nur  unser  Begriff, 
und  nichts  an  sich.  Sie  ist  bey  den  Nachsprechern,  die  weder  Newtons 
noch  Kants  Vorsicht  begreifen,  ein  Vorurtheil,  worauf  die  Gemächlichkeit 
ungern  verzichtet.  Das  Vorurtheil  steht  uns  im  Wege;  und  die  empirische 
Naturlehre  gewährt  uns  hier,  oberflächlich  angesehen,  keine  andere  Er- 
leichterung, als  etwa  durch  die  Schweife  der  Kometen,  welchen  zu  gefallen 
man  der  Sonne  aufser  der  anziehenden  auch  noch  ganz  unerwartet  eine 
abstofsende  Kraft  beylegt,  weil  die  Richtung  der  Schweife  von  der  Sonne 
abwärts  geht.     Da  schwächt  denn  wenigstens  eine  Hypothese    die    andre. 

Nicht  besser  steht  die  Lehre  vom  Lichte.  Vor  wenigen  Jahren  hielt 
Biot  das  Emanations- System  für  beynahe  entschieden;  jetzt  hingegen 
meldet  sich  eine  Stimme  nach  der  andern  zu  Gunsten  der  Vibration;  und 
es  wird  behauptet,  dafs  die  Rechnung  mit  den  bekannten  Einwürfen  vom 
Schatten   u.  s.  w.   vollkommen  wohl  fertig  werden  könne. 

Unter  solchen  Umständen  werden  wir  bey  aller  Vorsicht  dennoch 
zu  gewagten  Schritten  genöthigt  seyn,  um  nur  einen  vorläufigen  Ausdruck 
für  diejenige  Überlegung  zu  finden,  welche  von  den  aufgestellten  allgemeinen 
Grundsätzen  ausgeht,  und  deren  kurze  Angabe  hier  des  Zusammenhangs 
wegen  nicht  fehlen  darf.   — 

Ei  st  lieh:  die  Schwere  ist  der  Erfahrung  zufolge  eine  ungleich  schwächere 
Kraft  als  die  bisher  betrachteten.  Leicht  hebt  ein  Magnet  den  dargebotenen 
Schlüssel,  welchen  herabzuziehn  die  Schwere,  das  heifst,  der  ganze  Erd- 
körper, sich  vergebens  bemüht.  Ungeheuer  stark  erscheinen  uns  die 
Kräfte  des  Blitzes,  des  Feuers,  des  heifsen  Dampfs,  der  chemischen  Ver- 
bindung, der  Krystallisation  u.  s.  w.,  weil  wir  gewohnt  sind,  Ge-[583]wichte 
zum  Maafsstabe  in  der  Vergleichung  zu  nehmen;  und  dabey  wird  im  ge- 
meinen Leben  noch  obenein  vergessen,  dafs  ein  Pfund  auf  der  Erde,  auf 
dem  Monde,  auf  der  Sonne  verschieden,  und  dafs  es  gar  nichts  ist  ohne 
die  Masse  eines  ganzen  Weltkörpers. 

Diese  Geringfügigkeit  der  Schwere  in  Vergleich  mit  den  Wirkungen 
des  Caloricums  und  Electricums  giebt  uns  den  ersten  Fingerzeig,  wohin 
wir  unsre  Gedanken  wenden  sollen.  Was  jene  stark  macht,  das  mufs 
hier  schwach  seyn.  Also  von  schwachem  und  zugleich  ungleichem  Gegen- 
satze werden  wir  ausgehn,   nach   §.   339. 

Ztveytens:  Erfahrungsmäfsig  hängt  die  Schwere  ab  von  der  Masse; 
ohne  merklichen  Unterschied  wegen  der  eignen  Natur  des  Körpers,  und 
wegen  seiner  chemischen  Verhältnisse.  Dieselbe  Masse,  welche  sich  als 
träge  in  der  Bewegung  zeigt,  und  deren  Quantum  eigentlich  beym  hori- 
zontalen   Stofse    erkannt    wird,    soll    nach    der    allgemeinen    Aussage    der 


5.Abschn.  Umrisse d.Naturphil.  2.Abth.  Analyt.Unters.  3.  Cap.  V.d.Elektricität  etc.    -i  -i  e 

Physiker  auch  durchs  Gewicht  sich  offenbaren.*  Wir  dürfen  hier  keinen 
Zweifel  wagen;  sondern  müssen  annehmen,  dafs,  wenn  es  sich  anders, 
und  zwar  merklich  anders  verhielte,  dieses  den  Physikern  bev  ihren  zahl- 
losen Versuchen  schon  längst  müfste  aufgefallen   seyn. 

Glücklicherweise  ist  nun  schon  hier  ein  Zusammentreffen  des  zweyten 
Fingerzeigs  der  Erfahrung  mit  dem  ersten.  Die  Forderung,  auf  die  eigne 
Qualität  der  Elemente  solle  nichts  ankommen,  sondern  nur  auf  deren 
Menge,  würde  uns  bey  unsrer  Gewohnheit,  Alles  überall  auf  die  Ver- 
hältnisse der  Qualitäten  zu  gründen,  in  die  gröfste  Verlegenheit  setzen, 
wenn  nicht  schon  von  [584]  selbst  wenigstens  die  Hälfte  der  Schwierigkeit 
hinweggefallen  wäre,  indem  wir  jene  Voraussetzung  des  schwachen  und 
überdies  ungleichen  Gegensatzes  in  Betracht  zogen.  Wir  fanden  nämlich 
(§•  359)'  dafs  ein  solcher  Stoff  die  Materie  vollkommen  leicht  durchdringen 
werde,  weil  er  ihre  innern  Zustände  nicht  merklich  abändern  könne.  Es 
bleibt  nun  noch  die  zweyte  Hälfte  der  Schwierigkeit;  denn  die  eignen 
innern  Zustände  des  Stoffes  werden  unter  sich  verschieden  seyn,  wenn 
er  sich  mit  verschiedenen  Elementen  verbindet.  Und  vielleicht  ist  es 
gut,  dafs  diese  Hälfte  einstweilen  bleibt;  was  hier  schwierig  scheint,  kann 
in  der  Lehre  vom  Lichte  sehr  nöthig  seyn. 

§•  4M- 

Hätte  uns  auch  die  Erfahrung  nichts  von  den  eben  erwähnten 
Fingerzeigen  gegeben:  so  müfsten  wir  dennoch,  der  Consequenz  gemäfs, 
den  bezeichneten  Stoff  aufsuchen;  und  zwar  in  dem  weiten  Räume  zwischen 
den  Weltkörpern.  Denn  als  ein  Mögliches,  nach  dessen  Wirklichkeit  zu 
fragen  ist,  kennen  wir  ihn  schon;  und  auf  ihn  pafst  ganz  besonders  das, 
was  oben  (§.  340)  von  den  übrig  bleibenden  Elementen  zu  sagen  war, 
die  sich  nicht  mit  andern   zu   körperlichen   Massen  verdichten  können. 

Zuerst  nun  müssen  wir  suchen,  uns  den  Begriff  von  dem  angezeigten 
Stoffe,  und  von  dem,  was  er  leisten  mag,  genauer  zu  entwickeln.  Da  er 
in  den  himmlischen  Räumen  vermuthet  wird,  wollen  wir  ihn,  der  leichtern 
Rede  wegen,  Äther  nennen.  Und  da  die  Astronomen  an  dessen  Existenz 
nicht  glauben,  so  erinnern  wir  nochmals,  aber  jetzt  in  anderer  Beziehung, 
an  die  zurückgezogenen  Schweife  der  Kometen;  jedoch  lediglich  deshalb, 
weil  dieser  Umstand  selbst  Astronomen  (z.  B.  Brandes)  veranlafst  hat, 
eine  feine  Mate- [585]  rie  in  den  Himmelsräumen  nicht  ganz  verwerflich 
zu  finden. 

Oben  (§.  354)  wurden  Caloricum  und  Electricum  mit  einander  ver- 
glichen ;  und  zwar  nach  drey  Momenten.  Das  zweyte  dieser  Momente 
war  Attraction  von  Seiten  der  Materie  gegen  das  Caloricum.  An  dessen 
Stelle  trat  Repulsion  von  Seiten  der  Materie  beym  Electricum.  Eben 
dieses  zweyte  Moment  nun  ist  Null  beym  Äther ;  oder  mit  andern  Worten, 
die  Materie  bekümmert  sich  ihrerseits,  in  Ansehung  ihrer  innern  Zustände, 


*:  Man  vergleiche  z.  B.  Biot,  in  der  Erfahrungs  -  Naturlehre,  übet  setzt  von  Wot.ff, 
im  ersten  Bande  S.  42,  wo  er  bekennt:  „es  läfst  sich  keineswegs  a  priori  aussagen, 
ob  die  Antheile  verschiedener  Körper,  welche  gleichviel  wiegen,  wirklich  dieselbe  Menge 
träger  Materie  in  sich  schliefsen." 


236  I<    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.      1829. 

um  ihn  soviel  wie  gar  nicht;  sie  ist  schon  in  solchen  innern  Zuständen, 
neben  welchen  diejenigen  verschwindende  Gröfsen  sind,  die  unmittelbar 
von   ihm  bestimmt  werden  könnten. 

Dennoch  entstehn  mittelbar  sehr  wichtige  Folgen  für  die  Materie 
daraus,  dafs  der  Äther  seinerseits  durch  sie  in  seinen  innern  Zuständen 
Bestimmungen  empfängt.  Das  erste  und  dritte  Moment  jener  Vergleichung 
passen  auch  hier;  nur  weit  minder  als  beym  Caloricum  und  Electricum. 
Jedes  Element  des  Äthers  soll  vollkommen  eindringen,  wo  von  seiner 
Seite  die  Durchdringung  eines  Elements  der  Materie  einmal  begonnen  hat. 
Und  treffen  mehrere  Elemente  des  Äthers  in  einerley  Element  der  Materie 
zusammen :  so  entsteht  unter  ihnen  die  bekannte  Repulsion.  Jedoch  die 
Attraction  ist  gelinde  wegen  der  Schwäche  und  Ungleichheit  des  Gegen- 
satzes (§.  330),  folglich  auch  die  Repulsion,  da  sie  gleich  beginnt,  indem 
sie  nöthig  wird,  und  ein  heftiger  Zusammenstofs  vieler  Elemente  des  Äthers 
nicht  zu  erwarten  ist ,  so  lange  nur  ein  einziges  der  Materie  voraus- 
gesetzt wird. 

Denkt  man  sich  also  Materie  umgeben  vom  Äther :  so  mag  er  sanft 
einströmen  in  ihre  Elemente,  um  sogleich  wieder  nach  allen  Seiten  wie 
ein  Hauch  aus  ihr  hervorgehend  sich  zu  zerstreuen.  Von  gewaltsamer 
Aus-  [586]  dehnung  wie  beym  Caloricum,  von  heftigem  Zerreifsen  und  Zer- 
stäuben der  Materie  wie   beym   Electricum,  ist  hier  nichts  zu  besorgen. 

Eine  gröfsere  Masse  der  Materie  wird  sich  demnach  vom  Äther  durch- 
wandern und  durchfliefsen  lassen,  indem  er  unaufhörlich  mit  der  Bewegung, 
die  er  so  eben  durch  Repulsion  in  einem  Puncte  erlangte,  eindringt  in 
andre,  um  auch  hier  von  neuem  bey  der  geringsten  Anhäufung  zu  ent- 
fliehen. 

Die  Elemente  des  Äthers  werden  einander  in  allen  möglichen  innern 
Zuständen,  die  sie  von  jedem  Elemente  der  Materie  davontrugen,  begegnen; 
sie  werden  einander  alles  Entgegengesetzte,  in  welchem  sie  umherwanderten, 
repräsentiren.  Nun  kennt  man  die  Folge  des  repräsentirten  Gegensatzes; 
es  ist  bald  Zusammenhang,  bald  Abstofsung,  nach  den  Umständen  (§.  344). 
Jedoch  erfolgt  die  letztere  erst  beim  Übermaafse  der  Durchdringung,  und 
je  seltener  dieses  Übermaafs  bey  einer  so  nachgiebigen  Natur,  wie  des 
Äthers,  zu  erwarten  ist,  desto  eher  können  wir  einen  leichten  Zusammen- 
hang als  das  Vorherrschende  ansehen. 

Der  Äther  ist  demzufolge  nicht  blofs  in  poetischen  Bildern,  sondern 
wirklich,  als  ein  höchst  feines  Flüssiges  zu  betrachten,  welches  in  der 
Materie  ungehindert  aus  und  eingeht. 

Allein  wer  beschreibt  uns  nun  genauer  seine  Bewegungen  ?  Hier, 
wo  sich  ohne  Rechnung  kein  vester  Schritt  thun  läfst,  müssen  wir  dennoch 
eine  Vermuthung  wagen ;  gestützt  auf  eine  bekannte  Analogie. 

Man  weifs.  dafs  mehrere  Pendeluhren,  die  einander  nahe  auf  einem 
Brette  aufgestellt  sind,  ihre  Schwingungen  allmählig  gleichzeitig  machen. 
Beym  Äther  nun  dringt  sich  fast  von  selbst  der  Gedanke  auf,  dafs,  wenn 
seine  Elemente  auch  nur  den  mindesten  Zusammenhang  haben,  jenes 
beständige  Aus-  und  Eingehn  nicht  lange  [587]  ungeordnet  bleiben  könne; 
dafs  vielmehr  die  widerstrebenden  Bewegungen  sich  aufheben,  die  verein- 
1  'arten    sich   zusammensetzen  müssen ;    dafs   also    diese    zusammengesetzten 


5.Abschn.  Umrisse  d.Na'turphil.  2.  Abth.  Analyt  Unters.   4.  Cap.  Von  der  Schwere  etc.    337 

Bewegungen    sich    sehr    verstärken  können ;    in   dem   Maafse,    wie    der  Zu- 
sammenhang des  Äthers  es  erlaubt. 

Nun  ist  zur  Repulsion  nur  die  Oberfläche  der  Materie  frey  für  eine 
fortgehende  Bewegung,  während  im  Innern  unaufhörlich  neue  Gründe  der 
Repulsion  und  Attfaction  mit  einander  wechseln,  je  nachdem  die  Elemente 
des  Äthers  in  die  der  Materie  eindringen  und  wieder  herausfahren.  Hat 
also  der  Äther  außerhalb  der  Materie,  welcher  sich  freyer  und  anhaltender 
bewegen  kann,  einigen  Zusammenhang  mit  dem  in  derselben,  so  wird  be- 
sonders dieser  Umstand  die  Bestimmung  herbeyführen,  welche  Regelmäfsig- 
keit  der  Bewegung  endlich  eintreten  müsse.  Und  da  wir  hier  an  die 
Kugelform  der  Weltkörper  denken:  so  mag  uns  auch  der  Versuch  gestattet 
sevn,  ob  eine  Beziehung  auf  Schwere  und  Licht  denkbar  werde,  wenn  wir 
für  die  Oscillation  des  Äthers  die  Regel  annehmen,  dafs  er  sich  in  Kugel- 
schichten ausdehne  und  zusammenziehe.  Zuvörderst  aber  einige  nach- 
trägliche Bemerkungen,  damit  das  Bisherige  nicht  willkührlich  zu  seyn 
scheine. 

§■   415- 

1.  Warum  haben  wir  den  Äther  nicht  als  ein  ruhig  Liegendes,  als 
eine  Art  von  unermefslicher  Atmosphäre  für  die  Weltkörper,  beschrieben  ? 
Die  mittelbare  Attraction  (§.  342)  konnte  auch  dann  zwischen  den  Welt- 
körpern Verbindung  stiften;  und  diese  Voraussetzung  wäre  einfacher,  als 
jene  von  kugelförmigen   Wallungen.      Antwort: 

a)  Oscillation  ist  keine  gesuchte,  sondern  die  natürlichste  Voraussetzung; 
deren  Gegentheil  einen  Beweis  [588]  erfordern  würde  (§.  347).  Sie  ist 
hier  um  desto  unvermeidlicher,  da  die  Repulsion,  sofern  sie  ursprünglich 
nur  vom  Eindringen  des  umgebenden  Äthers  in  einerlev  Element  der 
Materie  herrührt,  schwerlich  so  heftig  werden  kann,  dafs  sie  bis  zur  Zer- 
streuung gehen  sollte.  Wechselnde  Expansion  und  Contraction  des  Äthers 
ist  Alles,  was  sich  erwarten  läfst,  so  lange  man  bey  einzelnen  Moleculen 
der  Materie  stehen  bleibt.  Und  in  grofsen  Massen  ist  theils  ein  Resultat 
aller  einzelnen  Oscillationen,  theils  ein  Erfolg  des  Umstandes  zu  erwarten, 
dafs  der  von  aufsen  umhüllende  Äther  sich  in  die  Bewegung  mit  ein- 
mischen  werde. 

b)  Ein  ruhig  liegender  Äther  würde  wohl  kaum  taugen,  um  zu  er- 
klären, was  erklärt  werden  soll.  Zwar  die  mittelbare  Attraction  könnte 
auch  bey  ihm  ins  Unendliche  gehn:  indem  auch  die  geringsten  Grade  von 
Selbsterhaltung  sich  noch  vermindern  und  abgestuft  fortpflanzen  lassen. 
Allein  hiebey  trit  ein  sehr  abschreckender  Umstand  ein:  es  ist  nämlich 
zwar  wohl  denkbar,  dafs  von  der  Oberfläche  einer  körperlichen  Masse  die 
Attraction,  die  sie  ausübt,  sich  in  weite  Entfernung  fortpflanzen  könne ; 
aber  es  ist  nicht  abzusehen,  wie  das  Innere  der  Masse,  falls  die  Voraus- 
setzung eines  ruhig  liegenden  Äthers  angenommen  würde,  auf  die  Ver- 
stärkung der  nämlichen  Attraction  einen  bestimmenden  Einfluls  gewinnen 
könne.  Denn  wie  stark  die  Selbsterhaltung  des  Äthers  gegen  die  Materie 
werden  kann,  so  stark  wird  sie  schon  durch  die  Elemente  an  der  Ober- 
fläche, da  wir  in  den  Grundbegriff  des  Äthers  das  Merkmal  hineinlegen 
mufsten,    er   stehe    in   sehr   schwachem  und   ungleichem  Gegensatze  gegen 

Hbrbart's  Werke.     VIII.  2  2 


7^8  I-   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

alle  Materie.  Was  sollten  denn  wohl  die  innem  Theile  des  Körpers  noch 
hinzuthun  ?  Derjenige  Äther,  welcher  sich  an  der  Oberfläche  befindet, 
kann  keine  Erhöhung  seiner  innem  Zustände  mehr  annehmen.  Er  wird 
also  auch  nicht  fä-[58g]hig  seyn,  diejenige  Attraction,  welche  vom  Innern 
der  Masse  herrühren  könnte,  fortzupflanzen.  Für  sie  wäre  ein  neues 
Medium  nöthig,  welches  wir  nicht  zu  finden  wissen.  Also  würde  der  ersten 
Forderung,  welche  die  Erfahrung  an  uns  macht,  dafs  nämlich  die  Gravi- 
tation sich  nach  der  Masse  richten  soll,  nicht  Genüge  geleistet.  Daher 
wird  man  sich  nicht  wundern,  dafs  wir  an  der  ohnehin  kaum  zu  erwartenden 
ruhigen  Lage  des  Äthers,  als  an  einer  aus  doppeltem  Grunde  unzulässigen 
Annahme,  gleich  Anfangs  vorübergingen. 

2.  Warum  aber  ist  nicht  eine  fortgehende  Bewegung  des  Äthers,  zu- 
erst einströmend,  dann  ausstrahlend,  ohne  Oscillation,  angenommen  wor- 
den ?  Es  war  oben  die  Rede  von  einem  Drucke,  den  die  äufsem  Sphären 
gegen  die  innern  ausüben  müfsten  (§.  350).  Dieser  Druck  könnte  vielleicht 
Schwere  und   Licht  der  Himmelskörper  zugleich  erklären. 

Wir  wollen  über  diesen  Punct  Niemandem  widersprechen.  Die 
Emissionstheorie  des  Lichts  möchte  sich  damit  vielleicht  am  besten  in 
Verbindung  setzen  lassen.  Und  was  die  Schwere  anlangt:  so  würde  nun 
etwas  eher  begreiflich  werden,  wie  das  Innere  der  Massen  dazu  beytrage. 
Denn  das  Einströmen  würde  alsdann,  wofern  man  den  Äther  als  ein  zu- 
sammenhängendes Flüssiges  betrachtet,  allerdings  von  den  Attractionen  im 
Innern  mit  bestimmt  werden.  Allein  jetzt  möchte  die  Ausstrahlung  Schwierig- 
keit machen ;  eben  weil  der  Äther  Zusammenhang  haben  sollte.  Wie  kämen 
nun  die  ausstrahlenden  Theile  desselben  frey,  und  mit  gleichförmiger  Ge- 
schwindigkeit, durch  die  einströmenden  Elemente  hindurch  ?  Da  möchte 
sich  Jemand  auf  die  Erfahrung  berufen,  und  uns  erinnern  an  glühende 
Körper,  die  im  Feuer  liegend  ihre  Gluth  noch  fortdauernd  erhöhen.  In 
der  That  nehmen  sie  neues  Caloricum  von  allen  Seiten  auf  (z.  B.  wenn 
rothglühendes  Eisen  noch  ferner  bis  [590]  zum  Weifsglühen  erhitzt  wird), 
während  zugleich  die  Repulsion  des  schon  vorhandenen  Wärmestoffs  unsern 
Augen  durchs  Leuchten,  und  dem  Gefühl  durch  die  Hitze  kund  gethan 
wird.  So  nun  möchte  auch  die  Ausstrahlung  des  Äthers  möglich  seyn, 
mitten  hindurch  gehend  durch  dessen  Einströmung.  —  Wir  können  hier 
nichts  entscheiden;  allein  auch  nichts  erklären.  Die  Annahme  der  Oscilla- 
tionen  ist  an  sich,  wie  schon  gezeigt,  natürlicher.  Und  müssen  wir  einmal 
auf  den  Zusammenhang  des  Äthers,  als  auf  einen  bestimmenden  Grund 
der  Energie,  womit  er  einströmt,  etwas  rechnen,  so  kommt  uns  in  Ansehung 
des  Leuchtens  der  Weltkörper  die  Vibrationshypothese  gelegener,  weil  sie 
erlaubt,  Verdichtungen  und  Verdünnungen  der  Lichtstrahlen,  ähnlich  den 
Schallwellen,  anzunehmen. 

Bleiben  wir  also,  bis  auf  bessere  Belehrung,  bey  der  Ansicht,  dafs 
der  Äther  durch  den  Wechsel  t/er  Attraction,  die  er  gegen  die  Masse  der 
Weltkörper  in  allen  Elementen  derselben  ausübt,  und  der  Repulsion,  in 
welche  ihn  sein  eignes  Zusammentreffen  in  diesen  Elementen  versetzt,  in 
eine  oscillirende  Bewegung  geräth,  die  sich  bis  in  unermefsliche  Entfernung 
verbreitet ;  und  suchen  wir  nun  wenigstens  eine  Vermuthung  zu  gewinnen, 
wie   dadurch   zuvörderst  die  Gravitation   denkbar  werde ! 


5-Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2,Abth.  Analyt.Unters.  4.  Cap.  Von  der  Schwere  etc.     33O 

§.    416. 

•    Die   Vermuthung  ist  kurz   folgende : 

Jeder    Körper    veranlaist    den    Äther    zu    einem    besonderen    System 
von  Schwingungen.     Aber  mehrere  Körper  zusammengenommen  ver- 
anlassen in  weiterer  Ferne  mehr    und    mehr  ein  solches  System   von 
Schwingungen,   als  ob  dasselbe  von  ihrem  gemeinschaftlichen  Schwei- 
puncte    ausginge.       Daher    treibt    die    Rückwirkung    des    schwingenden 
Äthers  [591]  sie  wirklich  gegen   ihren  Schweipiuut   hin:  und    je   näher 
sie  demselben  kommen,   desto  vollkommner  passen  die  Schwingungen 
zu  ihrer  Lage. 
Die    mathematische    Zulässigkeit    dieser  Vermuthung,    desgleichen  die 
Zusätze    oder    Abänderungen,    deren    sie    bedürfen    möchte,     können    nur 
durch   Rechnung   bestimmt   werden.      Zunächst  ist    klar,    dafs    nach    dieser 
Ansicht    eigentlich    nicht    unmittelbar    die    Weltkörper    auf   einander,    oder 
jeder    auf  seine    Bestandtheile,    sondern    die   ganzen    Systeme    von    Äther- 
schwingungen,   die  von  jedem  ausgehen,    gegenseitig    auf  einander  wirken. 
Hiedurch    wird    so    viel    erreicht,    dafs    die    Mechanik    des    Himmels    nicht 
durch   fremdartige   Zusätze  verunreinigt    scheinen    kann.      Denn    es    kommt 
nun  nicht  auf  die  Qualitäten   der  einzelnen  Körper  an,   sondern  nur  darauf, 
wie    die  Schwingungen    des   Äthers    in    einander    eingreifen ;    und    zwar   im 
weiten  Welträume,   so  dafs  dagegen   die   besondem  Bestimmungen  einzelner 
Elemente    des    Äthers,    gemäfs    den    einzelnen    Materien,    die    sie    durch- 
wanderten,   als    unbedeutend    verschwinden.       Hiemit    hebt    sich    die    obige 
Schwierigkeit  vollends   (§.   413    am   Ende). 

Ferner,  wenn  der  Äther  in  Kugelschichten  schwingt,  so  werden  diese 
fast  unfehlbar  an  Dichtigkeit  umgekehrt  wie  das  Quadrat  der  Entfernung 
abnehmen;  daher  die  Frage  wegen  der  Intensität  der  Schwere  nach  ver- 
schiedenen  Entfernungen  wohl  nicht  mehr  schwierig  scheinen  kann. 

Wie  nothwendig  es  aber  ist,  dafs  man  von  diesem  Gegenstande  eine 
rein  mechanische  Theorie  zu  gewinnen  suche,  das  verräth  wohl  am  deut- 
lichsten die  Beobachtungen  der  Sonnenflecken  und  des  Sonnen- Durch- 
messers. Dieser  Durchmesser  soll  sich,  nach  astronomischen  Angaben, 
um  700  Meilen  verändern  können !  Und  doch  hört  man  nichts  von  ent- 
sprechenden Veränderungen  in  den  Bahnen  und  Geschwindigkeiten  der 
[592]  Planeten.  Die  Masse  der  Sonne  war  allein  das,  worauf  es  ankam; 
die  gröfsten  Veränderungen  der  Oberfläche  sind  ohne  Bedeutung,  nämlich 
in  Hinsicht  der  Gravitation.  Aber  die  Oberfläche  bestimmt  die  Aus- 
strahlung; und  jeder  Punct  derselben  strahlt  einzeln  nach  allen  Seiten; 
sonst  könnten  wir  die  Sonnenflecken  nicht  sehen.  Hiemit  hängt  das 
Nächstfolgende  zusammen. 

§•   417- 

Allen  bisherigen  Untersuchungen  über  die  Materie  liegt,  vom  ersten 
Anbeginn   derselben   (§.   269),   der   Hauptsatz   zum   Grunde: 

Attraciion   ist  das  Erste,   Repulsion   das   Zweyte. 

Daher  kann  im  Übergange  von  jener  zu  dieser  noch  manche  nähere 
Bestimmung  hinzukommen ;   und  so  werden  die  Phänomene   der  Repulsion 

22* 


-.iq  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

leicht  bunter  und  verwickelter,  als  die  der  Attraction.  Räumt  man  nun 
die  Wahrscheinlichkeit  ein,  dafs  Gravitation  und  Licht  bey  den  gröfsten 
Himmelskörpern  im  Zusammenhange  stehen  (und  dies  wird  wohl  nöthig 
seyn,  wofern  man  nicht  auf  jede  Vermuthung  über  den  Ursprung  des 
Sonnenlichts  Verzicht  leisten  will),  so  wird  damit  der  eben  angeführte  Satz 
zusammenstimmen. 

Nicht  alle  Himmelskörper  leuchten;  obgleich  alle  scheinbar  einander 
anziehn.  Es  braucht  aber  auch  bey  weitem  nicht  die  ganze  Ausstrahlung 
des  Äthers  von  den  einzelnen  Puncten  der  Oberfläche  auszugehn;  und  es 
braucht  nicht  jede  Ausstrahlung  die  Geschwindigkeit  zu  haben,  welche 
nöthie  wäre,  um  uns  als  Licht  sichtbar  zu  werden.  Erinnert  man  sich 
der  Partialschwingungen  der  Saiten,  wodurch  eine  und  dieselbe  Saite 
mehrere  Töne  zugleich  hören  läfst,  so  darf  man  fragen,  ob  nicht  das 
Licht,  welches  in  unsre  Wahrnehmung  fällt,  vielleicht  blofs  eine  Neben- 
bestimmung für  [593]  andre  langsamere  Schwingungen  des  Äthers  seyn 
möge?  Endlich  giebt  es  Licht  ohne  Schwere,  wie  bey  unsern  Lampen, 
oder  bey  der  Elektricität ;  und  es  wird  auch  nicht  wunderbar  scheinen, 
wenn  die  leuchtenden  Ausstrahlungen  aus  ganz  verschiedenen  Ursachen 
entstehn. 

Hier  möchte  man  wünschen  zu  erfahren,  ob  die  Eigenheiten  der 
chemischen  Anziehung,  welche  sich  in  dem  verschiedenen  Brechungsver- 
mögen zeigt,  auch  dem  Lichte  des  brennenden  Phosphors,  oder  dem 
Flammenbogen  grofser  Voltaischer  Säulen  angehören?  Für  jetzt  können 
wir  nur  in  Ansehung  des  Sonnenlichts  die  folgende  Vermuthung  den  vorigen 
beyfügen. 

Während  die   Gravitation  zunächst    nur    aus    den    gegenseitigen 
Anziehungen    des    Äthers    entspringt,    dessen    Schwingungen    sich    zu 
einem,  dem  Schwerpuncte  der  Massen  angehörigen,  Systeme  zu  ver- 
einigen streben :   trifft  dagegen  der  Lichtstrahl,  welchen  ein  bestimmter 
Punct  der  leuchtenden  Oberfläche  aussendet,   unmittelbar  die  Materie 
des  beleuchteten  Körpers;   und  verräth   dies,   falls  der  Körper  durch- 
sichtig ist,   durch   die  besondere   Brechung,   die  ihm  widerfährt. 
Es  ist  nicht  schicklich,  über  blofse  Vermuthungen  weitläuftig  zu  wer- 
den.    An  die  Thatsache,  dafs  brennbare  Körper  das  Licht  besonders  stark 
anziehen,    und  dafs  sogar   bey    chemischen  Verbindungen   das  Brechungs- 
vermögen sich  aus  den  Bestandtheilen    ergiebt,    erinnert   sich   gewifs  jeder 
Liebhaber  der  Physik.* 

§.  418. 

Aber  mit  welchem  Rechte  (wird  man  fragen)  ist  denn  überhaupt  das 
Licht  mit  der  Schwere  in  Verbindung  gebracht  worden?  Die  Thatsachen 
stehen  selten  [594]  so  verknüpft;  viel  öfter  findet  sich  Licht  ohne 
Schwere.  Darum  hätten  auch  die  Untersuchungen  hierüber  einzeln  auf- 
treten sollen. 

Hierauf  läfst  sich  antworten  mit  Berufung  auf  die  so  eben  erwähnten 
Erfahrungen,  und  auf  beynahe  Alles,  was  vom  Lichte  bekannt  ist.     Überall 


*  Man  vergleiche  z.  B.   BlOT  a.  a.  O.   2.  Bd.   S.  235. 


.Abschn  Umrisse  d.  Naturph.  2.  Abth.  Analyt.  Unters.  4.  Cap.  Von  der  Schwere  etc.      34  1 


zeigt  sich  das  Licht  bey  weitem  mehr  leidend  als  thätig.  Unterworfen 
ist  es  der  Brechung,  Zurückstrahlung,  Zerstreuung,  Beugung,  Polarisirung. 
Wirksam  ist  es  fast  nur  in  Verbindung  mit  der  Wärme,  die  es  entweder 
herbeyführt  oder  hervorlockt.  Wie  oben  von  der  Schwere  bemerkt  wurde, 
sie  sey  eine  höchst  schwache  Kraft,  wenn  sie  nicht  durch  die  Masse  eines 
ganzen  Weltkörpers  multiplicirt  werde,  eben  so  ist  auch  vom  Lichte  zu 
sagen,  dafs  es  ohne  die  Reizbarkeit  unserer  Augen,  und  ohne  die  der 
•  Vegetabilien,  nur  wenig  bemerkbar  seyn  würde.  Sollen  wir  ihm  nun  einen 
Platz  neben  dem  Caloricum  und  Electricum  anweisen,  welches  beydes  wir 
aus  dem  Vorigen  mit  einiger  Bestimmtheit  zu  kennen  glauben,  so  bleibt 
der  Fingerzeig,  dem  wir  hier  folgen  müssen,  der  nämliche,  wie  bey  der 
Gravitation.  Schwacher  und  sehr  ungleicher  Gegensatz  gegen  alle  Elemente 
der  Materie,  —  das  ist  es,  woran  wir  denken  müssen,  wenn  irgendwo 
Etwas  vorkommt,  gegen  welches  die  Materie  mit  ihren  innern  Zuständen 
beynahe  ganz  gleichgültig  scheint,  während  doch  nicht  umgekehrt  die 
Gleichgültigkeit  ihr  vergolten  wird.  Deshalb  würde  eine  sehr  drückende 
Verlegenheit  entstanden  seyn,  wenn  zwey  heterogene  Gegenstände,  wie 
Schwere  und  Licht,  ohne  Spur  von  Zusammenhang  unter  sich,  aus  dem 
nämlichen  Princip  hätten  erklärt  werden  sollen.  Sehr  willkommen  war  es 
dagegen,  dafs  uns  schon  das  Sonnenlicht  auf  den  Gedanken  brachte,  der 
Äther  möge  durch  Bewegungen  in  Masse,  die  Phänomene  der  Gravitation, 
—  hingegen  durch  gesonderte  Strahlung,  wobey  er  in  [,595]  manchen 
Fällen  sein  chemisches  Verhältnifs  zur  Materie  verathen  könne,  die  Phä- 
nomene  des   Lichts   herbeybringen. 

Aber,  wird  weiter  gefragt  werden,  wozu  denn  immer  ein  eigner  Stoff? 
Warum  nicht  zur  Abwechselung  einmal  Kräfte,  oder  Thätigkeiten ,  oder 
wenigstens   Bewegungen? 

Nur  der  letzte  Theil  dieser  Frage  kann  im  gegenwärtigen  Zusammen- 
hange ernsthaft  genommen  werden.  In  der  That  möchte  man  elektrisches 
Licht,  und  leuchtende  Hitze,  am  liebsten  als  blofse  Geschwindigkeit  des 
strahlenden  Electricums  und  Caloricums  betrachten.  Das  wäre  einfacher, 
als  jenen  Äther  zu  Hülfe  zu  rufen,  damit  er  durch  sie  sich  erst  in  Be- 
wegung setzen  lasse.  Und  wer  mag  denn  auch  versichern,  ob  alles  Licht 
gleichartig  ist?  Im  Gegentheil,  wenn  wirklich  das  Sonnenlicht  zum  gröfsten- 
theile  jener  schwingende,  Gravitation  bewirkende  Äther  ist,  so  kann  er 
dennoch  mit  vielem  Caloricum  gemischt  von  der  Sonne  kommen,  und  von 
demselben  gesondert  aus  dem  Monde  zu  uns  wiederkehren;  dies  wird 
wohl  noch  lange  wenigstens  die  leichteste  Erklärung  bleiben,  weshalb  sich 
dem  so  hellen  Lichte  des  Mondes  gar  keine  Wärme  abgewinnen  läfst,  ob- 
gleich es  sogut  wie  der  Sonnenstrahl  die  Atmosphäre  durchdringt  und  in 
ihr  gebrochen  wird.  Rückwärts  also  auch  mag  in  andern  Fällen  das 
Strahlende,  was  unsern  Augen  leuchtet,  Electricum  oder  Caloricum  ge- 
mischt mit  Äther  seyn;  —  wobey  der  Unterschied  der  Mischungen  viel- 
leicht nur  in  einem  Mehr  oder  Weniger  besteht.  Allein  diese  Ungewifsheit 
wird  wohl  irgend  einmal  durch  Experimente  verschwinden.  Es  kommt 
darauf  an,  zu  erfahren,  ob  alle  Lichtquellen  gerade  solches  Licht  ergeben, 
das  sich  in  den  mancherlei  Versuchen  stets  eben  so  wie  das  Sonnenlicht 
verhalte  ? 


- 


342  *•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


Von  diesem  letztern  aber  sagen  uns  die  Physiker  so  bestimmt,  und 
prägen  uns  so  vest  ein,  die  Farben,  in  [596]  welche  es  gebrochen  wird, 
seyen  durchaus  eigenthümlich,  und  durch  keine  fernere  Brechung  und 
Zurückstrahlung  veränderlich:  dafs  viel  Dreistigkeit  dazu  gehört,  um  es 
ihnen  nicht  zu  glauben. 

Will  man  nun  dennoch  das  Licht  selbst  als  blofse  Modification  von 
irgend  etwas  Anderem  ansehn,  so  mag  man  überlegen,  wie  man  mit  allen 
den  Phänomenen,  nicht  blofs  der  Farben,  sondern  ihrer  von  der  Brechung 
noch  verschiedenen  Zerstreuung,  und  nicht  blofs  der  wunderbaren  Neigungen 
leichter  Zurückwerfung  und  leichter  Durchstiahlung,  sondern  auch  mit  den 
verschiedenen  Polarisirungen,  fertig  werden  wolle  und  könne.  Der  Idealis- 
mus hat  hier,  wie  anderwärts,  üble  Gewohnheiten  genug  verschuldet,  die 
er  nicht  verantworten   kann;   denn   er  kann   sich   selbst  nicht  verantworten. 


§•   419- 

Nur  sehr  wenig  kann  hier  von  den  mannigfaltigen  Phänomenen, 
welche  die  Naturforscher  in  Ansehung  des  Lichts  aufstellen,  gesagt  werden, 
so  gewifs  es  auch  ist,  dafs  eine  vollständige  Naturphilosophie  darin  den 
schönsten  Stoff  ihrer  Betrachtungen  finden  sollte. 

Zuvörderst  ist  klar,  dafs  wir  die  Meinung  von  abstofsenden  und  an- 
ziehenden Kräften  der  brechenden  und  zurückstrahlenden  Flächen,  die 
wir  nicht  annehmen  können,  durch  eine  andre  Betrachtung  ersetzen 
müssen. 

Schon  bey  der  Zurückstrahlung  will  man,  dafs  diese  Kräfte  in  die 
Feme  wirken  sollen,  damit  nicht  die  für  das  Licht  viel  zu  grofsen  Un- 
ebenheiten auch  der  am  besten  polirten  Flächen  Zerstreuung  nach  allen 
Richtungen  herbeyführen.  Aber  was  gewinnt  man  durch  die  Voraus- 
setzung der  Wirkung  in  die  Ferne?  Wenn  die  Flächen  uneben  sind,  so 
wird  jede  Parallele  mit  denselben  ebenfalls  uneben.  Wie  soll  denn  eine 
Ebene  erlangt  werden,  von  welcher  die  Zurückwerfung  gleich-[597]mäfsig 
geschehen  könnte?  Diesen  Zweifel  würden  uns  jedoch  die  Geometer  ver- 
geblich lösen.  Wir  würden  weiter  fragen,  wie  denn  die  ganz  entgegen- 
gesetzten Kräfte  der  Attraction  und  Repulsion  in  der  nämlichejj  Fläche 
beysammen  seyn  könnten.  Und  wenn  sie  sich  hierüber  lediglich  auf  die 
Neigungen  des  Lichts,  leicht  durchzustrahlen  und  leicht  zurück  zu  gehn, 
berufen  wollten,  so  würden  wir  erinnern,  dafs  die  chemischen  Anziehungen, 
welche  sich  in  der  Verschiedenheit  des  Brechungsvermögens  verrathen,  gar 
nicht  geleugnet  werden  können,  daher  auf  jene  Neigungen  offenbar  das 
Wenigste  ankommt. 

Im  Zusammenhange  unserer  Untersuchung  bietet  sich  von  selbst  der 
Gedanke  dar,  dafs,  sobald  das  Licht  angezogen  wird  (oder,  genauer  ge- 
sprochen, sobald  es  sich  in  die  Elemente  des  brechenden  oder  zurück- 
strahlenden Körpers  hineinzieht),  es  wenigstens  für  einen  Augenblick  im 
Innern  der  Materie  sich  verdichten,  folglich  wider  sich  selbst  in  Repulsion 
gerathen  mufs.  Diese  Verdichtung  dürfte  es  denn  auch  wohl  seyn,  welche 
die  Unebenheiten  zuerst  ausfüllt,  und  alsdann  eine  Theilung  des  Lichts 
in    refiectirtes    und    eingelassenes    veranlafst.       Und    da    die    Repulsion    auf 


5.Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.  Abth.  Analyt  Unters.  4.  Cap.  Von  der  Schwere  etc.      343 

den  inner n  Zuständen  beruht:  so  wird  es  nun  auf  diese  ankommen,  wie- 
fern die  Farbenzerstreuung  jener  Anomalien  empfänglich  werden  solle,  die 
man   für  achromatische   Linsen   zu  benutzen  pflegt. 

Hiebey  haben  wir  schon  stillschweigend  eingeräumt,  dafs  die  ver- 
schiedenen Farbenstrahlen  von  einer  wirklichen  Verschiedenheit  der  Licht- 
theilchen  herrühren  mögen.  Zwar  ist  der  Gedanke  einladend,  dafs  alle 
Farben  des  Prisma  ursprünglich  ein  System  bilden,  welches  nach  einem 
gemeinsamen  Theilungsgrunde  zerfalle.  So  möchte  man  zum  Beyspiel  eine 
Verschiedenheit  der  [598]  Geschwindigkeiten  annehmen,  damit  die  lang- 
samem Lichttheilchen  stärker  gebrochen  würden.  Allein  die  Erfahrung, 
dafs  von  den  Trabanten  des  Jupiter  nicht  eine  Farbe  nach  der  andern, 
sondern  weifses  Licht  auf  einmal  ankommt,  scheint  das  Gegentheil  zu  ver- 
sichern. Und  genau  besehn,  darf  auch  überhaupt  die  Einheit  des  all- 
gemeinen Begriffs  vom  Lichte  gar  nicht  den  Platz  eines  Erkenntnifsgrundes 
einnehmen,  noch  uns  verleiten  zu  irgend  einem  Vorurtheil  für  die  wirk- 
liche Gleichartigkeit.  Schon  längst  haben  wir  bemerkt,  dafs  vielmehr  die 
Annahme  einer  völligen  Gleichartigkeit  solcher  Stoffe,  welche  uns  in  ge- 
wissen Verhältnissen  gleiche  Erscheinungen  darbieten,  ein  Vorurtheil  seyn 
würde.  Wir  müssen  es  für  wahrscheinlich  halten,  dafs  viele  Verschieden- 
heiten uns  entgehn;  und  können  daher  nichts  entgegensetzen,  wenn  die 
Versuche  uns  Verschiedenheiten  andeuten.  Nun  finden  wir  Körper,  welche 
selbstleuchtend  schon  ursprünglich  verschiedene  Farben  zeigen.  Man  be- 
merkt dies  sogar  an  den  Fixsternen.  Also  dürfen  wir  nicht  behaupten, 
dafs  die  sämmtlichen  Farben,  worin  das  weifse  Licht  kann  zerlegt  werden, 
ein  geschlossenes  System  bilden,  worin  jede  Farbe  die  nothwendige  Be- 
dingung der  andern  wäre.  Denn  unter  dieser  Voraussetzung  könnte  kein 
Überschufs  vorkommen,  wodurch  mehr  von  einer  als  von  der  andern  Art 
der  Strahlen   angezeigt  wird. 

§.   4^0. 

Von  den  Neigungen  leichterer  Brechung  oder  Zurückwerf ung,  die  bey 
den  so  berühmten  farbigen  Ringen  an  zusammengedrückten  Gläsern  oder 
an  Seifenblasen  vorkommen,  und  periodisch  wiederkehren,  wird  man  die 
Erklärung  entweder  in  den  innern  Zuständen  der  Lichttheilchen,  oder  in 
einer  Oscillation  derselben  suchen  können;  beydes  aber  ist  sehr  dunkel. 
Was  die  innern  [5Q9]  Zustände  anlangt,  so  dürfte  wohl  eine  periodische 
Abwechselung  derselben  nicht  als  ganz  unmöglich  verworfen  werden;  denn 
sie  ist  der  Psychologie  nicht  fremd,  vielmehr  hat  schon  die  Mechanik  des 
Geistes  auf  eine  solche  geführt.*  Und  man  weifs,  dafs  die  dortigen 
Untersuchungen  eigentlich  ganz  allgemein  auf  innere  Zustände  einfacher 
Wesen  passen;  während  sie  zur  Erklärung  geistiger  Zustände  nur  die  erste 
Grundlage  liefern.  Daher  wäre  die  Anwendung  auf  das  Licht  nicht  un- 
gereimt; und  sie  könnte  hier  insofern  willkommen  seyn,  als  dabey  die  An- 
nahme von  Moleculen  des  Lichts,  die  schon  aus  Elementen  zusammen- 
gesetzt wären,  erspart  würde.  Ob  hiedurch  etwas  gewonnen  wäre,  ist  eine 
andere  Fiage. 


Psychologie  I,  §.   92.     (Bd.  V  vorl.   Ausgabe.) 


■jaa  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen   etc.     1829. 

Die  Polarisation  des  Lichts  scheint  sich  aus  blofsen  innern  Zuständen 
gar  nicht  erklären  zu  lassen.  Sie  ist  so  sehr  an  Raumverhältnisse  ge- 
bunden, dafs  man  sich  der  Analogie,  wodurch  Malus  zu  der  von  ihm 
gewählten  Benennung  bewogen  wurde,  —  nämlich  mit  Reihen  von  Magnet- 
nadeln, die  von  einem  Magneten  in  einerley  Richtung  gedreht  werden,  — 
wohl  nicht  wird  versagen  können.  Dies  setzt  aber  schon  vorhandene 
Moleculen  des  Lichts  voraus,  da  man  den  einfachen  Elementen,  selbst  in 
der  Fiction,  wodurch  sie  als  ausgedehnt  angesehen  werden  (§.  267),  keine 
andre  als  nur  die  Kugelgestalt  beylegen  darf.  Allein  wie  lange  wird  es 
noch  dauern,  bevor  wir  über  so  verwickelte  Gegenstände  eine  genauere 
Belehrung  empfangen ! 

Genug  für,  jetzt,  wenn  der  Vortrag  dieses  Capitels  wenigstens  soviel 
dargethan  hat,  dafs  die  Erfahrungen  über  Schwere  und  Licht  den  Ver- 
such, sie  nach  den  aufgestellten  Grundsätzen  zu  überdenken,  nicht  zurück- 
stofsen.  Und  dieser  Versuch  steht  nicht  allein;  sondern  [000]  er  ist  nur 
die  Foitsetzung  jener  Betrachtungen  über  Wärme  und  Elektricität,  denen 
wir  eine  gröfsere  Wahrscheinlichkeit  glaubten  beylegen  zu  dürfen.  Eine 
Naturphilosophie,  welche  in  allen  Puncten  gleich  starke  Gewifsheit  vorgäbe, 
würde  eben  hiedurch  dem  Kundigen  verdächtig  werden.  Eins  mufs  das 
Andre  tragen  und  ergänzen.  Man  mag  nun  prüfen,  ob  der  Zusammen- 
hang und  die  Einfachheit  der  Grundsätze,  von  welchen  wir  im  §.  339 
ausgingen,  sich  an  den  höchst  mannigfaltigen  und  scheinbar  ganz  ge- 
trennten Erscheinungen,  worauf  sie  angewendet  sind,  hinreichend  bewährt 
hat;  und  ob  man  auf  andern  Wegen  zu  einer  gröfsern  Klarheit  und  Be- 
stimmtheit der  Begriffe  von   den  nämlichen  Gegenständen  gelangen  könne. 


Fünftes    Capitel. 
Bemerkungen  zur  Chemie. 

§•  4^1. 

Das  bisher  Vorgetragene  könnte  für  unsern  Hauptzweck,  die  allge- 
meine Lehre  von  der  Materie  zu  erläutern,  völlig  zureichen.  Allein  es 
ist  der  Mühe  werth,  nachzusehn,  wie  viele  Hoffnung  wir  wohl  haben,  aus 
den  empirischen  Naturwissenschaften,  insbesondere  aus  Chemie  und  Phy- 
siologie, in  ihrem  heutigen  Zustande,  eine  wahre  Erkenntnifs  zu  schöpfen, 
oder  wie  grofs  die  Kluft  zwischen  blofser  Erscheinung  und  dem  Verstehen 
derselben  noch  zu  schätzen  sey ;  mit  andern  Worten,  ob  der  Weg  zu 
einer  ausführlichen  Naturphilosophie  offen  stehe  oder  nicht.  Wenn  wir 
nun  auch  diesen  Weg  für  uns  noch  zu  lang  finden:  so  können  doch  die 
Bestäti-[6oi]gungen,  welche  die  allgemeine  Theorie  von  der  Materie  hier 
gewinnen  wird,   uns  willkommen   seyn. 

Um  nicht  unbillig  gegen  die  grofsen  Verdienste  der  neuen  Chemiker 
zu  erscheinen,  zugleich  aber  um  mit  Einem  Hauptzuge  den  Zustand  ihrer 


5-Abchn.  Umrisse d. Naturphil.  a.Abth.  Analyt. Unters.  5-Cap.  Bemerkungen z. Chemie.  ?  i  e 

Wissenschaft  zu  bezeichnen ,  werfen  wir  zuvörderst  einen  Blick  auf  die 
Umwandlung,   welcher  ihre   Begriffe  unterworfen  sind. 

Säuren  und  Alkalien  waren  vor  noch  nicht  langer  Zeit  *  die  Gegen- 
stände, von  denen  sie  den  Begriff  des  chemischen  Gegensatzes,  der  Ver- 
wandtschaft und  Neutralisirung,  vorzugsweise  abzogen.  Als  nun  der  Sauer- 
stoff entdeckt  wurde,  glaubten  sie  zu  wissen,  was  eine  Säure  sey;  der 
Begriff  der  Neutralisirung  aber  rückte  zugleich  auf  eine  andre  Stufe;  erst 
mufste  ein  säurefähiger  Körper  mit  Sauerstoff  gesättigt  seyn,  damit  als- 
dann wiederum  die  Säure,  das  neutrale  Product  aus  beyden,  zum  Element 
für  eine  neue  Verbindung  dienen  konnte,  wann  das  davon  völlig  ver- 
schiedene Alkali  hinzukam.  Aber  was  ist  geschehn  ?  Kali  und  Natron 
sind  selbst  schon  neutrale  Verbindungen  geworden,  deren  einen  Theil  der 
Sauerstoff  ausmacht.  Und  was  eine  Säure  sey,  weifs  man  das  noch  anzu- 
geben? Sie  schmeckt  sauer!  Aber  wer  wird  ernstlich  die  Blausäure,  oder 
die  Arseniksäure  kosten  wollen,  um  seine  Zunge  genau  zu  fragen,  obwohl 
beyde  eben  so  schmecken  wie  Essig,  oder  wie  verdünnte  Schwefelsäure? 
Sie  röthet  das  Lackmuspapier!  Also  eine  unbedeutende  Veränderung  der 
Farbe,  bemerkbar  an  einigen  Pflanzensäften,  soll  zur  Gränzbestimmung 
eines  so  wichtigen  Begriffs  dienen !  Der  Sauerstoff,  das  Wesentlichste  nach 
der  frühern  Ansicht,  ist  seiner  Würde  entsetzt.  Man  redet  von  Wasser- 
stoffsäuren; der  Chlor  ist  in  die  Reihe  der  chemischen  Elemente  getreten; 
ja  das  Knallgold  hat  sich  in  goldsaures  Ammoniak  verwandelt;  und  es 
fehlt  nicht  viel,  dafs  auch  die  Kieselerde  zu  den  Säuren  ge-[6o2]rechnet 
werde,   während  ihre   Auflösungen  nicht  mehr  für  neutral   gelten.* 

Geht  es  dem  Begriffe  des  Metalls  besser  als  dem  der  Säure  ?  Vor 
nicht  langer  Zeit  waren  alle  Metalle  schwerer  als  Wasser;  jetzt  schwimmt 
das  Kalium;  und  das  Ammonium  schwebt  vielleicht  in  der  Luft.  Über- 
dies, wenn  das  Selenium  seinen  Platz  bey  den  Metallen  behält,  so  giebt 
es  ein  Metall,  welches  zu  den  schlechten  Leitern  der  Wärme  und  der 
Elektricität  gehört:    und   bald  wird    der  Schwefel   auch    ein   Metall   werden. 

Die  Erden  sind  verschwunden.  Die  Gasarten  verwandeln  sich  in 
Dämpfe.  Und  worin  verwandelt  sich  eine  Naturphilosophie,  welche  zu 
den  vorgefundenen  chemischen  Begriffen,  als  seyen  sie  durch  veststehende 
Thatsachen  gegeben,  Vertrauen  fafst?  — 


§.   422. 

Sollte  die  Chemie,  da  sie  doch  die  Lehre  von  der  Zusammensetzuno; 
der  Körper  seyn  will,  uns  solche  empirische  Data  überliefern,  die  wir  einer 
Theorie  zum  Grunde  legen  könnten,  so  müfste  sie  uns,  wo  sie  von  ihren 
Stoffen  redet,  bestimmt  anzeigen,  welche  Stoffe  einfach,  und  welcher  Grad  des 
Gegensatzes  in  jedem  Paare,  desgleichen,  ob  dieser  Gegensatz  gleich  oder 
ungleich,  und  in  welchem  Verhältnisse  ungleich  sey.  Statt  darüber  deutliche 
Auskunft    zu   geben,    verwickelt    sie    sich    mit    der   Physiologie    in    solchem 


*  Man  vergl.  die  hieher  gehörigen  Artikel  bey  Berzelus. 
1  vor  nicht  langer  Zeit  SW  („noch"  fehlt). 


346  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


Maafse,  dafs  sie  uns  beynahe  erlaubt,  an  Wunder  zu  glauben.  Es  ist 
noch  das  Wenigste,  dafs  in  der  Kohle  sich  die  Salze  und  Erden  nicht 
finden  wollen,  welche  sich  in  der  Asche  zeigen.  Man  läfst  ja  Alles  Mög- 
liche in  den  Pflanzen  wachsen,  ohne  dafs  [603]  sich  die  Stoffe  in  dem 
Boden,  im  Wasser  und  in  der  Luft  vorfinden!  Kein  Wunder,  dafs  manche 
Naturphilosophen  die  lebende  Natur  wie  eine  Zauberin  betrachten,  und 
mit  ihr  spielen  wie  mit  einer  Fabel!  Wen  daran  die  Philosophie  nicht 
hindert,   den  wird  die  empirische   Chemie  nicht  hüten. 

Die  erste  Frage,  nämlich  die  nach  der  Einfachheit  der  bis  jetzt  un- 
zerlegten  Stoffe,  nöthigt  uns  zu  einer  doppelten  Unterscheidung.  Theils 
kann  sie  auf  gasförmige,  theils  auf  solche  Körper  gerichtet  werden,  in 
welchen  Cohäsion  vorherrscht.  Die  Repulsion  setzt  nun  zwar  eben  so 
wohl  als  die  Attraction  ein  Causalverhältnifs  voraus,  welches  ohne  Gegen- 
satz verschiedenartiger  Elemente  nicht  möglich  ist.  Allein  bey  den  gas- 
förmigen Körpern  erlauben  wir  uns  nun  schon,  die  Repulsion  auf  Rech- 
nung des  in  ihnen  liegenden  Caloricums  zu  setzen  (in  Folge  unserer 
obigen  Untersuchung),  und  die  Frage  nur  auf  den  wesentlichen  Grund- 
stoff des  Gas  zu  richten.  Hier  weifs  der  Leser  unsre  Antwort;  es  ist 
möglich,  dafs  ein  Gas  einfach  sey;  und  wir  halten  insbesondere  den  Sauer- 
stoff und  den  Wasserstoff,  mit  den  Chemikern,  so  lange  für  einfach,  bis 
das  Gegentheil,  welches  bis  jetzt  keine  Gründe  für  sich  zu  haben  scheint, 
etwa  möchte  bewiesen  werden.  Mit  dem  Stickgase  und  der  Kohlensäure 
verhält  es  sich  bekanntlich  anders. 

Die  Frage  beschränkt  sich  also  auf  die  starren  und  tropfbaren  Körper. 
Sollen  wir  nun  die  Metalle,  den  Schwefel,  den  Phosphor,  den  Diamanten 
für  einfach  halten?  Dann  müssen  wir  den  Grund  der  Cohäsion  angeben! 
Unsre  ursprüngliche  Deduction  der  Materie  ging  aber  aus  der  Voraus- 
setzung entgegengesetzter  Elemente  hervor;  und  wir  fanden,  dafs  ohne 
die  Voraussetzung  irgend  eines  Gegensatzes  sich  gar  kein  Causalverhältnifs, 
also  auch  keine  Cohäsion,  denken  liefs.  Soll  es  dennoch  einfache  starre 
und  tropfbare  Körper  geben  [604]  können,  so  müssen  deren  Elemente 
aus  einem  früheren  Zusammen  mit  anderen  bestimmte  innere  Zustände 
übrig  behalten  haben ;  und  nach  diesen  mufs  ihre  jetzige  Verbindung  sich 
richten. 

Also  eine  neue  Unterscheidung  knüpft  sich  an  die  vorige;  wir  kennen 
dieselbe  aus  §.  344.  Die  gleichen  Elemente  befinden  sich  entweder  in 
gleichartigen,  oder  in  entgegengesetzten  innern  Zuständen.  Im  §.  364 
haben  wir  den  letzten  Fall  den  synthetischen  Untersuchungen  über  die 
Bildsamkeit  der  Materie  zum  Grunde  gelegt;  wir  fanden  nämlich  wegen 
der  allmählig  fortschreitenden  Hemmung  hier  eine  Quelle  solcher  schweben- 
den Verbindungen,  die  entweder  wachsen  oder  abnehmen.  Je  geschickter 
nun  diese  Voraussetzung  für  die  lebenden  Wesen  und  deren  Producte  ist, 
desto  weniger  pafst  sie  hier,  wo  zunächst  von  der  starren  und  rohen 
Materie  die  Rede  ist.  Also  bleibt  nur  übrig,  gleichartige  Elemente  in 
gleichartigen  Zuständen   anzunehmen. 

Gesetzt  nun,  diese- Voraussetzung  sey  richtig:  so  folgt,  dafs  der  Kör- 
per, dessen  Beschaffenheit  von  ihr  abhängt,  zerstört  werde,  sobald  die 
Zustände    seiner    Elemente    eine   Veränderung    erleiden.     Es    ist    alsdann 


5.AbschD.Umrissed.Naturphil.  2.Abth.  Analyt.Unters.  5. Cap. Bemerkungen z. Chemie.  347 

nicht  möglich,  ihn  aus  allerley  Verbindungen,  in  denen  er  neue,  den 
vorigen  entgegengesetzte  Zustände  erlangt,  ohne  nachbleibende  Spur  der- 
selben zu  reduciren;  sondern  er  mufs  auf  bestimmte  Weise  entstehn,  und 
was  ihm   neues  begegnet,   das  verdirbt  ihn. 

Dafür  giebt  es  sehr  bekannte  Beyspiele;  aber  nicht  bei  einfach 
scheinenden,  und  nicht  bey  rohen  Körpern;  sondern  bey  organischen  Pro- 
ducten.  Z.  B.  Wein,  oder  Öl,  werden  durch  Destillation  verdorben;  sie 
werden  nicht  wiederhergestellt,  wenn  man  gleich  das  Getrennte  aufs  neue 
zusammengiefst. 

Unter  den  nicht  organischen,  für  einfach  geltenden  Körpern  befindet 
sich  in  dem  nämlichen  Falle  vielleicht  [605]  der  einzige  Diamant.  Es 
mag  also  erlaubt  seyn,  anzunehmen,  dafs  der  in  ihm  vorhandene,  reine 
Kohlenstoff  früher  in  irgend  einer  Verbindung  gewesen  ist,  aus  welcher 
ihm  innere  Zustände  geblieben  sind,  die  er  in  sich  aufrecht  hält;  indem 
die  Elemente  einander  gegenseitig  als  Ausgeschiedene  repräsentiren.  Dies 
bleibt  erlaubt  so  lange,  bis  Diamanten,  gleich  Metallen,  aus  allerley  neuen 
Verbindungen  reducirt  werden.  Oder,  würde  jemals  durch  irgend  einen 
Procefs  Kohle  in  Diamanten  verwandelt  (wie  man  es  vor  einigen  Jahren 
erreicht  zu  haben  glaubte),  so  müfste  man  die  vorige  Annahme  daran  aus- 
dehnen, dafs  ein  im  Wesentlichen  ähnlicher  Procefs  auch  ursprünglich  die 
Diamanten  zur  Wirklichkeit  gebracht  habe.  Wenn  aber  einmal  aus  ganz 
verschiedenen  Processen  Diamanten  hervorgehn,  dann  wird  man  die  ganze 
Annahme  verwerfen  müssen.  Auch  jetzt  möchten  wir  Demjenigen  nicht 
widersprechen,  der  etwa  vorzöge  sich  eine  Verbindung  des  Kohlenstoffs 
mit  einem  unwägbaren,  oder  sonst  irgendwie  der  bisherigen  chemischen 
Analyse  entschlüpften   Stoffe,   im   Diamanten   zu  denken. 

Metalle  aber,  nebst  Schwefel,  Phosphor  u.  dergl.,  wie  sollten  diese 
Dinge,  die  man  in  tausendfachen  Verbindungen  herumtreibt  und  stets 
unverändert  wieder  gewinnt,  durch  bestimmte  innere  Zustände  und  ihrer 
Eigentümlichkeit  bestehn  ?  Also  können  wir  keinen  einzigen  solchen  Kör- 
per für  einfach  halten.  Das  Princip  seiner  Cohäsion  mufs  in  den  Gegen- 
sätzen seiner  ungleichen  Elemente  liegen;  welche  trotz  allem  Wechsel  der 
Verbindungen   bleiben,   was   sie   sind. 

Hiebey  entsteht  eine  Schwierigkeit,  die  sich  jedoch  leicht  genug  heben 
läfst.  Wenn  Gold  aus  ungleichen  Elementen  zusammengesetzt  ist,  warum 
glückt  der  Chemie  kein  Kunstgriff  unter  so  vielen,  um  dieselben  zu  trennen  ? 
Und  wenn  ja  das  Gold,  oder  sonst  irgend  [606]  ein  einzelnes  Metall, 
eine  unüberwindliche  Verknüpfung  von  Elementen  in  sich  schliefst,  warum 
denn  gilt  dasselbe,  was  an  sich  schon  schwer  zu  glauben  ist,  von  so  vielen 
verschiedenen  Metallen  ?  Was  sichert  deren  Bestandteile  vor  gegen- 
seitigen Zersetzungen,  dergleichen  sonst  so  häufig  in  der  Chemie  vor- 
kommen ? 

Ja  in  der  That!  Was  sichert  uns  vor  neuen  Entdeckungen?  Wenn 
Einer  heute  die  Untrennbarkeit  des  Goldes  erklärte,  und  bewiese:  wer 
steht  ihm  dafür,  dafs  nicht  morgen  ein  Chemiker  das  Gold  wirklich  zerlege  ? 

Allein  mit  dieser  Ausflucht  wollen  wir  uns  nicht  begnügen.  Wir 
hüten  uns  zwar,  die  Unzerlegbarkeit  des  Goldes  positiv  zu  behaupten; 
allein  wir  können  uns   wohl   die  Möglichkeit  erklären,   dafs   ein  System  von 


>  a.8  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


Elementen  zugleich  ein  System  von  Gegensätzen  in  sich  schliefse,  die  für 
andre   Systeme  nicht  zugänglich   seyen. 

Was  ist  denn  die  Bedingung  der  chemischen  Zerlegung?  Gewisse 
innere  Zustände  müssen  gehemmt  werden  durch  andre  entgegengesetzte. 
Aber  nicht  durch   disparate;  diese  würden  nichts  vermögen. 

Die  Vergleichungen  des  §.  335  zeigen  deutlich,  dafs  es  besondere 
Sphären  geben  kann,  worin  Gegensätze  liegen,  die  für  Alles  Übrige  fremd- 
artig sind.  So  bilden  die  Vocaltöne  eine  eigene,  geschlossene  Sphäre; 
die  Musiktöne  eine  andre.  Wenn  nun  die  Elemente  des  Goldes  zusammen- 
genommen in  der  einen,  die  des  Silbers  in  einer  andern  Sphäre  des 
Gegensatzes  liegen:  so  können  sie  einander  nicht  zersetzen;  obgleich  den- 
noch nach  einer,  von  jenen  beyden  Sphären  verschiedenen ,  zufälligen  An- 
sicht (§.  252)  zu  erklären  seyn  wird,  dafs  Gold  und  Silber  sich  zusammen- 
schmelzen lassen,    und   folglich    in  gegenseitige   Attration   eintreten  können. 

Will  man  übrigens  in  der  Erfahrung  einen  Umstand  aufsuchen,  der 
es  wahrscheinlich  macht,  dafs  jedes  Me-[öO/]tall  zusammengesetzt  ist:  so 
findet  sich  ein  solcher  in  der  ihnen  allen  gemeinsamen  Undurchsichtigkeit. 
Es  ist  bekannt,  dafs  überall  den  vollkommenen  chemischen  Auflösungen 
die  Durchsichtigkeit  zu  entsprechen  pflegt;  und  der  Grund,  nämlich  gleich- 
mäfsige  Anziehung  des  Lichtstrahls  von  allen  Seiten,  liegt  am  Tage.  Was 
hindert  nun  das  Licht,  in  die  Metalle,  wie  in  den  Diamanten  einzudringen  ? 
Wir  dürfen  glauben,  dafs  Ungleiches  in  unvollkommener,  und  nicht  einmal 
genau  bestimmter  Durchdringung  sowohl  die  Undurchsichtigkeit  als  die 
Dehnbarkeit  verursacht;  wogegen  der  Diamant  den  stärksten  Contrast 
bildet;  daher  in  Hinsicht  seiner  die  obige  Hypothese  wirklicher  chemischer 
Einfachheit  desto   annehmlicher  zu   seyn  scheint. 

Warum  aber  die  Durchdringung  der  verschiedenen  Elemente  des 
Metalls,  besonders  des  vorzüglich  dehnbaren,  nicht  genau  bestimmt,  warum 
die  Confioriration  durch  mechanische  Gewalt  so  leicht  veränderlich  sev: 
darauf  möchten  wir  durch  die  Muthmaafsung  antworten,  dafs  vielleicht  die 
Menge  der  verschiedenen  Elemente  in  jedem  Metall  bedeutend  grofs  seyn 
möge ;  denn  es  scheint,  dafs  alsdann  die  Configuration,  welche  ihnen  ent- 
spricht, nicht  leicht  geometrisch  könne  angegeben  werden.  Doch  dies  wäre 
genauer  zu  untersuchen. 

§•   423- 

Eine  zwevte  Frage,  welche  die  Chemie  uns  in  Hinsicht  ihrer  Stoffe 
beantworten  sollte,  wäre  nun  die  nach  dem  Grade  des  Gegensatzes  in 
jedem  Paare,  und  nach  der  Gleichheit  oder  Ungleichheit  desselben,  in 
dem   oben  (§.   33^)  bestimmten  Sinne   dieses   Ausdrucks. 

In  der  That  sagt  sie  uns  hierüber  Manches,  das  sehr  merkwürdig 
ist.  Und  wir  wollen  hier  vor  Allem  ihre  Aussage  benutzen,  um  den 
wichtigen  Unterschied  zwi-[6o8]schen  der  Stärke,  und  der  Gleichheit  oder 
Ungleichheit,   des  Gegensatzes  durch   die   Erfahrung  zu   erläutern. 

„Die  Berechnung,  die  man  einst  für  gegründet  ansah,  dafs,  wenn 
eine  gröfsere  Quantität  eines  Körpers  nöthig  sev,  um  einen  andern  zu 
sättigen,  dieser  gegen  den  erstem  einen  desto  grüfsern  Verwandtschafts- 
grad    besitze,   trifft   gar  nicht  zu;    weil   z.    B.   eine   beynahe    gleiche   Menge 


5.  Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  2.  Abth.  Analyt. Unters.  5. Cap. Bemerkungen z. Chemie.  340, 

Sauerstoff  nöthig  ist,  um  100  Theile  Eisen  in  Eisenoxydul  zu  verwandeln, 
als  100  Theile  Natrium  zum  Alkali  zu  machen;  und  doch  hat  der  Sauer- 
stoff eine  unendlich  vielemal  gröfsere  Verwandtschaft  zum  letztern  als 
zum   ersteren.*" 

Worin  lag  das  Unbegründete,  was  Berzelius  hier  tadelt,  und  worin 
liegt  die  Berichtigung?  Man  hatte  die  Ungleichheit  des  Gegensatzes,  ver- 
möge deren  z.  B.  bevnahe  dreymal  soviel  metallisches  Natrium  in  die 
Zusammensetzung  des  Natron  eingeht,  als  wieviel  Sauerstoff  darin  ist,  — 
verwechselt  mit  der  Stärke  des  Gegensatzes,  die  zwischen  Eisen  und 
Sauerstoff  sehr  viel  geringer  ist,  obgleich  nur  wenig  mehr  als  dreymal 
soviel  Eisen,  verglichen  mit  der  Menge  des  Sauerstoffs,  im  Oxydul  steckt; 
so  dafs  die  Verhältnisse  der  Bestandtheile  im  Natron  und  im  Eisenoxydul 
beynahe  die  nämlichen  sind.  Oder  kurz,  der  Grad  der  Ungleichheit  ist 
in  dem  Beyspiele  fast  einer  und  derselbe;  hingegen  der  Grad  der  Stärke 
ist  für  diese   Gegensätze  höchst  verschieden. 

Offenbar  nun  fällt  es  der  Chemie  sehr  viel  leichter,  den  Grad  der 
Ungleichheit,  als  den  der  Stärke  zu  bestimmen.  Jenes  thut  sie  durch 
die  Zahlen  für  die  Verhältnisse  in  den  Verbindungen;  aber  die  Stärke 
kann  sie  eigentlich  nicht  messen;  sie  erkennt  dieselbe  nur  ungefähr; 
und  Berzelius  sagt  in  der  angeführten  Stelle  geradezu :  [009]  „  Wir 
haben  keine  Mittel  zu  einer  sichern  Vergleich/eng  zwischen  den  Affinitäts- 
stufen." 

Obgleich  die  Chemie  durch  ihre  Verhältnifszahlen  den  Grad  der 
Ungleichheit  des  Gegensatzes  anzeigt:  so  ist  es  doch  nicht  leicht,  ihre 
Angaben  richtig  zu  verstehen.  Denn  sie  redet  von  mehrern  Verhältnissen, 
worin  sich  ein  Stoff  mit  dem  andern  verbinden  könne.  Welches  unter 
den  mehrern  ist  nun  der  wahre  Grad  der  Ungleichheit?  Hierüber  ein 
Beyspiel.  Die  bekannteste  Verbindung  des  Schwefels  mit  dem  Sauerstoffe 
ist  die  Schwefelsäure.  Als  eine  Modification  derselben  erschien  die  schweflichte 
Säure;  späterhin  kam  noch  die  unterschweflichte  Säure  zum  Vorschein. 
Von  der  sogenannten  Unterschwefelsäure,  einer  Mischung  aus  der  schwef- 
lichten und  der  Schwefel -Säure,  brauchen  wir  hier  nicht  zureden.  Unter 
jenen  dreyen  aber  ist  die  schwerlich te  Säure,  worin  Sauerstoff  und  Schwefel 
sich  zu  gleichen  Theilen  verbinden  (wenn  wir  einen,  schwerlich  genauen, 
Decimalbruch  vernachlässigen  dürfen),  diejenige,  welche  dem  Gegensatze 
entspricht,  der  also  hier  ein  gleicher  Gegensatz  ist.  Das  läfst  sich  im 
vorliegenden  Falle  aus  den  Versuchen  erkennen.  Nämlich  die  wasserfreye 
Schwefelsäure  wird  vom  Schwefel,  den  man  ihr  zusetzt,  zerlegt;  der  letztere 
oxydirt  sich,  und  es  bildet  sich  schweflichte  Säure.  Die  unterschweflichte 
Säure  aber  läfst  sich  gar  nicht  isolirt  darstellen;  sie  läfst,  wenn  es  unter- 
nommen wird,  ihr  Übermafs  an  Schwefel  fahren.  Aber  früherhin,  ehe 
man  die  wasserfreye  Schwefelsäure  kannte,  war  diese  Zusammenstellung 
nicht  deutlich.  Denn  die  gemeine  Schwefelsäure  enthält  Wasser,  welches 
ihr  so  vest,  in  so  entschiedener  chemischer  Verbindung  angehört,  dafs 
davon  noch  das  Krystallisations -Wasser,  mit  welchem  sie  bey  40  erstarrt, 
zu  unterscheiden  ist.      Aus  der  gemeinen  Schwefelsäure    also    konnte    man 


*  Berzelius  Chemie,   2.  Theil,  S.  703. 


icq  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


den  wahren  Gegensatz  des  [610]  Schwefels  und  Sauerstoffs  nicht  be- 
urtheilen,  weil  ihr  Zusammenhang  nicht  blofs  von  diesen  beyden  Bestand- 
teilen, sondern   auch  vom  Wasserstoffe  abhängt. 

Wenn  nun  in  andern  Fällen  die  Thatsachen  nicht  so  vollständig,  wie 
hier  (bey  Berzelius)  vor  Augen  liegen,  wie  leicht  kann  ein  Naturphilosoph, 
auch  wenn  er  von  richtigen  Grundsätzen  ausgeht,  zu  irrigen  Deutungen 
des  Gegebenen   verleitet  werden ! 

Was  ferner  die  übrigen  Verhältnisse  anlangt,  aufser  dem  einen  gesetz- 
mäfsigen,  welches  dem  Grade  der  Ungleichheit  entspricht:  so  können  die- 
selben, falls  sie  bestimmte  Verhältnisse  seyn  sollen,  wohl  kaum  von  etwas 
anderem  so  entscheidend  abhängen,  als  von  der  mittelbaren  Attraction. 
Denn  der  Begriff,  dafs  mit  einem  Elemente  A  sich  mehr  von  B,  oder 
umgekehrt,  mit  B  mehr  von  jenem,  als  gemäfs  dem  Grade  der  Ungleichheit, 
verbunden  hat,  —  dieser  Begriff  findet,  sowiel  wir  sehen,  keine  Gränze, 
wobey  seine  Anwendbarkeit  stehen  bleiben  müfste.  Ein  Mehr  oder 
Weniger  kann  ins  Unbestimmte  wachsen  oder  abnehmen.  Dagegen  läfst 
es  sich  begreifen,  dafs  jedes  Element  der  Art  A  oder  B  vermöge  der 
mittelbaren  Attraction  (§.  342)  sich  noch  ein  neues,  ihm  gleichartiges,  bey 
dargebotener  Gelegenheit  aneigne;  und  alsdann  wird  die  Anzahl  der 
Elemente  multiplicirt  werden. 

Wenden  wir  dies  auf  das  vorhergehende  Beyspiel  an:  so  hat  in  der 
unter  schweflichten  Säure  jedes  Element  Schwefel,  welches  schon  vorhin  in 
der  schweflichten  enthalten  war,  sich  noch  ein  Element  Schwefel  heran- 
gezogen, welches  jedoch  mit  dem  Ganzen  nur  mittelbar,  und  folglich 
schwach,  vereinigt  ist.  Die  Schwefelsäure  zeigt  nicht  genau  das  Umgekehrte 
hievon.  Wir  würden  in  ihr  doppelt  soviel  Sauerstoff,  als  in  der  schwef- 
lichten, vermuthet  haben;  aber  die  Erfah-[6l  ijrung  lehrt,  dafs  zwey  Ele- 
mente des  schon  vorhandenen,  nur  zusammengenommen  eins  vom  hinzu- 
kommenden Sauerstoffe  vesthalten  konnten.  Wir  müssen  also  glauben, 
dafs,  indem  jedes  vorhandene  Element  Sauerstoff  im  Begriff  war,  ein  neues 
heranzuziehn,  eine  zu  starke  Repulsion  entstand,  die  von  zweyen  nur  einem 
erlaubte,   in  der  Verbindung  zu   bleiben. 

Auch  so  noch  sind  die  rationalen  und  dabey  sehr  einfachen  Ver- 
hältnisse begreiflich.  Denn  sollte  das  Verhältnifs  gröfsere  Primzahlen  er- 
fordern, oder  gar  irrational  seyn:  so  müfste  die  erwähnte  Repulsion  von 
sehr  vielen  Elementen  zugleich  bestimmt  werden;  und  dann  entstünde  die 
Frage,  wie  deren  so  viele  auf  Einem  Pnncte  hätten  beysammen  seyn  können, 
als  ihre  Zusammenwirkung  ivihde  erfordert  haben  ?  Dies  scheint  eine  un- 
beantwortliche  Frage  zu  seyn;  und  dann  sind  die  bestimmten  Proportionen 
nothwendig,   wie   die   Erfahrung  es  lehrt. 


§•   424- 

Die  bestimmten  Proportionen,  welche  sich  auch  in  den  Sättigungs- 
Capacitäten  der  Säuren  u.  s.  w.  zeigen,  veranlassen  sehr  allgemeine  Be- 
trachtungen, welche  in  das  Ganze  der  Lehre  von  der  Materie  zurück- 
greifen, und  wobey  unsre  ersten  Principien  von  neuem  können  geprüft 
werden. 


5-Abschn.Umrissed.Naturphil.  2.Abth.  Analyt.Unters.  5. Cap.  Bemerkungen z. Chemie.  351 

Noch  in  frischem  Andenken  ist  Berthollet's  chemische  Statik;  ein 
Werk,  das  sich  Jedem  empfohlen  haben  wird,  der  philosophischen  Geist 
auch  ohne  System  anerkennt  und  schätzt.  Darin  wird  der  Begriff  der 
chemischen  Masse  zum  Grunde  gelegt;  ein  zusammengesetztes  Verhältnifs 
der  Quantität  und  der  Sättigungs  -  Capacität.  Je  gröfser  die  Energie  einer1 
Verwandtschaft,  desto  mehr  wirkt  eine  Säure  oder  ein  Alkali;  aber  auch 
je  Mehr  davon  vorhanden  ist,  desto  [612]  gröfser  soll  die  Wirkung  aus- 
fallen. Mit  dieser  Behauptung  widerstritt  Berthollet  nicht  blofs  die 
frühere  Lehre  von  der  Wahlverwandtschaft,  nach  welcher  eine  Säure 
durch  eine  andre  geradezu  ausgestofsen ,  und  aufser  alle  Wirksamkeit  ge- 
setzt werden  sollte,  selbst  wenn  sie  noch  zugegen  war:  sondern  er  gerieth 
auch  in  Streit  mit  Hauy,  dem  Mineralogen,  der  seine  Aufmerksamkeit 
vorzugsweise  auf  Krystallisation  richtete,  und  sich  bewogen  fand,  solche 
Bestandteile  der  Körper,  welche  auf  dieselbe  keinen  Einflufs  verriethen, 
als  zufällig  bevgemischt  anzusehen.*  Nach  dieser  Lehre,  sagt  Berthollet, 
würde  es  nur  chemische  Verbindungen  in  bestimmten  Proportionen  geben. 
Und  nun  führt  er  eine  Menge  von  Beyspielen  und  Zeichen  an,  welche 
das  Gegentheil  bezeugen  sollen;  unter  andern  die  Verglasungen  und  die 
durchsichtigen  Mineralien,  welche  Oxyde  enthalten;  aber  auch  Legirungen 
von  Metallen,  und  Salze. 

Es  ist  nicht  die  Sache  eines  Layen  in  der  Chemie,  zu  beurtheilen,  wie 
weit  die  Wiederlegung  reicht,  durch  welche  die  später  ausgebildete  Chemie 
die  Behauptungen  Berthollet's  wenigstens  eingeschränkt  hat.  Aber  vom 
Standpuncte  allgemeiner  Untersuchungen  angesehen ,  mufs  Berthollet 
Denjenigen  die  einzig  natürliche  und  richtige  Auffassung  darzubieten 
scheinen,    welche    die  Materie    ursprünglich    als    ein    Conti?tuum    betrachten. 

Es  liegt  nämlich  bey  ihm  überall  der  Gedanke  zum  Grunde:  man 
könne  die  Materie  beliebig  verdichten  und  verdünnen;  daher  auch  beliebig 
Mehr  oder  Weniger  davon  gegen  ein  bestimmtes  Quantum  einer  andern 
Substanz  in  chemische  Wirklichkeit  versetzen;  und  dem  gemäfs  würden 
gar  keine  Absonderungen  und  Ausschei-[6i3]dungen  erfolgen,  wenn  nicht 
besondere,  und  gewissen  Verbindungen  eigentümliche  Neigungen  dazu 
kämen,  ihrer  Cohäsionskraft  nachgehend  sich  zu  verdichten  (wie  etwan 
Schwefelsäure  und  Barytj,  oder  sich  zu  verflüchtigen.  Wo  diese  Umstände 
nicht  hinzu  kommen,  da  sollen  nach  ihm  die  sämmtlichen,  einander  gegen- 
wärtigen, Substanzen  nach  der  Stärke  und  Menge  auf  einander  wirken. 
Und  hiebey  ist  die  Voraussetzung  diese:  es  sey  keine  Schwierigkeit  in  der 
Frage,  wie  viele  Elemente  einander  gegenzvärtig  seyn  können  .J  Eine  Säure, 
ein  Alkali,  kann  ja  mehr  oder  weniger  concentrirt  angewendet  werden! 
Je  concentrirter,  desto  mehr  befindet  sich  davon  in  jeder  Stelle,  und  wirkt 
an  dieser  Stelle.  Was  werden  nun  Diejenigen  hiegegen  einwenden,  welche 
die  Materie  als  ein  Continuum  betrachten,  welches,  wie  sehr  auch  ver- 
dichtet oder  verdünnt,  doch  überall  seinen  Raum  gleichmäfsig  ausfüllt? 
Sie  können,   wie  es  scheint,   nichts   einwenden.     Sie   müssen  also   auch   er- 


*   Stattque  chimique,   I.   p.   438. 


1  die  Energie  seiner  SW. 


t.z.2  !■    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

warten,  dafs,  wenn  irgendwo  mehr  oder  weniger  Sauerstoff  mit  irgend  einer 
Basis  zusammentrifft,  hieraus  eine  bleibende  Verbindung  entstehn  werde, 
in  welcher  die  Sauerstoffmenge  von  dem  Zufalle  abhängt,  dafs  derselbe 
im  Augenblicke  der  Verbindung  mehr  oder  weniger  concentrirt  war. 
Dasselbe  gilt  vom  Schwefel,  und  von  andern  Substanzen  in  Hinsicht 
deren  gleichwohl  die  Lehre  von  den  bestimmten  Proportionen  einen  hohen 
Grad   von   Ausbildung  erlangt  hat. 

Auffallend  konnte  jedoch,  selbst  unabhängig  von  neuern  Entdeckungen, 
dieses  gefunden  werden,  dafs  Berthollet  die  Kraft  der  Cohäsion  als 
etwas  der  chemischen  Verwandtschaft  ganz  Fremdartiges  dazwischen  treten 
läfst.  Wer  den  Wärmestoff  verschmäht,  der  wird  eben  so  auch  die  Elasti- 
cität,  welche  in  andern  Fällen  die  Ausscheidungen  bewirken  soll,  als  etwas 
Fremdes  betrachten  müssen.  Und  auch  hiegegen  werden  Jene,  [614] 
welchen  die  Materie  ein  Continuum  ist,  nichts  einwenden,  noch  etwas 
Besseres  in   Vorschlag  bringen  können. 

Ihnen  erscheint  ganz  natürlich  die  chemische  Affinität  als  eine  innere, 
qualitative  Kraft;  weil  sie  von  der  besondern  Natur  jeder  Substanz,  z.  B. 
des  Sauerstoffs,  oder  des  Kaliums,  oder  was  man  will,  auf  eigene  Weise 
abhängt.  Hingegen  die  Cohäsion  scheint  die  Wirkung  einer  auf  blofse 
Raum  -  Erfüllung  gerichteten  Kraft,  demnach  allgemein  der  Materie  schon 
als  solcher  zugehörig;.  Dergleichen  Ansichten  sind  die  Folgen  logischer 
Abstractionen,  wo  gründliche  Untersuchung  fehlt.  Berthollet  sagt  aus- 
drücklich, man  habe  die  Wirkungen  der  Affinität,  wodurch  Neutralisirung 
entstehe,  verwechselt,  mit  jenen  Absonderungen  durch  Cohäsionen  und  Ex- 
pansionen. Freylich  hatten  Die,  welchen  er  Verwechselung  vorwirft,  keine 
genauere  Kenntnifs  vom  Zusammenhange  der  innern  Zustände,  worin  die 
Neutralisirung  liegt,  und  der  äufseren,  welche  Ausscheidung  oder  Cohäsion 
mit  sich  bringen.  Es  war  immer  ein  Fortschritt  im  Denken,  fürs  erste 
einmal  die  Begriffe  zu  sondern;  aber  dieser  Fortschritt  führte  eben  nicht 
viel  weiter,  als  die  logische  Trennung  der  Seelenvermögen  in  der  Psycho- 
logie. Berthollet  dachte  scharfsinniger  als  seine  Vorgänger,  und  viel- 
leicht auch  als  seine  Nachfolger;  aber  es  gehört  viel  Nachdenken  und 
viel  Erfahrung  dazu,  bevor  man  es  dahin  bringt,  dafs  beydes  gehörig  zu- 
sammentrifft. 

Viel  Wahres  scheint  immer  an  seiner  Lehre  zu  bleiben.  Eine  Säure 
oder  ein  Alkali,  wenn  die  Verdünnung  nicht  gar  zu  weit  getrieben  wird, 
können  ohne  grofsen  Fehler  angesehen  werden  als  überall  gegenwärtig  in 
dem  Wasser,  womit  man  sie  verdünnt,  weil  das  Wasser  den  Gegensatz 
gegen  jene  auch  in  diejenigen  Orte  überträgt,  wo  kein  Theil  der  Säure 
oder  des  Alkali  gegenwärtig  ist  (§.  342 — 344)-  So  lange  nun  [615]  nicht 
eine  veste  Gestalt  sich  bildet,  mögen  in  der  That  alle  Säuren  und  alle 
Alkalien,  die  in  einer  Flüssigkeit  zugleich  sich  befinden,  auf  einander 
wirken;  demnach  ihre  innern  Zustände  durchaus  gegenseitig  bestimmen. 
Von  bestimmten  Proportionen  kann  wohl  kaum  eher  die  Rede  seyn,  bevor 
die  Absonderuno;  und  Gestaltung  wirklich  eintrit.  Bev  Vergasungen  durchs 
Feuer  sind  ohne  Zweifel  alle  Stoffe  einer  gröfsten  möglichen  Expansion 
gewaltsam  ausgesetzt;  zugleich  sind  die  innern  Zustände,  worin  sie  sich 
gegenseitig  versetzen  könnten,    möglichst  gehemmt  durch  den  Wärmestoff; 


5.  Abschn. Umrisse d.Naturphil.  2. Abth.  Analyt.Unters.  5. Cap. Bemerkungen z. Chemie.  353 

hier  können  sich  aus  gewissen  Arten  von  Elementen  schwerlich  abgeson- 
derte Moleculen  bilden;  daher  das  Ganze  beym  Erkalten,  wo  die  Cohäsion 
der  Kieselerde  vorherrscht,  eine  gleichartige  Masse  darstellt.  Dies  scheint 
ein  ganz  besonderer  Fall  zu  seyn,  den  man  mit  den  andern  Fällen 
schwerlich  wird  vermischen  dürfen,  obgleich  Berthollet  sich  auch  hierauf 
beruft. 

Wie  vielen  Antheil  der  eben  erwähnte  übertragene  Gegensatz  an 
einigen  von  den  Thatsachen,  welche  gewöhnlich  auf  Rechnung  der  grofsen 
Theilbarkeit  der  Materie  kommen ,  vielleicht  haben  möge :  dies  ist  un- 
bekannt ;  daher  läfst  sich  über  die  mögliche  Verdünnung  der  Materie 
nichts  anderes  sagen,  als  dafs  sie  desto  weiter  reichen  werde,  je  weiter 
vorher  die  Verdichtung  ging.  Unter  diesen  Umständen  hätte  man  auch 
kaum  wagen  können,  gegen  Berthollet  Einwendungen  aus  allgemeinen 
Grundsätzen  herzuleiten.  Innerhalb  der  Gränzen  unserer  Erfahrung  würde 
man  immer  nur  solche  Erscheinungen  erwartet  haben,  welche  aus  un- 
bestimmter und  wandelbarer  Dichtigkeit  der  Stoffe  hervorgehn  konnten. 
Wenigstens  wenn  soviel  veststeht :  der  Sauerstoff  könne  sich  in  mehr  als 
Einem  Verhältnifs  mit  Schwefel,  oder  mit  Stickstoff,  oder  mit  Phosphor, 
oder  mit  Kohle  u.  dergl.  verbinden:  —  wer  würde  dann  die  [616]  Mittel- 
stufen zwischen  diesen  Verhältnissen  a  priori  auszuschliefsen  wagen?  Wenn 
der  Sauerstoff  dichter  liegt  als  nöthig  (würde  man  denken),  um  den  Schwefel 
zu  sättigen,  so  kann  sich  mehr  mit  dem  letzteren  verbinden;  wobey  nur 
die  Wirkung  des  Schwefels  auf  jene  um  desto  schwächer  ausfallen,  die 
chemische  Anziehung  um  desto  geringer  seyn  mufs,  je  mehr  sie  sich  auf 
die  Menge  des  Sauerstoffs  vertheilt.  Die  Gestaltung  der  Moleculen  aber 
(möchte  man  hinzufügen)  wird  sich  jedesmal  darnach  einrichten,  mehr 
oder  weniger  Sauerstoff  mit  dem  Schwefel  zu  vereinigen,  je  nachdem  das 
vorhandene   Quantum  es   erfordert. 

Allein  bey  näherer  Betrachtung,  wenn  man  den  Lehrsatz  schon  er- 
fahrungsmäfsig  kennt,  dafs  die  Sauerstoffmengen  als  Vielfache  nach  ganzen 
Zahlen  fortzuschreiten  pflegen,  gelangt  man  leicht  zu  der  Frage:  ob  denn 
wohl  jede  Gestaltung  mit  viel  oder  wenig  Sauerstoff  gleich  vest  seyn  könne? 
Und  nun  scheint  es  allerdings,  dafs  wohl  nur  eine,  welche  genau  dem  Grade 
des  Gegensatzes  zwischen  den  verbundenen  Elementen  entspreche,  und  die 
gröfste  mögliche  Attraction  derselben  ;  herbey führe,  als  vest  betrachtet  wer- 
den könne.  Gesetzt  aber,  es  komme' mehr  Sauerstoff  hinzu:  so  wird1  der- 
selbe zwar  einzudringen  suchen  in  die  Elemente  der  Basis:  allein  das 
schon  gebildete  Ganze  wird  dadurch  aus  doppeltem  Grunde  in  Repulsion 
seiner  Bestandtheile  versetzt:  theils  weil  die  Basis,  —  vorausgesetzt,  sie 
habe  das  Maximum  ihrer  Selbsterhaltung  entweder  ganz  oder  doch  bey- 
nahe  erreicht,  —  nicht  mehr  aufnimmt;  theils  wegen  der  Repulsion  unter 
den  Elementen  des  Sauerstoffs  selbst.  Demnach  hat  die  vorige  Vesturkeit 
gelitten;  und  es  mufs  ein';  Bestreben  vorhanden  sein,  sie  wieder  zu  ge- 
winnen, da  sie  dem  ursprünglichen  Verhältnisse  der  Qualitäten  am  meisten 
angemessen  ist.  Dies  Bestreben  treibt  die  neuen,  eingedrungenen  Ele- 
[bi/Jmente  hinweg,  sobald  irgend  eine  dazu  günstige  Bewegung  in  der 
ganzen  Masse  entstehen  kann.  Allein  von  den  schon  vorhandenen,  mit 
der   Basis  aufs  Beste   verbundenen  Elementen  überträgt   sich   doch   die  An- 

Herbart's  Werke.     VIII.  23 


•>  ca  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


Ziehung  auf  neu  hinzukommenden  Sauerstoff.  Wie  viel  mufs  nun  hinzu- 
treten,  damit  wiederum  eine  wenigstens  gleichmäfsigc  Verbindung  entstehe? 
Offenbar  mufs  jedes  Element  des  schon  vorhandenen  Sauerstoffs  gleichviel 
wie  die  übrigen  mit  sich  vereinigen.  Das  heifst,  —  wie  die  Erfahrung 
bestätigt,  —  die  ursprüngliche  Sauerstoffmenge  mufs  nach  einer  ganzen 
Zahl  multiplicirt  werden.  So  bleibt  nun  die  erste,  möglichst  veste  Ge- 
staltung beybehalten;  nur  vervielfacht  sich  in  ihr  jedes  Element  des  ge- 
nannten Stoffs.  Angenommen  dagegen,  es  sey  die  Basis,  die  sich  ver- 
vielfache: so  wird  dies  soviel  seyn,  als  wäre  die  Zahl  für  den  Sauerstoff 
dividirt  worden,   welches   seltener  vorzukommen  scheint. 

So  sind  die  Sprünge,  oder  die  discreten  Gröfsen,  wodurch  die  Sauer- 
stoffmengen bestimmt  werden,  begreiflich,  weil  wir  die  Materie  nicht  für 
ein  Continuum  halten,  sondern  sie  als  bestehend  aus  Elementen  in  be- 
stimmter Anzahl  betrachten.  Und  hier,  wo  eine  bekannte  Misdeutung  der 
Geometrie  uns  den  Weg  versperren  wollte,  ist  es  sehr  unerwartet  die  Er- 
fahrung, die  uns  Hülfe  anbietet.  Aber  freylich  könnten  wir  die  Hülfe  uns 
nicht  zueignen,  wenn  nicht  schon  längst  die  Lehre  vom  Räume  sich  jener 
Misdeutung  entgegengesetzt  hätte. 

Im  Grunde  läuft  diese  ganze  Betrachtung  in  die  ersten  Sätze  von 
der  Configuration  der  Materie  zurück.  Diejenigen,  welchen  Materie  ein 
Continuum  seyn  soll,  können  überhaupt  den  starren  Körper  nicht  be- 
greifen; es  siebt  für  sie  gar  keinen  Grund  weder  für  bestimmte  Ver- 
bindung,  noch  für  bestimmte  Gestaltung.  Das  heifst,  [618]  es  giebt  für 
sie  überhaupt  keine  Naturphilosophie.  Wo  Alles  fliefst,  da  gelangt  Nichts 
zum  Stehen. 

Ein  Punct  bleibt  auch  nach  dem  Vorstehenden  noch  unaufgeklärt  * 
zurück.  Es  ist  die  Bestimmtheit  derjenigen  Proportionen,  welche  sich  auf 
die  Volumina  der  Gasarten  beziehen.  Gemäfs  der  gewöhnlichen  Meinung, 
und  gestützt  auf  eigene  Gründe  (§.  391)  haben  wir  angenommen,  dafs  die 
Gasform  von  der  Einhüllung  und  Isolirung  der  Elemente  durch  die  Sphären 
des  Caloricums  herrühre.  Die  Verhältnisse  des  Volumens  können  demnach 
zunächst  nur  darin  ihren  Grund  haben,  dafs  eine  Gasart  mehr  als  eine 
andre  geeignet  ist,  sich  mit  vielem  Caloricum  zu  umhüllen,  bevor  sich 
zwischen  ihr  und  den  andern  das  Gleichgewicht  herstellt,  was  alle  Gase 
eingehn  müssen,  um  dem  Drucke  der  Atmosphäre  den  gleichen  Wider- 
stand zu  leisten.  Wenn  nun  etwa  bey  der  Verbindung  des  Wasserstoff- 
gases mit  dem  Sauerstoffgase  eine  höchst  einfache  Proportion  des  Volumens 
vorkommt,  die  aber  von  den  Gewichtsmengen,  welche  wir  als  das  Maafs 
der  Massen  betrachten,  weit  abweicht:  so  scheint  hier  eine  Bestimmung 
einzutreten,  welche  der  Verbindung  beyder  Stoffe  ganz  zufällig  ist.  Dies 
führt  auf  die  Frage:  ob  vielleicht  die  Proportion  des  Volumens  beyder 
Gasarten  noch  bleiben  würde,  wenn  man  durch  Condensation  das  Ca- 
loricum mehr  und  mehr  herausprefste  ?  Und  ob  endlich  beyde  Stoffe, 
ohne  ganz  und  gar  vom  Caloricum  entblöfst  zu  seyn,  Wasser  bilden  wür- 
den, indem  sie  noch  immer  jene  Proportion  beybehielten  ?  Dann  wäre 
Caloricum  ein  nothwendiger  Bestandtheil  des  Wassers;  so  etwan  wie  Wasser 


1  nach  dem  Vorstehenden  unaufgeklärt  SW  („noch"  fehlt). 


5. Abschn.  Umrisse d.Naturphil.  2.  Abth.Analyt. Unters.  5. Cap. Bemerkungen z. Chemie.  355 

bekanntlich  die  erste  Basis  jeder  flüssigen  Säure  ist,  da  man  keine  Säure 
wasserfrey  darstellen  kann.  Die  Attraction  zwischen  Wasserstoff  und  Sauer- 
stoff, und  die  Configuration  der  Moleculen  des  Wassers  hinge  dann  zum 
Theil  vom  gebundenen  Caloricum  ab.  Doch  wir  [6 ig]  müssen  hier  eine 
Dunkelheit  anerkennen;  und  können  sehr  zufrieden  seyn ,  wenn  unsre 
vorigen   Bemerkungen  die   Prüfung  aushalten. 


8-   425- 

Im  Begriff,  unsre  Blicke  auf  die  Physiologie  zu  richten,  erwähnen 
wir  nochmals  der  andern  Dunkelheit,  in  welcher  die  Chemie  die  Frage 
vom  Ursprünge  mancher  Stoffe  gelassen  hat,  die  sich  in  organischen  Pro- 
ducten  vorfinden,  nachdem  sie  chemisch  behandelt  wurden.  Natürlich 
kann  Niemand  diese  Dunkelheit  erleuchten,  wenn  nicht  die  Chemie  es 
selbst  thut.  Und  ihre  jetzige  rege  Thätigkeit  hat  auch  schon  den  Punct 
ergriffen,  wo  man  zunächst  den  Schlüssel  des  Geheimnisses  suchen  kann; 
nämlich  den  Stickstoff  der  Atmosphäre,  in  welchem  die  Organismen  gar 
Manches   finden  mögen,   das  wir  darin  nicht  vermuthen. 

Gerade  wie  das  Wasser  uns  im  gemeinen  Leben  das  Mildeste,  am 
wenigsten  scharf  Gezeichnete  aller  Dinge  zu  seyn  scheint,  —  nur  ge- 
schickt, um  stärkere  Stoffe  zu  verdünnen  und  ihre  Wirkungen  zu  mäfsigen, 
—  so  erscheint  uns  unter  den  Gasarten  das  Stickgas  nur  begabt  mit  nega- 
tiven Eigenschaften.  Freylich  verräth  dem  Chemiker  auf  der  einen  Seite 
die  Salpetersäure,  auf  der  andern  das  Ammoniak,  und  neuerlich  noch  das 
aus  dem  letztern  entstehende  Amalgama,  dafs  er  hier  mit  einem  Stoffe 
von  ganz  besondern  Eigenthümlichkeiten  zu  thun  hat.  Aber  unsre  Ver- 
gleichung  mit  dem  Wasser  soll  noch  etwas  mehr  andeuten.  Dieses  näm- 
lich besteht  nicht  blofs  aus  zwey  sehr  mächtigen  Stoffen,  sondern  es  mischt 
sich  mit  Allem,  verunreinigt  sich  durch  Unzähliges,  was  nur  die  feinste 
Scheidekunst  darin  wieder  findet.  Die  Neigung  nun,  das  Verschiedenste 
in  sich  aufzunehmen,  und  für  die  gewöhnliche  Beobachtung  völlig  un- 
kenntlich zu  machen,  kann  [620]  in  einer  höhern  Potenz  dem  Stickgase 
eigen  seyn,  sobald  wir  uns  die  Vermuthung  erlauben,  dafs  es  aus  stark 
entgegengesetzten  Bestandteilen  zusammengesetzt  sey,  die  nur  unmerklich 
aus  dem  Zustande  der  Neutralität  herauszugehn  brauchen,  um  das  Mannig- 
faltigste in  sich  zu  verlarven,  und  es  eben  so  l  unmerklich  bey  Gelegen- 
heit an  die  Organismen  wieder  abzusetzen.  Wie  wollte  auch  sonst  die 
Atmosphäre  sich   so  gleich  bleiben! 

Zwey  Dinge  müfsten  wir  kennen,  um  Zusammenhang  in  unser  em- 
pirisches Wissen   zu  bringen :   die   Atmosphäre,   und  die  Sonne ! 

1  in  sich  zu  entlarven,   und  es  so  eben  so   .  .  SW. 


=  3  * 


ir5  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


Sechstes  Capite  1. 
Philosophische  Beleuchtung  der  physiologischen  Grundbegriffe. 

§•  426. 

Der  schwerste  Theil  unseres  Geschäffts  ist  noch  übrig.  Allein  wir 
dürfen  nur  den  Faden  der  vorigen  Betrachtungen  vesthalten  und  benutzen. 
Haben  wir  den  starren  Körper  richtig  begriffen,  so  erklärt  sich  auch  der 
lebende,  sobald  die  Voraussetzung  des  ersteren  gehörig  abgeändert  wird. 
Und  dies  ist  im  §.  364  schon  geschehen.  Im  Gebiete  der  Erfahrung  ver- 
setzen wir  uns  hier  zuerst  auf  den  niedrigsten  Punct,  wo  das  Thierleben 
sich  vom  Pflanzenleben  noch  nicht  scheidet.  Die  Untersuchung  wird  uns 
von  dort  allmählig  weiter  führen. 

Wenn  reines  Wasser  verdunstet:  so  kann  niemals  etwas  anderes  als 
Wasser  übrig  bleiben.  Enthält  aber  das  Wasser  irgend  welche  fremdartige 
Theile:  so  werden  diese  beym  Verdunsten,  falls  sie  zurückbleiben,  all- 
mählig einander  näher  rücken.  Sind  sie  ungleichartig:  [621]  so  treten 
sie  bey  der  Berührung  (das  heifst  hier,  beym  Eintrit  ins  unvollkommene 
Zusammen)  vollends  zusammen,  und  vereinigen  sich  auf  chemische  Weise 
(§.  2Ö9).  So  der  Kalk,  welchen  das  Wasser  beym  Kochen  fallen  läfst. 
Sind  sie  gleichartig,  und  ohne  alle  Bestimmung  innerer  Zustände:  so  er- 
folgt gar  nichts.  Sind  sie  aber  gleichartig,  und  aus  früheren  Verbindungen 
in  irgend  welchen  unter  sich  ungleichartigen  Zuständen  der  Selbsterhaltimg: 
so  treten  sie  bev  der  Berührung  zwar  zusammen,  allein  ihre  begimiende 
Durchdringung  ist  mit  einer  gegenseitigen  Hemmung  ihrer  innern  Zustände 
verbunden;  daher  wird  sie  verzögert,  aufgehalten,  und  es  erfolgen  Oscillationen, 
wie  im  §.   365  schon  gezeigt  worden. 

Sind  nun  in  dem  umgebenden  Wasser  (wie  zu  vermuthen)  nicht  blofs 
zwey  solche  Elemente,  sondern  deren  viele;  und  diese  einander  nahe  ge- 
nug': so  erfolgt  nach  §.  366  ein  Herbeyziehen  durch  mittelbare  Attraction. 
Gesetzt,  die  Elemente  a,  b,  c,  d  seyen  in  einerley  innerem  Zustande, 
hingegen  «,  ß,  y,  d  in  einem  entgegengesetzten;  auch  seyen  a  und  a 
zuerst  in  beginnende  Durchdringung  versetzt,  während  b  mit  a  und  ß 
mit  «  in  Berührung  sich  befinden;  desgleichen  c  mit  b,  und  -/  mit  ß  u.  s.  w. : 
so  entsteht  allmählig  in  «  ein  ähnlicher  innerer  Zustand  wie  in  a,  mit  ab- 
nehmender Stärke  fortgepflanzt  auf  ß  und  die  folgenden  berührenden;  des- 
gleichen rückwärts  in  a  ein  ähnlicher  innerer  Zustand  wie  in  «,  und  auch 
dieser  pflanzt  sich  fort  auf  b  und  die  folgenden;  daher  werden  b  und  ß 
angetrieben,  in  a  und  u  tiefer  einzudringen;  sie  nehmen  alsdann  Theil 
an  den  Oscillationen  des  a  und  «. '  Allein  hiebey  bleibt  es  nicht.  Son- 
dern (nach  §.  366)  die  Elemente  b  und  ß  treten  bald  an  die  Stelle  von 
a  und  a.  Denn  sie  sind  von  der  Hemmung  des  älteren  durch  den  [622] 
neuen  innern  Zustand  noch  minder  ergriffen,  so  lange  der  letztere  auf  sie 
blofs  mittelbar  übertragen  wurde;  ihre  Annäherung  ist  daher  lebhafter,  bis 
sie  unmittelbar  in  Berührung  kommen;  dagegen  entsteht  einige  Repulsion 

:   des  a  und  a  S"\V. 


5-Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.Abth.  Analyt.Unters.  6.  Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  357 

zwischen  a,  b,  c  u.  s.  w.,  desgleichen  zwischen  u,  ß,  y  u.  s.  w.,  sobald  ihrer 
zu  viele  irn  Fortgange  dieses  Processes  herbeygezogen  und  angehäuft  wer- 
den (nach  §.   344). 

An  der  Stelle  in  dem  Wasser,  wo  sich  das  Beschriebene  ereignet, 
ist  demnach  beständige  Bewegung.  Wie  weit  wird  dieselbe  um  sich  grei- 
fen? Giebt  es  nicht  irgend  eine  Gränze,  bey  der  sie  stehen  bleibt?  Irgend 
eine  bestimmte   Form,   die   aus  ihr  hervorgeht? 

Angenommen,  rings  um  die  Elemente  a  und  a  seyen,  wie  natürlich, 
überall  solche  vorhanden,  die  ihnen  gleichen,  so  werden  in  einem  sphäri- 
schen Räume  aus  den  angegebenen  Gründen  die  andern  zuerst  in  den- 
selben Ort,  worin  a  und  a  den  Procefs  begannen,  hineingezogen;  dann 
aber  auch,  eben  so  wie  diese  ersten,  allmählig  nach  allen  Radien  aus  dem- 
selben hinausbewegt.  Allein  diese  letztere  Bewegung  entfernt  die  Elemente 
nie  so  ganz,  dafs  eins  derselben  sich  losreifsen  sollte.  Erstlich  sind  hier 
keine  Gründe  einer  irgend  bedeutenden  Geschwindigkeit,  sondern  die  Os- 
cillationen  richten  sich  nach  den  allmähligen  Hemmungen  der  innern  Zu- 
stände in  einem  jeden  Elemente;  ferner  bleibt  immer  ein  Grund  des  Zu- 
sammenhangs, weil  jedes  Element  dem  andern,  gemäfs  der  ersten  Voraus- 
setzung, etwas  Entgegengesetztes  repräsentirt.  Während  nun  in  der  Mitte 
des  sphärischen  Raums  noch  lebhafte  Oscillation  ist,  wird  es  ringsum 
ruhiger.  Diejenigen  Elemente,  welche  schon  von  innen  nach  aufsen  gingen, 
sind  mehr  im  Gleichgewichte  ihres  älteren  und  neueren  inneren  Zustandes. 
Sie  haben  demnach  nicht  blofs  Anziehung  für  einander,  sondern  das  Re- 
sultat derselben,  eine  be- [62 3] stimmte  gegenseitige  Lage,  wird  minder  ge- 
stört durch  Oscillation;  sie  nähert  sich  der  Vestigkeit.  Und  das  um  desto 
sicherer,  je  mehr  das  Wasser  fortfährt  zu  verdunsten.  Dazu  kommt,  dafs 
nun  die  in  der  Mitte  befindlichen  Elemente  allmählig  aus  unmittelbarer 
Gemeinschaft  mit  dem  andern  Wasser  heraus  versetzt  werden;  weil  sie 
von  jenen  andern  umgeben  sind.  Schliefst  sich  aber  die  Umgebung  nicht 
ganz  genau  gleichförmig  (und  wie  sollte  sie,  wenn  nicht  die  ursprünglich 
gegebene  Lage  der  Elemente  eine  geometrische  Gleichförmigkeit  besafs?), 
so  bleibt  hie  und  da  die  Gemeinschaft  mit  dem  äufsern  Wasser  offen; 
folglich  geht  dorthin  von  der  Mitte  aus  der  vorige  Procefs  des  Herbey- 
ziehens  neuer  Elemente  noch  fort;  daher  erneuert  sich  auch  die  Repulsion 
nach  allen  Richtungen ;  und  weil  dieser  schon  durch  eine  Art  von  vester 
Umgebung  eine  Gränze  gesetzt  wurde,  so  mufs  nun  die  Hülle  immer 
dichter  und  bestimmter  werden,  indem  das  Ganze  von  innen  her  wächst, 
so  lange   es  von  aufsen  durch  die   Öffnungen    Nahrung  einzieht. 

Mag  man  nun  untersuchen,  ob  diese  Beschreibung  gut  genug  ist  für 
ein  sogenanntes  Infusions-Thier.  Dafs  es  ein  Thier  sey,  können  wir  nicht 
versichern;  dafs  aber  jene  mikroskopischen  Gegenstände,  welche  der  grünen 
Materie  vorangehn,  besser  den  Namen  von  Thieren  verdienen,  wird  wohl 
Niemand  unternehmen  uns  zu  beweisen.  So  viel  ist  klar,  dafs  die  min- 
deste Reizung  durch  etwas  Äufseres  —  durch  Licht,  Wärme,  durch  fremde 
Bestandteile,  die  sich  aufser  jenen  noch  in  dem  nämlichen  Wasser  be- 
finden mögen  —  sowohl  die  Bewegung  als  die  Gestaltung  abändern  könne 
und  müsse.  Beliebt  sich  eine  Menge  solcher  Processe,  wie  beschrieben 
worden,   nahe  der  Oberfläche   des  Wassers,   und  schreitet  die  Verdunstung 


358  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

des  letztern  so  weit  fort,  dafs  aus  jenen  Gebilden  sich  eine  Deckung  zu- 
sammen-[62_i]setzen  kann,  die  sich  der  Trockenheit  nähert:  so  hören 
natürlich  oberwärts  die  freyen  Oscillationen  auf;  die  untern  aber  führen 
aus  dem  Wasser  immer  mehr  von  jenen  Elementen  herbey;  es  giebt  auch 
jetzt  noch  ein  Wachsen,  aber  von  unten  nach  oben,  welches  anfängt  sich 
dem  Pflanzen -Wachsthum  zu  nähern,  weil  die  Bedingungen  desselben, 
nämlich  Einwirkung  eines  feuchten  Grundes  von  unten  und  der  Atmo- 
sphäre von   oben,   hier  eintreten.      Dabev  bemerke  man   Folgendes: 

Erstlich,  der  biasenförmige  Körper,  dessen  Bildung  wir  beschrieben, 
kann  sehr  leicht  in  eine  Röhrenform  übergehen,  wofern  die  unter  sich 
oscillirenden  und  alsdann  zu  einer  Umhüllung  zusammentretenden  Ele- 
mente zugleich  aus  neuen  Gründen  eine  gemeinschaftliche  Bewegung  auf- 
wärts bekommen.  Denn  in  diesem  Falle  kann  die  Ablagerung  und  Ver- 
dichtung derer,  welche  den  stärker  oscillirenden  den  mittleren  Platz  räumen, 
nur  seitwärts  geschehn.  Doch  wird  die  Röhre  nicht  nothwendig  unten 
offen  seyn,  da  man  keine  Gründe  hat,  die  Umhüllung  für  einen  durch- 
aus starren,  nichts  Neues  durchlassenden  Körper  zu  halten ;  worüber  bald 
ein  Mehreres.  Dafs  aber  eine  Bewegung  aufwärts  entstehe,  dazu  reicht 
unter  den  zuvor  angenommenen  Umständen  schon  der  Reiz  hin,  welchen 
die  Atmosphäre  auf  die  Theile  an  der  Oberfläche  ausübt.  Denn  der 
Gegensatz  zwischen  eben  diesen  Theilen  und  der  Luft  überträgt  sich  nach 
unten  sowohl  durch  die  Röhre,  als  durch  das  in  ihr  enthaltene  und 
oscillirende  Flüssige ;  letzteres  wird  daher,  nach  den  bekannten  allgemeinen 
Grundsätzen,  herangezogen,  während  es  in  sich  selbst  seine  Oscillation 
zugleich  fortsetzt,  eben  so,  als  ob  es  an  einerley  Stelle  im  Ganzen  ge- 
nommen verweilte. 

Zweytens :  der  Unterschied  zwischen  der  Umhüllung  und  dem  Flüssi- 
gen, was  sie  enthält,  entsteht  nicht  plötz-[62,5]lich,  sondern  allmählig. 
Die  KüDe  (gleichviel  ob  Blase  oder  Röhre)  ist  Anfangs  nichts  anderes  als 
ein  Minder- Bewegtes;  indem  die  Elemente  sich  einem  Gleichgewichte 
unter  den  innern  Zuständen  eines  Jeden  von  ihnen  schon  etwas  mehr 
genähert  haben,  als  jene  andern,  die  in  der  Mitte  schweben.  Nur  da- 
durch, dafs  immer  neue  Elemente  durch  Öffnungen  oder  Poren  herbey- 
kommen,  und  eben  deshalb  auch  immer  mehrere  seitwärts  getrieben  wer- 
den, nimmt  der  Unterschied  zwischen  der  sich  verdichtenden  Hülle  und 
dem  Flüssigen  zu.  Dennoch  würde  er  hiedurch  allein  nie  so  bestimmt 
und  schneidend  werden,  wie  etwan  in  deutlichen  Adern  thierischer  Kör- 
per; daher  mufs  man  die  Anfänge  der  Gefäfsbildung  nicht  verwechseln 
mit  den  höhern  Stufen   derselben. 


Es  wird  von  selbst  einleuchten,  dafs  die  Absicht  der  vorstehenden 
Auseinandersetzung  nicht  sowohl  darauf  gerichtet  war,  Infusionsthiere  zu 
erklären  (deren  Beschaffenheit  immer  vorzugsweise  von  den  zur  Infusion 
gebrauchten,  schon  organischen  Stoffen  abhängen  wird),  als  vielmehr  da- 
hin, über  die  Ernährung  der  Pflanzen  und  Thiere,  welche  im  Zellgewebe 
vor  sich  geht,   die   einfachsten   Begriffe   darzubieten. 


5.  Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.  Abth.  Analyt.  Unters.  6.Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  35  g 

Dafs  sich  Pflanzen  und  Thiere    aus  Röhren  zusammengesetzt  zeigen, 
deren   Wände    wiederum    kleinere    Röhren    enthalten,    ist    bekannt    genug. 
Aber    so    lange    das    Flüssige,    was    darin    umläuft,    blofs    an    den    innern 
Wänden   vorüberstreicht,    ist   gar  keine    organische  Verbindung  vorhanden. 
Überhaupt  kann    das  Flüssige,  wenn  es    ganz  und    gar  flüssig,  das  heilst, 
gestaltlos  ist,  und  das  Veste,  wenn  es  völlig  starr  ist,  und  sich  gar  keiner 
innern  Bewegung  und  Veränderung  darbietet,   dem   organischen  Leben  nur 
fremdartig  seyn.      Auch  kann    [626]   dadurch  kein  Wachsen   und  Gedeihen 
bewirkt    werden.       Wenn    die    Nahrungssäfte    blofs    umherlaufen     in     den 
Röhren,    so    ernähren    sie    nichts.      Irgendwo    mufs    die    Röhre    aufhören, 
blofser  Canal    zu  seyn;*    ihr  Flüssiges  erreicht    erst  da    seinen   Zweck,   wo 
es  anfängt,  in   das  Veste   überzugehn.     Und  wenn  jeder  Theil  im  Organis- 
mus Nahrung  braucht,    so  ist  nirgends  eine  Stelle,   wo  nicht  in  der  That 
Flüssiges  aufgenommen   würde    zwischen   das  Veste.      Und  wenn    aus    den 
kleinsten    Keimen    durch    allmählige    Ernährung    die    gröfsten    organischen 
Körper  entstehen,  so  ist  alles  Veste   an  ihnen  irgend  einmal  flüssig  gewesen. 
Dafs    aber  auch    ohne   eine   gegebene  veste  Grundlage,    ohne   irgend 
welche  vorläufige  Haltungspuncte,   aus  dem,   zvas  gänzlich  flüssig  schien,   sich 
allmählig  das  Veste  einer  Blase,   Röhre,   Zelle  bilden  kann:   dies  ist  wohl 
nirgends  auffallender  als   bey  den  sogenannten  Infusionsthieren ;  und  des- 
halb haben  wir  an   sie  zuerst  erinnert.     Übrigens  wird   nicht  leicht  Jemand 
glauben,  alle  Zellen  ausgewachsener  Pflanzen  und  Thiere  seyen  vollständig 
in    den   Keimen    präformirt    gewesen;   was    anderes    aber    folgt   daraus,    als 
dafs   die    Bildung    des    Zellgewebes    eben    sowohl    eine    neue  Bildung   aus 
dem  Flüssigen  sey,  wie  sich  in   dem  Fleische,  wodurch  Wunden  ausheilen, 
neue  Gefäfse  erzeugen. 

In  dem  Vorstehenden  liegt  nun  ein  Vorschlag  zur  Erklärung  dieser 
Umbildungen,  welche  im  Zellgewebe  bey  der  Ernährung  vor  sich  gehen. 
Dafs  darin  noch  nichts  von  den  besondern  Bestimmungen  enthalten  seyn 
konnte,  wodurch  sich  in  einzelnen  Thieren,  Pflanzen,  oder  Theilen  der- 
selben die  Ernährung  auszeichnet  und  [627]  unterscheidet,  dies  versteht 
sich  von  selbst,  da  es  blofs  um  die  allgemeinsten  Begriffe  zu  thun  war. 
Man  wird  hieraus  die  Erweiterung  und  Vergröfserung  der  organischen 
Gebilde  begreifen,  da  in  ihnen  alles  oscillirt,  und  selbst  die  vesten  Theile 
nur  eine  relative  Vestigkeit,  aber  keine  vollkommene  Starrheit  (wenn  nicht 
vielleicht  in  den  hornartigen  und  völlig  verknöcherten  Theilen)  besitzen. 
Man  wird  sich  nicht  mehr  wundern  über  die  grofse  Gewalt,  welche  die 
Wurzeln  der  Pflanzen  ausüben,  indem  sie  den  Boden  durchgraben  und 
bedeutende  Hindernisse  beseitigen.  Wo  alle  Elemente  eines  Körpers  in 
Bewegung  sind,  und  zwar  nach  einem  Gesetze,  das  in  jedem  einzelnen 
Elemente  auf  eigene  Weise  bestimmt  ist,  da  wird  leicht  auch  das  Ganze 
in  der  Erscheinung  sich  in  einem  hohen  Grade  wirksam  zeigen.  Man 
wird  einsehen,  weshalb  die  Pflanze  aufwärts  strebt;  wir  sehn  ja  an  welken- 
den  Pflanzen,   dafs    sie   sich    aufrichten,  wenn    sie  nach    langer  Dürre    be- 


*  Vielleicht  auch  dient  der  ohne  Unterbrechung  fortgehende  Canal,  wenn  es 
einen  solchen  giebt,  nur  für  den  Kreislauf  dessen,  was  zur  Ernährung  überflüssig  ist. 
Der  berühmte  Streit  über  die  Verbindung  der  Arterien  und  Venen  gehört  nicht  hieher. 


^5o  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.      1829. 


gössen  werden;  offenbar  haben  sie  aus  dem  Boden  die  Feuchtigkeit  an- 
gezogen, und  dieser  Zug  der  Säfte  von  unten  her  gab  von  Anfang  an 
dem  Gewächs  die  Neigung,  sich  nach  oben  hin  auszudehnen.  *  Wir  wer- 
den ferner  nicht  mehr  zweifeln ,  dafs  in  warmblütigen  Thieren  die  grofse 
Gewalt,  welche  nöthig  ist,  um  das  Blut,  —  eine  zähe  Flüssigkeit,  —  durch 
unzählige  höchst  enge  und  krumme  Canäle  zu  treiben,  —  nicht  als  blofs 
mechanischer  Druck  des  Herzens,  sondern  gröfstentheils  als  Anziehung 
betrachtet  werden  mufs,  die  gerade  so  vom  Zellgewebe  ausgeht,  wie 
vom  Stamm  der  Pflanze  die  Attraction  der  Säfte  sich  bis  in  die  Wurzel 
fortpflanzt.  Deshalb  und  mit  Rücksicht  auf  [628]  das  Herbeyziehn  solcher 
Säfte,  die  in  gröfseren  Röhren  darauf  warten,  in  die  engsten  Zellen  ein- 
geführt zu  werden,  ist  schon  im  §.  366  von  einer  fadenförmigen  Art  des 
Zusammenhangs  gesprochen,  wobey  die  Attraction  durchs  Flüssige  selbst 
wie  an  einer  Schnur  fortläuft.  In  Ansehung  des  Herzens  und  des  Blut- 
umlaufs kommt  es  hier  nicht  so  sehr  darauf  an,  die  Frage  nach  der 
Gröfse  der  Kraft  zu  entscheiden,  welche  wohl  möglicherweise  oder  wahr- 
scheinlich das  Herz  besitzen  möge :  sondern  darauf,  dafs  die  Attraction, 
welche  im  Zellgewebe  beginnt,  gar  nicht  ausbleiben  kann,  wofern  unsre 
obigen   Voraussetzungen  hier  zutreffen. 

-         §.   428. 

Das  Bisherige  bezieht  sich  nur  noch  auf  Austausch  innerer  Zustände 
der  Elemente,  und  daher  rührende  äufsere  Gestaltung.  Eigentliche  Assi- 
milation erfordert  mehr;  sie  setzt  voraus,  dafs  die  herangezogenen,  zur 
Nahrung  dienenden  Elemente  veredelt  werden  durch  neue  innere  Zustände, 
die  sie  noch  nicht  besafsen. 

Zum  blofsen  Wachsthum  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  diese  Verede- 
lung nicht  durchaus  nothwendig;  und  bey  Pilzen  und  Schwämmen  mag 
sie  wohl  auch  schwerlich  statt  finden.  Allein  vorausgesetzt,  das  Wach:en 
sey  im  Gange,  schon  durch  diejenigen  innern  Zustände,  welche  der  dar- 
gebotenen ernährenden  Flüssigkeit  gemein  sind  mit  dem  wachsenden  Organis- 
mus: so  kann  es  nicht  fehlen,  dafs  nähere  Bestimmungen  hinzukommen, 
sobald  der  rohere  Nahrungsstoff  in  Berührung  trit  mit  den  Elementen  des 
schon  gebildeten  lebenden  Körpers. 

Jede  freye  Configuration  der  Materie  erfolgt,  wie  wir  längst  wissen, 
gemäfs  den  innern  Zuständen  der  Elemente.  Jeder  Form  einer  Pflanze 
oder  eines  Thiers  gehört  demnach  ein  System  innerer  Zustände  verbunde- 
[Ö29]ner  Elemente;  und  jede  Knospe,  woraus  die  Form  des  ganzen  Ge- 
wächses sich  entwickeln  kann,  mufs  dies  System  innerer  Zustände  schon 
in   sich   tragen. 

Trit  nun  der  Nahrungssaft  in  die  Knospe:  so  dehnt  sie  sich  aus, 
und  zugleich  überträgt  sie  die  ihr  eigenthümlichen  Zustände,  vermöge  des 
repräsentirten  Gegensatzes  ('§.  344),  in  die  Elemente  des  Saftes,  so  weit 
dies  möglich  ist. 


*  Der  Gegensatz  des  Würzelchens  und  des  Knöspchens  in  keimenden  Saamen 
mag  auf  die  innern  Zustände,  die  nach  einer  passenden  Gestaltung  unter  äufsern  Be- 
dingungen streben ,  sich  gründen ;  dies  ist  eine  andre  Frage. 


5.Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.  Abth.  Analyt.  Unters.  ö.Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  ^6l 

So  weit  es  möglich  ist!  Aber  hier  entstehn  zwey  Bedenken  zugleich. 
Erstlich :  diese  Elemente  des  Nahrungssaftes ,  in  welchen  Verbindungen 
sind  sie  denn  früher  gewesen,  bevor  sie  hier  anlangten ;  und  welche  innere 
Zustände  bringen  sie  mit  aus  ihren  vorigen  Verhältnissen  ?  Wie  passen 
dieselben  zu  der  neuen  Bildung,  die  sie  jetzt  empfangen  sollen  ?  —  Um 
darauf  zu  antworten,  müfste  jedes  Element,  das  wir  Kohlenstoff,  oder 
Wasserstoff,  oder  Sauerstoff,  oder  Stickstoff  nennen,  seine  ganze  Geschichte 
erzählen,   so  lange   es   für  dasselbe  eine   Geschichte  gab. 

Zweytens :  sind  denn  alle  Elemente,  die  wir  mit  einerley  chemischen 
Namen  belegen,  auch  wirklich  gleich  in  ihrer  ursprünglichen  Qualität?  — 
Wir  erkennen  Alles  nur  nach  Verhältnissen;  was  wir  Sauerstoff  oder 
Wasserstoff  nennen,  das  zeigt  sich  so  in  den  Experimenten;  allein  wenn 
diese  uns  gewisse  Merkmale  für  einen  Gattungsbegriff  dargeboten  haben, 
so  folgt  noch  gar  nicht,  dafs  nicht  specifische  Unterschiede  hinzukommen 
könnten,  die  sich  in  den  bekannten  chemischen  Verhältnissen  nur  nicht 
verriethen.  Angenommen,  wie  die  Chemie  befiehlt,  der  Diamant  sey  reiner 
Kohlenstoff:  so  folgt  noch  nicht,  dafs  aller  Kohlenstoff  dazu  tauge,  um 
als  Diamant  zu  glänzen.  Angenommen,  in  allen  ätherischen  Ölen  stecke 
Wasserstoff:  so  ist  noch  immer  zweifelhaft,  ob  derjenige  Wasserstoff,  welcher 
[030]  sich  im  Terpentinöl  befindet,  auch  geschickt  seyn  wird,  einen  Be- 
standtheil  des   Rosenöls  abzugeben. 

Nur  soviel  ist  klar,  dafs  zwischen  Pflanzen  und  Thieren  sich  in 
diesem  Puncte  ein  grofser  Unterschied  hervorthut.  Als  Nahrung  nimmt 
die  Pflanze,  was  der  Boden  und  die  Atmosphäre  ihr  bieten;  aber  das 
Thier  ist  nicht  so  leicht  befriedigt.  Es  wählt  unter  Pflanzen,  während 
es  die  rohen  Stoffe  beynahe  gänzlich,  wenigstens  als  Nahrungsstoffe,  ver- 
schmäht. Feinere  Unterschiede  finden  sich  ebenfalls.  Gar  manche  edlere 
Pflanze  fordert  einen  Boden,  welchen  untergeordnete  Pflanzen  verwesend 
bereiteten;  und  Thiere  verzehren  auch  Thiere,  weil  ihnen  Pflanzen  nicht 
genügen. 

Also  haben  die  niedrigem  Pflanzen  vorher  theils  die  inneren  Zustände 
vorbilden,  theils  unter  den  rohen  Elementen  eine  vorläufige  Auswahl  treffen 
müssen,   damit  höhere   Geschlechter  gedeihen  konnten. 


§■   429- 

Wir  beschränken  unsre  nächste  Betrachtung  auf  die  Pflanzen,  welche 
für  die  Physiologie  unstreitig  den  minder  verwickelten  Gegenstand,  und 
zugleich   eine   Grundlage   darbieten,   die  nicht  vernachlässigt  seyn  will. 

Die  Pflanze  wuchert;  sie  drängt  nach  aufsen  ins  Unbestimmte;  sie 
hat  keine  geschlossene  Gestalt.  Sollte  dieser  Umstand  mit  der  Unbe- 
stimmtheit ihrer   Nahrung  in  keinem  Zusammenhange  stehn  ? 

Zuvörderst  erinnern  wir  uns  an  die  Bedingung  der  Assimilation. 
Wenn  der  neu  hinzutretende  Nahrungsstoff  ähnlich  werden  soll  den  schon 
vorhandenen  Bestandtheilen  :  so  mufs  er  theils  deren  Qualität  ursprünglich 
besitzen,  theils  in  die  nämlichen  innern  Zustände  versetzt  werden.  Fehlt 
jene  Qualität,  und  stehn  diesen  geforderten  Zuständen  die  früher  erworbe- 
nen   im  Wege:    so    bleibt    die  Assimilation    insofern    unvollkommen.      Und 


0 


6  2  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 


[631]  indem  die  Pflanze  wächst,  wird  eben  hiedurch  eine  Entfernung 
von  demjenigen  System  aller  innern  Zustände  entstehen,  auf  welchem  die 
Eigenthümlichkeit  dieser  Pflanze  beruht,  —  wofern  sich  nicht  aus  der 
Gefahr  selbst  ein  natürliches   Hülfsmittel   dagegen   ergiebt. 

Schon  in  den  ersten  Gründen  des  Wachsens  liegt  ein  Drängen  nach 
Erweiterung,  und  nach  aufsen.  Diejenigen  Elemente  aber,  welche  zu  der 
gesammten  Verbindung  am  wenigsten  passen,  können  bey  der  allgemeinen 
innern  Bewegung  wohl  schwerlich  anders  als  sich  entfernen  aus  der  Mitte; 
und  wenn  ihrer  viele  sind,  so  scheint  das  Ganze  schon  deswegen  eine 
Gestalt  annehmen  zu  müssen,  die  viel  Oberfläche  darbiete,  viel  Aus- 
sonderung begünstige,  und  einen  beständigen  Stoffwechsel  mit  Hülfe  der 
Atmosphäre  möglich  mache. 

Hiemit  stimmt  die  Erfahrung  zusammen,  indem  sie  uns  das  grüne 
Laub  in  mancherlev  Formen  als  zur  Vegetation  gehörig:  vor  Augen  stellt. 
Durch  die  Blätter  mögen  die  am  wenigsten  zum  Ganzen  tauglichen  Ele- 
mente vermöge  der  Ausdünstung  davon  gehn;  die  minder  unpassenden 
zwar  bleiben,  aber  so  weit  als  möglich  aus  der  Mitte  hinweggetrieben ; 
damit  im  Innern  die  Auswahl  immer  strenger  seyn  könne  zum  Behuf 
einer  vollkommenen  Assimilation.  Diese  Vermuthung  gewinnt  an  Wahr- 
scheinlichkeit, wenn  wir  bedenken,  dafs  bey  den  Thieren  ein  mannigfaltiger 
Auswurf  vorkommt,  welcher  das  Bessere  zurückläfst;  während  bey  den 
Pflanzen  nichts  deutliches  der  Art  bemerklich  wird,  und  doch  auch  hier 
nicht  fehlen  darf. 

Das  Leben  der  Pflanze  ist  demnach  Anfangs  Entfernung  von  dem 
System  ihrer  innern  Zustände;  späterhin,  durch  die  Vegetation  selbst, 
wiedergewonnene  Annäherung  an  dasselbe.  Sie  kommt  gleichsam  wieder 
zu  sich  selbst,  indem  sie  verbannt,  was  ihr  nicht  gemäfs  war.  Die  Form 
des  Ganzen,  je  größer  es  [632]  wird,  bestimmt  desto  mächtiger  sowohl  die 
Stoffe  als  deren  Zustände;  denn  nach  unsern  allgemeinsten  Grundsätzen 
führen  die  äufsern  und  innern  Zustände  einander  gegenseitig  herbey. 

Und  wie  die  Erfahrung  uns  in  der  Ausbreitung,  in  dem  Streben 
nach  Oberfläche,  das  Hinaustreiben  des  Fremdartigen  versinnlichte :  so 
zeigt  sie  uns  in  dem  Blühen  der  ausgewachsenen,  gehörig  durch  Vegetation 
zur  Reife  gelangten  Pflanzen  nun  auch  die  Rückkehr  in  sich  selbst;  und 
in  dem  Saamen  die  Wiedererzeugung  und  Concentration  des  ganzen  Systems 
innerer  Zustände,  welches  dem  Pflanzenleben  sein  Gesetz  vorschreibt. 


§•  430- 
Hier  stofsen  wir  auf  einen  viel  bestrittenen  Punct;  auf  die  Sexualität 
der  Pflanzen.  Ohne  Zweifel  ist  der  Begriff  nicht  einheimisch  im  Gebiet 
der  blofsen  Vegetation;  man  kannte  ihn  aus  der  Thierwelt,  und  übertrug 
ihn  später  auf  die  Blume.  In  der  Periode  des  Kantischen  Idealismus 
aber  entstand  Abneigung  gegen  die  Teleologie;  man  meinte,  die  Vernunft 
erblicke  nur  sich  selbst  im  Spiegel  der  Natur,  indem  sie  ihr  eignes  Bild 
hineinlege.  Nun  gab  es  Viele,  die,  ohne  besonders  mit  dem  Idealismus 
vertraut  zu  seyn,  doch  mit  der  Zeit  fortgehn  wollten;  sie  suchten  dem- 
nach   eine   so   kunstreiche,    planvolle  Einrichtung  der  Natur,    wie  das  Ge- 


5-Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.Abth.  Analyt.  Unters.  6.Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  363 

schlechtliche  in  der  willenlosen  und  bewufstlosen  Blume,  hinwegzuläugnen ; 
und  fanden  allerley  Incongruenzen,  welche  darzuthun  schienen,  dafs  nicht 
allemal  die  Einrichtung  dem  Zwecke  genau  entspreche. 

Die  Anfechtung  der  Teleologie  mufs  mit  dem  Idealismus  von  selbst 
wegfallen.  Hier  aber  bekümmern  wir  uns  darum  nicht;  sondern  deuten 
kurz  die  Begriffe  an,  welche  die  Untersuchung  uns  von  selbst  darbietet; 
und  zwar  in  solcher  Allgemeinheit,  dafs  es  kein  Räthsel  [633]  ist,  wenn 
der  Unterschied  zweyer  Geschlechter  in  beyden  organischen  Reichen,  schon 
auf  sehr  niedrigen   Bildungsstufen,   vorkommt. 

Dafs  die  Pflanze  während  ihres  Wachsthums  sich  durch  die  Auf- 
nahme so  vieler  fremder  Nahrungsstoffe  Anfangs  von  der  Reinheit  des 
Systems  ihrer  innern  Zustände  entfernen  mufs,  ist  im  Vorigen  erwähnt; 
und  dieses  ist  bey  ihr  Weit  deutlicher  als  beym  Thier,  welches  seine 
Nahrung  wählt,  bevor  es  sie  einnimmt.  Aber  beyde  besitzen,  wie  eben- 
falls schon  bemerkt,  in  der  Ausbildung  ihrer  Gestalt  ein  Princip  der  Rück- 
kehr zu  ihrer  ursprünglichen  Natur.  Diese  Rückkehr  nun  ist  es,  welche 
zwey  Formen  annimmt.  Das  System  der  innern  Zustände  wieder  her- 
zustellen, so  dafs  diese  Zustände  bloß  innerlich  seyen,  ohne  entsprechende 
Gestaltung,  ist  die  eine  Form.  Das  nämliche  System  aber,  inwiefern  es 
eine  bestimmte  Gestaltung  mit  sich  bringt,  wiederherzustellen,  und  zwar  in 
dem  kleinsten  möglichen  Raum,  ist  die  andre  Form.  Jene  Form  ist 
männlich;   diese  weiblich. 

Soll  ein  neues  Individuum  von  gegebener  Art  wieder  geboren  werden : 
so  ist  offenbar  die  weibliche  Form  diejenige,  welche  dazu  unmittelbar  am 
nöthigsten  seyn  wird.  Denn  um  wachsen  zu  können,  mufs  es  Nahrung 
zu  sich  nehmen;  hat  nun  diese  Nahrung  nicht  etwan  (wie  wir  bey  den 
Infusionsthieren  annahmen)  schon  selbst  solche  innere  Zustände,  woraus 
die  gesuchte  Gestalt  folgt;  mufs  vielmehr  erst  eigentliche  Assimilation  dem 
Wachsthum  den  Weg  bahnen:  so  ist  klar,  dafs  es  einer  vorgeschriebenen, 
und  schon  vorhandenen  Gestalt  bedarf,  wohinein  der  assimilirte  Stoft  ge- 
nöthigt  wird,  sich  zu  fügen.  Der  Keim  braucht  zwar  nicht  die  ganze 
Gestalt  des  künftigen  Individuums  wie  ein  Modell  im  Voraus  darzustellen; 
aber  ein  Anfang  von  Gestaltung  mufs  da  seyn,  um  dem  Nahrungsstoffe 
die  Stellen  an-[Ö34]zuweisen,  die  er  einnehmen  soll.  Diese  räumliche, 
materiale  Vorbildung  nun  ist  das  Eigentümliche  des  weiblichen  Keims. 
Aber  eben  darum,  weil  der  Keim  ein  Räumliches  seyn  soll,  besteht 
er  aus  mehreren  Elementen,  die  nur  zusammen  genommen  das  ganze  System 
der  innern  Zustände  enthalten.  Keins  von  diesen  Elementen,  einzeln 
genommen,  würde  das  System  in  sich  tragen.  Wofern  nun  die  Confi- 
guration  der  Materie  den  sämmtlichen  innern  Zuständen  gerade  entspricht: 
so  ist  der  ganze  Keim  in  Ruhe;  er  braucht  nicht  zu  wachsen,  und  wächst 
nicht  von  selbst. 

Andererseits  kann  der  zur  Reife  gelangte  Organismus  auch  einigen 
Elementen  das  System  der  ihm  wesentlichen  innern  Zustände  so  intensiv 
und  so  vollständig  mittheilen,  dafs  diese  Elemente  für  die  gehörige  Con- 
figuration  überbildet  sind.  Dann  taugen  sie  für  sich  allein  nicht,  um  ein 
neues  Individuum  hervorzubringen;  wohl  aber  können  sie  jenem  Keim 
den  Anstofs  zum   Wachsen  ertheilen,   sobald  ihnen  Gelegenheit  wird,    die 


,^4  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen   etc.     1829. 

innern  Zustände  des  Keims  zu  erhöhn.  Hiemit  ist  denn  das  Gleichgewicht, 
worin  der  Keim  mit  sich  selbst  war,  aufgehoben;  seine  Materie  beginnt, 
neue  Stoffe  heranzuziehn,   sobald   die  Gelegenheit  dazu  sich   darbietet. 

So  einfach  lautet  der  Text,  welchen  die  Natur  auf  die  mannigfaltigste 
Weise  commendirt,  von  den  kunstlosesten  bis  zu  den  künstlichsten  Gebilden. 

Wir  haben  hiemit  nicht  etwan  eine  absolute  Notwendigkeit  zweyer 
Geschlechter  deducirt;  welches  nicht  geschehn  kann,  weil  der  Beweis  fehlt, 
dafs  der  weibliche  Keim  durchaus  gerade  nur  solche  und  so  starke  innere 
Zustände,  und  dergestalt  vertheilt  unter  seinen  Elementen,  in  sich  tragen 
müsse,  als  die  Configuration  erfordert.  Aber  zu  erwarten  ist  es,  dafs  der 
[635]  Organismus,  indem  er  sich  aus  der  jugendlichen  Unreife  erhebt, 
hier  mehr  die  Gestaltung,  dort  mehr  die  innern  Zustände  erreiche,  und 
alsdann  beydes  durch  einander  ergänze.  Die  Trennung  der  Geschlechter 
in  zwey  Individuen  mufs  man  von  der  Pflanze  nicht  verlangen;  denn  ihre 
wuchernde  Natur  hat  keine  begränzte  Individualität.  Anders  verhält  es 
sich  bey  dem  Thiere,  wo  zu  jeder  Hervorbringung  das  Ganze  zusammen- 
wirkt; je  genauer  diese  Zusammenwirkung,  desto  weniger  ists  möglich,  dafs 
Eins   zweverlev  vollbringe. 

§•  43i- 

Auf  den  eben  berührten  Gegensatz  der  Geschlechter  wird  bald  noch 
ein  neues  Licht  fallen,  wenn  wir  jetzt  von  den  Pflanzen  übergehn  zu  den 
Thieren.  Aber  hier  laufen  wir  Gefahr,  uns  in  eine  unermefsliche  Weite 
der  Betrachtung  zu  verlieren.  Damit  dies  nicht  geschehe,  ist  es  nöthig, 
erst  das  Minder -Wichtige  bey  Seite  zu  setzen. 

Wie  wichtig  auch  zum  wirklichen  Leben  solche  edle  Organe,  wie 
Leber  und  Lunge,  ohne  Zweifel  sind:  sie  geben  uns  doch,  soweit  ihre 
Function  bekannt  ist,  zunächst  nur  den  Begriff  der  Absonderung  dessen, 
was  fortdauernd  ausgeschieden  werden  mufs,  damit  das  thierische  Leben 
sich  nicht  selbst  aufhebe,  nicht  gleichsam  in  sich  ersticke.*  An  den  Be- 
standtheilen  der  Galle,  an  dem  Übermaafse  des  (wahrscheinlich  schon 
überbildeten)  Kohlenstoffs,  würde  das  vollkommene  Thier  sterben,  wenn 
nicht  dafür  gesorgt  wäre,  dies  Überschüssige  der  Aufsenwelt  zurückzugeben. 
Wie  wenig  aber  das  Leben  des  Organismus  sich  selbst  genüge,  wie  un- 
möglich dasselbe  mit  der  Beybehaltung  der  nämlichen  Ele-[636]mente 
bestehn  könne,  daran  erinnert  noch  deutlicher  die  Ausscheidung  als  die 
Ernährung. 

Wenn  wir  nun  von  der  Ernährung,  deren  allgemeiner  Begriff  schon 
bey  den  Pflanzen  vorkam,  eben  sowohl  als  von  der  Absonderung  hinweg- 
sehen; wenn  wir  überdies  das  Skelet  als  eine  blofse  Stütze  betrachten, 
worin  das  Wesentliche  des  Lebens  nicht  kann  gesucht  werden,  indem  es 
nur  ein  Hülfsmittel  ist,  welches  der  Organismus  sich  zu  seinem  Bestehen 
selber  schafft:  so  bleibt  uns  nichts  anderes  zur  nächsten  Untersuchung 
übrig,  als  Muskeln  und  Nerven;  die  eigentlichen  Mittelpunkte  der  Irri- 
tabilität  und  Sensibilität.    Diese  aber  zusammengenommen  ergeben  unstreitig 


*  Von  dem  durch  die  Lunge  eingesogenen  Sauerstoff  soll  weiterhin  die  Rede  seyn. 


5.Abschn.  Umrisse d.  Naturphil.  2.  Abth.  Analyt.  Unters.  6.Cap.  Phil. Beleuchtung  etc.  365 

den  Begriff  des  thierischen  Daseyns,  oder  der  Beweglichkeit  aus  innerm 
Streben   auf  zufällige  Anlässe,   sofern   dieselbe   ein    Ganzes  char  akter  isirt. 

Die  Vergleichung  der  drey  angenommenen  Seelenvermögen,  des  Vor- 
stellens,  Fühlens,  Begehrens,  mit  den  drey  physiologischen  Grundbegriffen, 
Reproduction,  Irritabilität  und  Sensibilität,  wird  hoffentlich  jetzt  Niemand 
mehr  ernstlich  von  uns  erwarten.  Jene  und  diese  sind  zwar  ursprünglich 
logische  Abstractionen ;  aber  mit  dem  grofsen  Unterschiede,  dafs  die  Er- 
fahrung im  erstem  Falle  gar  keine  wirkliche  Trennung  verantwortet;  in 
dem  zweyten  Falle  hingegen  die  Trennung  ganz  bestimmt  gebietet,  indem 
die  Reproduction  auch  den  Pflanzen  im  hohen  Grade  zukommt,  die 
Irritabilität  aber  (abgerechnet  von  einigen  sehr  seltenen  und  dunkeln  Aus- 
nahmen) gar  nicht;  überdies  hat  die  letztere  ihren  Sitz  beym  Thiere  in 
eignen  Organen,  und  die  Sensibilität  hat  ebenfalls  ihr  eignes  System,  dem 
sie  vorzugsweise  angehört. 

Freylich  könnte  man  den  Begriff  der  Sensibilität  in  solcher  Weite 
auffassen,  dafs  er  keines  Nervensystems  mehr  bedürfte.  Soll  jede  Fort- 
pflanzung eines  innern  [637]  Zustandes  durch  eine  Reihe  von  Elementen 
der  Sensibilität  zugeschrieben  werden:  so  gehört  hieher  aller  übertragene 
Gegensatz,  und  alle  scheinbare  actio  in  distans  bis  zur  Gravitation. 
Damit  eine  solche  Verwirrung  der  Begriffe  vermieden  werde,  müssen  wir 
suchen,  uns  das  thierische  Leben  deutlicher  zu  machen;  indem  sogleich 
an  den  Gegensatz  zwischen  Irritabilität  und  Sensibilität  zu  erinnern  ist, 
welcher  schon  oben   (§.   375)   vorläufig  angemerkt  wurde. 

§•    432. 

Wir  suchten  (§.  369)  den  Keim  der  Irritabilität  darin,  dafs  die 
Materie  gegen  Abänderung  ihrer  Zustände  durch  etwas  Fremdes  ein 
Hülfsmittel  in  ihrer  dichteren  Zusammenziehung  habe.  Dies  bedarf  einer 
genauem  Auseinandersetzung,  welche  hier,  in  Verbindung  mit  bekannten 
Thatsachen,  sich  wird  deutlicher  ausführen  lassen,  als  es  in  blofsen  Be- 
griffen möchte  geschehn  seyn. 

Erstlich:  man  nehme  an,  dafs  ein  Element  A  mit  mehrern  andern, 
B,  C,  D  u.  s.  w.  in  unvollkommner  Durchdringung  sich  befinde;  wie  es 
zum  Daseyn  der  Materie  nöthig  ist.  Wenn  nun  aus  was  immer  für  einem 
Grunde  derjenige  innere  Zustand  des  A,  welcher  seiner  Verbindung  mit 
B  entspricht,  mehr  hervortrit:  so  wird  A,  falls  es  frey  genug  ist,  um  sich 
zu  bewegen,  tiefer  in  B  eindringen.  Denn  das  Wesen  der  Materie  beruht 
überhaupt  darauf,  dafs  den  innern  Zuständen  die  äufsere  Lage  entspreche; 
und  man  weifs  längst,  dafs  wir  keine  andern  Begriffe  von  bewegenden 
Kräften  gelten  lassen  können,  als  nur  diesen.  Würde  dagegen  der  Zustand 
der  Selbsterhaltung  gegen  C  mehr  in  A  hervortreten,  so  erfolgte  daraus 
eine  innigere  Durchdringung  des  A  und  C  u.  s.  w. 

Zweytens:  Alles  sey  wie  zuvor;  nur  trete  jetzt  nicht  der  innere  Zu- 
stand des  A,  welcher  dem  B  entspricht,  [638]  mehr  hervor,  sondern  statt 
dessen  sey  dieser  Zustand,  insofern  er  eben  jetzt  wirklich  vorhanden  ist, 
im  Begriff,  sich  in  ein  Streben  wider  eine  nun  eben  eintretende  Hemmung^ 
die  einen  zufälligen,  äufsern  Grund  hat,  zu  verwandeln:  so  mufs  der  Erfolg 


:>66  I.  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

der  nämliche  seyn,  wie  vorhin.*  Denn  das  Streben,  den  vorhandenen 
Zustand  zu  behaupten,  ist  gleichartig  dem,  ihn  zu  erhöhen;  nämlich  es  ist 
Erhöhung  über  den  Pu?ict,  auf  welchen  der  Zustand  sonst  ivürde  herabgesetzt 
werden.  Also  auch  jetzt  wird  die  Durchdringung  des  A  und  B  vermehrt; 
oder  mit  andern  Worten,  die  Materie,  sofern  sie  aus  beyden  besteht, 
verdichtet  sich. 

Drittens:  Eine  Ausnahme  hievon  entsteht,  wenn  das  tiefere  Eindringen 
des  A  und  B  die  Hemmung  vermehren,  oder  wenigstens  nicht  vermindern 
würde.  Und  dieser  Fall  wird  eintreten,  sobald  B  dem  A  den  nämlichen 
Gegensatz  repräsentirt,  welcher  die  Hemmung  verursacht.  Also  auch 
wenn  B  dem  A  dergestalt  gleichartig  ist,  dafs  es  eben  jetzt  die  nämliche 
Hemmung  erleidet. 

Demnach  viertens:  soll  wirklich  die  vermehrte  Durchdringung  zu 
Stande  kommen,  so  müssen  A  und  B  dergestalt  ungleichartig  seyn,  dafs 
sie  sich  nicht  in  einerley  Hemmung  befangen  finden;  sondern  dafs  in  der 
That  A  sich  in  seinem  Zustande  entweder  ganz  oder  doch  zum  Theil 
behaupte,  indem  es  in  B  gleichsam  einen  Zufluchtsort  findet. 

Gesetzt  nun,  mehrere  Elemente  von  der  Art  des  A  seyen  mit  Einem 
B  in  der  beschriebenen  Lage:  so  werden  sie  sämmtlich  zugleich  tiefer 
eindringen  in  B;  woraus  unter  ihnen  selbst  nach  bekannten  Gründen  eine 
[63g]  Repulsion  zu  erwarten  ist;  so  dafs  die  Verdichtung  der  Materie, 
falls  sie  dennoch  wegen  der  aus  äufsern  Gründen  entstandenen  Hemmung 
fortdauert,  ein  gewaltsamer  Zustand  derselben  seyn  wird.  Hieraus  mufs 
Oscillation  entstehn,  da  die  Elemente  sich  erst  verdichten,  dann  wieder 
abstofsen,  darauf  wegen  der  Hemmung  aufs  neue  in  einander  eindringen 
u.  s.  f.  Und  wenn  das  lange  dauert:  so  leiden  die  innern  Zustände,  die 
sich  behaupten  sollten,  selbst  eine  merkliche  Veränderung  wegen  der  ver- 
änderten Lage  der  Elemente,  und  wegen  der  wirklich  in  den  Momenten 
der  Zurückstofsung  eintretenden  Hemmung,  die,  wenn  sie  auch  nur  augen- 
blicklich ist,  sich  dennoch  allmählig  vermehrt. 


§•   433- 

Die  Anwendung  dieser  Grundsätze  auf  Muskeln  und  Nerven,  und 
auf  deren  Gegensatz,  wird  nun  nicht  schwer  seyn.  Nur  müssen  zuerst 
diejenigen  Angaben  der  Physiologen,  welche  wir  von  ihnen  als  gegeben 
anzunehmen   haben ;   in   Erinnerung  gebracht  werden. 

Der  Muskel,  wenn  er  sich  zusammenzieht,  vermehrt  nicht  sein  Volumen, 
sondern  vermindert  es  eher.  So  sagt  Rudolphi:  „die  Veränderungen, 
welche  in  den  Fasern  der  Muskeln  bey  ihren  Zusammenziehungen  statt 
finden,  können  wir  wohl  allein  in  einem  solchen  Zustande  derselben 
suchen,  wobey  sich  ihre  Substanz  von  allen  Seiten  in  sich  zusammendrängt; 
so  dafs  die  Fasern  kürzer  werden,  und  der  Bauch  der  ortsbewegenden 
Muskeln,  indem  er  sich  auf  einen  kleinern  Raum  zusammenzieht,  hart  und 
angeschwollen  erscheint." 


*   Es   versteht  sich  von   selbst,  dafs  die  Worte  Streben  und  Hemmung  hier  genau 
in  dem  Sinne  zu  nehmen  sind,  den  man  aus  der  Psychologie  kennt. 


5.Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.  Abth.  Analyt.  Unters.  6.Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  367 

„Derselbe  Schriftsteller  misbilligt  gleich  darauf  die  Meinung,  dafs  die 
Muskeln  aus  Leim  und  Erde  bestünden,  und,  während  jener  sich  zusammen- 
ziehe,  diese  unverändert  bleibe. 

[(340]  Zwar  nicht  von  Leim  und  Erde  wollen  wir  reden;  dafs  aber  die 
Muskelfaser  aus  ungleichartigen  Theilen  bestehe ,  werden  wir  dennoch 
wahrscheinlich   machen   können. 

Sprengel  bemerkte  sehr  feine  Querstreifen  an  den  dünnsten  Fasern. 
Meckel  sah  zwar  den  Faden  der  menschlichen  Muskelfaser  eben,  und 
überall  von  gleichem  Durchmesser;  allein  die  Substanz  derselben  erschien 
nie  ganz  homogen,  sondern  immer  aus  dunklern,  in  einem  hellem  Medium 
enthaltenen  Kügelchen  oder  Pünctchen  gebildet.* 

Vielleicht  sind  diese  Beobachtungen  an  mikroskopischen  Gegenständen 
unsicher.  Allein  nur  Eine  Stimme,  soviel  wir  wissen,  ist  unter  den  Physio- 
logen darüber,  dafs  sich  das  Muskelsystem  mit  dem  Athmen  der  Thiere 
zugleich  ausbilde.  Das  Athmen  nun  führt  stets  einen  neuen,  frischen  Zu- 
stand des  Bluts  herbe}-;  ja,  das  Blut  giebt  nicht  blofs  seine  Kohlensäure, 
mit  darin  schon  enthaltenem  Sauerstoff"  ab,  sondern  es  nimmt  neuen  Sauer- 
stoff an.**  Ferner,  im  Cruor  des  Bluts  ist  Eisen;  aber  so  verlarvt,  dafs 
man  es  früherhin  nur  nach  dem  Verbrennen  desselben  auffand;  während 
die  Chemie  sich,  hierin  wenigstens,  jetzt  eines  Besseren  besonnen  hat,  wie 
es  ihr  vielleicht  in  ähnlichen  Dingen  noch  oft  gehen  wird,  ***  nämlich  in 
den  Fällen,  wo  sie  etwas  für  neu  erzeugt  hält, 1  weil  es  ihr  noch  nicht 
gelungen  ist,  es  in  den  Nahrungsmitteln  zu  finden.  Das  Eisen  des  Cruors 
möge  nun  in  den  Faserstoff"  der  Muskeln  übergehn  oder  nicht:  so  ist  es 
im  lebenden,  gerötheten  Muskel  wenigstens  insofern  gegenwärtig,  als  der- 
[6-Li]selbe  stets  vom  Arterienblute  durchströmt  wird.  Endlich,  der  Faser- 
stoff ist  besonders  reich  an  Stickstoff;'*'  das  Geheimnifs  aber,  welches  dieser 
Stoff  verbirgt,  müssen  wir  wenigstens  so  lange,  als  die  Chemie  uns  gewisse 
Wunder  nicht  besser  erklären  kann,  in  der  Zusammensetzung  desselben 
aus  ungleichartigen   Elementen  suchen   (nach  §.   425). 

Alles  hier  Zusammengestellte  soll  nur  zeigen,  dafs  wir  nicht,  ohne 
Erkundigung  bey  der  Erfahrung  eingezogen  zu  haben,  die  Vermuthung 
aufstellen,  die  Muskelsubstanz  müsse  irgend  etwas  ausgezeichnet  Ungleich- 
artiges in  ihrer  Zusammensetzung  enthalten.  Der  Punct  aber,  auf  welchen 
es  eigentlich  ankommt,  soll  nunmehr  angegeben  werden. 

§•   434- 
Fragen   wir  die  Physiologen,   welche  Art  von  Reiz   eigentlich   erfordert 
werde,    um    Zuckung    eines    Muskels    zu    erregen:    so    antworten    sie    uns 


*  Anatomisch -Physiologisches     Realwörterbuch    von    Pierer    und     Choulant, 
fünfter  Band,  S.  470. 

**  Baers  Anthropologie,  erster  Band,  S.  445. 

***  Vergleiche  Ruüolphi's  Physiologie,  zweyten  Bandes,    zweyte  Abth.,    S.   257. 
t  Baer  a.  a.  O.    S.    18. 


1  für  erzeugt  hält  SW  („neu"  fehlt). 


^58  I-  Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

alles  Mögliche,  Wille  und  Elektricität  und  chemische  Reizmittel  und  ein 
spitzes  Messer,  —  alles  thut  hier  den  Dienst,  Bewegung  hervorzurufen. 
Dafs  aber  doch  dies  Alles  nicht  einen  bestimmten  innern  Zustand  in  den 
Elementen  des  Muskels  erzeugen  könne,  sieht  man  sogleich  aus  der  grofsen 
Verschiedenheit  der  genannten  Reize.  Sie  können  nur  darin  übereinkommen, 
dafs  sie  dasjenige  System  der  innern  Zustände,  worin  jedes  Element  des 
belebten  Muskels  sich  schon  befindet,  störend  abzuändern  im  Begriff  stehn  ; 
und  es   abändern  würden,   falls   der  Muskel  sich  nicht  zusammenzöge. 

Ohne  Rücksicht  auf  die  innern  Zustände  der  Elemente  wird  aber 
wohl  Niemand  mehr  unternehmen,  eine  Erklärung  der  Irritabilität  zu  geben, 
falls  das  bisher  Vor- [642]  getragene  ist  verstanden  und  überlegt  worden. 
Wenigstens  können  wir  uns  hier  auf  eingebildete  besondere  Kräfte  nicht 
weiter  einlassen. 

Die  Hemmung  nun,  welche  die  vorhandenen  innern  Zustände  durch 
den  sogenannten  Reiz  erleiden,  darf  gleichwohl,  wenn  die  Zusammenziehung 
ihre  Folge  werden  soll,  nicht  alle  Theile  des  Muskels  auf  gleiche  Weise 
treffen.  Das  Streben,  der  Hemmung  zu  entgehen,  mufs  unmittelbar  im 
Zusammenziehen  eine  Befriedigung  erfahren ;  sonst  würde  sogleich  ein  Still- 
stand dieser  Bewegung  eintreten.  Darum  müssen  die  Bestandteile  des 
Muskels  solchergestalt  ungleichartig  angenommen  werden,  dafs  der  Reiz 
zwar  einige  derselben  in  ihren  Zuständen  stark  hemme,  andere  aber  nicht. 
Dann  werden  diese  letztern,  wie  wir  uns  oben  ausdrückten,  die  Zufiuchts- 
örter,  wohinein  jene  sich  zusammendrängen.  Und  indem  dieses  in  allen 
Moleculen  geschieht,  woraus  der  Muskel  besteht,  macht  die  Summe  der 
Elementar-Wirkungen,  welchen  gemäfs  jede  Molecule  eine  neue,  weniger 
längliche  Form  annimmt,  eine  so  grofse  Gesammtkraft  aus,  wie  wir  sie 
an  der  Muskelthätigkeit  bewundern. 

Sollen  wir  nun  dasjenige  Ungleichartige  in  der  Faser  aufsuchen,  was 
am  sichersten  der  aufgestellten  Forderung  entspreche :  so  werden  wir 
lieber  etwas  Neues,  Fremdes,  in  Gedanken  herbeyziehn,  als  das  schon 
vom  thierischen  Leben  vollständig  Ausgebildete.  Denn  beym  letztern  läfst 
sich  eine  Gleichartigkeit  der  schon  erworbenen  innern  Zustände,  leichter 
erwarten.  Hingegen  der  frische  Sauerstoff,  welchen  das  Arterienblut  mit- 
bringt, und  dem  Muskel  zuführt,  dieser  scheint  am  besten  zu  der  Annahme 
zu  passen,  er  habe  noch  kein  bestimmtes  System  innerer  Zustände  erlangt, 
sondern  werde  es  erst  allmählig  durch  seine  Verbindung  mit  dem  Lebendigen 
gewinnen.  Jetzt  also,  bevor  er  es  in  sich  ausbildete,  [643]  sey  auch  in 
ihm  noch  wenig  zu  hemmen  vorhanden.  Folglich  werde  die  Hemmung 
durch  den  angebrachten;  Reiz  weit  mehr  die  älteren  Bestandtheile  der 
Muskelfaser  treffen;  alsdann  sey  es  der  frischere  Sauerstoff,  in  welchen 
hinein  dieselben  dringen,  indem  sie  sich  der  Hemmung  entziehen. 

Müssen  wir  noch  hinzusetzen,  dafs  dieser  letztere  Theil  unserer  Be- 
trachtung eine  Hypothese  ist,  an  deren  Stelle  jede  andre,  wenn  sie  nur 
eben  so  wahrscheinlich  ist,  kann  gesetzt  werden  ?  Das  Wesentliche  kommt 
auf  die  beyden  Puncte  zurück,  dafs  ein  Streben,  sich  wider  den  hemmenden 
Reiz  in  dem  vorhandenen  Zustande  zu  erhalten,  die  Ursache  der  An- 
strengung und  Gewalt  ist,  womit  alle  Moleculen  der  Muskelfaser  aus  der 
kinglichen    in    eine    mehr    runde   Form   übergehen;    und  dafs  dies  Streben 


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5.Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.Abth.  Analyt.  Unters.  6.  Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  369 

nicht  in  allen  Elementen  der  Moleculen,   sondern  nur  in  einigen  vorkommen 
mufs,  weil   es  sich  sonst  in  seiner  Wirkung  selbst  aufheben  würde. 


§•  435- 

Sowohl  das  Gemeinsame  als  das  Verschiedene  der  Irritabilität  und 
Sensibilität  tritt  nun   fast  von  selbst  hervor. 

Es  ist  kein  Wunder,  dafs  Manche  die  Irritabilität  selbst  für  eine  Art, 
oder  wenigstens  für  eine  Folge  der  Sensibilität  hielten.  Allem  zuvor  Ge- 
sagten liegt  die  Voraussetzung  zum  Grunde :  die  Muskelfaser  pflanze  durch 
ihre  ganze  Länge  entweder  selbst,  oder  durch  einen  von  ihr  unzertrenn- 
lichen Antheil  an  Nervensubstanz,  den  empfangenen  Reiz  fort;  und  ohne 
diese  Voraussetzung  kann  auch  Niemand  die  Wirkung  solcher  Reize  be- 
greifen, welche  nur  an  bestimmten  Stellen,  und  nur  an  der  Oberfläche  der 
Muskeln  angebracht  werden,  alsdann  aber  deren  ganze  Masse  in  Bewegung 
bringen.  Ob  wir  nun  diese  Perception  des  Reizes  blofs  der  Mus-[Ö44]kel- 
faser  selbst,  oder  vielmehr  dem  Nervengewebe,  welches  überall  den  Muskel 
durchdringt,  zuschreiben  sollen,  ist  schwerlich  eher  zu  entscheiden,  als  bis 
uns  die  Zusammensetzung  der  Faser  bekannter  werden  möchte.  Durch- 
aus nothwendig  aber  scheint  es  nicht,  sich  hierüber  auf  den  Nerven  zu 
berufen,  da  so  viel  Sensibilität,  um  blofs  überhaupt  eine  Störung  vor- 
handener Zustände  zu  empfinden  und  fortzupflanzen,  überall  in  den 
Theilen  lebender  Organismen  leicht  erwartet  werden  kann  (§.  374)-  Allein 
es  begegnet  auch  oft,  dafs  man  dergleichen  Erwartungen  übertreibt,  und 
sich  Täuschungen  dadurch  bereitet;  lassen  wir  also  diesen  Fragepunct 
ruhen ! 

Die  Verschiedenheit  der  Nerven  und  Muskeln  zeigt  sich  am  offen- 
barsten gleich  darin,  dafs  die  erstem  keine  bestimmte  Structur  ihrer  kleinsten 
wahrnehmbaren  Theile  haben;  während  die  feine  Faserung  der  Muskeln 
eine  sehr  bestimmte  Gestaltung  ist.  Anders  konnte  es  nicht  seyn,  wenn 
Veränderung  der  Form  die  Folge  des  Reizes  werden  sollte.  Wo  nicht 
die  innern  Zustände  schon  eine  genaue  Anordnung  in  der  Lage  der  Ele- 
mente vestgesetzt  haben,  da  kann  auch  kein  veränderter  Zustand  den 
Grund  enthalten,  weshalb  eine  neue,  bestimmte  Configuration  hervortreten 
müsse,  die  sich  als  eine  Quelle  mechanischer  Kräfte  darstellen  könne. 
Aber  man  kann  fragen,  welcher  innere  Grund  es  möglich  mache,  dafs  die 
Muskeln,  noch  vor  ihrer  Thätigkeit,  den  faserförmigen  Bau  erlangen,  und 
dafs  sie  ihn  behalten?  Denn  auch  hier  mufs  Inneres  und  Aufseres  sich 
entsprechen.  Und  kaum  wird  man  anders  antworten  können,  als  durch 
vorausgesetzte  Ungleichartigkeit  der  Elemente,  die  so  beschaffen  seyn  mufs, 
dafs,  in  den  kleinsten  Moleculen  schon,  das  Gleiche  aus  einem  mittlem 
Entgegengesetzten   sich  nach   beyden   Seiten  hinausstreckt. 

Was  aber  ist  die  Nervenmasse?  Die  Physiologen  [645]  antworten 
uns:  ein  halbgeronnenes  Eiweifs.  Und  wenn  sie  auch  darin  noch  eine 
Faserung  finden,  so  geschieht  doch  dies  mit  dem  Geständnifs,  dafs  künst- 
liche Mittel  nöthig  seyen,  um  die  Fasern  kenntlich  zu  machen.  Die  graue 
Masse,    „der    innerste    Heerd    der   sensibeln    Thätigkeit,"    soll    halb    durch- 

Herbart's  Werke.     VIII.  24 


270  !•   Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

sichtig  seyn.  *  Durchsichtigkeit  gilt  aber  durchgehends  für  das  Kennzeichen 
einer  gleichartigen  Verbindung. 

So  nun  mufsten  wir  uns  die  Fortleiter  der  innem  Zustände  ohnehin 
vorstellen,  dafs  kein  Mittel  vorhanden  sey,  durch  Veränderung  der  Lage, 
der  Empfindung  zu  entgehen  (§.  375).  Dies  wird  durch  den  Gegensatz 
sogleich  klar  seyn.  Die  Muskelfaser  zieht  sich  zusammen,  weil  hiedurch 
dem  Streben  wider  die  Hemmung  der  vorhandenen  innern  Zustände  Ge- 
nüge geschieht.  Aber  das  Nervensystem  soll  gerade  umgekehrt  nicht  blofs 
die  eben  gegenwärtigen  innern  Zustände  hemmen  lassen,  sondern  auch 
neue  Zustände  annehmen  und  fortpflanzen.  Könnten  sich  seine  Elemente 
durch  Verdichtung  den  hemmenden  Einwirkungen  entziehn:  so  würde  dies 
geschehn.  Weil  aber  die  Elemente  A  in  einer  fast  gleichartigen  Verbindung, 
ohne  genaue  Configuration,  zusammenhängen:  so  darf  man  glauben,  dafs 
einerley  Hemmung  sie  alle  trifft,  und  dafs  eben  deshalb  keine  Veränderung 
des  Orts  und  der  Lage  ihnen  den  Wechsel  der  innern  Zustände,  welchem 
sie  dienen,  zu   ersparen  im  Stande  ist. 

Blicken  wir  nun  zurück  auf  jenen  Grundbegriff  des  Geschlechts-Unter- 
schiedes (§.  430);  so  begegnet  uns  die  auffallende  Bemerkung,  dafs  der- 
selbe im  Thierreiche  eine  Art  von  Gegengewicht  gegen  den  Unterschied 
der  Nerven  und  Muskeln  zu  bilden  scheint.  Muskulöser  ist  der  Mann; 
nervöser  die  Frau.  Aber  dort  entwickelt  [646]  das  Geschlecht  mehr  die 
innern  Zustände;  hier  mehr  das  Räumliche,  die  Configuration  des  Keims. 
In  beyden  Fällen  also  liegt  Ersatz  des  Fehlenden  in  dem  Eigenthümlichen 
des  Geschlechts.  Denn  Muskelbildung  ist  Gestaltung;  Nervenleben  ist 
innerer  Zustand  mit  seinem  Wechsel. 

§•  436. 

Man  lehrt  uns,  dafs  die  Nerven,  noch  aufser  der  Leitung  empfangener 
Zustände  nach  innen  und  nach  aufsen,  die  Function  haben,  in  absondernden 
Organen  die  eigne  Thätigkeit  derselben  zu  unterhalten.  So  sollen  Leber 
und  Magen  und  Nieren  von  ihnen  abhängen ;  und  auch  die  Lunge  soll 
ohne  ihren  Einflufs  unthätig  werden.  Diese  Behauptungen,  wenn  gleich 
gestützt  auf  Thatsachen,  möchten  uns  doch  in  unserm  Begriff  von  den 
Nerven,  als  dem  Sitze  der  Sensibilität,  leicht  irre  machen.  Wenn  die 
Verdauung  und  Athmung,  wenn  sogar  Galle  und  Harn  ihr  Daseyn  den 
Nerven  verdanken:  so  sind  dieselben  offenbar  selbstthätig;  sie  erzeugen 
aus  ihrer  eigenen  Macht  etwas  Neues;  anstatt  dafs  wir  auf  ihren  blofsen 
Gehorsam  glaubten  rechnen   zu  dürfen.* 

Fürs  erste  schauen  wir  einmal  zurück  zu  den  Pflanzen.  Auch  dort 
finden  sich  sehr  mannigfaltige  Absonderungen;  und  die  Producte  derselben 
sind  bekannt  als   Öl,   Harz,   Gummi,   Gift  u.  s.  w.      Welches   Nervensystem 

*  Baer  a.  a.  O.  S.    145. 

•  Man  vergleiche  in  der  Psychologie  den  letzten  Abschnitt  des  zweyten  Bandes, 
besonders  S.  478.  Doch  ist  zu  bemerken,  dafs  dort  die  naturphilosophischen  Betrach- 
tungen weniger  Umfang  haben,  als  hier  in  Folge  der  fortgesetzten  Untersuchung. 


1  "Weil  aber  Elemente  SW  („die"  fehlt). 


5.  Abschn.  Umrisse  d.  Naturphii.   2.  Abth.  Analyt.  Unters.  6.  Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  371 

hat  denn  hier  den  Vorsitz  geführt,  um  die  Zubereitung  dieser  Dinge  zu 
besorgen?  Keins!  So  spricht  selbst  die  Erfahrung,  und  beschränkt  dadurch 
die  Meinung,  die  sie  allerdings  veranlafste,  als  ob  besondere  [647]  Pro- 
ducte  der  Organismen  nicht  füglich  ohne  Nerveneinfiufs  zu  Stande  kommen 
könnten. 

Bey  der  Pflanze  wird  man  nun  wohl  keinen  andern  Ursprung  jener 
Producte  ersinnen  können,  als  den  nämlichen,  woraus  wir  schon  die 
Bildung  der  Blüthe  und  des  Saamens  ableiteten.  Es  ist  die  ganze,  aus- 
gewachsene Pflanze,  in  welcher  aus  der  Vollständigkeit  der  Form  nun 
rückwärts  die  innem  Zustände  der  Elemente  hervorgehn,  wie  früher, 
während  des  Wachsthums,  diese  Zustände  dem  Saamen  das  Keimen,  und 
dem  Keimen  das  Gedeihen  gaben.  Hiemit  hängen,  als  Nebenbestimmungen 
der  gesammten  Ausbildung,  auch  ohne  Zweifel  jene  Erzeugnisse  der  Öle, 
der  Gifte  u.   s.   w.  genau  zusammen. 

Daher  wird  nun  auch  klar  seyn,  dafs  man  in  Ansehung  der  Nerven 
gar  nicht  berechtigt  ist,  den  Grundbegriff  der  Sensibilität,  welcher  eine 
Empfänglichkeit,  aber  keinen  Anfang  eigner  Thätigkeit  bezeichnet,  um 
jener  Secretionen  willen  zu  verlassen  und  zu  übersteigen. 

Nichts  anderes  braucht  man  den  Nerven  einzuräumen,  als  dafs  durch 
sie  das  Thier  Ein  Ganzes  wird.  Denn  sie  sind  überall  die  Boten  und 
die  Vermittler;  sie  machen,  dals  Alles  von  Allem  leidet,  folglich  auch,  dafs 
in  dem  ganzen  Thiere  Jedes  auf  Alles  wirkt.  Weiter  scheint  hier  nichts 
nöthig.  Die  Leber  wird  wohl  Galle  absondern,  wenn  sie  vermittelst  der 
Nerven  an  ihrer  Stelle  und  in  ihrem  Gesammtverhältnisse  zu  den  übrigen 
Organismen  gehalten  ist.  Die  Lunge  wird  wohl  athmen,  wenn  irgendwie 
das  Bedürfnifs  der  Blutreinigung  ihr  durch  das  Ganze  aller  organischen 
Bedürfnisse  angemeldet  wird. 

Es  mag  genug  seyn,  uns  hier  auf  diese  bildlichen  Ausdrücke  zu  be- 
schränken. Die  allgemeinen  Begriffe,  welche  man  hier  erwarten  konnte, 
sind  schon  so  weit  entwickelt,  dafs  die  Verbindung  der  Physiologie  mit 
der  [648]  übrigen  Naturlehre  nicht  leicht  mehr  räthselhaft  erscheinen  kann. 

§•   437- 

Nachdem  nun  die  Begriffe  von  der  Ernährung,  der  Generation,  der 
Irritabilität  und  der  Sensibilität  ihrer  Bedeutung  nach  aufgeklärt  sind:  läfst 
sich  mit  ziemlicher  Bestimmtheit  überschauen,  was  eine  philosophisch  be- 
arbeitete Physiologie  jetzt  ferner  leisten  würde.  Denn  es  entstehn  für  sie 
drey  Classen   von  Aufgaben,   die  wir  leicht  sondern   können. 

Die  erste  ist,  zu  entscheiden,  ob  aufser  den  angegebenen  drey  Haupt- 
begriffen der  Reproduktion,  Irritabilität  und  Sensibilität  (denn  wir  wollen 
hier  der  Generation  nicht  insbesondere  erwähnen)  weiter  nichts  von  Wich- 
tigkeit im  Kreise  der  Physiologie  vorkomme?  —  Wir  haben  nämlich  zwar 
schon  eingeräumt  (§.  43  1 ),  dafs  hier  nicht,  wie  bey  den  sogenannten  Seelen- 
vermögen, eine  falsche,  sondern  eine  wohlbegründete  Trennung  statt  finde; 
allein  damit  ist  noch  nicht  gesagt,  dafs  die  Disjunction  vollständig  sey, 
und    zwar    dergestalt    vollständig,    dafs    man    nach  dieser   Eintheilung  sogar 

24* 


■in 2  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


die  Krankheitslehre  abhandeln  könne,  wie  es  neuerlich  geschieht.  Wir 
werden  schleich  hierauf  zurückkommen. 

Die  zwevte  ganze  Classe  von  Aufgaben  enthält  die  Fragen  nach  der 
richtigen  Verbindung,  zuerst  unter  jenen  drey  scheinbaren  Hauptkräften; 
alsdann  zwischen  ihnen  und  dem,  was  sonst  noch  zu  beachten  seyn  möchte. 
Denn  Jedermann  weifs,  dafs  im  lebenden  Leibe  nicht  etwan  die  Irritabilität 
oder  die  Sensibilität  ein  abgesondertes  Daseyn  haben,  sondern  dafs  sie 
unter  sich  und  mit  der  Ernährung  ein  Ganzes  des  Lebens  ausmachen; 
ob  aber  die  Verknüpfung,  vermöge  deren  das  Ganze  aus  Muskeln,  Nerven, 
und  dem  Assimilations- Apparate  [649]  besteht,  in  allen  Puncten  richtig 
aufgefafst  sey,  das  dürfte  um  desto  mehr  in  Frage  kommen,  wenn  man 
sich  schon  erlaubt,  so  durchgreifende  Lebens  -  Erscheinungen ,  wie  die 
Krankheiten  meistens  sind  und  allemal  werden  können,  auf  jene  einzelnen 
Haupt  -  Kräfte  insbesondere  zu  beziehen. 

Drittens  endlich  würde,  nachdem  beydes  vorher  Geforderte  gehörig 
in  den  allgemeinen  Umrissen  vollzogen  wäre,  nun  das  Specielle  weiter  aus- 
zuführen seyn,  was  sich  auf  einzelne  Arten  von  Nerven,  oder  auf  einzelne 
Organe  sammt  deren  Producten  bezöge. 

§•  438. 

Über  die  erste  der  unterschiedenen  drey  Classen  von  Aufgaben 
scheint  besonders  dies  zu  bemerken,  dafs  man  wohl  nicht  ohne  Zwang 
die  weitläuftige  Untersuchung  über  die  mancherley  belebten  Flüssigkeiten 
bey  jenen  drey  Hauptkräften  wird  einschalten  können;  am  wenigsten  dann, 
wann  durch  Darstellung  der  Physiologie  zugleich  der  Pathologie  soll  vorge- 
arbeitet werden. 

Es  gab  eine  Zeit  (und  sie  ist  noch  nicht  lange  vorüber),  wo  sogar 
ein  Joseph  Frank  den  Satz  aussprechen  konnte:  „Wir  werden  uns  stets 
darin  von  den  Humoral- Pathologen  unterscheiden,  dafs  sie  das  Blut  als 
wirklich  krankheitsfähig  ansehen,  und  daher  nicht  allein  von  den  Krankheiten 
des  Bluts ,  sondern  auch  von  den  Mitteln ,  dieselben  zu  heilen ,  sprechen ;  wir 
hingegen  das  Blut  als  äufsern  Theil  des  Organismus,  das  hei/st,  als  nicht 
lebend,  mit  Blumenbach  gegen  Hunter,  betrachten;  und  ihm  bloß,  so  zuie 
der  Luft,  dem  War  inest  off,  und  den  Nahrungsmitteln  (die,  obivohl  sie  zu 
Krankheiten  Anlafs  geben ,  doch  nie  für  selbst  krank  angesehen  werden) ,  die 
Ei-\f>$o]genschaft  zukommen   lassen,   Krankheiten   zu  erzeugen."* 

Der  Widerwille  gegen  die  Humoral-Pathologie  mag  durch  Vorurtheile 
älterer  Ärzte  veranlafst  seyn;  er  selbst  aber  enthält  ein  eben  so  schlimmes 
Vorurtheil,  wie  jenes,  welches  durch  ihn  sollte  verdrängt  werden.  Man 
kann  nicht  behaupten,  dafs  in  den  vesten  Theilen  mehr,  als  in  den  flüssi- 
gen, das  Leben  seinen  Sitz  habe.  Das  Blut  läfst  sich  zwar  abzapfen, 
aber  auch  die  Gliedmaafsen  lassen  sich  amputiren,  und  selbst  vom  Gehirn 
lälst  sich  etwas  hinweg  nehmen.  Knochen  als  blofse  Stützen,  die  Haut 
als  blofses  Behältnils,  Herz,  Arterien  und  Venen  als  ein  hydraulisches 
Druckwerk  zu  beschreiben,   wäre  um  nichts   fehlerhafter,    als  die  Meinung, 


Erläuterungen  der  Erregungstheorie,  von  Joseph  Frank,   S.   309. 


5.Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.   2.Abth.  Analyt.  Unters.  6.Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  373 

die  Flüssigkeiten  seyen  etwas  Äufseres  und  Fremdes,  weil  sie  im  Organis- 
mus nicht  bevestigt  sind.  Wo  ist  denn  in  ihm  etwas  Vestes,  Starres, 
Trockenes?  Und  wo  sucht  man  das  Leben?  Es  liegt  in  den  innern  Zu- 
ständen aller  Elemente;  es  ist  deren  Zusammenwirkung.  Rohe  Stoffe  haben 
in  ihm  keinen  Platz;  Alles  ist  assimilirt,  und  bringt  sogar  schon  aus  den 
Pflanzen,  die  zur  Nahrung  dienten,  seine  innern  Zustände  mit.  Sobald 
nun  in  dem  System  der  innern  Zustände  (welches  System  weder  vest 
noch  flüssig,  sondern  ganz  unräumlich  und  unkörperlich  ist),  irgend  etwas 
von  der  Norm  abweicht,  mufs  Krankheit  entstehen.  Von  diesem  System 
aber  wird  freylich  Niemand  einen  deutlichen  Begriff  fassen,  der  nicht 
Psychologie,  und  insbesondre  Mechanik  des  Geistes  studirt.  Denn  es 
giebt  kein  anderes,  unserm  Wissen  zugängliches  Beyspiel  für  ein  System 
innerer  Zustände,  als  nur  die  Seele;  und  alle  Begriffe,  durch  welche  es 
fafslich  wird,  müssen  [651]  von  dort  her  auf  die  einzelnen  Elemente  des 
Leibes  ühertragen  werden;  obgleich  sie  hier  bey  iveitem  nicht  in  der  Ausdehnimg, 
nicht  in  der  vollständigen  Entwickelung,  anwendbar  sind,  wie  in  der  Psychologie. 

Aus  dem  Vorhergehenden  aber  versteht  sich  von  selbst,  dafs  gemäfs 
dem  Zustande  des  Flüssigen  sich  auch  das  Veste  umändern  mufs;  und 
zwar  nicht  blofs  wegen  der  Ernährung,  die  das  Flüssige  in  Bestandtheile 
des  Vesten  verwandelt,  sondern  wegen  der  Nerven,  die  alle  innere  Zu- 
stände auf  irgend  eine  Weise  mittheilen  und  verbreiten;  und  überhaupt 
wegen  der  Sensibilität,  die  wahrscheinlich  nicht  einmal  ganz  ausschliefsend 
auf  den   Nerven  beruhet. 

Will  man  keine  Krankheit  der  Säfte  zugeben,  was  denkt  man  denn 
von  dem  Wuthgift,  dem  Po:kengift,  und  so  vielen  anderen?  Der  Speichel 
des  Hundes,  der  Eiter  der  Pocken,  war  freylich  ursprünglich  aus  einem 
falschen  Ernährungsprocefs  hervorgegangen ;  was  aber  ist  nun  das  fertige 
Gift  für  den  zuvor  Gesunden,  der  davon  ergriffen  wird  ?  Etwan  ein  blofser 
Nervenreiz?  Man  wird  einsehn,  dafs  solche  Behauptungen  sich  mindestens 
eben  so  wenig  beweisen,  eben  so  wenig  wahrscheinlich  machen  lassen,  als 
die   entgegengesetzten. 

Nach  diesen  Bemerkungen  ist  es  kaum  glaublich,  dafs  sich  die  Phy- 
siologie richtig  gestalten  lasse,  wenn  sie  blofs  und  lediglich  sich  auf  die 
drev  Hauptbegriffe  der  Reproduction,  Irritabilität  und  Sensibilität  beschränkt, 
in  der  Voraussetzung,  an  diese  lasse  sich  Alles  knüpfen,  was  bey  ihr  zur 
Untersuchung  kommt.  Wenigstens  wird  sie  die  Anknüpfung  dann  verfehlen, 
wenn  sie  jene  Begriffe  zum  Abtheilen  dergestalt  benutzt,  als  ob  nun  die 
Theile  der  Abhandlung  sich  rein  von  einander  sondern  liefsen.  Hier  er- 
innern wir  nochmals  an  das  Blut.  Dieses  gehört  zwar  zur  Ernährung;  aber 
es  ist  eben  [652]  sowohl  Folge  als  Grund  derselben.  Denn  das  Blut  ist 
nicht  blofser  Chylus;  es  kommt  erst  als  Venenblut  zum  Herzen,  bevor  es 
als  Arterienblut  von  ihm  wieder  vertheilt  wird.  Wo  entstand  denn  das 
Venenblut?  Doch  ohne  Zweifel  da,  wo  schon  ein  Ernährungs-Prozefs  im 
Gansre  war.  Auf  diesen  aber  hatten  Irritabilität  und  Sensibilität  ihren 
Ein  Hufs;  ohne  den  sich  das  Blut  nicht  wird  begreifen  lassen.  Dies  ist 
gewifs  Nichts  Neues.  Aber  es  möchte  besonders  da  zu  beachten  seyn, 
wo  man  die  Pathologie  auf  die  drey  Rubriken  zurückzuführen  sucht, 
welche  aus   den  erwähnten   Hauptbegriffen   entspringen. 


"ijA  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfingen  etc.     1829. 


§•  439- 

Auch  über  die  zweyte  der  vorhin  erwähnten  Classen  von  Aufgaben 
(§•   437)  können  noch  einige  Bemerkungen   beygefügt  werden. 

Das  Gegenstück  zu  jener  Frage  des  vorhergehenden  Paragraphen, 
ob  nicht  aufser  den  drey  bekannten  Hauptbegriffen  noch  etwas  Anderes 
für  die  Physiologie  in  Betracht  komme  ?  liegt  in  der  Frage :  ob  denn  auch 
die  drey  so   unzertrennlich   verbunden  seyen,  dafs   keiner  fehlen  dürfe? 

Lassen  wir  zuerst  den  Begriff  der  Ernährung  weg :  so  kommen  wir 
zu  dem  Ideal  eines  leiblichen  und  geistigen  Daseyns,  welches  zum  Han- 
deln und  zum  Denken  geschickt  sey,  ohne  durch  das  leidige  Bedürfnifs 
der  Nahrung  gedrückt  zu  werden.  Aber  dies  liegt  ganz  aufser  den  Gränzen 
der  Erfahrung.  Ob  es  denkbar  sey,  ist  nicht  so  leicht  zu  entscheiden; 
jedoch  scheint  es  verneint  werden  zu  müssen.  Die  Elemente  eines  Leibes, 
in  welchem  es  keinen  Stoffwechsel  gäbe,  würden  einander  ihre  innern  Zu- 
stände mehr  und  mehr  mittheilen;  damit  fiele  der  Erklärungsgrund  der 
Muskelbewegung  weg,  den  wir  oben  angaben  (§.  432  u.  s.  w.),  überein- 
[O53]  stimmend  mit  der  Erfahrung,  dafs  der  Hunger  die  Schwäche,  und 
die  Verminderung  des  Pulses  zur  Folge  hat;  während  jedoch  Kranke, 
besonders  solche,  die  dem  Scheintode  nahe  sind,  lange  Zeit  die  Nahrung 
entbehren  können,  indem  die   Muskeln  bey  ihnen  fast  unthätig  sind. 

Den  Begriff  der  Sensibilität  wird  Niemand  weglassen  wollen;  nicht 
blofs,  weil  er  im  weitern  Sinne  schon  dem  der  Muskelthätigkeit  zum 
Grunde  liegt  (§.  374),  sondern  auch  deshalb,  weil  man  einen  Körper, 
d^r  gar  nicht  empfände,  gewifs  nicht  als  animalisch  lebend  betrachten  würde. 

Es  bleibt  also  die  Frage  haften  bey  dem  Begriffe  der  Irritabilität. 
Zwar  wird  man  gleich  einwenden,  es  gäbe  dann  kein  Herz;  folglich  keinen 
Blutumlauf.  Allein  hieran  dürfen  wir  zweifeln.  Wenn  (nach  §.  427)  auf 
die  Attraction  des  Bluts  in  dem  Zellgewebe  gerechnet  werden  mufs:  so  ist 
ein  solcher  Muskel,  wie  das  Herz,  nicht  durchaus  nöthig;  und  man  mag 
untersuchen,  ob  es  bev  den  niedrigsten  Thieren  überall  mehr  ist  als  ein 
blofser  Behälter  des  Nahrungssaftes?  Gesetzt  aber,  ein  Herz  sey  nöthig 
.zum  Leben,  ist  denn  auch  die  gesammte  übrige  Muskelbewegung  unent- 
behrlich? Bev  kleinen  Kindern,  bey  Greisen,  bey  Gelähmten  bleibt  wenig 
von  ihr  übrig;  hingegen  bey  voller  Gesundheit  scheint  sie  zur  Erhaltung 
derselben  in  der  That  unentbehrlich;  und  wir  überlegen  nun,  was  sie  wohl 
dafür  leisten  möge? 

Diese  neue  Fra2:e  zerfällt  soe;leich  in  zwev  andre:  erstlich,  was  wirkt 
die  Muskelbewegung  für  die  Ernährung?  zweytens,  welchen  Einflufs  hat 
sie  auf  die  Nerven?  Ohne  etwas  erschöpfen  zu  wollen,  begnügen  wir  uns 
mit  folgenden  Betrachtungen. 


Die  Zusammenziehung  der  Muskelfaser  suchten  wir  uns  zu  erklären 
durch  ein  inneres  Streben  einiger  Elemente,  sich  wider  den  hemmen- 
den Reiz  in  dem  vor-[ö54]handenen  innern  Zustande  zu  erhalten ;  woraus 
Verdichtung  und  veränderte  Gestalt  der  Moleculen  entspringen  mufs,  wenn 
dies  Streben  befriedigt  werden  kann  durch  tieferes  Eindringen  in  andre 
Elemente  der  nämlichen  Moleculen,  die  nicht  gleichzeitig  von  derselben 
Hemmung   sind   ergriffen   worden.     Hieraus    nun    folgt   weiter,    dafs   diese 


5.  Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.Abth.  Analyt.  Unters.  6.Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  375 

andern  Elemente  dadurch  in  ihrer  Assimilation  bedeutend  fortschreiten 
werden.  Denn  je  vollkommner  sie  zusammen  sind  mit  jenen,  desto  mehr 
richten  sich  ihre  innern  Zustände  nach  denselben.  Angenommen,  es  sey 
der  frischere,  kurz  zuvor  beym  Athmen  ins  Blut  gedrungene  Sauerstoff,  in 
welchen  sich  die  altern  Elemente  der  Muskelfaser  tiefer  hineinziehn:  so 
wird  mit  der  Innigkeit  der  Durchdringung  auch  vollständiger  dasjenige 
System  von  innern  Zuständen  in  diesem  Sauerstoff,  was  ihm  als  einem 
Bestandteile  des  lebenden  Leibes  zukommt,  ausgebildet  werden.  Führt 
ihn  nun  der  Blutumlauf  mit  sich  fort:  so  dient  er  zwar  in  der  Folge  weniger 
für  die  Contraction  der  Muskelfaser;  aber  desto  mehr  ist  er  geeignet, 
Bestandtheil  der  Nahrung  zu  werden,  und  seinerseits  wiederum  andre 
Bestandteile  derselben  zu  veredeln.  Oder  sey  es  nicht,  wenigstens  nicht 
bloß,  der  Sauerstoff,  so  gilt  dasselbe  von  andern  Elementen,  die  man  statt 
seiner  in  dem  vorigen  Verhältnisse  sich  denken  mag.  Für  künftige  Con- 
traction der  Muskeln  aber  sorgt  nun  entweder  die  erneuerte  Respiration, 
oder  die  Verdauung;  indem  hiedurch  von  neuem  solche  Elemente  herbey- 
kommen,  die  noch  der  Assimilation  bedürfen.  Verhält  sich  die  Sache 
wirklich  auf  diese  Weise,  so  sieht  man  leicht,  dafs  eine  wahre  Verbesserung 
des  Bluts,  und  folglich  auch  bessere  Ernährung,  durch  den  Gebrauch  der 
Muskeln   gewonnen  wird. 

Betrachten  wir  zweytens  den  Einflufs  der  Muskelbewegung  auf  die 
Nerven:  so  ergiebt  sich  eine  andre  [655]  Seite  der  Wichtigkeit,  wo  nicht 
Unentbehrlichkeit,   derselben   für  das   Leben. 

Von  den  Nerven  gelangt  in  der  Regel  der  Reiz  zur  Bewegung  an 
die  Muskeln;  welches  bey  den  willkührlichen  Muskeln  offenbar,  bey  den 
übrigen  wahrscheinlich  ist;  nur  dafs  im  letztern  Falle  die  Aufregung  der 
Nerven  von  irgend  welchen,  uns  unfühlbaren  Lebens -Verhältnissen  ausgeht. 
Wenn  die  Muskelfasern  sich  nun  zusammenziehn:  will  man  alsdann  sagen, 
sie  entsprechen  dem  Antriebe  des  Nerven?  Genau  genommen  folgt  aus 
der  obigen  Erklärung  das  Gegentheil.  Die  Faser  zieht  sich  zusammen, 
weil  sie  sich  der  Hemmung  entzieht,  von  der  ihre  innern  Zustände  be- 
droht sind.  Bliebe  die  Contraction  aus,  wie  es  bey  dem  schon  ermüdeten 
Muskel  der  Fall  ist:  dann  gerade  entstünde  in  ihm  der  Zustand,  welcher 
dem  Nervenreize  entspricht.  Jetzt  wollen  wir  rückwärts  schliefsen.  Der 
Muskel  hat  sich  dem  Einflüsse  des  Nerven  entzogen;  er  steht  gleichwohl 
mit  dem  letztern  in  der  genauesten  Verbindung ;  und  der  Nerv  ist  eben 
dadurch  Nerv,  —  das  heilst:  Sitz  der  Sensibilität,  —  dafs  es  ihm  nicht 
also,  wie  dem  Muskel,  gelingen  kann,  sich  durch  eine  Veränderung  seiner 
Gestalt  der  äufsern  Einwirkung  zu  entziehen.  Man  rede  ja  nicht  zuviel 
von  der  Activität  des  Nerven;  dadurch  würde  die  Sensibilität  verloren 
gehn,  welche  nichts  anders  ist  als  Annehmen  innerer  Zustände  gemäfs  den 
zufällig  entstehenden  Verhältnissen  zu  dem,  was  draufsen  ist !  —  Will  man 
nun  consequent  seyn,  so  raufe  man  erlauben,  dafs  der  Nerv  nicht  blofs 
gewisse  Zustände  auf  den  Muskel  übertrage,  sondern  auch  für  den  Muskel 
wiederum  sensibel  sey;  mit  andern  Worten,  dafs  er  rückwärts  von  dem- 
selben eine  Bestimmung  seiner  innern  Zustände  empfange.  Und  was 
kann  er  empfangen,  während  der  Muskel  sich  contrahirt?  Nichts  anderes, 
als    eine  Hemmung.      Nämlich  je-[656]ner  versagt   den    Zustand,  welchen 


,y5  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

der  Nerv  überbringt;  damit  nun  Alles  zusammenpasse,  mufs  dieser  seinen 
eignen,  eben  vorhandenen  Zustand,  hemmen  lassen.  Und  gerade  dies  ists, 
wodurch  der  Nerv  noch  fortdauernd,  für  eine  Zeitlang  wenigstens,  die 
Fähigkeit  behält,  Diener  des  Willens  zu  seyn.  Hätte  sich  in  dem  Nerven 
derjenige  Zustand,  welchen  in  ihm  der  Wille  unmittelbar  hervorbringt, 
sogleich  vestsetzen  können:  so  wäre  er  in  dem  folgenden  Moment  schon 
ein  verbrauchtes  Werkzeug  für  den  Willen  gewesen.  Er  wird  es  ohnehin 
bev  langer  Anstrengung  allmählig,  weil  endlich  der  Muskel  nachgiebt;  und 
dann  auch  der  Nerv  nicht  mehr  geschützt  ist  gegen  die  Anhäufung  solcher 
innerer   Bestimmungen,  wie  sie   dem   Willen   entsprechen. 

Diesen  letztern   Umstand  nun    müssen  wir   noch   einen  Schritt  weiter 
verfolgen;  jedoch  mit  dem   Bemerken,   dafs  Alles,  was  hieher  gehört,    sich 
nur  mit  Hülfe    der  Psychologie   deutlich   machen   läfst.     Dort   ist   gezeigt, 
was    eine    Hemmungssumme    sey,    und    nach    welchem    Gesetze    sie    sinke.* 
Ebendaselbst  ist  von   der  Abnahme   und   Erneuerung  der    Empfänglichkeit 
gesprochen.**      Aus  jenen   Principien  mufs  beurtheilt  werden,    was    in    den 
Nerven   vorgehe,   wann  sie   eine  geraume  Zeit  hindurch  verschiedenen  Ein- 
drücken  von    Seiten    der    geistigen    Thätigkeit,    oder    auch    der  Außenwelt 
ausgesetzt  waren.     Anfangs  wirken  die  Muskeln   entgegen,   und  hindern  die 
Anhäufung  der  empfangenen  Eindrücke    (wobey  man  von  selbst  begreifen 
wird,     dafs    hier    das    Wort    Eindruck    für    Selbsterhaltung    in    Folge    eines 
äußern    Verhältnisses  zu  nehmen  ist);   nachdem  aber  diese   Eindrücke  sich 
dennoch  zu  einer  bedeutenden  Hemmungssumme,   indem  sie  unter  einander 
ent-[Ö57]gegengesetzt    sind,  ansammelten,  wird   es  mehr   und    mehr   noth- 
wendig,    dafs    dieselbe   sinke,    und    dagegen   immer   weniger   möglich,    dafs 
noch  neue  Sensationen  oder  Bestimmungen  durch  die  Wilikühr  hinzukommen. 
Wenn    wir    nun    daran    erinnern,    dafs    auf    lange    Ermüdung    durch 
Muskel -Anstrengung,   oder  auch   (aber  dem  Leben  nicht  so  zuträglich)   auf 
Geistes -Anspannung,  endlich  Schlaf  erfolgt;  und  dafs  der  Schlaf  zunächst, 
und  in    Beziehung    auf   die  Nerven,    nichts    anderes  ist,    als    ein  Aufhören 
der  Sensation :   so   wird  man  verlangen,  dafs  wir  die  Gränze  angeben,   bey 
welcher  die  Fähigkeit  zur  Sensation  aufhöre,   und   der  Schlaf  wirklich  ein- 
trete.    Hierauf  läfst  sich  zwar  erstlich  antworten,   dafs  diese  Gränze  nicht 
ganz   vest  bestimmt  ist;    indem    auch  das   Einschlafen    durch  stärkere  Sen- 
sation,   —    die    also  noch    möglich  ist,    —    verhindert  werden    kann;    und 
selbst    der  Schlafende    sich  wieder    aufwecken    läfst;    überdies,    dafs    nicht 
einzelne   Elemente,   und  nicht  einmal   einzelne   Nerven,  sondern   das  ganze 
Nervensystem  in   einen  gleichartigen  Zustand  mufs  versetzt  werden,  bevor 
es    zum  '  Einschlafen    kommt.       Allein    die    Psychologie    hat    allerdings    be- 
stimmtere  Antwort  bereit,    wenn    sie    im  analogen  Falle  gefragt  wird  nach 
der  Gränze  der  Möglichkeit,   dafs   eine  gewisse   bestimmte  Sensation  in   der 
Seele    entweder    verloren    gehe,    oder    zu    einer    Gesammtkraft    anwachse. 
Dieser  Gegenstand    gehört  zur  Untersuchung  ioer  die  Aufmerksamkeit  * 


*  Psychologie  I.  §.  42.   74.     (Bd.  V  vorl.  Ausgabe.) 
**  Ebendaselbst  §.  94.    98. 
***  De  attentionis  mensura,  p.  30,  wo  man  den  Grand  der  Behauptung  nach- 
zusuchen hat:  nunqitam  committendum  erit,  ut  ponat-ur  ?  —  Ö>  §<{,    quod 
est  absurd u  in. 


5.  Abschn.  Umrisse  d.Naturphil.   2.Abth.  Analyt.  Unters.  6.  Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  377 

In  der  That  ist  der  Schlaf  eine  Gränze  der  Aufmerksamkeit,  sofern 
diese  nicht  blofs  auf  die  Seele,  sondern  überhaupt  auf  die  Sensibilität  be- 
zogen wird;  und  überdies  von  der  hühern  Bildung,  die  nur  geistig  [658] 
sevn  kann,  abstrahirt  wird.  Wie  es  aber  möglich  sey,  dafs  wir  uns  hier, 
in  dem  Kreise  physiologischer  Untersuchung,  auf  psychologische  Lehrsätze 
berufen  können,  darüber  brauchen  wir  Demjenigen,  welcher  das  Ganze 
unseres  Vortrags  genau  kennt,  nichts  mehr  zu  sagen;  für  jeden  Andern 
würde  auch  die  weitläufigste   Entwickelung  unverständlich  seyn. 

Die  Gränze  der  Aufmerksamkeit  ist  lediglich  eine  Bestimmung  der 
Gröfse,  wie  stark  zum  tvenigsten  eine  Sensation  seyn  mufs,  damit  ihre 
kleinsten  Theile  (die  momentanen  Eindrücke)  nicht  durch  die  vorhandene 
Hemmung  vereinzelt,  und  gleichsam  zersplittert  werden;  welches  die  Sen- 
sation fruchtlos  macht.  Genau  dasselbe  pafst  auf  den  Schlaf;  denn  eine 
hinreichend  starke  Sensation  bewirkt  das  Aufwachen.  Nun  aber  mufs  man 
hinzunehmen,  dafs  physiologische  Erörterungen  sich  niemals  blofs  und  allein 
auf  innere  Zustände  beziehen,  sondern  auf  solche  nur,  inwiefern  die  räum- 
lichen Bestimmungen  der  belebten  Materie  mit  ihnen  in  Zusammenhang 
stehen.  Sinkt  im  Schlafe  die  Hemmungssumme,  welche  in  jedem  einzelnen 
Elemente  der  Nerven  angehäuft  war:  so  zieht  sich  zugleich  das  räumliche 
Ganze,  welches  den  sichtbaren  Nervenfaden  ausmacht,  wieder  zurecht, 
nachdem  es  durch  die  frühere  Aufregung  irgend  etwas  in  seinen  materialen 
Verhältnissen  eingebüfst  hatte.  Und  dies  Zurechtziehen  pafst  nun  ohne 
Zweifel  noch  weit  mehr  auf  die  anderen  Theile  des  Organismus,  welche 
während  des  Wachens  zugleich  und  wegen  ihrer  Verbindung  mit  den 
Nerven,  waren  afficirt  worden. 

Der  gesunde  Schlaf  also,  welcher  vorzüglich  durch  die  Muskelthätig- 
keit  gewonnen  wird,  und  dem  Leben  seine  Erquickung,  jeder  Empfänglich- 
keit ihre  Erneuerung  verschafft,  ist  in  seiner  periodischen  Abwechselung 
mit  dem  Wachen  eine  der  wichtigsten  Folgen,  welche  aus  [659]  der  Ver- 
bindung der  Irritabilität  mit  der  Sensibilität  hervorgehn.  Weit  von  ihm 
verschieden  sind  ohne  Zweifel  die  soporösen  Zustände,  welche  in  Krank- 
heiten die  Unfähigkeit  des  Nervensystems  bezeugen,  sich  von  innen  oder 
von  aufsen  zu  Sensationen  bestimmen  zu  lassen,  und  die  Gemeinschaft  aller 
Theile   des   Organismus  zu  unterhalten. 


§■   440. 

Was  hier  über  die  Verbesserung  der  Ernährung,  und  über  den  Schlaf 
gesagt  worden,  das  wird  noch  unzureichend  scheinen,  um  die  Beziehung 
der  Irritabilität  auf  das  Ganze  des  Lebens  auch  nur  in  den  Haupt- Umrissen 
anzugeben. 

Nun  wäre  freylich  sehr  vieles  anzuführen  über  die  künstlich  und 
zweckmäfsig  angebrachten  Muskeln,  durch  welche  es  den  Menschen  und 
Thieren  vergönnt  ist,  sich  frey  zu  bewegen,  und  hiemit  auch  für  die  äufsern 
Bedingungen  des  Lebens,  insbesondere  für  die  Nahrung,  selbstthätig  zu 
sorgen.  Allein  so  stark  auch  dergleichen  teleologische  Betrachtungen  sich 
demjenigen  aufdringen,  der  ihnen  nicht  aus  Vorurtheil  widerstrebt:  so  wenig 
kann   es  doch  helfen,   die  Vorurtheile  direct  anzugreifen ;   und  wir  vermeiden 


2y8  !•    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 

überdies  den  Schein,  als  ob  Teleologie  an  die  Stelle  theoretischer  Er- 
klärungen sollte  gesetzt  werden. 

Eine  andre  Erweiterung  geben  die  Physiologen  ihren  Betrachtungen 
über  die  Irritabilität,  indem  sie  die  Lehre  von  der  Blutbewegung  hieher 
ziehn.  Gesetzt  nun,  der  Grund  dieser  Bewegung  läge  wirklich  vorzugsweise 
im  Herzen,  so  wäre  doch  dasselbe  nur  ein  Mittel  zum  Zweck;  und  nicht 
der  Zweck  selbst.  Es  wäre  überdies  ein  sehr  einzeln  stehendes  Mittel, 
wofern  es  genau  richtig  ist,  dafs  die  Arterien  sich  nicht  erweitern  und  zu- 
sammenziehn,  sondern  blofs  den  Schläuchen  einer  [660]  Spritze  gleichen.* 
Liegt  aber  vollends  der  Grund  der  Blutbewegung  vorzugsweise  in  den 
Theilen,  welche  ernährt  werden :  so  kann  dieselbe,  saramt  allen  Erschei- 
nungen, die  sie  darbietet,  und  sammt  allen  Bestimmungen,  die  sie  annimmt, 
weit  besser  mit  der  Reproduktion  in  Verbindung  gedacht  werden. 

Dies  scheint  besonders  die  Ansicht  der  Fieber  zu  verändern.  Wird 
man  behaupten,  jedes  Fieber  sey  eine  Krankheit  des  Herzens  ?  Oder 
vielleicht,  die  Arterien  seyen  alsdann  krank,  indem  sie  gegen  ihre  Bestim- 
mung an  der  Blutbewegung  Theil  nähmen. 

Puchelt  sagt  vielmehr  gleich  im  Anfange  seiner  Abhandlung  von  den 
generellen  Krankheiten  der  Irritabilität  Folgendes  **  :  „Es  ist  zu  bezweifeln, 
dafs  es  im  strengsten  Sinne  ursprüngliche  Irritabilitäts  -  Krankheiten  gebe ; 
denn  die  Ursachen,  welche  hier  Krankheiten  veranlassen,  können  nur  durch 
die  Nerventhätigkeit,  oder  auf  dem  Wege  der  Reproduction  die  Irritabilität 
und  ihre  Organe  erreichen;  sie  wirken  nicht  unmittelbar  und  zunächst  auf 
dieselbe  ein." 

Dazu  passen  Beyspiele,  welche  Frank  in  dem  früher  schon  erwähnten 
Werke  anführt;  von  Fiebern,  —  und  zwar  Wechselfiebern,  —  die  von 
örtlichen  Schädlichkeiten  herrührten;  von  Fehlern  der  Lunge,  vom  Her- 
vorbrechen eines  Weisheits  -  Zahns ;  von  einem  Steatom  im  Uterus  ;  von 
einer  im  Magen  liegenden  Speckschwarte ;  von  einigen  nach  dem  Erbrechen 
zurückgebliebenen  giftigen  Schwämmen.*** 

Und  der  Fieberfrost,  welcher  der  Hitze  voranzugehn  [661]  pflegt, 
was  deutet  er  an  ?  Doch  wohl  ein  Zusammendrängen  des  Bluts  nach 
innen,  wovon  eine  gewaltsame  Contraction  und  Oscülation  des  Herzens 
die  nothwendige  Folge  schon  dann  seyn  müfste,  wenn  letzteres  nichts 
weiter  wäre  als  ein  elastischer  Sack.  Und  wo  hat  der  Frost  seinen  Sitz? 
Doch  vermuthlich  in  allen  Theilen,  welche  ernährt  werden,  oder  wenigstens 
in  den  meisten  derselben.  Hier  also  wird  man  den  Sitz  der  Krankheit 
weit  eher  als  im  Herzen  suchen  dürfen ;  und  es  ist  natürlich  zu  glauben, 
dafs  jede  von  den  unzähligen  Ursachen  des  Fiebers,  um  ein  solches  zu 
erregen,  zuerst  jenen  Sitz  der  Krankheit  in  ihre  Gewalt  werde  bringen  müssen. 

Es  scheint  also,  dafs  man  den  Begriff  der  Irritabilität  bestimmter  in 
seinen  Schranken  werde  halten  müssen,  um  von  ihm  einen  richtigen  Ge- 
brauch zu  machen.  Und  in  der  Beantwortung  der  Frage,  ob  die  Irrita- 
bilität durchaus   nothwendig   mit  Sensibilität    und  Reproduction   verbunden 


*  Rudolphi,  Physiologie,  zweyten  Bandes  zweyte  Abtheilung,  S.  424. 
**  Puchelt,  System  der  Medicin,  zweiten  Theils  erster  Band,  §.  82. 
***  Franks  Erregungslheorie,  S.  102. 


5-Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.Abth.  Anatyt.  Unters.  6.  Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  370 

sey  ?  bleibt  nach  den  vorstehenden  Betrachtungen  immer  noch  etwas 
Schwankendes  zurück,  wenn  man  streng  darauf  besteht,  die  teleologische 
Betrachtung,  dafs  ein  Thier  ohne  Muskeln  sich  keine  Nahrung  schaffen 
könnte,  ganz  aus  dem  Spiele  zu  lassen.  Vielleicht  wird  man  sagen,  es 
gebe  ohne  Muskelbewegung  nicht  einmal  Verdauung;  allein  auch  dies 
reicht  nicht  zu,  um  das  System  der  Begriffe  von  Reproduction,  Sensibilität 
und  Irritabilität,  sobald  sie  in  völliger  Abstraction  gefafst  werden,  zu  einer 
durchaus  nothwendigen  Einheit  zu  bringen.  Es  könnte  eine  Ernährung 
ohne  Verdauung  geben;  wie  sie  beym  Embryo  wirklich  vorkommt.  Weit 
vester  und  genauer  hängen  in  der  Psychologie  die  Begriffe  des  Vorstellens, 
Fühlens  und  Begehrens  zusammen;  denn  wo  es  Vorstellungen  im  eigent- 
lichen Sinne  (nicht  blofse  Empfindungen)  geben  soll,  das  heifst,  Bilder  in 
bestimmten  Umrissen,  da  müssen  schon  Hem-[662]mungen,  Strebungen 
und  Reproductionsgesetze  vorkommen,  aus  welchen  Gefühle  und  Be- 
gehrungen unter  den  für  jene  vorauszusetzenden  Umständen  nothwendig 
folgen.  Anders  war  es  auch  nicht  zu  erwarten.  Die  Seele  ist  einfach  im 
strengsten  Sinne;  hingegen  jeder  lebende  Organismus  ist  zusammengesetzt, 
und  in  unserem  Erfahrungskreise  ist  jede  Zusammensetzung  als  zufällig  zu 
betrachten. 

Erlauben  wir  uns  jetzt,  den  Begriff  der  Irritabilität  aus  dem  Verein 
der  drey  physiologischen  Grundbegriffe  als  vielleicht  nicht  schlechterdings 
durch  die  übrigen  gefordert  wegzulassen:  so  fällt  sogleich  von  selbst  ins 
Auge,  dafs  auch  die  Sensibilität  fehlen  kann,  wo  die  Reproduction  dennoch 
vorhanden  ist;  nämlich  bey  den  Pflanzen.  Dies  mufs  jedoch  nicht  so  mis- 
verstanden  werden,  als  ob  in  dem  wirklichen  Thiere  eine  solche  Ab- 
sonderung vorhanden  wäre,  wie  in  einem  trennbaren  Aggregate.  Die  Art 
von  Reproduction,  die  einem  bestimmten  Thiere  zukommt,  könnte  un- 
streitig nicht  eine  solche  seyn,  wie  sie  ist,  wenn  nicht  eine  solche  Sen- 
sibilität und   Irritabilität  mit  ihr  verbunden  wäre. 


§•   44 1- 

Noch  bleibt  uns  übrig,  die  dritte  Classe  von  Aufgaben  (§.  437)  mit 
Wenigem  zu  berühren ;  nicht  um  wirklich  in  das  Specielle  der  Physiologie 
hineinzutreten,  was  nur  den  Meistern  der  Wissenschaft  vor  Augen  liegt, 
sondern  blofs  um  zu  überlegen,  welcher  von  jenen  drey  Hauptbegriffen 
wohl  mehr,  und  welcher  weniger  mannigfaltige  Nebenbestimmungen  an- 
nehmen möge? 

Um  hier  mit  dem  Leichtesten  anzufangen,  beginnen  wir  mit  der 
Irritabilität.  Wie  mannigfaltig  auch  der  Bau  der  Muskeln  seyn  mag:  die 
Action  selbst,  die  Zusammenziehung,  scheint  etwas  so  einfaches,  und  so 
sehr  überall  gleichartiges,  dafs,  wenn  man  den  Begriff  der  [6Ö3]  Irritabilität 
auf  sie  beschränkt,  wie  es  uns  oben  rathsam  geschienen  hat,  wohl  schwer- 
lich Jemand  für  nöthig  finden  wird,  darin  eine  besondere  Mannigfaltigkeit 
verschiedener  Modificationen  anzunehmen. 

Ganz  anders  verhält  es  sich  mit  den  Nerven,  auf  deren  Thätigkeit 
so  aufserordentlich  vielerley  Heilsames  und  Krankes  pflegt  zurückgeführt 
zu  werden.     Hier  sey  zuerst,  und  vor  allem  ein  Wort  von  Herrn  Professor 


380  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.      1829. 

Sachs  *  angeführt,  ohne  dessen  Schutz  wohl  schwerlich  das  Nachfolgende 
für  etwas  anders,  als  für  eine  Probe  philosophischer  Wagestücke  mochte 
genommen  werden. 

„Das  Rückenmark  läfst  sich  mit  jedem  einzelnen  Nerven  darin  ver- 
gleichen, dafs  beyde  eben  so  entschieden  wichtig  als  unselbstständig  sind : 
wichtig  als  leitende  Apparate;  hingegen  unselbstständig ,  indem  sie,  ab- 
gesehen von  diesem  Leitungsgeschäfte  (wo  es  verhindert,  aufgehoben,  un- 
möglich  ist),   nichts  für  sich   bedeuten." 

Neben  diesem  Ausspruche  darf  wohl  an  die,  in  der  Psychologie 
nachgewiesene  Notwendigkeit  erinnert  werden,  in  Ansehung  der  Seele  das 
Nervensystem,  im  gesunden  Zustande,  und  im  Menschen,  als  passive  Ma- 
schine zu  betrachten;  wenigstens  weit  mehr,  wie  irgend  eines  von  den- 
jenigen Organen,  welche  nach  ihren  eignen  Gesetzen  die  ihnen  zu- 
kommenden Lebensfunctionen  verrichten.**  Dagegen  ist  selbstständiges 
Auftreten  des  Nervensystems  in  Beziehung  auf  die  Seele  die  reichste  Quelle 
von  Erklärungen  der  anomalen  geistigen  Zustände. 

Ganz  unabhängig  nun  von  jenen  psychologischen  Be-[664]trachtungen 
ergiebt  sich  aus  der  allgemeinen  Lehre  von  der  Materie  eine  sehr  starke 
Bedenklichkeit  gegen  die  Annahme  einer  ursprünglichen  Verschiedenheit 
der  Nerven,  woraus  man  etwa  eine  bedeutende  Verschiedenheit  ihrer 
Functionen   im  gesunden   Zustande  möchte  erklären  wollen. 

Wir  wissen  längst,  dafs  wir  aus  innern  Zuständen  die  äufsere  Ge- 
staltung erklären  müssen.  So  wird  allein  die  ungeheure  Verschiedenheit 
der  Prlanzenformen  begreiflich,  worauf  kein  Nervensystem  Einflufs  hat; 
sanimt  den  höchst  verschiedenen  vegetabilischen  Producten  (§.  436).  Was 
aber  hier  die  Pflanzen  lehren,  das  ist,  wie  man  aus  dem  Ganzen  unserer 
Untersuchung  längst  weifs,  blofse  Bestätigung  der  allgemeinen  Grund- 
sätze;  es  stand  längst  vest   ohne   Rücksicht  auf  die  Pflanzen. 

Aus  gegebenen  innern  Zuständen  folgt  die  Gestaltung  eben  sowohl, 
wie  wir  aus  gegebener  Gestalt  auf  innere  Zustände  schliefsen.  Man  nehme 
nun  einmal  an,  die  Nerven  besäfsen  ursprünglich  eine  grofse  Mannigfaltigkeit 
innerer  Zustände,  was  wird  folgen  ?  Eben  so  grofse  Mannigfaltigkeit  der  Ge- 
staltung bey  freyem     Wachst  hu  in. 

Zeigt  denn  die  Erfahrung  eine  Mannigfaltigkeit  in  der  Configuration 
der  Nerven?      Sieht  ein   Nerve  beträchtlich    anders    aus    wie  ein  anderer? 

Wir  reden  hier  nicht  von  dem  verschiedenen  Bau  des  gesammten 
Nerven-  und  Hirn-Systems  bey  verschiedenen  Thieren;  dieser  versteht  sich 
wohl  selbst,  so  gewifs  wir  nicht  die  Nerven  des  Fisches  für  brauchbar 
halten  werden  im  Säugethiere.  Aber  wenn  in  dem  einzelnen  Thiere  selbst 
eine  grofse  Verschiedenheit  seiner  Nerven  unter  einander  angenommen 
werden  sollte,  gemäfs  den  verschiedenen  Functionen,  die  man  von  ihnen 
erwartet :  dann  trit  das  Bedenken  ein,  ob  nicht  die  entsprechende  Con- 
figuration der  Nervenmasse  weit  grös-[ö65]sere  Unterschiede  zeigen  mülste, 
als  der  Erfahrung  gemäfs  ist? 


*  Sachs  Handbuch    des    natürlichen    Systems    der   praktischen    Medicin.     Ersten 
Theils  erste  Abtheilung    S.  240. 

**  Psychologie  II.  §.    157.    (Bd.  VI  vorl.  Ausgabe.) 


5-Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.Abth.  Analyt.  Unters.  6.  Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  38  I 

Demnach  überlegen  wir,  ob  nicht  ohne  Mannigfaltigkeit  der  innern 
Zustände  dennoch  die  Verschiedenheit  der  Functionen  zu  begreifen  sey? 
Und  hier  versteht  sich  wiederum  von  selbst,  dafs  wir  die  ursprünglich  vor- 
handenen, dem  unthätigen  Nerven  schon  vor  aller  Wirksamkeit  eigenen, 
innern  Zustände  im  Auge  haben;  denn  wenn  eben  jetzt  der  Nerve  auf 
eigenthümliche  Weise  thätig  ist,  dann  freylich  hat  er  gewifs  in  bestimmte 
neue  Zustände  sich  zu  diesem  Behufe  versetzen  lassen,  welche  jedoch  vor- 
übergehend sind. 

In  den  letzten  Worten  ist  unsre  Meinung  schon  ausgesprochen;  deut- 
licher lautet  sie  also: 

Nicht  die  Sensibilität  verschiedener  Nerven  ist  verschieden,  sondern 
die  Sensationen;  diese  aber  hängen  bleibend  ab  von  den  übrigen,  mit  ihnen 
verbundenen  Theilen  des  Organismus,  und  vorübergehend  von  den  einzelnen 
Anlässen  der  einzelnen  Sensationen.  Die  Nerven  sind  überall  nur  Boten 
und  Vermittler;  sie  thun  im  gesunden  Zustande  nichts  von  selbst.  Aber 
wenn  ein  Nerve  zum  Auge,  ein  anderer  zum  Ohr,  ein  dritter  zu  einem 
Muskel,  ein  vierter  zu  einer  Arterie  geht  u.  s.  w. :  dann  giebt  es  sowohl 
bleibende  als  vorübergehende  Gründe  genug  für  die  Verschiedenheit  des 
Leidens  und   Thuns. 

Ist  nun  dies  richtig:  so  bleibt  endlich  nur  der  dritte  Hauptfactor 
des  thierischen  Lebens  übrig,  um  mannigfaltige  nähere  Bestimmungen  an- 
zunehmen. Bey  dem  Begriffe  der  Reproduction  wird  man  die  speeifischen 
Differenzen  anzubringen  haben,  welche  nöthig  sind,  um  die  Mannigfaltigkeit 
der  Organe  und  ihrer  Functionen  zu  begreifen.  Das  Pflanzenreich,  an 
welches  wir  vorhin  schon  erinnerten,  zeigt  deutlich,  wie  vieler  Formen  die 
Vegetation  für  sich  allein  fähig  ist.  Im  Thiere  nun  [666]  wird  sie  im 
hohen  Grade  beschränkt,  und  vor  Wucherungen  gehütet,  —  nämlich  so 
lange  die  Gesundheit  dauert;  —  diese  Beschränkung  mögen  wir  den 
Nerven  verdanken,  die,  indem  sie  Alles  mit  Allem  verbinden,  auch  Jedes 
zur  Bedingung  des  Andern  machen,  und  keinem  einzelnen  erlauben,  sich 
blofs  nach  eigner  Weise  auszubilden.  Aber  Vermehrung  des  Mannigfaltigen 
haben  wir  bey  gesunden  Nerven  nicht  Ursache  zu  suchen;  wenigstens  nicht 
viel  weiter,  als  insofern  eine  Spur  von  Faserung,  und  überhaupt  von  ver- 
schiedenem Ansehen  der  Nerven  und  der  Hirntheile,  die  Annahme  be- 
günstigt: hier  sey  mit  innerer  Verschiedenheit  auch  entsprechende  äufsere 
Gestaltung  verbunden. 

Jetzt  wollen  wir  den  Schlufs  der  oben  angeführten  Stelle  des  Herrn 
Prof.  Sachs  hieher  setzen.  „Der  Vegetation  dient  das  Rückenmark,  bey 
dem  Menschen  und  den  höhern  Thieren  wenigstens,  gewifs  nicht.  Dieses 
ist  völlig  entschieden  durch  die  nicht  ganz  seltenen  Fälle  des  gänzlich 
fehlenden  Rückenmarks  bey  Misgeburten,  die  denn  doch  ernährt  worden 
sind.  Ob  es  vielleicht  bey  den  Fischen  eine  solche  Bedeutung  hat,  maafsen 
wir  uns  nicht  an  zu  beurtheilen."  Das  letztere  ist  offenbar  nur  Nach- 
giebigkeit gegen  Andere.  Vielleicht  hätte  die  Nachgiebigkeit  noch  weiter 
gehn  können,  wenn  gesagt  wäre:  der  Vegetation  dienen  die  Nerven  blofs 
negativ,  nämlich  so,  dafs  aus  den  Thieren  keine  Misgeburten  werden. 
Vegetative  Nerven  im  positiven  Sinne  wären  dann  nicht  blofs  bis  zu  den 
Fischen,  sondern  bis  zu  den  Hirngespinnsten  verwiesen  worden.     Wo  man 


■2$2  !■    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.     1829. 

dergleichen  annimmt,    da   scheint   die  Erinnerung   an  das  weite  Reich  der 
blolsen   Vegetation,   nämlich  an  die  Pflanzen,  gefehlt  zu  haben. 

Aber  müssen  wir  nicht  mit  dem  angeführten  Schriftsteller  wenigstens 
dem  Gangliensystem  eine  von  der  Sensation  ganz  verschiedene  Function 
zuschreiben,  näm-[o,67]lich  die  Blut -Imitation?  Um  hierüber  klarer  zu 
werden,  ist  es  nöthig,  zuerst  Einiges  über  Incitation  des  Bluts  überhaupt 
einzuschalten. 

§•   442. 

Wir  beginnen  mit  einer  ganz  einfachen  Erfahrung.  Wenn  man  mehrere 
Blutigel  neben  einander  ansetzt,  so  zeigt  sich  bald  eine  schwache  Röthe 
auf  der  Haut  zwischen  ihnen,  ähnlich  der  Entzündungsröthe.  Und  die 
Stellen,  wo  die  Blutigel  angebissen  hatten,  umgeben  sich  späterhin  mit 
blauen  Flecken  von  untergelaufenem  Blute. 

Von  den  drey  Charakteren  der  Entzündung,  Schmerz,  Röthe,  Geschwulst, 
ist  hier  nur  das  zweyte  vorhanden;  der  Gegenstand  ist  also  geeignet,  die  mehr 
verwickelte  Betrachtung  der  Entzündung  vorzubereiten,  weil  der  Fall  einfacher  ist. 

Woher  kommt  nun  hier  der  Andrang  des  Bluts?  Doch  wohl  nicht 
von  dem  kaum  fühlbaren  und  nur  augenblicklichen  Schmerze.  Noch 
weniger  vom  Ausfliefsen  des  Blutes,  welches  wohl  Blässe,  aber  nicht  Röthe 
beo-reiflich  machen  würde.  Eben  so  wenig  von  innern  Ursachen;  denn 
diese  waren  zuvor  auch  da,  und  machten  die  Stelle  doch  weder  roth  noch 
blau.  —  Man  wird  gar  keinen  Grund  finden,  aufser  nur  die  Attraction, 
deren  wir  im  Anfange  (§.  426)  erwähnten.  Das  Blut,  welches  der  Blut- 
io-el  einsaust,  wird  unstreitig  in  dem  Wurm  selbst  in  neue  innere  Zustände 
versetzt,  welche  einen  Anfang  von  Assimilation  in  sich  tragen  mögen.  Wie 
aber  auch  diese  innern  Zustände  beschaffen  seyn,  worauf  hier  nichts  an- 
kommt: sie  pflanzen  sich  fort  bis  ins  Innere  des  menschlichen  Leibes. 
Der  Faden  des  Blutes,  welcher  von  dem  saugenden  Wurm  bis  in  jedes 
der  nahe  liegenden  feinen  Gefäfse  unter  der  Haut  des  Menschen  kann 
verfolgt  werden,  dient  hier  selbst  als  Leiter  [668]  eines  fremdartigen  Zu- 
standes,  wovon,  wie  wir  wissen,  Attraction  die  Wirkung  ist.  Nun  kommt 
das  Blut  im  Überflusse  herbey,  ohne  darauf  zu  warten,  wieviel  der  Wurm 
davon  einsaugen  möge,  und  so  geschieht  eine  lange  Nachblutung  einer 
höchst  kleinen   Wunde,   die  sich  sonst  weit  früher  schliefsen  würde. 

Setzen  wir  jetzt  statt  des  Blutigels  einen  fremden  Körper,  den  man 
sich  in  die  Haut  gestofsen  habe,  z.  B.  einen  Dorn.  Auch  hier  geschieht 
das  Obige,  aber  es  geschieht  noch  mehr.  Denn  der  Dorn  schmerzt. 
Was  ist  der  Schmerz?  In  der  Psychologie  ist  gezeigt,  dafs  mit  höchster 
Wahrscheinlichkeit  hiebey  eine  Mannigfaltigkeit  mehrerer  gleichzeitiger  Em- 
pfindungen mufs  angenommen  werden;  und  dafs  die  Untersuchung  auf  die 
Lehre  von  der  Verschmelzung  vor  der  Hemmung  zurückweiset.*  So  tief 
brauchen  wir  nun  hier  nicht  zu  gehn;  allein  eine  andre  Bemerkung  ist 
nöthig.  Obgleich  nämlich  der  Schmerz  in  der  Seele  ein  völlig  Intensives 
wird,  so  ist  doch  in  der  Materie,  zunächst  des  Nerven,  nicht  anzunehmen, 
dafs  die  ungleichartigen  Zustände,  welche  hier  zusammentreffen,  sich  in 
den  Elementen  der  Materie  eben  so  vollkommen  intensiv  ausbilden  sollen. 


Psychologie  II,  S.  92.     (Bd.   VI  vorl.  Ausgabe.) 


5.  Abschn.  Umrisse  d.  Naturphil.  2.  Abth.  Analyt.  Unters.  ö.Cap.  Phyl.  Beleuchtung  etc.  38^ 

Denn  die  mindeste  Verschiedenheit  in  der  Lage  dieser  Elemente  macht 
sie,  wenn  sie  auch  ihrer  ursprünglichen  Qualität  nach  gleichartig  sind, 
dennoch  in  verschiedenem  Grade  empfänglich  für  die  verschiedenen  Af- 
fectionen,  worin  sie  gerathen,  während  die  Seele  den  zusammengesetzten 
Zustand  des   Schmerzes  empfindet. 

Um  nun  die  Erklärung  der  Entzündung  zu  finden,  überlege  man, 
was  hieraus   folgt.      Es  ist  schon   aus  dem   Obigen  bekannt. 

Wenn  gleichartige  Elemente,  die  unvollkommen  zu-[66c)]sammen  sind, 
in  ungleichartigen  Zuständen  sich  befinden,  so  erfolgt  Oscillation  (§.  365). 
Dies  ist  das  erste,  notwendigste  Princip  unserer  ganzen  Untersuchung 
über  das  Leben.  Man  wende  es  hier  an,  und  man  wird  sich  nicht  mehr 
wundern,  dafs  zum  Schmerze  und  zur  Röthe  sich  die  Geschwulst  gesellt, 
und  dafs  diese,  sich  selbst  überlassen,  in  Eiterung  endigt.  Die  Oscillation, 
worin  die  Elemente  des  leidenden  Nerven  und  der  ihn  zunächst  um- 
gebenden Theile  versetzt  werden,  giebt  dem  leidenden  Theile  ein  gröfseres 
Volumen,  selbst  unabhängig  vom  Blutandrange,  wiewohl  dieser  sich  damit 
zu  verbinden  pflegt.  Das  Ende  der  stets  vermehrten  Oscillation  aber, 
wofern  der  fremde  reizende  Körper  nicht  früh  genug  entfernt  wird,  ist 
Trennung  der  Elemente,  deren  Zusammenhang  um  so  gewisser  endlich 
aufhören  muls,  weil  diejenigen  innern  Zustände,  durch  welche  sie  zusammen- 
hingen, mehr  und  mehr  gehemmt,  und  durch  die  neu  eintretenden  Zustände 
verdorben  werden.  So  ist  die  Eiterbildung  kein  Wunder;  vielmehr  wird 
diese  Erklärung  Jedem  vollkommen  einleuchten,  der  die  Grundsätze  gefafst 
hat,   daher  wir  uns  mit  weitern   Erläuterungen  nicht  aufhalten. 

So  wenig  man  nun  die  Entzündung  eines  einzelnen  Theils  vom  Herzen 
ableiten  kann :  eben  so  wenig  gelingt  dies  bey  der  Schaamröthe,  oder  bey 
andern  Congestionen  in  bestimmte  Theile.  Das  Herz  schlägt  für  alle 
Organe  gleich:  es  weifs  keinen  Unterschied  zu  machen,  ob  das  Blut,  was 
in  die  Lunge  und  in  die  Aorta  gestofsen  wird,  nach  oben  oder  nach  unten 
gehen  soll.  Nervenreize  wirken  hier  auf  das  Blut;  die  Anatomen  haben 
zu  entscheiden,  ob  es  Nerven  des  Ganglien -Systems  sind,  welche  von  den 
Gedanken  des   Erröthenden   den   Reiz  empfangen? 

§•  443- 
Indem  wir  nun  die  Blut-Incitation  durch  die  Ner-[6/o]ven  näher 
zu  betrachten  wünschen:  stofsen  wir  auf  eine  Schwierigkeit,  die  sich  durch 
philosophische  Betrachtung  wohl  schwerlich  heben  läfst.  Einerseits  sagt 
man  uns,  dafs  die  Nerven  des  Gangliensystems  sich  den  Arterienstämmen 
anschmiegen,  sie  umschlingen,  und  besonders  die  feinern  Gefäfs-Äste  netz- 
förmig umgeben.*  Aridererseits  sollen  die  Arterien  gar  nichts  seyn  als  blofse 
Röhren,  ohne  eigne  Fähigkeit,  das  Blut  anzutreiben.**  Was  wirken  denn 
hier  die  Nerven?  „Wenn  durch  den  Nerven  ei  nfiufs,  z.  B.  bey  der  Schaam, 
plötzlich  Röthe  oder  Blässe  des  Gesichts  u.  s.  w.  entsteht,  so  läfst  sich 
der  Vorgang  wohl  nicht  anders  deuten,  als  durch  Congestion  nach  aufsen, 
durch  Röthe,  oder  Congestion  nach  inneren  Theilen ,  wobey  äufserlich 
Blässe  hervorgebracht  wird.      Eine   eigene  Thätigkeit  der  Arterien   ist    hier 


*  Sachs  a.  a.  O.  §.  387. 
**  Rudolphi  Phys-iologie,   2ter  Band  zweyte  Abth.  §.  424. 


,84  *■    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1829. 


wenigstens  durch  nichts  erwiesen;  sondern  die  verstärkte  oder  ver- 
ringerte Thätigkeit  des  Herzens  ist  zur  Erklärung  hinreichend."  So 
spricht  Rudolphi.  Wie  nun  das  Herz  dazu  gelange,  auch  nur  überhaupt 
innere  und  äufsere  Theile  zu  unterscheiden,  das  lehrt  er  nicht;  auch  giebt 
es  gewisse  Congestionen,  von  denen  kein  Mann  glauben  wird,  sie  seyen 
nur  im  Allgemeinen  Congestionen  nach  aufsen. 

In  der  That,  so  lange  der  Nerveneinflufs  auf  die  Arterien  nicht 
klärer  dargelegt  wird,  als  nur  durch  Hülfe  des  Herzens,  möchte  man  in 
Versuchung  gerathen,  die  ganze  Behauptung,  dafs  die  Arterien  blofse 
Röhren  seyen,  in  Zweifel  zu  ziehen.  Und  dies  um  so  mehr,  da  selbst 
von  den  Haargefäfsen,  und  deren  Attraction,  die  etwa  auf  einen  Nerven- 
einflufs erfolgen  möchte,  hier  wenig  zu  erwarten  ist.  Was  bedeutet  [671] 
denn  das  Anschmiegen  schon  an  die  Arterien- Stäm me,  wenn  die  Nerven 
nicht  schon  dort  auf  das  darin  befindliche  Blut  wirken?  Und  wie  sollen 
sie  es  machen,  hieher  zu  wirken,  wenn  nicht  durch  die  Arterien? 

Allein  so  dunkel  auch  dieser  Gegenstand  bleibt:  so  kommt  es  uns 
doch  eigentlich  nur  auf  die  Frage  an,  ob  man  den  Begriff  der  Nerven, 
sie  seyen  Werkzeuge  und  Leiter  der  Sensationen,  den  Gangliennerven  zu 
Gefallen  verlassen,  und  ihnen  noch  eine  davon  ganz  verschiedene  Function 
auftragen  müsse?  Solche  Abänderungen  in  den  Grundbegriffen  können 
nicht  willkommen  seyn;  sie  verdunkeln  zu  sehr  den  Zusammenhang  unserer 
Gedanken,  als  dafs  man  nicht  versuchen  sollte,  die  Erfahrung  von  einer 
andern  Seite  verständlich  zu  machen. 

Zuvörderst    erlauben    wir    uns    die  Bemerkung,    dafs    der  Begriff   der 
Sensation  oder  Empfindung  in  der  Psychologie    kein    anderer    ist,    als    der 
einer  einfachen   Selbsterhaltung  der  Seele.      Das  Wort  wird  gebraucht,  wo 
wir  Rothes  oder  Blaues,  Süfses  oder  Saures,  oder  irgend  einen    einfachen 
Ton  eben  jetzt  wahrnehmen.    Der  Begriff  aber  ist  der  nämliche  für  jedes 
Element,   das  eben  in  Selbsterhaltung  begriffen   ist  gegen  ein  anderes.    Hält 
man  sich  an  diesen  Begriff":    so   ist  Sensation  des  Nerven  nicht  blofs    auf 
den   Fall  beschränkt,   da  er  der  Seele  eine  Empfindung  verursacht;   sondern 
er  kann  eben  so  gut,   wie  zwischen  ihr  und  der  Aufsenwelt,   auch  zwischen 
einigen  und    andern  Theilen    des  Organismus    eine    ähnliche    Vermittelung 
und  Übertragung  innerer  Zustände  besorgen.     Seine  eignen  innern  Zustände 
richten   sich  nach  dem,  was  ihn  reizt,   und  ihnen  entsprechen  andre  in  dem- 
jenigen,  was  durch  seine  Vermittelung  den  Reiz  empfängt.     Von  innern  Zu- 
ständen aber  sind  in  der  Regel  Configurationen  und  Bewegungen  die  Folge;  ■ 
es  ist  also  kein  Wunder,   wenn  auf  [672]  Nervenreize,   in  welchem  Theile 
des  gesammten  Nerven -Systems  sie  auch  statt  finden  mögen,  Bewegungen 
des  Bluts  erfolgen;  sobald  man  nur  nachweisen  kann,  wie  die  Verbindung 
zwischen  dem  Nerven  und  dem  von  ihm  bewegten  Gegenstande  beschaffen 
sey.      Wir  wundern  uns  nicht  mehr    über    die   Muskelbewegung,    weil    der 
Nerv  zum   Muskel  hingeht;    aber    bey   den  Arterien    bleibt    die   Frage    un- 
beantwortet, ob  sie  selbst  eine  Zusammenziehung,    oder  Oscillation,    durch 
den  Nerven -Einflufs  erleiden,  oder  ob  man  annehmen  müsse,    durch  die 
Wand  der  Arterien  erstrecke  sich  vermöge  der  nirgends  fehlenden  Feuch- 
tigkeit   ein   vom   Nerven    abhängender    Einflufs    bis    aufs    Blut?      Und    dies 
scheint  beynahe  das  Begreiflichste  zu  seyn. 


5.Abschn.  Umrisse d. Naturphil.  2.Abth.  Analyt. Unters.  6.Cap.  Phil. Beleuchtungetc.  3S5 

Denn  gesetzt,  die  Feuchtigkeit  der  Arterien -Wand  empfange  auch  nur 
im  Geringsten  von  dem  in  der  Nähe  liegenden  Nerven  eine  ähnliche 
Attraction,  wie  jene  in  dem  Blute,  das  vom  Blutigel  gesogen  wird  (§.  442), 
und  sie  pflanze  diese  Attraction  bis  in  das  Arterienblut  selbst  fort:  so  ist 
dies  soviel,  als  würde  das  Blut  in  dem  Gefäfse  ausgedehnt,  da  es  gegen 
die  Wände  drängt.  Nun  mag  die  Arterie  immerhin  blofs  die  gewöhnliche 
Elasticität  einer  gespannten  Haut  besitzen,  ja  sie  mag  starr  seyn  (wie  bey 
Verknöcherungen),  so  wird  dennoch  ein  Gegendruck  erfolgen,  ohne  dafs 
die  x\rterie  nöthig  hätte  sich  zu  bewegen.  Auf  diesen  Gegendruck  wird 
das  Blut,  wie  auf  eine  wirkliche  Zusammenziehnng  des  Gefäfses,  seinen 
Lauf  beschleunigen;  und  der  Nerveneinfiufs  wäre  demnach  auch  bey  der 
Incitation  des  Bluts  erklärt,  ohne  dafs  wir  nöthig  hätten,  einerseits  den 
Begriff  der  Sensation  zu  verlassen,  andererseits  denen  zu  widerstreiten, 
welche  gegen  der  Starrheit  der   Arterien   sich   auf  Erfahrung  berufen. 

Dafs  jedoch  eine  solche  Erklärung  sehr  unsicher,  dafs  sie  in  der  That 
nur  eine  vorläufige,  aus  Noth  ge-[Ö73]wagte,  für  jede  Widerlegung  emfäng- 
liche  Ansicht  ist,  braucht  kaum  gesagt  zu  werden.  Nachdem  sie  gewagt 
worden,  mag  sie  auch  noch  einen  Zusatz  empfangen.  Zusammenziehung 
der  Arterie  wäre  unzweckmäfsig;  denn  sie  bestimmt  nicht,  ob  das  Blut 
rückwärts  oder  vorwärts  soll.  Drängen  des  Bluts  gegen  die  Arterienwand 
durch  Anziehung  von  Seiten  des  Nerven  wäre  an  sich  um  nichts  besser; 
wofern  nicht  nach  der  Gegend,  wohin  das  Blut  gehen  soll,  die  Geschwindig- 
keit gröfser  ist.  Dazu  nun  gerade  mufs  es,  nach  Überwindung  des  ersten 
Widerstandes,  sehr  bald  kommen,  wenn  die  feinern  Gefäfs-Aste  den  be- 
schleunigenden Einflufs  des  Nerven  vorzugsweise  erfahren.  Und  eben  dies 
sagt  die   angeführte   Beschreibung. 


§•  444- 

Je  mehr  wir  uns  im  Vorhergehenden  bemühten,  die  Begriffe  der 
Irritabilität,  als  der  Zusammenziehung  wegen  des  Widerstrebens  gegen  eine 
bevorstehende  Hemmung  schon  vorhandener  Zustände,  und  der  Sensibili- 
tät, als  der  Unterwürfigkeit  unter  neue  Zustände,  welche  sich  in  den  Ele- 
menten der  Nerven  vervielfältigen,  —  rein  und  frey  von  solchen  Neben- 
begriffen, die  Verwirrung  anrichten  könnten,  zu  erhalten:  desto  noth- 
wendiger  ist  nun,  zu  erinnern,  dafs  alles  Bisherige  sich  auf  die  Gesund- 
heit bezog;  und  dafs  Krankheit  aufs  Gegentheil  hinweist.  Die  Sensibilität 
wird  demnach  gewifs  der  Lehre  von  den  Krankheiten  vielfach  zum  An- 
knüpfungspuncte  dienen  können;  nicht  blofs  insofern,  als  beym  Aufhören, 
bey  Unterbrechungen  derselben,  ein  Zerfallen  der  bis  dahin  verknüpften 
Functionen  des  Organismus  entstehn  wird,  sondern  auch,  indem  die  Unter- 
würfigkeit und  Dienstbarkeit  des  Nervensystems  sich  in  Eigenwillen  und 
selbstständiges  Auftreten  verwandelt,  wobey  der  Zusammenhang  des  Gan- 
zen noch  [674]  mehr  leiden  mufs  als  im  vorigen  Falle.  Krämpfe  aller 
Art   scheinen  davon   das   einfachste   Beyspiel   zu  geben. 

Dafs  die  Irritabilität  sich  wohl  schwerlich  zum  Mittelpuncte  einer 
ganzen  Krankheitsciasse  eignen  möchte,  ist  oben  (§.  440)  schon  bemerkt. 
Dagegen  schienen  die   Begriffe  der   Humoral  -  Pathologie  nicht  so   verwerf- 

Herbart's  Werke.    VIII.  25 


^86  I-    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  etc.     1820. 

lieh  (§.  438),  und  das  nämliche  dürfte  sich  auch  von  denen  der  Erregungs- 
theorie zeigen  lassen.  In  diesem  Falle  kämen  vier  Classen  von  Krank- 
heiten zum  Vorschein;  nach  Beyseitsetzung  der  örtlichen.  Diese  Classen 
wären   folgende. 

1)  Krankheiten  der  Ernährung. 

2)  Krankheiten   der  Säfte. 

3)  Krankheiten  der  Sensibilität,   und 

4)  Krankheiten  der  Erregung. 

Sollte  diese  Zusammensetzung  ungeschickt  erscheinen,  so  würden  wir 
zuerst  bitten  zu  bemerken,  dafs  Verkehrtes  sich  niemals  so  schicklich  zu- 
sammenordnen läfst,  als  das  Rechte.  Fragt  man  uns  z.  B.  nach  einer 
vollständigen  Definition  der  Tugend;  so  können  wir  alle  Factoren  der- 
selben mit  Hülfe  der  fünf  praktischen  Ideen  angeben;  fragt  man  aber 
nach  einer  Aufzählung  aller  Requisite  des  Lasters,  und  des  Bösen,  so  sind 
nur  die  negativen  Bestimmungen  vollständig,  nämlich  im  Gegensatze  der 
Tugend;  hingegen  die  positiven  können  ausserordentlich  mannigfaltig  seyn, 
und  erlauben  keine  veste  Zusammenfassung.  Eben  so  mufs  man  keine 
genaue  Eintheilung  und  Aufzählung  der  Leidenschaften  und  der  Affecten 
fordern.  Krankheiten  nun  gehören  gewifs  zu  den  Verkehrtheiten;  und  wie 
dies  in  Hinsicht  der  örtlichen  Krankheiten  Jeden  bald  auf  die  Bemerkung 
führen  wird,  dafs  sie  sich  nicht  mit  absoluter  Vollständigkeit  nachweisen 
lassen,  so  kann  man  auch  in  Hinsicht  der  Eintheilung  allgemeiner  Krank- 
heiten wohl  kaum  etwas  mehr  thun,  als  diejenigen  Begriffe  [675]  sam- 
meln, welche  als  Negationen  der  Gesundheit  bey  der  Betrachtung  der- 
selben  sich  darbieten. 

Um  einen  formalen  Begriff  nachzuholen,  der  zur  Ergänzung  der 
frühem  Hauptbegriffe  unentbehrlich  ist,  haben  wir  der  Erregungstheorie 
erwähnt.  Ganz  allgemein,  für  Pflanzen  eben  sowohl  als  für  Thiere,  gilt 
der  Unterschied  der  vita  maxima,  vita  minima,  und  der  Mittelstufen.  Die 
Pflanze  kann  Mangel  leiden  an  Licht  und  an  Wasser;  ihr  Reproductions- 
geschäft  geht  nun  langsamer;  woraus  unter  LTmständen  Krankheit  ent- 
stehen wird.  Beym  Thiere  wechseln  aufser  den  Aufregungen  und  De- 
pressionen der  Ernährung  auch  noch  die  der  Irritation  und  Sensation; 
eine  gewisse,  nicht  übermäfsige  Abwechselung  dieser  Art  gehört  sogar  zur 
Lebensregel  des  thierischen  Daseyns;  während  das  Übermaafs  die  Gesund- 
heit verletzt.  Der  Begriff  der  Beschleunigung  oder  Verzögerung  des 
Wechsels  ist  nun  zwar  an  sich  kein  Begriff  von  Krankheit  oder  Gesund- 
heit, aber  rückwärts  ist  auch  die  Annahme  der  veränderten,  anomalen 
Reproduction,  Sensation,  oder  der  verdorbenen  Säfte,  nicht  gleich  dem 
Quantitätsbegrifte  der  Erregung  zum  schleunigem  oder  verzögerten  Wechsel. 
Dieser  Begriff  bedarf  einer  besondern  Aufmerksamkeit. 

Ganz  ohne  Veränderung  der  Gesundheit  liefse  das  Quantum  der  Er- 
regung sich  vermindert  denken,  wenn  der  lebende  Organismus  den  Zwang 
aushalten  könnte,  den  die  Versagung  aller  Lebensfunctionen  ihm  anthäte; 
und  wenn  alle  diese  Functionen  ganz  gleichmäfsig,  ohne  Verrückung  ihres 
Verhältnisses,  aufgehalten  werden  könnten.  Die  merkwürdigen  Beyspiele 
des  Scheintods  sind  schon  Krankheit;  hingegen  Fälle  von  gänzlich  zurück- 
gehaltenem,   und    doch    nicht   erloschenem    Leben    scheinen    bey   Thieren 


5.  Abschn.  Umrissed.  Naturphil.  2.Abth.  Analyt.  Unters.  6.Cap.  Phil.  Beleuchtung  etc.  387 

wirklich  vorhanden  zu  seyn.  Besonders  häufig  ist  die  Erzählung  von 
Kröten,  welche  [676]  lebten,  obgleich  sie  in  Holz-  und  Stein-Massen  ein- 
geschlossen waren.*  Sie  erinnern  an  die  Oliven,  die  man  neulich  noch 
kenntlich  in  Herculanum  fand.  Jahrhunderte  können  für  jene  eingeschlos- 
senen Tiere  ohne  Wechsel  verlaufen  seyn;  es  gab  dann  für  sie  selbst 
keine  Zeit.  Das  Gegenstück  zu  dieser  Verminderung  des  wechselnden 
Lebens  ist  die  Vermehrung;  allein  sie  geschieht  schwerlich  ohne  Krank- 
heit, man  müfste  denn  einen  wohlausgeschlafenen  Rausch  hieher  rechnen. 
Und  doch  giebt  weder  dies  Beyspiel  noch  das  von  Thieren,  die  man  in 
Sauerstoffgas  athmen  läfst,  vollständig  den  Begriff  einer  Beschleunigung 
ohne  Verrückung  der  Lebens- Verhältnisse;  denn  wo  die  Blutbewegung 
beschleunigt  wird,  nämlich  im  Rausche,  da  ist  schwerlich  das  Athmen  und 
Verdauen  und  die  Ernährung  mit  jener  gleichen  Schritt  gegangen;  und 
wo  die  Lungen  zur  gröfsten  Thätigkeit  aufgereizt  wurden,  nämlich  durch 
Sauerstoff,  da  ist  wohl  sicherlich  kein  gleichmäfsig  wirkender  Reiz  auf  die 
übrigen  Systeme  angewendet  worden.  Auch  kann  die  Beschleunigung,  falls 
sie  nicht  Krankheit  zur  notwendigen  Folge  haben  soll,  niemals  weiter 
gehn,  als  wie  weit  das  innere  Streben  sich  erhöhen  läfst;  darüber  hinaus 
mag  z.  B.  wohl  Sauerstoff  angeeignet  werden,  aber  das  ist  alsdann  ein 
chemischer  Procels,  der  das  Leben  nicht  fördert,  sondern  stört. 

Die  BROWNsche  Erregungstheorie,  welche  sich  auf  die  Hauptbegriffe 
der  Hypersthenie,  directen  und  indirecten  Asthenie  stützte,  mag  am 
Krankenbette  sehr  geschadet  haben:  allein  man  mufs  den  Begriffen  ein- 
räumen, dafs  ihre  Sonderung  klar  ist,  soviel  auch  an  der  Ausarbeitung 
und  gehörigen  Verknüpfung  mit  den  andern  physiologischen  Grundbegriffen 
zu  fehlen  scheint.  Daher  ist  wohl  kein  Wunder,  dafs  die  Ärzte  noch 
jetzt  [677]  Gebrauch  davon  machen.  „So  grofs  auch  der  Beyfall  war, 
den  das  BROWNsche  System  erhielt,  und  so  schnell  es  sich  auch  weit  ver- 
breitete: eben  so  schnell  wurde  doch  auch  die  Einseitigkeit  desselben  er- 
kannt; diese  suchte  man  durch  solidar-  oder  humoral-pathologische,  che- 
miatrische,  naturphilosophische  u.  a.  Sätze,  die  man  hinzufügte,  und  durch 
viele  mannigfaltige  Bearbeitungen  und  Veränderungen  der  Grundlehren  zu 
beseitigen,  und  bildete  so  die  iueonsequente,  eklektische  Erregungstheorie  aus, 
welche  in  unsern  Zeiten  am  ineisten   verbreitet  ist.  ** " 

Was  Erregung  sey,  sagte  Brown,  das  wissen  wir  nicht.  Was  Schwere 
sey,  hatte  Newton  gesagt,  das  wissen  wir  nicht.  Aber  nicht  Jedem,  der 
sich  begnügt,  den  Grundbegriff  seiner  Wissenschaft  ohne  tiefere  Unter- 
suchung anzuwenden,  ist  Newtons  Glück  beschieden.  Das  Schicksal  der 
BROWNschen  Lehre  kann  warnen.  Inkonsequenz  entsteht  überall,  wo 
ältere  Lehren,  die  man  nicht  ganz  verlassen  will,  und  doch  nicht  behalten 
kann,  durch  neue  Zusätze  nach  Gutdünken,  wohl  auch  nach  der  Mehrheit 
der  Stimmen,  abgeändert  und  gleich  alten  Kleidern  ausgebessert  werden. 
Vollständige  Untersuchung  hat  veste  Anfangspunkte  und  bestimmte  Me- 
thoden; sie  übereilt  sich  nicht  im  Deuten  der  Erfahrung;  und  sie  strebt 
niemals  nach  der  Mehrzahl  der  Stimmen. 


*  Treviranus,  Biologie,  zweyter  Band,  S.   n. 
**  Puchelt,  System  der  Mediän,  erster  Theil,  S.  38. 

25* 


?§5  I.    Allgemeine  Metaphysik  nebst  den  Anlangen  etc.     1829. 


Finden  sich  in  diesem  Buche  übereilte  Deutungen :  so  wird  die  Na- 
tur sie  zurückweisen;  und  es  lohnt  dann  nicht,  über  die  teleologischen 
Ansichten,  die  nicht  vergessen,  sondern  absichtlich  verschwiegen  wurden, 
etwas  beyzufügen.  Bestätigt  hingegen  die  Natur,  was  hier,  freylich  mit 
sehr  verschiedenen  Graden  des  Wissens  und  Vermuthens,  vorgetragen  ist: 
so  kehrt  die  Teleologie  [678]  von  selbst  in  ihre  alten  Rechte  wieder  zu- 
rück. Denn  diejenige  Art  von  Natur forschung,  welche  man  hier  findet, 
steht  ihr  sicher  nicht  im  Wege.  Sie  macht  nicht  den  mindesten  Anspruch 
zu  erklären,  wie  im  Menschen  und  in  Thieren  die  Muskeln  in  gehöriger 
Anzahl  und  Gestalt  an  die  rechten  Stellen  kamen;  sie  begnügt  sich,  nach 
der  Contraction  irgend  eines  vorhandenen  Muskels  zu  fragen,  und  darauf 
eine  wahrscheinliche  Antwort  zu  geben.  Auch  kann  man  alles,  was  hier 
über  das  Licht,  über  die  Nerven,  und  anderwärts  über  Mechanik  des 
Geistes  gesagt  worden,  zusammennehmen:  es  wird  nicht  eine  Spur  des 
Versuchs,  aus  dem  Triebe  oder  dem  Bedürfnis  des  Sehens  das  Auge  zu 
erklären,  sich  entdecken  lassen.  Völlig  fremd,  und  darum  völlig  unange- 
tastet, jedoch  nicht  etwan  aus  Nachlässigkeit  unberührt  geblieben,  sind  alle 
Fragen,  welche  der  Mensch  über  den  Ursprung  seines  Geschlechts  erhebt 
und  erheben  soll.  Die  Fragen  bleiben;  es  ist  auch  bekannt,  dafs  sie  zu 
einer  sehr  zahlreichen  Familie  gehören.  Für  ihr  Gewicht,  für  ihren  Um- 
fang, giebt  es  kein  Maafs.  Jeder  kennt  und  fühlt  sie;  der  Glaube  schafft 
Jedem  die  Antwort,  der  sich  nicht  widersetzt. 

Alle  menschliche  Wissenschaft  endet  mit  dem  lebhaftesten  Gefühl  von 
der  Geringfügigkeit  unseres  Wissens;  selbst  dies  Gefühl  aber  setzt  eine 
Art  von  Übersicht  dessen  voraus,  was  uns  fehlt.  Drey  Theile  lassen  sich 
in  dem  Gebiete  unseres  Nicht  -  Wissens  unterscheiden.  Der  erste  gehört 
den  künftigen  Erfahrungen,  sammt  den  Schlüssen,  zu  welchen  sie  einst 
führen  werden.  Von  ihm  hat  jede  Naturphilosophie  für  sich  zu  hoffen 
und  zu  fürchten.  Der  zweyte  begreift  in  sich  die  Erfahrungen,  für  welche 
es  einen  Schauplatz  giebt,  den  wir  nicht  erreichen  können.  Dorthin  er- 
strecken sich  noch  unsre  Vermuthungen ;  wir  erwarten  Starres  und  Flüs- 
siges, Licht  und  Schwere,  Electricum  und  Ca-[679]loricum,  auch  auf  an- 
dern Weltkörpern.  Wir  erwarten  dort  auch  andre  Vernunftwesen,  nur 
nicht  etwan  ausgerüstet  mit  andern  Formen  der  Erfahrung.  Hingegen 
möchten  wir  dort  die  Anfänge  dessen  finden,  was  auf  der  Erde  fremd  ist; 
das  Fremdeste  aber  auf  ihr  ist  der  Mensch.  Gesetzt  nun,  wir  fänden 
wirklich  den  Anfang  einer  Reihe  von  Ereignissen,  sofern  derselbe  als  Er- 
scheinung möglich  ist,  würden  wir  ihn  darum  auch  denkend  begreifen  und 
verstehen?  —  Vielmehr,  es  giebt  noch  eine  dritte,  unendlich  höhere 
Sphäre  unserer  Unwissenheit;  die  der  höhern  geistigen  Natur.  Sie  ist 
über   uns ;    aber   der  Abgrund  der  Schwärmerev  eröffnet   sich   neben  uns, 

7  0  •/ 

sobald  wir  uns  nicht  ausdrücklich  verbieten,  in  jene  uns  hineindenken  zu 
wollen.  Darum  bleibt  der  Glaube  im  Felde  der  praktischen  Ideen;  die 
Metaphysik  aber  versucht  sich  an  der  sichtbaren  Natur,  von  welcher,  wie 
sie  längst  weifs,  ihr  Bestätigung  oder  Widerlegung  bevorsteht. 


ANHÄNGE 


ZUR 


ALLGEMEINEN  METAPHYSIK. 


Anhang      I :   Fragment  eines  Schlusses  der  Metaphysik. 

Anhang     II :  Die  Rezension  der  Allgemeinen  Metaphysik  von  Prof.  Dr.  Brandis  in  Breslau. 
Anhang   III:  Zwei  Entwürfe  zu   einem  beabsichtigten    Sendschreiben  an  Brandis,    den 
Recensenten  der  Allgemeinen  Metaphysik. 

A.  Erster  Entwurf:  drei  Briefe. 

B.  Zweiter  Entwurf:  Über  das  Verhältnis  des  Idealismus  zur  Pädagogik. 
Anhang  IV:  Zwei  Worte  über  Naturphilosophie. 

Anhang    V:  A.   Strümpels  metaphysisches  Bedenken. 

B.  Herbarts  Entgegnung  auf  ein  metaphysisches  Bedenken  von  Strümpell. 
Anhang  VI:   Herbarts  Entgegnung  auf  die  Einwürfe  des  Herrn  N. 


Anhang  I. 

Fragment  eines  Schlusses  der  Metaphysik. 

Text  nach   SW  IV,   615  —  619. 
(Bereits  gedruckt  Kl  Seh  III,    171  — 174.) 


Wohl  möchte  jemand  den  Gedanken  fassen,  über  alle  bisher  be- 
trachteten Verhältnisse  hinaus  ein  unendliches  zu  setzen,  dem  vermöge 
einer  ursprünglichen  Verknüpfung  alle  jene  untergeordnet  seyen.  Dem 
Mathematiker  ist  es  geläufig,  in  seinen  Formeln  den  Wert  eines  Zeichens 
unendlich  grofs  anzunehmen ;  alsdann  pflegen  die  Formeln  sich  plötzlich 
so  zusammenzuziehen  und  zu  verändern,  dafs  man  ihre  vorige  Gestalt  nicht 
mehr  erkennt.  Wenn  es  gelänge,  infolge  solcher  Beispiele  den  Gegenstand 
des  Glaubens  zu  erreichen:  so  würden  wir  zwischen  ihm  und  dem  mensch- 
lichen Wissen  einen  Übergang  erblicken.  Allein  wie  sollte  uns  dies  bei  einem 
Gegenstand  gelingen,   der  uns  unendlich   fern  liegt? 

Wollten  wir  uns  einer  Dreistigkeit  hingeben,  der  schon  so  manches 
System  sein  Dasein  verdankte :  so  würden  wir  zuerst  bemerken,  dafs  aus 
einem  unendlichen  Abstände  der  ursprünglichen  Qualität  eine  unendliche 
Energie  der  innern  Bestimmungen  fliefst.  Aus  der  Lehre  von  den  Selbst- 
erhaltungen versteht  sich  von  selbst,  dafs  an  ein  Aufnehmen  irgend  welcher 
fremdartiger  Bestimmungen  ohnehin  nicht  zu  denken  ist;  alles  Geschehen 
und  alle  Gestaltung  aber  würde  sich  nach  jener  unendlichen  Energie  richten 
müssen ;  und  nun  erst  würde  von  andern  Dingen,  welche  bestimmte  Eigen- 
schaften hätten,  die  Rede  sein  können.  Der  Begriff  des  blofsen  Sein,  in- 
sofern die  Wissenschaft  ihn  dem  wirklichen  Geschehen,  samt  den  Formen 
desselben,  voranstellt,  kann  hier  gar  nicht  mehr  in  Betracht  kommen;  man 
weifs  längst,  dafs  das  Sein  ohne  die  Wirklichkeit  des  Geschehens  lediglich 
eine  Abstraktion  ist,  welche  in  das  Nichts  der  Hirngespinste  zurücksinkt. 
Da  man  sich  wegen  aller  geistigen  Eigenschaften  nur  an  die  unvermeid- 
liche Analogie  mit  menschlicher  Psychologie  wenden  könnte:  so  würde 
man  den  Übergängen,  welche  dort  die  Stufen  der  Bildung  bezeichnen, 
hier  eine  unendliche  Geschwindigkeit  zuschreiben,  welches  soviel  heifst,  als 
jeden  Zeitverlauf  gleich  Null  setzen,  und  das  Höchste  als  unmittelbar  vor- 
handen  betrachten. 

Allein  der  Verfasser  fühlt  sich  nicht  im  stände,  länger  fortzufahren. 
Das  anstöfsige  der  Künstelei,  solchen  Theorien,  die  nur  für  Gegenstände 
unserer  menschlichen  Nachforschung  erfunden  waren,  eine  Ausdehnung  zu 
geben,    bei    der    sie    auch    im   Unendlichen   noch  passen  sollen,    ist  ebenso 


392  Anhang  I.  

unerträglich  widerlich,  als  andererseits  klar  ist,  dafs  dennoch  alle  Systeme, 
worin  Glauben  und  Wissen  vermengt  wird,  auf  ähnliche  Abwege  geraten 
müssen.  Ein  Geist  ist  für  uns  allemal  ein  Analogon  des  menschlichen 
Geistes;  ein  Wesen,  von  dem  Naturwirkungen  ausgehen,  begaben  wir  un- 
vermeidlich mit  einem  Causalverhältnis,  worin  die  Begriffe  von  Grund  und 
Folge,  da  sie  nicht  blofs  eine  logische,  sondern  eine  reale  Bedeutung  an- 
nehmen  sollen,   sich  den  Wirkungen  anpassen,    die    wir  vor  Augen    sehen. 

Die  grübelnde  Neugier,  welche  sich  des  höchsten  Gegenstandes  theo- 
retisch bemächtigen  will,  anstatt  ihn  nach  praktischen  Ideen  zu  bestimmen, 
—  ist  dem  Verfasser  von  jeher  so  fremd  gewesen,  dafs  in  demselben 
Augenblick,  wo  er  seine  eigene  Metaphysik  versuchsweise  einem  solchen 
Mifsbrauche  unterwirft,  sie  sich  ihm  unwillkürlich  entfremdet.  Es  fällt  ihm 
nun  zuerst  ein,  was  wohl  im  Laufe  der  Zeit  aus  ihr  werden  möge,  und 
ob  sie  sich  den  Physikern  brauchbar  zeigen,  ob  sie  bei  genauerer  Ver- 
gleichung  mit  den  Erfahrungen  und  Beobachtungen  bestehen,  oder  in 
welchen  Punkten  man  sie  berichtigen  werde?  Jeder  Mathematiker  ist  im 
nämlichen  Falle,  wenn  er  Berechnungen  gemacht  hat,  welche  mit  Ex- 
perimenten sollen  verglichen  werden.  Die  Rechnung  mag  in  sich  selbst 
wohl  zusammenhängen;  sie  mag  vollkommen  fähig  sein,  gegen  andere 
Rechner  verteidigt  zu  werden;  aber  wer  wird  darum  das  Experiment  für 
überflüssig  halten?  Ohne  Bestätignng  durch  das  unmittelbar  und  unwill- 
kürlich Gegebene  bleibt  die  Rechnung  ein  Hirngespinst;  man  versagt  ihr 
in  Beziehung  auf  reale  Anwendung  das,  wovon  soeben  die  Rede  war, 
nämlich  den  Glauben!  Dieser  liegt  stets  in  andern  Gedankenreihen  als 
das  Wissen,  und  erfordert  eine   andere  Ausbildung. 

Nach  metaphysischen  Grundsätzen  kann  man  nicht  einmal  sein  Haus- 
wesen regieren;  nicht  seine  gesellschaftlichen  Pflichten  erfüllen.  Sondern 
man  wird  durch  die  Geschäfte  des  Lebens  unterbrochen  im  Denken;  und 
aus  dem  spekulativen  Kreise  wird  man  genötigt  herauszutreten.  Angelangt 
in  der  Sphäre  des  geselligen  Daseins,  befinden  vvir  uns  nun  auf  dem  Boden 
des  religiösen  Glaubens,  der  uns  tröstet,  wenn  wir  leiden,  uns  ermahnt, 
wenn  wir  fehlen.  In  ihm  sind  wir  aufgewachsen,  und  aus  der  Spekulation 
wie  aus  einem  Traume  erwachend  kehren  wir  unvermeidlich  zu  ihm  wieder. 
Er  übt  in  uns  die  Gewalt  der  Erfahrung;  die  Systeme,  wo  sie  mit  ihm 
in  Konflikt  geraten,  beugen  sich,  oder  ziehn  sich  zurück.  Warum  aber 
soll  man  darauf  warten?  Es  ist  besser,  willig  sich  den  Zurechtweisungen 
der  von  den  Physikern  so  sehr  bereicherten  Erfahrung  zu  überlassen; 
welche  verständlicher  sind,  in  Hinsicht  der  Punkte,  bei  welchen  man  zuerst 
wird  gefehlt  haben. 

Im  Grunde  glauben  wir  alle  an  Einen  Gott.  Es  ist  immer  zuerst 
die  Idee  der  Güte,  durch  welche  wir  den  Höchsten  zwar  als  väterlich  mit 
uns  verwandt,  aber  nicht  als  für  sich,  sondern  als  für  uns  sorgend,  aufser 
uns  sehen ;  daher  ist  Gott  in  der  Sprache  der  Metaphysiker  ein  ens  e.xtra- 
mundanum.  Es  ist  ferner  die  Idee  der  Weisheit,  (Einstimmung  der  Ein- 
sicht und  des  Willens,)  wodurch  wir  zu  dem  bekannten  unvermeidlichen 
Anthropomorphismus  genötigt  werden,  Bewußtsein  und  Willen  aus  unserer 
innem  Erfahrung  herzuholen,  um  in  unsrer  Vorstellung  von  Gott  den  ersten 
Haltungspunkt    zu    finden.     Es    ist   die  Idee    der  unendlichen  Macht,    wo- 


Fragment  eines  Schlusses  der  Metaphysik.  393 


durch    wir    zwar    die   Relation  Gottes    zur  Welt,    aber    nicht    die    geringste 
innere   Bestimmung  seiner  Qualität  erreichen. 

Wir  wollen  jetzt  nicht  fragen,  ob  der  Mensch  zu  diesem  System  von 
Relationen  das  Absolute  finden  könne?  Wir  wollen  nur  fragen,  ob  ein 
menschliches  Gemüt  es  ertragen  würde,  hier  eine  theoretische  Auffassung 
an  der  Stelle  der  ästhetischen  zu  erhalten.  Mufs  uns  nicht  jene  Fabel 
von  der  Semele  einfallen,  die  sich  ihr  Verderben  erbat?  Sind  wir  nicht 
o-enuo-  gewarnt  durch  die  widrigen  Eindrücke  des  Spinozismus,  und  durch 
die  fühlbare  Schwäche  der  Theodiceen? 

Die  Erfahrung,  mächtiger  als  die  Systeme,  und  unbekümmert  um 
deren  Dank  oder  Undank,  sorgt  dafür,  dafs  aus  unserer  ästhetischen  Auf- 
fassung, —  welche  für  sich  allein  dem  Zweifler  als  ein  poetisches  Bild 
erscheinen  möchte,  —  eine  theoretische  werde,  in  sofern  wir  dies  ertragen 
können.  Der  gestirnte  Himmel,  und  der  Bau  des  Leibes,  dies  sind  keine 
Fictionen  der  Dichter.  Jener  schreckt  uns  durch  die  Gröfse  unserer  Un- 
wissenheit; dieser  zwingt  den  Witz  der  Physiologen,  dafs  sie  oft  genug 
selbst  wider  Willen  einstimmen  müssen  in  die  Sprache  der  teleologischen 
Naturbetrachtung. 

Niemals  wird  die  Teleologie  entbehrlich  werden;  aber  auch  niemals 
wird  sie  feste  Grenzen  erlangen.  Bald  wird  man  zuviel  behauptet,  bald 
wiederum  zuviel  zurückgenommen  haben;  das  Zurücknehmen  wird  sich 
ebenso  wenig  rechtfertigen  lassen,  als  die  Übertreibungen  des  Behauptens. 
Nur  soviel  ist  klar,  dafs  von  allen  obigen  Betrachtungen  über  Physiologie 
und  Physik  auch  nicht  das  mindeste  weiter  reicht,  als  bis  zur  Erklärung 
des   Fortbestehens,  wenn  der   Anfang  schon   vorhanden  war. 

Dabei  darf  man  nicht  vergessen,  dafs  die  Formen  der  Erfahrung  nicht 
vollständig  anfgefafst  sind,  so  lange  die  gegebene  Form  des  Zweckmässigen 
nicht  mit  in  der  Auffassung  begriffen  war.  Alle  Naturbetrachtung,  die 
unser  Streben  zum  Wissen  beschäftigen  kann,  schwebt  immerfort  im  Ge- 
biete der  unvermeidlichen  Abstraktion.  Und  alle  wirkliche  Erfahrung 
schwebt  wie  ein  unendlich  Kleines  im  Reiche  einer  uns  versagten  möglichen 
Erfahrung. 

Der  Mensch  sieht  sich  selbst  als  ein  Kunstwerk.  Er  vermutet  auf 
jedem  Planeten,  auf  jedem  Weltkörper  ähnliche  und  gröfsere  Kunstwerke 
mit  Recht.  Er  weifs,  dafs  bei  jedem  Versuch  der  Erklärung  ihn  die 
Analogie  mit  menschlicher  Kunst  durchaus  verläfst.  Jeder  weifs  das;  nie- 
mand verlangt  es  von  den  Philosophen  zu  lernen.  Das  tiefe  Meer  unserer 
Unwissenheit  wirft  hie  und  da  schäumende  Wellen;  aber  diese  bleiben  auf 
der  Oberfläche. 

So  nahe  liegt  uns  die  Grenze  unseres  Erkennens,  dafs  wir  nicht 
wissen  woher  wir  stammen.  Den  Ursprung  des  Menschen  erfährt  kein 
Mensch.  Den  Vater  zu  erblicken  sind  wir  nicht  wert,  und  zu  schwach. 
Wir  sollen  uns  von  ihm  kein  Bild  machen.  Wir  sollen  nicht  schauen, 
weder  mit  den  Augen  des  Leibes  noch  des  Geistes.  Wir  sollen  glauben. 
Würden  diese  Zügel  uns  abgenommen  :  wohin  möchte  des  Menschen  Über- 
mut sich   versteigen ! 


■2  Q4      Anhang  II.    Die  Rezension  der  Allgem.  Metaph.  von  Prof.  Dr.  Brandis  in  Breslau. 

Anhang  IL 

Die  Rezension  der  Aligemeinen  Metaphysik  von  Prof.  Dr.  Brandis  in  Breslau. 

(Text  nach  der  Allgemeinen  [Hallischen]  Literatur-Zeitung.  No.  141  — 145,  Spalte48i  —  5 1 7.) 


Der  zweite  Teil  der  Herbartschen  Metaphysik  ist  dem  ersten  rasch  gefolgt,  aber 
—  dafür  zeugt  die  Gediegenheit  und  der  Reichtum  seines  Inhalts  —  die  Frucht  viel- 
jähriger Forschung,  nicht  das  Werk  der  kurzen  Frist,  die  zwischen  seiner  und  des 
ersten  Bandes  Erscheinung  in  der  Mitte  liegt.  Je  entschiedener  und  lebhafter  Rez.  das 
anerkennt  und  diese  metaphysischen  Untersuchungen  als  das  gereifte  Erzeugnis  hervor- 
ragender, von  reiner  Liebe  zur  Wahrheit  geleiteter  Geisteskraft  hochhält,  um  so  mehr 
fühlt  er  sich  zu  äufserster  Behutsamkeit  in  der  Beurteilung  aufgefordert  und  ist  weit 
entfernt  seine  Einwendungen  für  etwas  anderes  als  die  Einleitung  zu  gegenseitigen  Er- 
örterungen über  die  schwierigsten  Probleme  der  Spekulation  zu  halten.  Dabei  nicht 
etwa  mit  verkleinerndem  Vorurteil,  vielmehr  mit  der  Vorliebe  verfahren  zu  sein,  die 
tief  begründete  Achtung  für  den  Verf.  seit  lange  in  ihm  genährt  hat,  —  ist  er  sich  leb- 
haft bewufst.  Er  wird  den  Inhalt  des  ganzen  Buches,  soweit  er  der  allgemeinen  Meta- 
physik angehört,  den  Lesern  dieser  Blätter  im  Abrifs  vorlegen ;  mit  seinen  Einreden 
aber  sich  auf  die  Haupt-  und  Angelpunkte  beschränken.  Darlegung  und  Würdigung 
der  der  allgemeinen  Metaphysik  beigefügten  Anfänge  der  philosophischen  Naturlehre 
mufs  er  sachkundigem  Gelehrten  überlassen.  Dem  Grundrifs  gemäfs,  den  wir  aus  dem 
ersten  Teile  kennen,  wird  unsere  Aufmerksamkeit  zuerst  für  die  Methodologie  vom  Verf. 
in  Anspruch  genommen. 

Auch  die  Empirie  giebt  zu,  dafs  der  Geist  die  zerstreuten  Glieder  der  Erfahrungen 
zu  verbinden,  aus  ihnen  Gesetze  zu  folgern  habe,  um  spätere  lhatsachen  den  früheren 
anzureihen,  ja  mit  Hülfe  der  Theorie  in  der  Zukunft  zu  lesen;  sie  verbietet  aber  das 
Gegebene  zu  überschreiten,  von  der  Theorie  zum  System  überzugehn  und  bemerkt  nicht, 
dafs  die  Erfahrung  gewisse  Voraussetzungen  fordert,  welche  zu  ihr  als  notwendige  Er- 
gänzungen gehören.  Um  diese  mit  wissenschaftlicher  Bestimmtheit  und  Vollständigkeit 
aufzufinden  und  vermittelst  ihrer  den  wahren  Grund  der  Erfahrung,  versucht  die  Speku- 
lation eine  Konstruktion  von  Begriffen,  die,  wenn  vollständig  ausgemittelt,  das  Reale 
darstellen  müfsten,  wie  es  den  Erscheinungen  zu  Grunde  liegt.  Sie  sieht  sich  daher 
nach  einer  Methode  um,  die  ersten  Gründe  aller  Erfahrung  zu  ergreifen ;  sucht  aus- 
zumachen, wie  das  Gegebene  frei  von  aller  Verfälschung  aufzufassen  sei,  wie  aus  ihm 
als  den  Folgen  die  Gründe  zu  finden  und  wie  aus  den  Gründen  das  Gegebene  zu  be- 
greifen. Die  Methodologie  zerfällt  mithin,  nach  ihren  drei  Hauptaufgaben,  in  drei  Ab- 
schnitte. 1)  Das  Gegebene  mufs  in  höchster  Allgemeinheit  aufgefafst  werden,  damit 
die  zu  findenden  Gründe  sich  auf  das  ganze  Gebiet  der  Erfahrung  erstrecken ;  nur  mufs 
es  seiner  Allgemeinheit  unbeschadet,  auf  das  Wirkliche,  unmittelbar  oder  mittelbar, 
sich  beziehn,  daher  von  allen  leeren  Abstraktionen  frei  sein.  Das  Wirkliche  aber  sind 
Dinge  mit  mehreren  und  veränderlichen  Merkmalen ;  in  ihm  ist  der  Stoff  oder  das  Em- 
pfundene ohne  alle  Widerrede,  jedoch  auch  die  Form  in  so  fern  gegeben,  inwiefern  wir 
sie  am  Empfundenen  keinesweges  willkürlich  wechseln  lassen,  uns  vielmehr  an  ihre 
jedesmalige  Bestimmtheit,  d.  h.  an  die  Art,  wie  die  Empfindungen  sich  gruppieren  und 
verknüpfen,  gebunden  finden:  so  dafs  alle  Ableitung  der  Formen  der  Erfahrung  aus  ur- 
sprünglichen Formen  des  Erkenntnisvermögens  die  jedesmal  bestimmte  Wirklichkeit  der 
Erfahrung  aufhebt.  2)  Die  Frage,  wie  kann  aus  dem  Gegebenen  gefolgert  werden, 
damit  unser  Wissen  fortschreite  (S.  24  ff.)?  —  nicht  zu  beantworten  durch  Berufung 
auf  Selbstbeobachtung  und  wiederholendes  Denken  (vgl.  B.  I.  S.  243  ff.)  oder  auf 
intellektuale  Anschauung,  —  fällt  mit  der  Frage  zusammen,  wie  vielfach  Gründe  und 
Folgen  zusammenhängen  können.  Die  Folge  soll  in  dem  Grunde  liegen  und  zugleich 
von  ihm  gesondert,  ein  Neues  enthalten;  sie  kann  sich  daher  zum  Grunde  nicht  ver- 
halten wie  das  Besondere  zum  Allgemeinen,  eher  umgekehrt  wie  das  Allgemeine  zum 
Besondern;  aber  blofse  Subalternation  kann  zu  keiner  Erweiterung  des  Wissens  führen. 
In  der  Mathematik  schreitet  unsere  Ker.ntnis  durch  Ableitung  der  Folgen  augenscheinlich 
fort,  aber  indem  wir  wie  beim  Pythagorischen  Lehrsatze  und  bei  Auflösung  von 
Gleichungen,   durch   Hülfslinien  und  zufällige  Ansichten  den   Grund  erweitern,   oder  auch 


Die  Rezension  der  Allgem.   Metaphysik  von  Prof.   Dr.   BRANDIS  in   Breslau.      3  95 


die  in  der  Aufgabe  schon  liegenden  Begriffe  mit  bestimmter  Absicht  weiter  entwickeln, 
und   so  den  ganzen   Grund    und    die  ganze  Folge    statt    dessen    finden,    was    sich    zuerst 
unvollständig    als    Grund    und    Folge    gezeigt    hatte.      Ebenso    bedarf,     was    uns    in    der 
Physik  als   Grund  erscheint,    sehr  häufig  noch  einer  Ergänzung,    um  den    ganzen   Grund 
zu  ergeben.     Die   Begründungsweise    in    der  Mathematik    und  Physik    zeigt    daher,    dafs 
die  Folge  wohl  nur  ein  Teil  des  Grundes  und    der   ganze  Grund   ein  System    von  Be- 
griffen sein  müsse,    ,,in  welches    man  durch  ein  gewisses  Thor,    welches  für  den  Grund 
gehalten  wird,    hineingeht   und    zu    einem    andren  Thor,    das    man  Folge    nennt,    wieder 
herauskommt"  (S.   36);   oder  dafs  das,    was  man  den  Grund  zu  nennen  pflegt,    nur  ein 
Teil  eines  gröfseren  Ganzen  sei;  so  dafs  dann  teils  aus  einem  Grunde  eine  Menge  von 
Folgen  abgeleitet  werden  kann,    teils    der  Grund  sich    als  zusammengesetzt  erweist   und 
kraft  seiner  Zusammensetzung  die  Folgen  erzeugen,  und  die  Folge  wenigstens  eine  neue 
Verbindung  solcher  Begriffe  darstellen  mufs,    die    einzeln    genommen    schon    im   Grunde 
lagen.     Besteht   nun    die  Folge   lediglich   in    einer   neuen  Verbindung,    so    unterscheidet 
sie  sich   nur    der  Form,    nicht  der  Materie    nach  vom  Grunde,    wie  im    logischen  Syllo- 
gismus,   in  welchem    die  Folge    in    zwei  Teile    (die  Haupttermini),    der    Grund    in    drei, 
(die   Haupttermini  und  den  Mittelbegriff)   auseinandertritt.     Aber  wie  sehr  wir  auch  den 
Syllogismus    durch   Reihen   von  Mittelsätzen    erweitern    mögen,    immer  wird  diese  Form 
der  Folgerungen  im  Gebiete  der  Wissenschaften,    namentlich  der  Mathematik,    sehr  un- 
genügend bleiben,  und  sich  nur  auf  Ausdruck  der  Verhältnisse  der  Inhärenz  beschränken, 
für  alle  darüber   hinausgehenden  Verhältnisse   unzureichend  sein.     Um    den  Zusammen- 
hang von  Grund  und  Folge    auch    da  zu  begreifen,    wo   letztere  von    ersterem    zugleich 
materiell  nicht  blofs   formell  verschieden  ist,   erwägen   wir  den  Grund  vor  dem  Entstehn 
der    Folge,    und    wie    diese   aus    ihm    hervorbricht.      „Der    ganze    Grund    ist    als   Vorrat 
schon   da,    aber  noch  nicht  beisammen  oder  nicht    gehörig    bearbeitet"  (S    43),    und    die 
Folge  als  ein    unbekanntes  x   mit   ihm    in  Beziehung:    für   dessen  Auffindung    wir    eine 
allgemeine   Regel  als   Methode  der  Beziehungen  auszumitteln    suchen.      Zur    Entdeckung 
der  Folge    s?hen  wir    uns  genötigt  den   Grund  einer  Bearbeitung  zu  unterziehen,    so   oft 
der  Versuch  ihn  im  Denken  festzustellen  uns  in  Widersprüche  verwickelt,  die  entweder 
durch  blofse  Scheidung  der  schon  vorhandenen   Gedanken   (durch  Distinktion,   wie  beim 
Begriff  der  Pflicht)  oder  durch  Ergänzung  des  Begriffs   sich  auflösen   lassen.     Der  Wider- 
spruch oder  Grund  ergiebt  sich  dabei  als  Anfang,    die  Ergänzung    des  vorliegenden  Be- 
griffs   als    die  Mitte    und   die    Unterscheidung,    zur   Lösung   des    Widerspruchs,    als    das 
Ende.     Der  Widerspruch   ist  Grund  nicht  wo    man  durch  logische  Schlufsformeln   fort- 
schreiten  kann,   oder  wo   er  vollkommen  an  seiner  rechten  Stelle  ist,   wie  im  Begriff  der 
unmöglichen  Gröfsen,  sondern  bei  Begriffen  wirklicher  Dinge,    wo  vermittelst  desselben 
das   Nachdenken  in  eine  andere   Richtung  gedrängt   werden  mufs,  um   zu  Resultaten  zu 
gelangen,    und  die  Folge  auch    der  Materie    nach    sich    vom   Grunde    unterscheidet.      Zu- 
nächst mufs    ein    solcher   Widerspruch    zur  Trennung    der  Einheit   uns  treiben,    die    das 
Entgegengesetzte  verknüpfen    soll  und  nicht    kann.      Aber    soll    der  Begriff   denkbar  zu- 
gleich und  gültig,    der  Logik    und    dem  Gegebenen    angemessen    sein,    so    können    nicht 
ein  und  demselben  Gliede  die  entgegengesetzten  Prädikate  zukommen,   sondern  statt  des 
Einen    müssen    mehrere    gesetzt    werden,     wovon    jedes    einzelne    für    sich    genommen 
wiederum  den  ganzen  Widerspruch  in  sich  enthält,  so  dafs  wir  jene  mehreren  zusammen- 
zufassen und  anzunehmen  uns  genötigt  sehen,  jedes  der  verschiedenen  (M),   nicht  einzeln, 
sondern  als  zusammen   mit  den  andren  (M),   sei  gleich  der    Einheit   (N).     So  haben  wir 
also  zur  Beseitigung  des  Widerspruchs,    der  in    der    angenommenen   Einheit  von   Grund 
und  Folge  liegt,    den   Grund  in   eine  Mehrheit  von   Gliedern,    in   Gründe,    aufgelöst    und 
mehrere  zusammengehörige  und  gegenseitig  durch  einander  umgeänderte  Gedanken   (nicht 
blofs  ihre  Summe)  als  den  ganzen  Grund  gesetzt.     „Der  hier  angedeuteten  Methode  der 
Beziehungen    können  wir    ganz  entbehren,    wenn   man    in    den    einzelnen    (sehr  wenigen) 
Fällen,   auf  welche   sie  pafst,    genau  genug    dem  Antriebe    folgt,    der    in    den   Problemen 
selbst  enthalten    ist"   (S.   60).      Sie  wird    zunächst   in    der  Ontologie    und  zwar    bei    dem 
ersten  eigentlichen  Prinzip  der  Metaphysik,  dem  Begriff  des  Dinges  mit  mehreren  Merk- 
malen, zur  Anwendung  kommen  und  nimmt,  sowie  die  Mathematik  ohne  Wechsel  der 
Ausdrücke  nicht   fortschreiten   kann,   die  Kunst  der  zufälligen   Ansichten   zu   Hülfe.    Das 
wie  aber  und  überhaupt  der  dritte  Abschnitt  der  Methodologie,   als  Anweisung  aus  den 
Gründen  das  Gegebene  zu  begreifen,    läfst  sich  nur  in  der  Anwendung  selber  hinlänglich 
ins  Licht  setzen. 

Seine    Bemerkungen    über    diese    Grundzüge    einer    metaphysischen    Methodologie 


396 Anhang   II. 

leitet  Rez.  durch  Vergleichung  derselben  mit  den  Lehren  der  allgemeinen  Logik  ein. 
Zwei  Verbindungsweisen  von  Grund  und  Folgen  treten  sehr  bestimmt  auseinander;  in 
der  einen  sind  letztere  einzeln  genommen  schon  in  ersterem  enthalten,  und  es  bedarf  nur 
einer  Zergliederung  (Analysis),  um  die  Folgen  als  im  Grunde  mitgesetzt  nachzuweisen. 
Die  einfachste  Form  dieser  Zergliederung  ist  der  Schlufs  und  in  ihm  der  Mittelbegriff 
oder  was  ihm  entspricht,  nur  ein  Hülfsmittel,  um  die  notwendige  Zusammengehörigkeit 
der  Teile  des  Grundes  darzuthun,  daher  im  Schlufssatz,  wo  diese  für  sich  als  Folgen 
zusammentreten ,  nicht  mitaufgenommen.  In  analytischen  Folgerungen  ergeben  sich 
mithin  die  Folgen  als  identisch  dem  Grunde,  und  der  Satz  vom  zureichenden  Grunde 
löst  sich,  auf  sie  angewendet,  in  die  Grundsätze  der  Identität  und  des  Widerspruchs 
auf.  Eine  von  diesen  verschiedene  Gattung  und  ein  eigentümliches  Gebiet  gewinnt  da- 
gegen der  Satz  vom  zureichenden  Grunde,  wenn  gefolgert  wird,  ohne  dafs  die  Folgen 
schon  materiell  im  Grande  enthalten,  d.  h.  durch  blofse  Anwendung  der  Grundsätze  der 
Identität  und  des  Widerspruchs  daraus  abzuleiten  wären:  aut  die  Weise  aber  wird  in 
jeder  Synthesis  gefolgert,  als  deren  Prinzip  daher  der  Satz  vom  zureichenden  Grunde 
in  engerer  oder  eigentlicher  Bedeutung  zu  betrachten  ist.  Sobald  der  Grund  mit  seinen 
Folgen  synthetisch  gefunden  ist,  mag  es  durch  Ergänzung  oder  anderweitige  Bearbeitung 
derselben  geschehen  sein,  können  wir  uns  der  analytischen  Entwickelungsformen  be- 
dienen ;  und  der  Syllogismus  zwar  keinesweges  zureichend  um  alle  Begriffsverbindungen 
und  Folgerungen  auszumitteln,  ist  wohl  geeignet  die  gefundenen  als  solche  nachzuweisen. 
Was  unser  Verf.  von  der  Unzulänglichkeit  des  Syllogismus  sagt,  scheint  uns  daher  gegen 
die  Anmafsung  durch  ihn  die  Synthesen  selber  zu  entdecken  und  ausschliefslich  die 
Wissenschaft  zu  stände  zu  bringen,  vollkommen  treffend;  in  Bezug  auf  die  analytische 
Entwickelung  des  synthetisch  gefundenen  dagegen  der  Einschränkung  zu  bedürfen.  Dafs 
der  Schlufs  sich  auf  Ausdruck  der  Verhältnisse  der  Inhärenz  beschränke,  können  wir 
nicht  zugeben,  weil  sich  diese  weder  in  der  hypothetischen  noch  in  der  disjunktiven 
Schlufslorm  finden,  und  alles  wohl  erwogen,  was  der  Verf.  a.  a.  O.  für  Aufhebung  des 
Unterschieds  der  entsprechenden  Urteilsformen  gesagt  hat,  wir  einen  solchen  doch  immer 
noch  anerkennen  müssen.  Wie  die  an  sich  analytischen  Formen  dem  synthetischen 
Verfahren  dienen  können  und  müssen,  wird  in  der  That  auch  durch  des  Verf.s  Be- 
merkungen nur  noch  einleuchtender.  In  analytischer  wie  in  synthetischer  Begründung 
soll  nachgewiesen  werden,  wie  die  Teile  des  Grundes  zu  trennen  oder  zu  verbinden, 
um  die  Folge  zu  ergeben  ;  in  der  einen  wie  in  der  andern  können  sie  nur  nach  Aus- 
scheidung alles  Widerspruchs  für  die  Folgerung  verbunden  werden.  Aber  das  Ver- 
hältnis der  zu  verbindenden  oder  zu  trennenden  Glieder  des  Grundes  ist  in  der  Syn- 
thesis und  Analysis  ein  verschiedenes,  und  danach  auch  die  Art  den  Widerspruch  nach- 
zuweisen und  zu  beseitigen.  Schwerlich  möchte  es  uns  je  gelingen,  die  allgemeingültigen 
und  notwendigen  Synthesen  auf  Analysen  völlig  zurückzuführen  :  wohl  aber  finden  wir 
Ausdrücke  für  sie  in  den  Formen  der  Analyse,  so  gewifs  wir  die  Faktoren  jener 
irgendwie  miteinander  verbinden  müssen,  wollen  wir  uns  nicht  in  Widersprüche  mit 
uns  selber  verwickeln :  denn  nur  da  findet  reine  Synthesis  statt,  wo  das  kontradikto- 
rische Gegenteil  undenkbar,  d.  h  in  sich  widersprechend  ist ;  und  durch  Identität  und 
Widerspruch  werden  alle  analytisch  logischen  Formen  bedingt:  so  dafs  diese  entweder 
noch  nicht  vollständig  entwickelt  oder  im  stände  sein  müssen,  alle  möglichen  synthetischen 
wie  analytischen  Begriffsbeziehungen  auszudrücken.  Als  dem  vermittelnden  Denken  an- 
gehörig und  bestimmt  zu  definitiven  Verknüpfungen  und  Trennungen  erst  zu  führen, 
haben  auch  in  der  That  die  den  logischen  Grundformen,  wofür  wir  die  kategorische, 
hypothetische  und  disjunktive  immer  noch  halten  müssen,  entsprechenden  Verbindungs- 
weisen teils  eine  Weite,  teils  eine  Fähigkeit  ineinander  überzugehen,  wodurch  sie  zum 
Ausdruck  der  mannigfaltigsten  synthetischen  Begriffsverhältnisse  sich  eignen.  Allerdings 
ist  das  Eigentümliche  der  kategorischen  Form  das  Verhältnis  der  Inhärenz,  aber  dieses 
durchaus  nicht  schon  metaphysisch  bestimmt,  vielmehr  ist  diese  Form  nur  der  Aus- 
druck einer  innern  Verbindung  und  wird  ergänzt  durch  die  hypothetische  Form  als 
Ausdruck  einer  äufsern  Verbindung;  beide  finden  aber  in  der  disjunktiven  ihre  Ver- 
mittelung.  Schwerlich  möchte  eine  Synthese  nachzuweisen  sein,  die  nicht  einer  jener 
drei  Vei bindungsweisen  und  ihien  Erweiterungen  sich  subsumieren  liefse;  und  gewils 
war  der  Grundgedanke  der  Kantschen  Kategorientafel  treffend  und  bedeutend,  in  den 
Hauptmomenten  dieser  Formen  müfsten  sich  die  Grundbegriffe  aller  Synthesen  finden, 
so  irreleitend  auch  der  Schlufs  war,  sie  lägen  schon  als  solche  hinlänglich  entwickelt 
in  den  Momenten  der  Urteilsformen  zu  Tage,  welche  die  Logik  für  ihre  Zwecke,  ohne 


Die  Rezension  der  Allgem.  Metaphysik  von  Prof.  Dr.  Bkandis  in  Breslau.      3  g  7 


alle  Rücksicht  auf  Objekte  und  ihre  Erkennbarkeit,   aufgestellt  hatte.     Höchst  fruchtbar 
war  ebenso   Kants  Frage  nach  der  Möglichkeit  synthetischer  Urteile  a  priori,   und   wohl 
ohne  Zweifel  auch  für  unsern  Verf.  der  Entwickelungskeim  seiner  Methodologie.     Aber 
eben  hier  möchte   Rez.  ihn  zu  ergänzenden  und   erläuternden  Ausführungen  veranlassen. 
Grundlinien   zu  einer  Synthetik  für  Mathematik,   Ethik  und  Metaphysik   finden   sich   teils 
in  dem  vorliegenden  Werke,  teils  in  früheren  Schriften  des   Verf.s,   und  Entwickelungen 
derselben   gewifs    in  seinem   Geiste,    wenn  auch    nicht    zu  Papier    gebracht.      Durch    ver- 
gleichende   Ausführungen    würde    er    zugleich    seine  Methode    der  Beziehungen    in    noch 
helleres  Licht  zu  setzen  im   stände  sein.      Sie    ist    augenscheinlich    aus    vieljährigem    und 
vertrautem  Umgange  mit  der  Mathematik  hervorgegangen;    aber   ebenso    augenscheinlich 
in  ihrer  Anwendung  auf  Metaphysik   sehr  verschieden  von  ihrer  Bedeutung  in   der  Ma- 
thematik.    Worin  besteht  diese   Verschiedenheit  und  worin  hat  sie  ihren   Grund?     Das 
sind  Fragen,   zu  deren  ausführlicher  Beantwortung  Rez.   Hrn.  Prot.   Herbart    zunächst 
und    dringend    auffordern    möchte,    wiewohl    darauf   bezügliche    Andeutungen    im    gegen- 
wärtigen   Buche    ihm    nicht   verborgen   geblieben    sind    (s.  z.  B    S.   28  ff.    49  ff.).      Die 
Behauptung,    der    Grund    sei    ein    Widerspruch,    würde    in    der   Mathematik    keine    An- 
wendung finden,    und  scheint  Rez.  auch  in  der  Metaphysik  der  Mifsdeutung   sehr   aus- 
gesetzt   zu    sein.      Allerdings    hat    der    Widerspruch    nicht    nur    treibende,    sondern    auch 
Richtung  gebende  Kraft  fürs  Denken,    und  nötigt  uns  den   Grund    zu  suchen    und    falls 
wir  in  Beseitigung  der  Widersprüche  nicht  ermüden,  endlich  zu  finden ;  aber  der  Grund 
besteht  auch  dem  Verf.  zufolge,  in  der  notwendigen  Zusammengehörigkeit  eines  gewissen 
Systems    von    Begriffen,    in  welchem    sich   Widersprüche    nur    fanden,    so    lange    die    zu 
Tage    liegenden    Begriffe    nicht    ergänzt    oder    richtig    bearbeitet    waren.      Unterscheidung 
der  ratio  cognoscendi  von    der  ratio   cssendi  möchte   jene  Bezeichnung    schwerlich    hin- 
länglich rechtfertigen:   denn  in  vielen  Fällen  kommen  wir  auch,    nachdem  wir  den  Grund 
vollständig  gefunden,    über  die   ratio  cognoscendi  nicht    hinaus.      Doch   wollen    wir    hier 
um  so  weniger  in  weitere  Erörterungen  eingehen,  da  wir  fernere,  das  synthetische  Ver- 
fahren nach  allen  Hauptrichtungen  hin  verfolgende  Ausführungen  vom  Verf.  erwarten,  und 
das,    worauf    die  Behauptung  zunächst  beruht,   —   die  Überzeugung,    was  Widersprüche 
in  sich  enthält,    dürfe  weder   als    gültig   festgehalten,    noch    als   denkbar   gesetzt   werden 
(S.   52)    und    die    Beseitigung    derselben    könne    allein    durch  Ausmitfelung    der    inneren 
Beziehungen  gelingen,  vollkommen  mit  ihm  teilen  und  es  für  ein  sehr  hochanzuschlagendes 
Verdienst   halten  wie  durch  Entlarvung  vieler  verlarvten  Widersprüche    und    durch  Ab- 
weisung vorgeblicher  Legitimationen,  so  durch  scharfsinnig  konsequente  Lösungsversuche 
diese  Überzeugung  seinerseits  bethätigt  zu  haben. 

Mögen  immerhin  solche  Bestrebungen  als  gemein  logisch,  der  Verstandes-  oder 
Reflexionsphilosophie  angehörig,  der  spekulativen  Erkenntnis  ermangelnd,  als  vorsätzlich 
und  willkürlich  all  und  jeden  Inhalt  ignorierende  Künstelei  verunglimpft  und  dagegen 
diejenigen  angepriesen  werden,  welche  die  Sache  aus  sich  selbst  sich  entwickeln  zu 
lassen  unternehmen  und  voraussetzen,  die  im  Denken  wirksame  Vernunft,  sich  selber 
der  Kreis  und  das  Centrum,  finde  nicht  nur  den  Widerspruch  und  entfliehe  ihm,  sondern 
erzeuge  ihn  in  allem  und  müsse  ihn  durch  sich  selber  vernichten :  —  der  Verf.  wird  lieber 
nach  wie  vor  geständig  sein  (S.  XVI)  nicht  alle  Widersprüche  aufgelöst  zu  haben,  als 
dem  Wahn  sich  hingeben  wollen,  dafs  sie  blofsen  Machtsprüchen  oder  dem  Vorgeben 
weichen  sich  über  ihre  Sphäre  erhoben  zu  haben.  Unbefangene  Leser  aber  werden 
Machtsprüche  nicht  für  Gründe,  Vorgeben  nicht  für  Leistungen  halten,  vielmehr  fragen, 
teils  wie  in  dem  aus  sich  selber  sich  entwickelnden  Denken  Grund  und  Folgen  zusammen- 
hängen, oder  wenn  überhaupt  von  Grund  und  Folgen  darin  nicht  die  Rede  sein  soll, 
was  an  die  Stelle  der  Begründung  trete,  teils  auf  welche  Weise  die  Vernunft  den  überall 
erzeugten  Widerspruch  „den  dialektischen  Puls  der  Dinge",  vernichte,  wie  die  Sache 
sich  aus  sich  selber  entwickele,  was  an  die  Stelle  der  inneren  Beziehungen  trete  u.  s.  w. 
Wenn  gegen  des  Verf.s  Methode  erinnert  wird,  indem  sie  ein  Widersprechendes  durch 
sein  Gegenteil  denkbar  zu  machen  suche,  vergesse  sie,  dafs  selbst  der  Widerspruch  nicht 
einmal  gedacht  werden  könne,  und  dafs  die  denkbar  zu  machenden  Begriffe,  eben  weil 
sie  Begriffe  seien,  schon  dem  Denken  angehörten  —  so  sieht  man  sich  nicht  ohne  Ver- 
drufs  in  die  Zeiten  der  alten  Sophistik  zurückversetzt,  die  mit  der  Amphibolie  der  Be- 
griffe von  WTissen  und  Lernen  ähnlichen  Unfug  trieb,  wie  hier  mit  denen  von  Denken 
und  Begriff  getrieben  wird.  Unterscheidet  denn  nicht  alle  Logik  von  Aristoteles  bis 
Hegel  wahre  Begriffe  von  blofsen  allgemeinen  Vorstellungen,  Vorstellen  und  Denken- 
wollen  vom   wirklichen  Denken  ? 


^gP,  Anhang  II. 

Sehen  wir  wie  der  Verf.  zuerst  in  der  Ontotogie  (S.  71  —  182)  veriährt  und  lernen 
auf  die  Weise  zugleich  die  Methode  dür  Beziehungen  und  der  zufälligen  Ansichten  in 
verdeutlichender  Anwendung  kennen,  aus  welcher  vielleicht  die  Methode  selbst  erst  abs- 
trahiert, gewifs  nicht  ohne  sehr  bestimmte  vorgreifende  Bezugnahme  darauf  zu  stände 
gekommen  ist.  Die  durch  die  historische  Kritik  des  ersten  Teils  vorbereitete  Unter- 
scheidung teils  der  Wirklichkeit  des  Dinges  und  seiner  Eigenschaften,  teils  des  Seins 
und  Daseins,  leitet  die  ontologischen  Untersuchungen  ein.  Wie  weit  wir  auch  der  Skepsis 
nachgeben  mögen,  ein  Reales,  ein  Sein,  zu  setzen  und  zu  bewahren,  zwingen  uns  die 
Widersprüche  der  Erfahrung  selber,  so  gewifs  kein  Schein  ohne  Sein  möglich  ist :  daher 
die  Aufgabe,  was  dem  Gegebenen  zu  Grunde  liegt,  d.  h.  die  unbekannte  Qualität  des 
Seienden  zu  suchen.  Die  Anerkennung  des  Nichtaufzuhebenden  ist  der  Begriff  des  Seins, 
dessen  Setzung  nicht  in  Abrede  gestellt  werden  kann,  wie  sehr  auch  seine  Qualität  dem 
Zweifel  preisgegeben  wird.  Doch  kommt  der  Begriff  des  Seins  der  Dinge  erst  ver- 
mittelst ihres  Gegensatzes  gegen  das,  was  nicht  ist  sondern  blofs  gedacht  wird,  zum 
Vorschein,  und  wird  mit  dem  der  Qualität  verwechselt,  indem  man  den  Gedanken  des 
Gegenstandes  diesem  selber  beilegt:  daher  der  Irrtum  das  Sein  wohne  den  Dingen  ein, 
sei  eine  ihrer  Eigenschaften,  da  es  doch  eben  nichts  anders  als  die  absolute  Position 
bedeutet.  Als  unmittelbare  Setzung  kann  der  Begriff  des  Seins  keine  Negation  in  sich 
aufnehmen,  d.  h.  weder  wiederum  aufgehoben  noch  relativ  gesetzt  werden  (die  Ne- 
gationen im  Sein  gehören  nur  dem  zusammenfassenden  Denker  an):  mithin  mufs  die 
Qualität  des  Seienden  gänzlich  positiv  oder  affirmativ  und  eben  darum  schlechthin  ein- 
fach sein,  d.  h.  frei  von  aller  Verneinung  und  Beschränkung;  wenn  aber  ohne  alle 
Verneinung  und  schlechthin  einfach,  so  auch  den  Begriffen  der  Quantität  und  aller  Viel- 
heit im  Seienden  als  Seienden  gänzlich  unzugänglich:  wogegen  jeder  Begriff  der  Quan- 
tität, mag  die  Qualität  darin  zerfällt  werden  oder  zerfliefsen  sollen,  d.  h.  mag  es  der 
Begriff  einer  diskreten  oder  kontinuierlichen  Gröfse  sein,  Mannigfaltigkeit  und  Teilbarkeit 
voraussetzt.  Es  fragt  sich  nur,  ob  bei  der  Strenge  der  absoluten  Position  durch  Aus- 
schliefsung  aller  Relationen,  nicht  zugleich  alle  Beziehung  der  Dinge  auf  einander  gänz- 
lich aufgehoben  werde,  oder  wie  sich  die  absolute  Position  durch  eine  relative  ergänzen 
lasse?  Zur  Beantwortung  dieser  Frage  soll  eben  die  Methode  der  Beziehungen  mit 
ihrer  Ergänzung  durch  die  zufälligen  Ansichten  sich  wirksam  erweisen.  Wie  Vieles 
sei,  bleibt  durch  den  Begriff  des  Seins  ganz  unbestimmt;  Mannigfaltigkeit  desselben 
'  keineswegs,  wie  die  Eleaten  wähnten,  durch  seine  Einfachheit  ausgeschlossen. 

Die  zufällige  Ansicht  soll  nun  aus  der  Zusammenfassung  eines  mannigfaltig  Seienden 
Folgen  ableiten,  die  aus  der  einfachen  ursprünglichen  Vorstellung  desselben  nicht  ent- 
springen können;  gleichwie  in  der  Mechanik  beim  Parallelogramm  der  Kräfte  die  zu- 
fällige Ansicht  der  Seitenkräfte  angewandt  wird,  um  eine  einzige  unteilbare  Kraft 
näher  zu  bestimmen  (S.  110).  Sie  vermittelt  —  (auf  verschiedene  Weise,  jenachdem 
entweder  beides  der  Hauptbegriff  A  und  die  Faktoren,  worin  er  zerlegt  wird  «  -(-  ß, 
oder  nur  ersteres  oder  die  Folge  gegeben  ist,  die  aus  der  Zusammenfassung  mehrerer 
Begriffe  sich  ergeben  soll)  —  eine  Verbindung  von  Begriffen,  die  ohne  sie  geschieden 
bleiben  würden.  Gegeben  sind  Dinge  mit  mehrern  Merkmalen  —  die  Erscheinungen 
der  Inhärenz.  Die  Qualität  des  Dinges  aus  den  Merkmalen  zusammenzusetzen,  läfst 
die  Einfachheit  desselben  nicht  zu:  vielmehr,  sowie  wir  das  Mannigfaltige  der  Merk- 
male zur  Einheit  verknüpfen,  damit  es  gültig,  d.  h.  in  Einklang  mit  dem  Gegebenen 
sei,  so  müssen  wir  es  wiederum  sondern,  damit  es  denkbar  werde;  daher  der  Schein 
der  Inhärenz  als  Anzeige  eines  mehrfachen  Realen  gefafst  werden  mufs.  Die  einzelnen 
Empfindungen  lassen  sich  nicht  aus  ihren  Gruppen  herausreifsen ;  vielmehr  jede  nur 
unter  der  Bedingung  setzen,  dafs  die  mit  ihr  verbundenen  auch  gesetzt  seien :  keine 
stellt  dar,  was  an  sich  ist.  Die  Substanz  ist  mithin  das  unbekannte  Eine,_  dessen 
Setzung  alle  diejenigen  Setzungen  repräsentiert,  die  ursprünglich  den  Merkmalen  zu- 
kamen: das  der  Einheit  der  Substanz  gleichgeltende  Mannigfaltige  bildet  eine  zufällige 
Ansicht,  die  auf  verschiedene  Reihen  von  Merkmalen  sich  erstrecken  kann,  aber  ein 
und  denselben  Ausgangspunkt,  die  Einheit  der  Substanz,  beibehalten  mufs.  Da  also 
kein  Ding  an  sich  Substanz  ist,  so  giebt  es  auch  keine  Attribute  als  ursprüngliche  und 
an  sich  seiende  Korrelate  der  Substanz,  so  wenig  als  ein  Substantiale,  d.  h.  ein  Etwas 
in  der  Substanz,  dem  die  Accidenzien  einwohnten;  und  die  Erscheinungen  der  Inhärenz 
müssen,  wie  die  der  Veränderungen,  auf  hinzutretende  Ursachen  zurückgeführt  werden; 
so  dafs  keine  Substantialität  ohne  Kausalität  denkbar  ist.  Wie  viele  sinnliche  Merkmale, 
so    viele    Ursachen,    und    Substanz   und    Ursache   unterscheiden    sich    nicht    voneinander 


Die   Rezension  der  Allgem.  Metaphysik  von  Prof.   Dr.   Brandis  in   Breslau.       ^QO 

durch  Thun  und  Leiden,  sondern  nur  dadurch,  dafs  wir  von  der  Substanz  ausgingen 
und  die  Ursachen  als  mehrere  und  verschiedene  hinzunahmen.  Der  Kausalbegriff  ent- 
hält noch  keine  Zeitbestimmungen;  nur  unsre  Gedanken  gebrauchten  Zeit,  gingen  von 
der  Substanz  aus  und  langten  später  bei  den  Ursachen  an.  Die  Substanz  war  uns  bis 
jetzt  nur  zeitloses  Subjekt  einer  Gruppe  von  Merkmalen  ;  wir  fassen  sie  aber  auch  als 
das  Beharrliche  im  Wechsel  auf,  indem  wir  darauf  achten,  wie  das  Ding  in  den  Spal- 
tungen der  Einheit  sich  nicht  einmal  gleich  bleibt,  d.  h.  indem  wir  auf  die  Veränderungen 
merken.  Ein  Ding  kann  weder  abwechselnd  sein  und  nicht  sein,  noch  einen  Wechsel 
in  der  Qualität  ertragen,  noch  sein  Beharren  auf  ein  blofses  qualitätloses  Sein  über- 
tragen, noch  vermag  man  das  Beharren  des  Dinges  im  Wechsel  abzuleugnen,  ohne  auf 
die  Erfahrung  selber  zu  verzichten.  Daher  auch  hier  das  Ding  nicht  als  ein  einiges 
identisches  zu  setzen,  sondern  in  ein  vielfaches  aufzulösen  und  das  X  als  Anfangspunkt 
in  allen  Gruppen,  welche  statt  seiner  angenommen  worden,  zu  wiederholen  ist.  Also 
kein  Reales  ist  an  sich  Substanz,  sondern  wenn  es  Erscheinungen  tragen  soll,  so  mufs 
es  in  Gemeinschalt  mit  andern  realen  Wesen  stehen,  und  diese  Erscheinungen  wechseln, 
wenn  die  Gemeinschaft  wechselt,  während  die  Substanz  selber  beharrt  und  weder  der 
Qualität  noch  der  Quantität  nach,  vom  Wechsel  ergriffen  wird.  Unsre  ganze  Ab- 
weichung von  der  Erfahrung  besteht  in  notwendiger  Ergänzung  dessen  was  sie  uns 
nicht  vollständig  zeigt.  Sowie  nämlich  die  einfachen  Empfindungen  von  Tönen  und 
Farben,  obgleich  nicht  in  Teile  zerlegbar,  die  Unterscheidung  dessen  verstatten,  was 
dem  andren  gleich  und  entgegengesetzt  ist,  und  einander  mehr  oder  weniger  entgegen- 
gesetzt sind  (das  Blau  dem  Roten  mehr  als  das  Violette);  so  auch  die  wahren  Quali- 
täten der  Wesen,  die  sich  nie  gegenseitig  aufzuheben  vermögen,  weil  keins  die  Ver- 
neinung der  Position  sein  kann,  wohl  aber  im  zusammenfassenden  Denken,  welches 
durch  die  Erscheinungen  geboten  wird,  einander  gegenseitig  Widerstand  leisten  oder 
sich  drücken.  Das  wirkliche  Geschehn  ist  daher  nichts  andres  als  ein  Bestehn  wider 
eine  Negation ;  die  zufälligen  Ansichten  sind  nur  die  Ausdrücke,  welche  die  Wesen 
annehmen  müssen,  um  vergleichbar  zu  werden,  und  unendlich  mannigfaltig,  weil  die 
Qualität  jedes  Wesens  unendlich  vielen  Vergleichungen  zugänglich  ist.  Dem  in  die 
verschiedenen  Relationen  des  einen  W'esens  gegen  andre,  selber  verwickelten  Be- 
obachter ist  ausschliefslich  das  Eigentümliche  der  einzelnen  Selbsterhaltungen  zugänglich ; 
die  einfache  Qualität  vermag  er  nicht  zu  erkennen ;  und  Kräfte  besitzen  die  Wesen 
nicht  an  und  für  sich,  sondern  nur  insofern  sie  mit  andren  von  entgegengesetzter  Qualität 
zusammen  sind.  Soweit  führt  die  Ontologic  als  Lehre  vom  Sein;  die  Ableitung  der 
wirklichen  Erscheinungen  mufs  sie  teils  der  Synechologie,  teils  der  Eidolologie  überlassen. 
Zuerst  wollen  wir  die  Konsequenz  ausdrücklich  anerkennen,  mit  der  diese  Theorie 
den  Begriff  des  Seins  von  allem  Werden  läutert,  die  Schwierigkeiten  vermeidet,  in 
welche  die  Begriffe  sowohl  transienter  wie  immanenter  Ursächlichkeit  verwickeln,  und 
mit  diesen  Begriffen  zugleich  die  von  Tendenzen,  Trieben,  Vermögen,  ursprünglichen 
Kräften  und  Freiheiten  beseitigt.  Dabei  müssen  wir  die  dem  Verf.  entgegengestellten 
Behauptungen  abweisen,  dafs  die  absolute  Position  entweder  als  von  ihm  gesetzt  nicht 
absolut,  oder  als  blofs  durch  Abstraktion  gewonnen  ein  Negatives,  mithin  ebensowenig 
absolut  sei :  und  dafs  überhaupt,  was  als  absolut  vorausgesetzt  werde,  der  Voraussetzung 
wegen  nicht  absolut  sein  könne.  Wir  müssen  solche  Einreden  abweisen,  weil  der  Verf. 
aufs  ausdrücklichste  die  absolute  Position,  indem  er  sie  als  schlechthin  notwendig  recht- 
fertigt, von  seiner  Auffassung  und  Setzung  so  unabhängig  macht,  wie  es  nur  immer  in 
unserm  Denken  geschehen  kann,  welches  keine  Selbstbewegung,  kein  Begriff,  der  zu- 
gleich die  Sache  selbst  sein  will,  jemals  zum  absoluten  Denken  aufschrauben  wird.  Wir 
wollen  vielmehr  uns  erinnern,  dafs  der  Verf.  Knoten  zu  lösen  bemüht  ist,  die  er  nicht 
willkürlich  geschürzt,  sondern  die  seit  der  Zeit  der  Eleaten  die  Metaphysik  beschäftigt 
haben,  und  dafs  er  sie  zu  lösen  sich  bestrebt,  indem  er  durch  die  Resultate  des  Iden- 
tismus  den  Realismus  sicherer  zu  begründen  unternimmt.  Einfache  qualitativ  bestimmte 
Wesenheiten  sind  ihm  wie  Leibnitzen  der  Grund  der  Erscheinungen ;  aber  Wesenheiten, 
die  nicht  durch  innere  Kraftthätigkeit  ihre  Einfachheit  wiederum  aufheben,  sondern 
solche,  die  unverrückt  in  ihrer  schlechthin  einfachen  Qualität  der  Mannigfaltigkeit  und 
dem  Wechsel  der  Erscheinungen  zu  Grunde  liegen,  kraft  der  Mannigfaltigkeit  und  dem 
Wechsel  der  Verhältnisse,  die  sich  unter  ihren  einander  entgegengesetzten  einfachen 
Qualitäten  für  den  Zuschauer  bilden.  Für  ihn  und  nur  für  ihn  ist  die  Mannigfaltigkeit 
und  der  Wechsel  der  Erscheinungen  vorhanden,  und  so  vorhanden  wie  er  sie  nach 
seinem   Standpunkte  wahrnimmt,    aber    nicht    blofs   würden   seine  Wahrnehmungen  ohne 


400  Anhang  II. 

die  qualitative  Bestimmtheit  der  zu  Grunde  liegenden  einfachen  "Wesenheiten  des  Stoffs, 
sondern  auch  der  Form  entbehren,  in  welcher  er  sie  anerkennen  mufs,  will  er  nicht  auf 
die  Erfahrung  selber  verzichten:  d.  h.  das  wahrnehmende  Ich  ist  als  solches  ebenso- 
wenig in  Besitz  der  formen  wie  des  Stoffes ;  beides  bietet  sich  ihm  aar  nach  Be- 
dingungen, die  in  dem  Sein  der  Dinge  selber,  in  den  Qualitäten  der  einfachen  Wesen- 
heiten und  ihren  Verhältnissen  zu  einander  (Verhältnissen  der  Selbsterhaltung  und  Störung) 
sich  finden.  Endlich  erwägen  wir,  dafs  wir  es  freilich  mit  einer  Hypothese,  aber  mit 
einer  Hypothese  zu  thun  haben,  die  einerseits  ihre  Berechtigung  in  höchst  bedeutenden 
Schwierigkeiten  und  der  Beweisführung  nachzuweisen  vermag,  dafs  die  Lösung  derselben 
weder  bisher  gelungen  sei,  noch  von  der  Hand  gewiesen  werden  dürfe;  anderseits  bis 
auf  einen  Punkt  zurückgeht,  der  als  die  äufserste  Grenze  der  Spekulation  anerkannt 
werden  mufs.  Geschehen,  Veränderung  und  Kraftthätigkeit  soll  als  ein  Abgeleitetes; 
als  das  einzig  Seiende  eine  ursprüngliche  Mannigfaltigkeit  qualitativ  bestimmter  einfacher 
Wesenheiten  erwiesen,  und  aus  ihnen  die  Welt  der  Erscheinungen  abgeleitet  werden, 
wiewohl  von  vornherein  jeder  Versuch  die  Qualitäten  des  Seienden  an  sich  zu  erkennen 
als  notwendig  erfolglos  abgelehnt  wird.  Ob  es  aber  in  der  That  gelungen  mit  gänz- 
licher Beseitigung  ursprünglicher  Kraftthätigkeiten  alles  Geschehen  aus  dem  lediglich 
sich  selbst  gleichbleibenden  Realen  oder  Seienden  abzuleiten  —  um  darüber  zu  be- 
gründetem Urteil  zu  gelangen,  können  wir  uns  nicht  begnügen  zu  fragen,  ob  der  ab- 
soluten Position  wegen  von  einem  Vielen  oder  einer  Vielheit  des  Seienden  die  Rede 
sein  dürfe ;  oder  ob  es  nicht  in  sich  widersprechend  sei,  dafs  etwas  als  positiv  keine 
Negationen  und  Relationen  zulasse  und  dasselbe  doch  relativ  zu  ergänzen  sei?  oder 
wie  die  realen  Wesen  durch  die  formale  Bestimmung  des  Zusammen  und  Nicht- 
zusammen  eine  reale  Modifikation  erleiden  sollten,  da  das  Zusammen  keine  Bedingung 
ihres  Daseins  sei?  oder  ob  nicht  das  eine  Wesen  von  dem  andern  genötigt  werde  das 
zu  sein,  was  es  ist?  d.  h  um  selbständig  zu  sein,  des  andren  bedürfe,  mithin  un- 
selbständig sei?  wir  können  es  bei  solchen  Fragen  nicht  bewenden  lassen,  weil  die 
Data  zu  ihrer  Beantwortung  in  der  scharfen  und  bestimmten  Sonderung  der  einfachen 
Wesen  vom  Zusammenfassen  derselben  im  Denken  augenscheinlich  sich  vorfinden,  so  dafs 
ihre  Vielheit,  gleich  ihrem  Zusammen  und  Xichtzusammen  und  den  davon  abhängigen 
Beziehungen  unmöglich  für  reale  Modifikationen  der  Wesen  selber  gelten  können.  Da- 
gegen müssen  wir  vorzugsweise  die  Ableitung  der  Begriffe  Bewegung  und  Bewufstsein 
ins  Auge  fassen  ;  denn  die  Verhältnisse  unter  den  einfachen  Wesenheiten  müssen  als 
wechselnd,  die  Zuschauer  als  ihrer  sich  bewufst  gesetzt  werden.  Die  Bewegung  setzt 
Raum  und  Zeit,  das  Bewufstsein  ein  Ich  voraus.  Wir  müssen  daher  des  Verf.s  scharf- 
sinnig durchgeführte  Lehre  von  Raum  und  Zeit,  Materie  und  Bewegung  in  seiner  Syn- 
echologie,  und  demnächst  die  Behauptungen  vom  Ich  und  vom  Wissen  in  seiner  Eido- 
lologie  prüfend  verfolgen,  bevor  wir  die  Beantwortung  jener  Frage  —  das  eigentliche 
Ziel  dieser  Anzeige,  —  unternehmen  dürfen. 

Das  Stetige,  mit  dessen  Erörterung  die  Synechologie  (S.  183—339)  sich  zunächst 
beschäftigt,  um  vermittelst  desselben  zu  Aufschlüssen  über  Raum,  Zahl  und  Ursprung 
der  Materie  zu  gelangen,  kann  mit  seinen  unendlich  vielen  Teilen  in  sinnlicher  An- 
schauung unmöglich  gegeben  sein ;  und  ebensowenig  das  Nichterscheinen  letzter  Teile 
über  ihr  Nichtvorhandensein  entscheiden.  Auch  beruft  man  sich,  indem  man  das  räum- 
liche Neben-  und  das  zeitliche  Nacheinander  als  stetig  setzt,  auf  reine  Anschauung,  und 
unterstützt  diese  Berufung  wiederum  durch  Hinweisung  auf  die  inkommensurabeln  Linien. 
Unser  Verf.  sucht  dagegen,  nachdem  er  bemerkt,  dafs  keineswegs  alle  Linien  inkommen- 
surabel seien,  an  seine  psychologische  Erklärung  (Psychol.  II.  S.  132  ff.)  erinnert,  und 
den  Widerspruch  entwickelt  hat,  der  sich  bei  logischer  Analyse  der  Kontinuität  ergiebt, 
zuerst  zu  zeigen,  dafs  der  Begriff  des  Stetigen  keinesweges  überall  wo  er  vorkommt, 
sich  selber  gleich,  vielmehr  sehr  verschieden  sei  bei  den  verschiedenen  Fortschreitungen 
von  Zahlen  und  den  dazwischen  fallenden  Brüchen,  bei  den  Systemen  von  Quadrat- 
Kubikwurzeln  und  überhaupt  bei  irrationalen  Fortschreitungen;  demnächst  dafs  im  Nach- 
einander der  Zeit  überall  keine  Kontinuität  sich  finde,  vielmehr  der  Begriff  der  Gegen- 
wart sich  schlechterdings  nicht  mit  Vergangenheit  und  Zukunft  mischen  dürfe,  überhaupt 
«las  Fliefsende  nur  durch  ein  Verschwindenlassen  der  Sonderung  gedacht  werde;  und 
endlich  durch  Konstruktion  des  intelligibeln  d.  h.  desjenigen  Raums,  den  wir  dem 
Kommen  und  Gehen  der  Substanzen  unvermeidlich  hinzudenken,  auszumitteln ,  „wie 
man  den  Begriff  der  Kontinuität  dergestalt  zu  fassen  habe,  dafs  er  für  die  Naturwissen- 
schaft brauchbar  werde."      Diese  Konstruktion    geht  von  dem  einfachen   Gedanken   aus: 


Die   Rezension  der  Allgem.   Metaphysik  von   Prof.   Dr.   Brandis  in  Breslau.      40 1 

ein  Paar  einfache  Wesen,  A  und  B,  statt  deren  man  auch  andre  einfache  Vorstellungen, 
wie  Zahlen,  wühlen  darf,  können  zusammen  aber  auch  nicht  zusammen  sein ;  läfst  aus 
diesen  zwei  Begriffen  vermittelst  der  leeren  Bilder  von  dem  was  mit  dem  andern  ver- 
knüpft sein  könnte,  vier  Begriffe  und  aus  ihrem  wechselnden  Zusammen  und  Nicht- 
zusammen,  eine  ins  Unendliche  fortlaufende  Reihe  entstehn,  in  der  noch  nichts  von  be- 
kannten Raumbegriffen  sich  finden,  vielmehr  selbst  der  Begriff  des  Orts  dadurch  ent- 
stehen soll,  dafs  das  Vorausgesetzte  dem  andern  eine  Stelle  anbiete;  der  Begriff  des 
Zwischen  durch  das  Fortschreiten  der  Ordnungszahlen ;  welches  wie  bei  Zahl,  Grad  und 
Zeit  ein  gerades  sein  müsse,  weil  überhaupt  noch  gar  kein  Seitwärts  vorhanden  sei. 
Eine  solche  Reihe  wird  eine  Linie  und  zwar  eine  starre  genannt,  insofern  die  Punkte  der- 
selben [494]  vollkommen  aus  einander  und  doch  wiederum  aneinander  d.  h.  so  gedacht 
werden  sollen,  dafs  nichts  eingeschoben  werde.  Die  Unfähigkeit  des  psychologischen 
Mechanismus  des  Aneinander  mit  beharrlicher  Treue  darzustellen,  sein  unwillkürliches 
Gleiten  und  Verfallen  in  ein  allmähliches  Zwischenschieben,  darf  uns  nicht  veranlassen, 
von  der  Strenge  der  Forderung  nachzulassen.  Zur  Erweiterung  der  Konstruktion  wird 
ein  drittes  einfaches  Wesen  hinzugenommen,  dessen  leeres  Bild  als  einen  der  Punkte 
der  Linie  AB  zu  betrachten  darum  verboten  wird,  weil  e  ein  selbstständiges  Wesen 
und  nicht  im  mindesten  an  eine  Konstruktion  gebunden  sei,  deren  Anlafs  von  A  und  B 
ausgegangen  (S.  2  2q):  die  Entfernungen  des  c  von  A  und  B  aber  werden  aus  dem- 
selben Grunde  als  starre  Linien  gesetzt,  aus  welchem  AB  für  eine  solche  gelten  mufste. 
Verbinden  wir  nun  e  mit  der  Linie  AB  durch  AC  oder  BC,  so  findet  sich,  durch 
blofse  Entwickelung  der  Begriffe,  ohne  Konstruktion  zu  Hilfe  zu  nehmen,  dafs  je  zwei 
dieser  geraden  Linien  nicht  mehr  als  einen  Punkt  miteinander  gemein  haben  können, 
dafs  zwischen  zwei  Punkten  nur  eine  Gerade  und  nur  Ein  Lot  vom  Punkte  auf  die 
Linie  möglich,  dafs  zwischen  zwei  Punkten  die  Gerade  zugleich  die  kürzeste  ist.  Wenn 
die  starren  Linien  zu  Hypotenusen  werden,  tritt  der  Begriff  des  Stetigen  ein,  insofern 
sie  der  stets  gleichbleibenden  Richtung  des  Lots  unvergleichbar  werden  (S.  242  ff.); 
und  in  der  Kreislinie,  in  der  die  Punkte  ohne  alle  Sonderung  zusammenfliefsen,  ergiebt 
sich  das  eigentlichste  Kontinuum ;  dieses  aber  eben  darum  als  keinen  unabhängigen  un- 
mittelbar gegebenen  Linien,  sondern  nur  solchen  eigentümlich,  welche  abhängig  oder 
Funktionen  von  andern  sind.  Auch  die  Kreislinie  ist  nämlich  als  Funktion  zu  be- 
trachten, insofern  ihr  Ursprung  Linie  und  Ebene,  oder  von  der  Ebene  wenigstens  Einen 
Punkt  aufser  der  Linie  voraussetzt  (S.  251).  Andre  zwischen  gegebene  Punkte  zu 
ziehende  Linien  halten  wir  für  stetig,  da  sie  die  Endpunkte  gewisser  Katheten  sein 
können,  zu  welchen  die  einzuschiebenden  Linien  als  Hypotenuse  passen  müssen  (S.  252*. 
Auf  diese  Weise  rechtfertigt  der  Begriff  des  Stetigen,  obgleich  widersprechend,  sich  da- 
durch, dafs  er  dem  Gebiete  unsers  zusammenfassenden  Denkens  ausschliefslich  zugeeignet 
wird.  Konstruktion  des  körperlichen  Raums  (S.  257  ff.)  durch  Annahme  eines  vierten 
realen  Wesens,  wovon  ein  Lot  auf  die  Ebene  falle,  welches  dem  ganzen  System  der 
in  ihr  möglichen  Richtungen  fremd  bleibe,  und  der  Versuch  zu  zeigen,  dafs  eine  vierte 
Dimension  undenkbar  sei,  weil  man  von  einem  fünften  realen  Wesen  zu  dem  von  der 
Kugel  völlig  eingehüllten  Punkt  A  nicht  zu  gelangen  vermöge  (S.  260.),  beschliefsen 
die  Konstruktion  des  intelligibelen  Raums,  und  leiten  zu  der  Untersuchung  über  den 
Ursprung  der  Materie  über.  —  Bevor  wir  aber  dazu  übergehen,  überlegen  wir,  inwieweit 
wir  uns  teils  der  Konstruktion  des  Raums,  ohne  Anschauung  vorauszusetzen,  durch  [495] 
blofse  Verdeutlichung  von  Begriffen,  teils  der  angegebenen  Annahme  über  das  Stetige 
anzuschliefsen  vermögen.  In  jener  Konstruktion  soll  uns  das  Aufser-  und  Nebeneinander 
seinem  Inhalt  nach  durch  das  Nichtzusammen  von  Vorstellungen,  seiner  Form  nach 
durch  die  bestimmte  Abfolge  (Ordnungszahlen)  entstehn.  Rez.  aber  gesteht  nicht  ein- 
zusehen, wie  ohne  zu  Grunde  liegende  Anschauung  wir  dazu  kommen,  der  ersten 
Dimension  die  zweite,  der  zweiten  die  dritte'  hinzuzufügen.  Die  Annahme,  C  der  End- 
punkt einer  zweiten  von  AB  verschiedenen  Linie,  sei  ein  von  A  und  B  verschiedenes 
Wesen,  und  D  der  Endpunkt  einer  dritten  allen  in  der  Ebene  möglichen  Richtungen 
fremden  Linie,  von  A,  B  und  C  verschieden,  genügt  ihm  darum  nicht,  weil  diese  Ver- 
schiedenheiten nur  auf  die  Qualität  bezüglich,  keine  Verschiedenheit  der  Lage  zur  Folge 
zu  haben  brauchen.  Wie  kommen  wir  dazu,  die  Linie  AB  nicht  vielmehr  durch  das 
Zusammen  und  Nichtzusammen  mit  c  und  seinem  leeren  Bilde  zu  verlängern  ?  Wie 
kommen  wir  überhaupt  dazu,  das  Nacheinander  von  Vorstellungen  und  Bildern  in  ein 
Aufser-  und  Nebeneinander  zu  verwandeln,  vorausgesetzt  dafs  uns  diese  Vorstellungen 
noch   gänzlich   fehlten?   und  während  wir  von  Zahlreihen   oder  andren  Reihen   homogener 

Herbart's  Werke.    VIII  2<> 


J.02  Anhang  II. 

Vorstellungen  zu  keiner  räumlichen  Konstruktion  gelangen?  Zur  Beantwortung  dieser 
Fragen  wird  der  Verf.  sich  auf  seine  psychologische  Deduktion  von  den  Reihenformen 
und  darauf  berufen,  dafs  das  wirkliche  psychologische  Ereignis  des  räumlichen  Vor- 
stellens  etwas  völlig  Unräumliches  sei  und  alles  dabei  auf  Abstufungen  in  der  Ver- 
bindung der  Vorstellungen  ankomme  (s.  Psychol.  II.  S.  124  f.  ;  aber  in  jener  schwer- 
lich zur  Erledigung  gegenwärtiger  Fragen,  den  grofsen  Übergang  von  der  Verschiedenheit 
der  Qualität  zur  Verschiedenheit  räumlicher  Dimensionen  nachweisen  können.  Die  Er- 
klärung, das  Perpendikel  auf  eine  Linie  sei  psychologisch  betrachtet,  nichts  andres,  als 
die  von  derselben  seitwärts  gehende  Reproduktion,  nachdem  in  ihr  alles  Entgegen- 
gesetzte sich  gehemmt  habe  (Psychol.  IL  S.  152),  setzt  ein  Seitwärts  schon  voraus; 
so  wie  die  allgemeinere  Bestimmung,  das  Produkt  sich  gegenseitig  hervorrufender 
Reihen,  die  So  verwebt  seien,  dafs  indem  ihrer  mehrere  abliefen,  zugleich  nicht  nur 
jedes  Glied  eine  von  ihm  ausgehende  Reihe  anrege,  sondern  dafs  auch  die  sekondären 
Reihen  sich  nach  einer  Regel  in  andren  Reihen  Glied  für  Glied  vereinigt  fänden,  so  dafs 
die  Vereinigungspunkte  jedesmal  mehrfach  gegeben  seien,  und  dafs  die  Konstruktion 
unendlich  vielfach  in  sich  selbst  zurücklaufe,  ohne  mit  sich  in  Mifshelligkeit  zu  geraten 
—  sei  allemal  ein  Räumliches  (Psychol.  I.  S.  359,  vgl.  [496]  II.  S.  136.)  —  auch  diese 
Bestimmung  scheint  Rez.  noch  nicht  geeignet  zu  sein,  den  Übergang  von  qualitativer  zu 
räumlicher  Bestimmtheit  zu  vermitteln.  Was  die  Beschränkung  des  Stetigen,  ins  un- 
endlich Leilbaren  auf  das  Inkommensurable  betrifft,  so  fragt  sich,  ob  der  Voraussetzung 
es  sei  schlechthin  kein  gemeinschaftliches  Mafs  vorhanden,  nicht  schon  die  Vorstellung 
vom  Stetigen  zu  Grunde  liege.  Doch  wollen  wir  uns  wohl  hüten,  diese  Konstruktion 
des  intelligibelen  Raums  durchweg  zu  verwerfen,  weil  wir  sie  uns  nicht  völlig  aneignen 
können,  betrachten  sie  vielmehr  als  eine  höchst  bedeutende  Ergänzung  der  Kantischen 
Lehre  von  der  reinen  Anschauung ;  wobei  wir  annehmen,  dafs  diese  zu  sehr  aufser 
acht  gelassen,  wie  die  mathematische  Konstruktion,  wenn  gleich  auf  reiner  Anschauung 
beruhend,  der  Entwickelung  der  Begriffe  zu  ihrem  Fortschreiten,  nicht  blofs  zur  Analyse 
schon  gegebener  Konstruktionen,  bedürfe.  Wie  weit  es  aber  auch  gelingen  mag  mathe- 
matische Grundannahmen,  die  man  bisher  für  axiomatisch  gehalten,  durch  Entwickelung 
von  Begriffen  zu  deducieren,  so  können  wir  doch  weder  zugeben,  dafs  man  von  der 
Linie  zur  Fläche  und  von  dieser  zum  körperlichen  Raum  gelange,  ohne  dafs  unmittel- 
bare, reine  oder  empirische,  Anschauung  zu  Grunde  läge,  noch  dafs  das  Stetige  der  ur- 
sprünglichen Vorstellung  des  Räumlichen  gar  nicht  angehöre.  Ebensowenig  können 
wir  uns  überzeugen,  dafs  dem  Nacheinander  der  Zeit  das  Merkmal  der  Kontinuität 
nicht  wesentlich  eigentümlich  sei,  sondern  durch  ein  Verschwindenlassen  der  Sonderungen 
ihm  hinzukomme:  denn  die  Forderung  den  Begriff  der  Gegenwart  schlechterdings  nicht 
mit  Zukunft  und  Vergangenheit  zu  mischen,  erscheint  uns  als  eine  unmögliche,  weil  sie 
voraussetzt,  die  letzten  Teile  der  Zeit  seien,  zwar  nicht  sinnlich  wahrzunehmen,  dagegen 
wohl  im  Denken  zu  fixieren,  aber  kein  Merkmal  anzugeben  vermag,  woran  wir  den  Ge- 
danken auch  nur  als  Forderung  festzuhalten  im  stände  wären.  So  wie  wir  ein  Moment 
als  schlechthin  gegenwärtig  im  Denken  feststellen  wollen,  gehört  es  der  Vergangenheit, 
oder  wollen  wir  es  im  voraus  ergreifen,  der  Zukunft  an.  Unser  Denken  müfste  ein 
absolut  zeitloses  und  ein  solches  sein,  worin  Denkendes  und  Gedachtes,  Subjektives  und 
Objektives  schlechthin  zusammenfiele,  sollte  es  uns  gelingen,  die  Gegenwart  durchaus 
nicht  mit  Zukunft  und  Vergangenheit  zu  mischen:  auf  die  Voraussetzung  aber,  es  müsse 
ein  solches  Denken  geben,  wird  der  Verf.  bei  seinem  entschiedenen  Gegensatz  gegen 
absolute  Anschauung  sich  zu  stützen  nicht  geneigt  sein. 

[497]  Das  von  dem  Verf.  angeführte  Beispiel  sittlicher  Anforderungen  scheint  uns 
darum  nicht  seinem  Zweck  zu  entsprechen,  weil,  wie  weit  oder  wie  wenig  sie  auch  im 
Handeln  realisiert  werden  mögen,  sie  sich  im  Denken  kraft  grundwesentlicher  Merkmale 
durchaus  feststellen  lassen.  Ähnlich  verhält  sich's  mit  der  Behauptung  ,,so  gewifs  im 
strengsten  Sinne  zugleich  das  Bewegte  in  A  sei  und  aus  A  herausgehen  müfste;  eben  so 
gewifs  komme  in  dies  zugleich  ein  Vorher  und  Nachher  hinein"  (S  307).  Für  sehr 
beachtenswert  halten  wir  dagegen,  was  Hr.  Prof.  Herbakt  S.  190  ff.  von  den  vei- 
schiedenen  Arten  des  arithmetischen  Kontinuums  bemerkt,  ohne  dafs  wir  es  aus  ein  und 
derselben   Quelle  mit  dem   Stetigen  des   Räumlichen  abzuleiten  unternehmen  möchten. 

Der  Einwendung  aber,  dafs  nicht  einzusehen,  wie  eine  Linie,  die  ursprünglich 
ungeteilt  und  selbständig,  zugleich  teilbar  werde  und  ihre  Selbständigkeit  verlieren 
solle,  und  warum  da  eine  Mehrheit  von  realen  Wesen  als  unbestimmte  Vielheit  an- 
genommen   sei,    nur  vier  dieser  Wesen  für  die  Konstruktion  der  Raumdimensionen  er- 


Die  Rezension  der  Allgem.   Metaphysik  von  Prof.   Dr.   Brandis  in   Breslau.       103 

wählt  würden  —  diesen  und  ähnlichen  Einwendungen  dürfte  der  Verf.  wohl  durch  seine 
psychologische  Konstruktion  zu  begegnen  im  stände  sein,  der  zufolge  alles  Räumliche 
mit  seinen  Verhältnissen  dem  zusammenfassenden  Denken  angehört,  sowohl  die  starre 
Linie  wie  die  kontinuierliche,  und  welche  von  der  unbestimmten  Vielheit  einfacher  Wesen 
nur  so  viel  nimmt,  als  ihr  zu  ihren  Zwecken  dienlich  sind,  daher  nicht  über  vier  spe- 
zifisch verschiedene,  weil  für  eine  vierte  von  den  dreien  verschiedene  Dimension  sich 
keine  Möglichkeit,  keine  offene  Stelle  ergiebt.  Wir  enthalten  uns  solcher  Einwendungen 
gegen  Behauptungen,  die  mit  jener  Grundannahme  stehen  oder  fallen  müssen,  können 
aber,  wie  sich  aus  den  vorangehenden  Bemerkungen  ergiebt,  deren  weitere  Entwickelung 
uns  über  die  Grenzen  einer  Anzeige  hinausführen  würde,  die  Behauptung  uns  nicht 
aneignen :  der  Raum  sei  gleich  wie  die  Zahl  eine  Form  der  Zusammenfassung  im 
Denken,  welche,  wenn  keine  weitere  Bestimmung  hinzukomme,  den  Dingen  gar  kein 
Prädikat,  für  jeden  Zuschauer  aber  eine  in  vielen  hallen  unentbehrliche  Hilfe  dar-[_498] 
biete,  die  gemäfs  der  gegebenen  Veranlassung  sich  selber  erzeuge  (S.  263.  vgl.  S.  270);  oder 
dafs  Grüfse  als  solche  nur  Zusammenfassung  sei  (S.  264)  —  Behauptungen,  worauf  die 
Konstruktion  der  Alaterie  beruht.  Sie  geht  von  der  Annahme  eines  unvollkommenen 
Zusammenseins  zweier  Wesen  aus,  d.  h.  zweier  Wesen  mit  teilweise  zusammenfallenden 
Punkten,  wie  man  die  beiden  letzten  Punkte  einer  Hypotenuse  als  teilweise  einander 
deckend  setze.  In  Übereinstimmung  mit  derselben  lediglich  den  Raum  nicht  die  Qualität 
der  Wesen  treffenden  Fiktion,  der  zufolge  wir  in  einander  geschobene  Punkte  als  teil- 
bar betrachtet,  setzen  wir  die  einfachen  realen  Wesen  als  Kugeln  und  nehmen  an,  diese 
seien  für  alle  gleich  grofs;  so  dafs  wir  ein  paar,  teilweise  durchdrungene,  innerlich  voll- 
kommen gleichartige  Kugeln  voraussetzen,  die  jedoch  mit  Atomen,  d.  h.  undurchdring- 
lichen letzten  Stoffteilchen  durchaus  nichts  gemein  haben  dürfen.  In  den  durchdrungenen 
Teilen  ist  das  Zusammen  und  hiermit  völlige  Kausalität,  daher  vollkommene  Selbst- 
erhaltung vorhanden;  in  den  undurchdrungenen  nicht.  Da  wir  aber  nur  infolge  einer 
Fiktion  den  einfachen  Wesen  Teile  beigelegt  haben,  so  mufs  in  dem  ganzen  Wesen, 
nicht  blofs  hier  oder  dort,  Selbsterhaltung  sich  finden,  und  nur  in  schwächerem  Grad 
bei  unvollkommnen  Zusammen  als  bei  vollkommnen  Zusammen.  Beim  unvollkommnen 
Zusammen  aber  kann  es  nicht  bleiben,  vielmehr  müssen  Wesen,  die  in  diese  Lage  ge- 
raten sind,  vollends  in  einander  eindringen :  und  darin  ist  der  einzig  mögliche  Grund 
der  scheinbaren  Kraft  der  Attraktion  zu  suchen.  Von  wirklichen  auf  Raumverhältnisse 
bezüglichen  Kräften  kann  nicht  die  Rede  sein,  wenn  der  Raum  nichts  Wirkliches  ist. 
Nehmen  wir  nun  zu  zwei  unter  sich  gleichartigen  Wesen  (AA)  ein  drittes,  ungleich- 
artiges (B)  hinzu,  so  mufs  sich  entweder  B  gegen  beide  A  vollkommen  selbst  erhalten 
und  dazu,  im  Gegensatz  des  B  gegen  A  eine  solche  Ungleichheit  sein,  dafs  ein  einzelnes 
A  nicht  zureichte,  um  der  ganzen  Negation  des  B  gegen  die  Qualität  der  A,  völlig  zu 
entsprechen  (eine  Voraussetzung,  die  bei  den  Untersuchungen  über  die  Verschiedenheit 
der  Materie  weiter  entwickelt  wird),  oder  der  Gegensatz  zwischen  A  und  B  gleich  sein, 
daher  B  die  geforderte  doppelte  Selbsterhaltung  gegen  beide  A  zugleich  nicht  vollziehen 
können;  im  letzteren  Falle  scheint  B  eine  zurückstofsende  Gewalt  (Repulsion)  gegen  sie 
auszuüben.  Gesetzt  es  vermehrte  sich  die  Zahl  der  A  und  sie  würden  alle  nach  allen 
Seiten  gleichmäfsig  so  weit  her[49Q]ausgetrieben,  bis  Attraktion  und  Repulsion  sich  im 
Gleichgewichte  befänden,  so  läge  B  in  der  Mitte  und  bildete  mit  allen  A  zusammen- 
genommen nicht  mehr  einen  mathematischen  Punkt,  sondern  eine  körperliche  Ausdehnung 
oder  Klümpchen  (S.  276),  dessen  Dichtigkeit  durch  das  Verhältnis  von  Attraktion  und 
Repulsion  bestimmt  würde.  Kämen  mehrere  B  hinzu,  deren  jedes  im  unvollkommnen 
Zusammen  mit  den  A,  in  dieselben  so  weit  als  möglich  eindränge,  so  würde  aus  dem 
Klümpchen  eine  körperliche  Masse  sich  bilden.  Da  aber  der  äufsere  Zustand  oder  die 
Lage  der  Elemente  sich  nach  dem  inneren  Zustande  oder  der  Selbsterhaltung  jedes 
Elements  gegen  die  richtet,  mit  welchen  es  zusammen  ist,  so  wird  die  Masse  getrennt 
werden,  wenn  entweder  die  inneren  Zustände  verändert  oder  die  äufseren  verhindert 
werden  sich  nach  den  inneren  zu  richten  (chemischer  und  mechanischer  Grund  der  Ver- 
änderungen). Da  ferner  das  Gleichgewicht  der  Attraktion  und  Repulsion  durch  neue 
hinzukommende  Kiäfte  zerstört  werden  kann,  die  Selbsterhaltungen  aber,  den  ursprüng- 
lichen Qualitäten  der  Elemente  gemäfs,  das  ihnen  gebührende  Zusammen  zurückfordern, 
SO  ist  alle  Materie  notwendig  elastisch,  d.  h.  die  Elemente,  die  sich  eine  gewisse  Dehnung 
hatten  gefallen  lassen,  kehren  in  ihre  vorige  Lage  zurück.  Vermögen  verschiedene 
Massen,  deren  Elemente  im  gegensätzlichen  Verhältnis  stehen,  die  inneren  Zustände 
derselben  aus   irgend  einem   Grunde   nicht  abzuändern,    so   sind    sie  undurchdringlich   für 


404  Anhang  IL 

einander;  durchdringlich  dagegen  für  solche  Elemente,  welche,  weil  im  gegensätzlichen 
Verhältnis  zu  ihnen,  den  inneren  Zustand  derselben  gar  nicht  verändern  oder  auch  ihn 
überwinden  (Durchsichtigkeit,  chemische  Auflösung).  Insofern  das  aus  den  ursprüng- 
lichen Qualitäten  der  realen  Wesen  hervorgehende  Gleichgewicht  der  Attraktion  und 
Repulsion  für  jeden  gegebenen  Fall  nur  ein  einziges  bestimmtes  sein  kann,  stellen  zwei 
nächste  Elemente  der  Materie  allemal  einen  bestimmten  Bruch  der  ursprünglichen  Ein- 
heit im  Räume  oder  des  Aneinander  dar,  so  dafs  die  Materie  ursprünglich  eine  starre 
Masse,  kein  Kontinuum  ist;  und  mit  der  jedesmaligen  Dichtigkeit  wird  eine  bestimmte 
innere  Konfiguration  verbunden  sein.  Auf  die  Weise  ist  eine  räumliche  mit  Cohäsion 
versehene  Materie  gefunden,  ohne  dafs  wir  den  realen  Wesen  innere  Eigenschaften  ge- 
geben, wodurch  sie  räumliche  oder  auch  andere  Beziehung  zu  einander  erlangt  hätten, 
und  ohne  dafs  die  Undurchdringlichkeit  mit  Kant  in  eine  bewegende  Kraft  verwandelt 
oder  mit  LEIBNITZ  den  Monaden  ein  vinatluin  substantielle  hintennach  beigefügt  wäre 
(S.  261  ff.).  Indem  nämlich  beim  unvollkommnen  Zusammen  einer  Mehrheit  einfacher 
Wesen  die  Selbsterhaltung  zwar  nicht  geteilt,  aber  dem  Grade  nach  vermindert  wird, 
entsteht  Ausdehnung,  daher  für  die  nämlichen  Stoffe  das  ihnen  jedesmal  zukommende 
Volumen  nach  Verschiedenheit  der  Mischung  so  verschieden  ist  (vgl.  des  Verf.s  theoriae 
de  attractione  elementorum  prineipia  metaphysica  p.   44   sqq.). 

[500]  Es  bedarf  nur  gerechter  Schätzung,  wie  sie  in  wissenschaftlichen  Untersuchungen 
nie  fehlen  sollte,  um  anzuerkennen,  dafs  diese  Theorie  mit  dem  klarsten  Bewufstsein  aller 
der  Schwierigkeiten,  die  eine  Konstruktion  der  Materie  zu  gewärtigen  hat,  und  mit  un- 
verrückter Richtung  auf  die  Hauptsache,  durch  einfache  Voraussetzungen,  zu  über- 
raschenden und  sehr  beachtenswerten  Ergebnissen  führt.  Aber  zugleich  ist  offenbar,  dafs 
sie  einerseits  auf  Konstruktion  des  Raumes ,  anderseits  auf  der  Lehre  von  der  Be- 
wegung, als  auf  ihren  Angelpunkten  beruht,  und  mit  ihnen  stehen  oder  fallen  mufs. 
In  erster  Rücksicht  wollen  wir  zwar  nicht  fragen  (s.  S.  287),  warum  denn  überhaupt 
die  einfachen  Wesen  in  die  Stellung  des  unvollkommenen  Zusammen  eingeführt  seien, 
vielmehr  die  Berechtigung  dazu  in  dem  Vorhandensein  des  Stoffes  gern  anerkennen; 
aber  begreifen  ebensowenig  hier,  wie  ein  Räumliches  aus  dem  unvollkommenen  Zu- 
sammen einfacher  qualitativ  bestimmter  Wesen  hervorgehen  soll,  als  wir  oben  die  ent- 
sprechende Ableitung  des  intelligibelen  Raumes  gelten  lassen  konnten.  Nach  Ver- 
schiedenheit des  Zusammen  werden  die  Qualitäten  der  einfachen  Wesen  dem  Zuschauer 
auf  verschiedene  Weise  getrübt  oder  gebrochen  erscheinen ;  er  mag  das  Nacheinander 
bedürfen,  um  die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  aufzufassen  und  zu  ordnen;  aber 
dafs  er  sie  nebeneinander  ordnet,  läfst  sich  ebensowenig  aus  dem  unvollkommenen 
wie  aus  einem  vollkommenen  Zusammen  begreifen.  Die  psychologischen  Erklärungen 
scheinen  uns  auch  hier  das,  was  erklärt  werden  soll,  die  Vorstellung  des  Nebeneinander, 
immer  schon  vorauszusetzen.  Wie  wenig  wir  darum  auch  geneigt  sind,  die  Ableitung 
der  äufseren  Verhältnisse  aus  den  inneren  Zuständen  einfacher  Wesen,  zu  verwerfen 
und  damit  einen  viel  verheifsenden  Erklärungsgrund  von  vornherein  aufzugeben :  über- 
zeugen können  wir  uns  nicht,  dafs  er  für  sich  genommen  zur  Ableitung  der  Räumlich- 
keit und  ihrer  Erscheinungen  hinreichen   sollte. 

Was  den  zweiten  Punkt  betrifft,  so  leitet  er  uns  zu  der  zweiten  Abteilung  der 
Synechologie  (S.  289  ff.)  über,  die  überschrieben  ist,  vom  objektiv  scheinbaren  Ge- 
schehen oder  von  der  Zeit  und  dem  Zeitlichen.  —  Der  Wechsel  in  den  Zuständen 
sinnlicher  Dinge  nötigt  uns  einen  Wechsel  im  Zusammen  und  Nichtzusammen  der 
Substanzen  anzunehmen.  Setzen  wir  nun  voraus,  die  den  Wechsel  bedingende  Be- 
wegung sei  ein  wirkliches  Geschehen  und  aus  innerm  Triebe,  d.  h.  einem  solchen  Be- 
stehen abzuleiten,  welches  innerlich  zum  fortgehenden  Wechsel  nötige,  so  müfste  mit 
dem  Triebe  die  Bewegung  immer  schwächer  werden,  und  die  Überzeugung,  dafs  ein 
Bewegtes,  dem  kein  Hindernis  widerfährt,  in  gleicher  Richtung  und  Geschwindigkeit 
stets  weitergehen  werde,  würde  aufzugeben  sein;  wogegen  sie  durch  die  Voraussetzung 
gesichert  wird,  die  Bewegung  sei  keine  wahre  Veränderung,  kein  Zustand,  keine  Wirkung 
irgend  einer  Kraft,  und  bedürfe  überhaupt  keines  Grundes,  sondern  sei  [501]  dem  Gegen- 
stande im  Räume  ebenso  natürlich  wie  die  Ruhe;  und  der  der  Bewegung  entsprechende 
Wechsel  liege  blofs  darin,  dafs  andere  und  wieder  andere  Stellen  in  der  Bahn  als  die 
Orte  angesehen  würden,  worin  sich  das  Bewegte  befinde  (S.  295);  ihre  gleichförmige 
Fortdauer  darin,  dafs  kein  Punkt  der  Bahn  einen  Vorzug  vor  dem  anderen  habe;  denn 
jedes  reale  Wesen  ruht  in  seinem  eigenen  Räume,  aber  bewegt  sich  samt  seinem  Räume 
im    Räume  des  anderen,   und   zwei   reale  Wesen   können   ebenso  gut  ursprünglich  in   Be- 


Die  Rezension  der  Allgem.  Metaphysik  von  Prof.   Dr.  Brandts  in  Breslau.      405 


wegung  als  in  Ruhe  gegen  einander  sein  Leichter  aber  ist  es,  sich  die  realen  Wesen 
gegenseitig  ruhend  als  in  Bewegung  zu  denken,  weil  man  nur  Eine  Konstruktion  des 
Raumes  und  für  je  zwei  Reale  Eine  Distanz  nötig  hat.  Die  Bewegung  zerfällt  in  die 
Faktoren  der  Geschwindigkeit  und  der  Zeit.  Die  Geschwindigkeit,  insofern  man  sie 
als  intensive  Gröfse  nach  dem  Räume  mifst,  der  mit  ihr  in  gegebener  Zeit  durchlaufen 
wird,  erscheint  als  ein  Zustand  des  Bewegten  mit  darin  eingewickelter  Bewegung  oder 
als  Tendenz  sich  weiter  zu  bewegen.  Aber  das  Bewegte  hat  in  der  That  nur  Ge- 
schwindigkeit, sofern  es  nicht  an  irgend  einem  Orte  beharrt,  vielmehr  das  Sein  an 
diesem  Orte  sogleich  wieder  aufgehoben  und  das  Setzen  und  Aufheben  unmittelbar  ver- 
bunden wird  (S.  301).  Durch  diese  Erklärung  lösen  sich  die  vom  Eleatischen  Zeno 
im  Begriff  der  Bewegungen  nachgewiesenen  Widersprüche  (S  301  ff.):  denn  jeder  Weg 
hat  vermöge  der  bestimmten  Geschwindigkeit  sein  bestimmtes  Element,  einen  Bruch 
des  Aneinander;  ist  nicht  ins  Unendliche  teilbar  (S.  305).  Geschwindigkeit  ist  demnach 
Bewegung  auf  ihren  allgemeinen  Begriff  zurückgeführt;  Zeit  der  Multiplikator  dieses 
intensiven  Multiplicandus  Die  Geschwindigkeit  ist  nämlich  Setzung,  Aufhebung  und 
neue  Setzung  dergestalt  verbunden,  dafs  die  jedesmalige  neue  Setzung  mit  der  vorigen 
nicht  ganz  zusammenfällt:  Da  nun  das  Bewegte  sich  an  dem  neuen  Platze,  wegen  der 
durchgängigen  Gleichartigkeit  der  Teile  des  Raums  gerade  so  befindet,  wie  am  vorigen, 
so  wiederholt  sich  das  Element  der  Bewegung,  oder  wird  multipliziert  durch  die  Zeit, 
die  daher  nichts  als  eine  Zahl  ist  und  zwar  die  Zahl  des  Wechsels  Indem  die  Zeit 
aus  dem  Multiplikator  der  Bewegung  in  das  Bewegte  selber  verwandelt  wird,  legt  man 
ihr  Geschwindigkeit  bei:  indem  ungeachtet  der  Aufhebung  der  einzelnen  Zeitpunkte  die 
vorigen  Ordnungszahlen  zusammengefafst  und  bis  ins  Unendliche  hin  überschaut  werden, 
verwandelt  sich  die  Zeit  in  ein  Analogon  des  Raums,  ist  aber,  vermöge  des  be- 
stimmten Zwischen,  welches  unter  ihren  Punkten  stattfindet,  immer  nur  als  gerade  Linie 
und  zwar  ursprünglich  als  starre  Linie  aufzufassen;  die  Vorstellung  der  Kontinuität 
kommt  erst  hinzu,  wenn  verschiedene  gleichzeitige  Bewegungen  verglichen  und  zusammen- 
gefafst werden:  denn  zwischen  zwei  nächsten  Zeitpunkten  liegt  keine  Zeit,  vielmehr  fällt 
der  Wechsel  in  die  Zeitpunkte  selbst.  Dafs  die  Zeit  nur  eine  Dimension  haben  kann, 
folgt  daher  aus  der  [502]  Ent Wickelung  des  Begriffs,  nicht  aus  reiner  Anschauung;  und 
Sonderung  einer  intelligiblen  und  sinnlichen  Zeit  gelingt  nicht,  weil  der  Wechsel  der  Vor- 
stellungsmassen, der  zu  der  Sonderung  im  Bewufstsein  notwendig  wäre,  selbst  in  die 
Zeit  fällt  (S.  317).  Wiewohl  auf  diese  Weise  Raum-  und  Zeitverhältnisse  nicht  im 
mindesten  für  wahre  Prädikate  der  Objekte  selber  zu  halten  sind,  sondern  lediglich  auf 
dem  Zusammentreffen  ihrer  Bilder  in  der  sie  abspiegelnden  Intelligenz  beruhen,  so  ge- 
hören sie  doch  nicht  dem  subjektiven  Scheine,  wie  Kant  wähnte,  sondern  dem  ob- 
jektiven an,  weil  die  Intelligenz  an  das  jedesmal  bestimmte  Zusammentreffen  der  Bilder; 
wie  an  jede  qualitative  Bestimmtheit  des  Gegebenen  gebunden  ist.  Der  Zuschauer  ver- 
leiht den  von  einander  gegenseitig  unabhängigen  Objekten  eine  lediglich  im  Gedanken 
vorhandene  Gemeinschaft;  und  indem  er  in  dem  Räume,  worein  er  schon  eines  der 
Elemente  gesetzt  hatte,  noch  ein  anderes  setzt,  entzieht  sichs  ihm,  und  gewinnt  eine 
Richtung  und  Geschwindigkeit,  die  jetzt  zur  Regel  der  Zusammenfassung  wird,  welche 
das  zweite  Objekt  in  Beziehung  auf  das  erste  gestattet.  Damit  ist  denn  die  gleich- 
förmige Bewegung  im  Gange,  welche  bleibt  bis  ein  Grund  der  Abänderung  eintritt. 
Was  hier  dem  einen  Zuschauer  begegnet,  mufs  allen  begegnen.  Bewegung  ist  also 
nichts  anderes  als  ein  natürliches  "Mifslingen  der  versuchten  räumlichen  Zusammen- 
fassung; Geschwindigkeit  und  die  ihr  einwohnenden  Richtungen,  —  Bestimmungen  wie 
und  inwiefern  die  Zusammenfassung  mifshngt  (S.  325).  Die  Objektivität  des  Scheins 
aber  wird  bedingt  durch  die  R.egel  des  Zusammentreffens  der  Bilder  in  einem  gleich- 
viel ob  idealen  oder  wirklichen  Zuschauer,  und  ihr  Grund  ist,  dafs  die  äufsere  Lage 
sich  nach  dem  inneren  Zustande  richten  mufs  (vgl.  S.  365).  Kritische  Yirgleichung 
dieser  Theorie  mit  der  Kantschen  und  der  Atomistik,  nebst  Rückblick  auf  die  Kant- 
scheu  Antinomieen  (S.  333  ff.)  beschliefst  den  reichhaltigen  dritten  Abschnitt.  Die 
dritte  und  vierte  Antinomie  wird  als  beseitigt  durch  die  Ontotogie,  die  zweite  als  er- 
ledigt durch  die  Konstruktion  der  Materie  betrachtet;  in  Bezug  auf  die  erste  aber  er- 
innert, dafs  das  Quantum  des  Realen,  d.  h.  die  Anzahl  der  realen  Wesen  nicht  un- 
endlich sein  könne,  weil  der  Vorbehalt  noch  Etwas  beizufügen  die  absolute  Position 
aufhebe;  gleichwohl  die  Welt  nicht  in  Grenzen  eingeschlossen  sein  könne,  weil  die  Be- 
wegung sich  immer  so  viel  Raum  nehme,  wie  sie  brauche,  und  für  die  Dauer  des 
Realen   sich  kein  Anfang   finde,   wiewohl  die  Summe  des  Geschehens  endlich  sein   müsse. 


406  Anhang  II. 


Bewegung  nichts  weiter  als  ein  natürliches  Mifslingen  der  versuchten  räumlichen 
Zusammenfassung?  können  wir  uns  nicht  enthalten  zu  fragen,  so  scharfsinnig  auch  hier 
wiederum  das  Einzelne  behandelt  ist.  Die  Zusammenfassung  mifslingt  also  erst  da, 
wo  Objekte  von  der  Ruhe  zur  Bewegung  übergehen;  und  doch  hat  sich  weder  an  den 
Objekten  und  ihrem  Verhältnis  zu  einander  noch  bei  uns  irgend  etwas  [503]  verändert, 
wodurch  bei  solchem  Übergange  die  Zusammenfassungen  erschwert  würden.  Wie  kommt 
es  denn,  dafs  wir  eine  grofse  Mannigfaltigkeit  verschiedener  Objekte  ohne  Schwierigkeit 
als  in  Ruhe  befindlich  betrachten,  d.  h.  räumlich  zusammenfassen,  und  wiederum  zwei 
derselben  Objekte  nicht  zusammenzufassen  vermögen,  d.  h.  sie  als  in  Bewegung  begriffen 
setzen  müssen  ?  wie  kommt  es,  dafs  gerade  die  unendliche  Menge  von  Fixsternen,  bei 
denen  alle  räumliche  Zusammenfassung  versagt,  uns  als  ruhend  erscheint  ?  Doch  statt 
solche  Instanzen  zu  häufen,  die  nur  bestimmt  und  geeignet  sein  können,  fernere  Er- 
läuterungen über  einzelne  Punkte  der  neuen  Theorie  hervorzurufen,  fragen  wir,  was 
denn  durch  eine  solche  Bewegung  für  die  Erklärung  des  Wechsels  in  dem  Zusammen 
und  Xichtzusammen  einfacher  Wesen  gewonnen  werde  ?  oder  wie  die  äufsere  Lage  der- 
selben sich  nach  dem  innern  Zustande  richten  könne,  wenn  der  Wechsel  in  Bezug  auf 
jene  ausschhefslich  durch  ein  dem  Subjekte  eigentümliches  Gelingen  oder  Mifslingen 
bedingt  wird  ?  So  wenig  wir  begriffen,  wie  blofs  qualitative  Verschiedenheit  einfacher 
Wesen  uns  von  der  ersten  zur  zweiten,  von  der  zweiten  zur  dritten  Dimension  führen 
könne,  ebensowenig  sehen  wir  ein,  wie  innere  Zustände  oder  die  Qualitäten  der  ein- 
fachen Wesen  äufsere  Lagen  bedingen  sollen ,  die  vermittelst  der  Bewegung  ganz 
abhängig  von  unserem  subjektiven  Gelingen  oder  Mifslingen  der  Zusammenfassung. 
Oder  ist  dieses  wiederum  bedingt  durch  die  besondere  Qualität  der  einfachen  Wesen  ? 
so  dafs  wir  die  einen  ohne  alle  Schwierigkeit  zusammenzufassen  vermöchten,  andere 
dagegen  gar  nicht?  dann  findet  sich  eine  Lücke  in  der  Darstellung,  von  der  wir  zweifeln, 
ob  sie  mit  Erfolg  auszufüllen  sein  möchte.  Jedenfalls  aber  werden  durch  diese  Er- 
klärung von  Bewegung  alle  Schwierigkeiten  und  Widersprüche,  welche  der  Begriff  des 
Wechsels  mit  sich  führt,  auf  das  Ich,  als  einzigen  Grund  der  Bewegung,  zusammen- 
gehäuft. Davon  handelt  die  Eidolologie,  soweit  die  darauf  bezüglichen  Untersuchungen 
vom   Verf.   in  die  Metaphysik  gezogen   werden. 

[505]  Die  Eidolologie  (S.  340—424.)  soll  von  der  Möglichkeit  des  Wissens  Rechen- 
schaft geben;  und  entnimmt  aus  den  früheren  Abschnitten,  dafs  die  gegebenen  Em- 
pfindungen für  Selbsterhaltungen  der  Seele,  das  Empfundene  für  Ausdruck  der  inneren 
Qualität  der  letzteren  zu  halten,  die  Ordnung  und  Folge  der  Empfindungen  aber  das 
Zusammen  und  Xichtzusammen  der  Dinge  verrate.  Sie  setzt  sich  zuerst  teils  mit  dem 
transscendentalen  Idealismus  sowohl  in  seiner  ursprünglichen  reinen  Darstellung  in 
FlCHJEs  Bestimmung  des  Menschen  und  Wissenschaftslehre,  als  in  seiner  späteren  An- 
näherung zum  Spinozismus  in  der  Anweisung  zum  seligen  Leben  auseinander;  teils  mit 
Friess  Bestimmungen  über  das  Selbstbewufstsein,  und  subsumiert  das  Ich,  ihr  eigent- 
liches Objekt,  als  eine  Komplexion  von  Merkmalen,  unter  den  logisch  höhern  Begriff 
der  Inhärenz  (S.  362.).  Die  dem  Ich  zu  Grunde  liegende  Substanz,  die  Seele,  soll 
nämlich  ebensowenig  inhaftende  Attribute  haben  wie  jede  andre  Substanz;  vielmehr 
ihrer  ganzen  geistigen  Mannigfaltigkeit  eine  hinreichende  Menge  und  Bestimmung  eines 
vielfältigen  Zusammen  mit  anderen  und  wiederum  andren  realen  Wesen  vorausgesetzt 
werden.  Ein  reines  Selbstbewufstsein,  welches  setzte  ohne  Gesetztes  wird  von  vorn- 
herein als  undenkbar  beseitigt  (S.  367.  vgl.  Psychol.  I  S.  93  ff.).  Die  Vorstellungen 
ergeben  sich  als  Selbsterhaltungen  der  Seele,  zunächst  insofern  sie  auf  einfache  Empfin- 
dungen sich  beziehen  (S.  38b.);  dafs  nun  nicht  alle  mit  allen,  sondern  einige  mit  Aus- 
schliefsung  andrer  in  Verbindung  treten ,  und  dadurch  eine  Mehrheit  von  Dingen  für 
uns  entsteht,  dafür  mufs  der  Grund  in  der  Beschaffenheit  der  zufälligen  Ansichten  ge- 
sucht werden,  und  diese  auf  den  Hemmungen  unter  den  Vorstellungen  beruhen.  Das 
Ich  ist  nichts  anderes  als  ein  Mittelpunkt  wechselnder  Vorstellungen  (S.  403.),  und  der 
Begriff  desselben  durchaus  unfähig,  die  Qualität  eines  Realen  unmittelbar  auszudrücken 
(S.  404.).  Die  ersten  Anlässe  des  Zweifels  und  Irrtums  aufzuzeigen,  mufs  der  Psycho- 
logie überlassen  bleiben ;  die  Metaphysik  hat  über  den  Gebrauch  und  Wert  der  Bestand- 
teile des  \\*i-  5,o6]sens  —  sinnliche  Wahrnehmung,  allgemeine  Begriffe,  mathematische 
Formen  —  Rechenschaft  zu  geben  (S.  407.)-  Die  Anfänge  des  Wissens  und  einzig  mög- 
liches Fundament  seiner  Realität  sind  die  Empfindungen,  die  als  blofse  Selbsterhaltungen 
der  Seele  nichts  Äufseres  abspiegeln  können.  Weil  wir  aber  die  wahrhaft  erste  Position 
des  Empfundenen   unmöglich  so  stehen  lassen  können  wie  sie  ursprünglich  war,  so  tritt 


Die  Rezension  der  Allgem.  Metaphysik  von  Prof.  Dr    Brandis  in  Breslau.      407 

schon  in  der  niedrigsten  Region  des  gemeinen  Verstandes  eine  Veränderung  des  Ge- 
setzten ein,  indem  Substantiva  zu  den  Adjektivis  der  Empfindung  gebildet  werden. 
Diese  Veränderung  ist  keinesweges  eine  willkürliche;  sondern  eben  indem  die  Empfin- 
dungen gegeben  werden,  fügen  sie  sich  in  bestimmte  Gruppen  und  Reihen ;  der  Gehalt 
oder  das  Jf'i7s  des  Wissens  ist  daher  in  der  Form  wie  in  dem  Stoffe  enthalten;  und 
weil  das  Empfundene  nicht  real  sein  kann,  bleibt  von  der  ursprünglichen  Setzung  nichts 
als  die  Form  übrig,  d.  h.  die  Dinge  an  sich  kennen  wir  nicht,  wissen  aber,  dafs  etwas 
und  zwar  vieles  und  verschiedenes  da  ist,  und  dafs  unter  seinen  Qualitäten,  die  wir 
nicht  kennen,  Verhältnisse  stattfinden;  diese  vermögen  wir  wissenschaftlich  zu  bestimmen 
ohne  die  Verhältnisglieder  einzeln  zu  kennen.  Alle  vermeinte  Qualitäten  laufen  auf  Re- 
lationen hinaus  —  Ausdehnung  auf  den  Gegensatz  des  Hier  und  Dort,  Denken  und 
Wissen  auf  ein  entweder  wahres  oder  angenommenes  Verhältnis  zwischen  Bild  und 
Gegenstand,  Kräfte  der  Körper  auf  den  Raum,  Kiäfte  des  Geistes  auf  Gedachtes  und 
Gewolltes  (S.  413.).  Abgebildet  in  unsrem  Wissen  ist  die  Einheit  des  realen  Wesens, 
welches  sich  unter  Umständen  für  uns  mit  vielen  Merkmalen  bekleidet;  abgebildet  in 
unsrem  Erfahrungskreise  das  Zusammenkommen  oder  Getrenntwerden  solcher  Ein- 
heiten, die  sich  unter  einander  die  Gruppen  von  Merkmalen  bestimmen,  vermöge  deren 
sie  uns  erscheinen  sollen.  Die  Erkenntnis  der  Relation  genügt  uns  in  der  That  auch, 
da  wir  in  Relationen  leben ;  und  ist  gesichert  durch  die  ihnen  zu  Grunde  hegenden 
realen  Wesenheiten  So  nämlich  sind  die  empirischen  Raumverhältnisse  denen  ähnlich, 
worin  eine  Intelligenz,  welche  die  realen  Wesen  unmittelbar  anschauen  könnte,  dieselben 
zusammenfassen  würde.  Die  allgemeinen  Begriffe  sind  nur  Abbreviaturen  zur  Be- 
quemlichkeit, ohne  irgend  eine  eigene  Bedeutung,  und  logische  Ideale,  insofern  wir  Bei- 
seitsetzung  der  spezifischen  Differenzen  von  uns  fordern,  um  das  Allgemeine  rein  zu 
denken;  das  Allgemeine  hat  aber  nur  Giltigkeit,  [507]  weil  es  in  jedem  Einzelnen  wieder- 
kehrt. Verletzung  oder  Verkennung  der  wahren  Beziehungen  verrät  sich  durch  Wider- 
sprüche; und  indem  die  spekulative  Form  des  Wissens  diese  hinwegräumt,  berichtigt 
sie  zugleich  das  Fehlerhafte  der  ursprünglich  erzeugten  Bilder.  Den  Täuschungen  ist 
sie  unterworfen,  wenn  sie  in  Ansehung  der  absoluten  Position  sich  übereilt,  und  Be- 
griffe, die  nur  in  bestimmten  Beziehungen  Grund  und  Bedeutung  haben,  schlechthin 
setzt  d.  h.  in  reale  Objekte  verwandelt  (wie  Zahlen  und  Ideen,  Seelenkräfte  u.  s.  w.), 
oder  das  scheinbare  Geschehen  mit  dem  wahren  verwechselt  (S.  418.),  dem  Nichtigen 
der  Bewegung  Kräfte  hinzudenkt,  lediglich  begleitenden  Phänomenen  für  den  Zuschauer, 
wie  der  Attraktion  und  Repulsion,  Wirklichkeit  beilegt.  Die  Mehrheit,  der  Wechsel 
und  die  Begrenzung  der  Bilder  beruhen  auf  der  Hemmung,  welche  aus  dem  Entgegen- 
gesetzten der    Empfindung  sich   ergiebt  und   die  Strebung  zur  Folge  hat. 

Fassen  wir  nun  die  Hauptpunkte  der  Erkenntnislehre  des  Verf.s  zusammen,  so 
ergeben  sie  sich  einerseits  als  durchaus  konsequente  Folgerungen  aus  seinen  meta- 
physischen Grundannahmen,  anderseits  aber  zugleich  als  abhängig  von  den  Resultaten 
seiner  Psychologie.  Das  Ich  kann  ihm  keine  Vorstellungen  und  Begriffe  entwickelnde 
Kraft,  vielmehr  nichts  als  ein  schlechthin  einfaches  qualitativ  bestimmtes  Wesen,  die 
Vorstellung  nur  eine  bestimmte  Erscheinungsweise  seiner  Qualität  und  —  diese  wiederum 
nur  abhängig  von  dem  jedesmaligen  Zusammen  desselben  mit  anderen  einfachen  Wiesen 
sein,  gegen  die  es  sich  in  seiner  unveräufserlichen  Bestimmtheit  zu  erhalten  hat.  Auch 
sehr  begreiflich,  dafs  der  Verf.  die  einfachen  Empfindungen  für  die  unmittelbarsten  Aus- 
drücke der  Selbsterhaltung  und  eben  darum  für  die  Grundlage  aller  Erkenntnis,  ihre  be- 
stimmten Gruppen  und  Reihen,  sowie  ihre  Ordnung  und  Folge,  für  bedingt  durch  die 
ursprünglichen  Verhältnisse  der  einfachen  Qualitäten  zu  einander  und  durch  die  davon 
abhängigen  zufälligen  Ansichten,  hält;  weil  er  aber  die  Qualität  an  sich  als  unerkennbar 
setzen  mufs,  alle  Erkenntnis  auf  wissenschaftliche  Bestimmung  der  Verhältnisse  be- 
schränkt und  die  allgemeinen  Begriffe  für  blofse  Abbreviaturen  des  Besondern  nimmt. 
Ebenso  ergiebt  sich  was  vom  Ursprünge  des  Irrtums  und  seiner  Verbesserung  gelehrt 
wird,  als  völlig  der  Grundannahme  angemessen;  denn  Irrtum  mufs  ihr  zufolge  entstehen, 
so  oft  wir  entweder  erkennen  zu  können  wähnen,  was  unerkennbar  ist,  die  einfache 
Qualität  der  Wesenheiten,  und  Relationen  dafür  halten,  oder  auch  in  der  Auffassung 
der  Relationen  fehl  greifen  und  Unvereinbares  vereinigen.  Dadurch  erhält  auch  die  Be- 
hauptung der  Methodologie,  der  Widerspruch  sei  Grund  der  Erkenntnisse,  höhere  Be- 
deutung; denn  durch  Widerspruch  verrät  sich  die  Verletzung  der  wahren  Beziehung 
und  damit  der  /wiefache  Irrtum,  dem  zufolge  wir  blofse  Verhältnisse  luv  Qualitäten 
halten,  oder  [508]  in  diesen  fehlgreifen  und  Unvereinbares  zusammenfassen.    Aber  woher  ein 


4o-S  Anhang  II. 

solches  Fehlgreifen,  und  zwar  ein  Fehlgreifen,  das  sich  schon  im  Kreise  der  alltäglichen 
Erfahl ung  auf's  mannigfaltigste  äufsert?  Warum  hat  es  bei  den  Gruppen  und  Reihen, 
worin  sich  die  Empfindungen  ursprünglich  fügen,  nicht  sein  Bewenden?  etwa  weil  ihnen, 
so  gewifs  das  Ich  Mittelpunkt  der  wechselnden  Vorstellungen  ist,  ein  einheitlicher  Träger 
hinzugedacht  werden  mufs;  und  dieses  Hinzudenke-i  zwar  einerseits  zu  den  Ergänzungen 
der  Erfahrungen  und  vermittelst  derselben  zu  allen  den  Aufschlüssen  führt,  die  wir 
zunächst  der  Metaphysik  verdanken,  anderseits  aber  auch  immer  von  neuem  veranlagst 
für  reale  Objekte  oder  Qualitäten  zu  halten,  was  nur  der  Ausdruck  von  Verhältnissen 
ist?  da  bliebe  dann  noch  zu  erklären,  wie  Irrtum  in  die  Auffassung  der  Gruppen  und 
Reihen  kommen  kann,  wie  in  ihnen  nicht  vielmehr  alles  nach  den  gegensätzlichen  Ver- 
hältnissen zwischen  den  einfachen  Qualitäten,  die  der  Zuschauer  in  zufälligen  Ansichten 
zusammenfafst,   mit  Notwendigkeit  sich   ordnet. 

Doch  ohne  diese  und  ähnliche  Fragen  weiter  zu  verfolgen,  die  uns  in  die  Tiefen 
der  Psychologie  des  Verfassers  führen  würden,  wollen  wir  uns  für  jetzt  begnügen  zu 
fragen,'  wie  doch  das  Ich  als  Zuschauer  zu  den  zufälligen  Ansichten  und  in  ihnen  zu 
dem  Wechsel  des  Zusammen  und  Nichtzusammen  komme?  an  ihm  nämlich  bleibt  der 
Wechsel  haften,  dem  durch  so  scharfsinnige  Operationen  die  Objekte  oder  vielmehr  die 
ihnen  zu  Grunde  liegenden  einfachen  Wesen  entzogen  worden.  Nun  ist  aber  das  Ich 
selber  ein  schlechthin  einfaches,  an  und  für  sich  dem  Wechsel  unzugängliches  Wesen; 
wie  kommt  es  also  zu  dem  Wechsel?  dafs  diese  Schwierigkeiten  vom  Verfasser  mit 
nichten  aufser  acht  gelassen  sind  (vgl.  u.  a.  s.  Psychologie  I.  S.  1 1 8  ff.),  bedarf  wohl 
kaum  der  Erinnerung;  ihrer  Beseitigung  hat  er  ausführliche  Untersuchungen  in  seiner 
Psychologie  gewidmet,  die  wir  hier  nicht  ganz  unberücksichtigt  lassen  können.  Ob  die 
Metaphysik  besser  gethan  sie  als  Schlufsstein  bis  so  weit  in  sich  aufzunehmen,  wo  das 
Ich  als  Zuschauer  in  den  Wechsel  der  zufälligen  Ansichten  eingeht,  ohne  seine  Ein- 
fachheit ihm  zum  Opfer  zu  bringen  -  wollen  wir  dahin  gestellt  sein  lassen.  Aber  wenn 
sie  auch  in  der  Psychologie,  in  der  Mitte  verwandter  Forschungen,  passend  ihren  Platz 
gefunden  haben,  wir  müssen  hier  darauf  eingehn,  um  die  Prüfung  der  metaphysischen 
Grundlinien   nicht  ohne  Abschlufs  zu  lassen. 

Die  Empfindungen  sollen  für  Selbsterhaltungen  der  Seele,  d.  h.  eines  schlechthin 
einfachen  Wesens  gelten,  das  Empfinden  und  Vorstellen  des  Subjekts  unverändert  be- 
harren (Psvchol.  I.  S.  1 1 8,  141,  14/),  aber  zu  einem  Streben  vorzustellen  werden,  wenn 
entgegengesetzte  Vorstellungen  sich  in  ihm  vereinigen  (Psychol.  I.  S.  148);  und  erst 
indem  mehrere  [509]  Objekte  vorgestellt  werden,  etwas  dem  Vorstellenden  angehören,  ihr 
Zusammenfassen  in  Ein  Vorstellen  (Psychol.  I.  S.  105,  150^,  denn:  „Alle  unsere  Vor- 
stellungen, blofs  und  lediglich  darum,  weil  sie  in  uns  beisammen  sind,  werden  ein 
einziges,  aus  gar  keinen  Teilen  bestehendes,  gar  keine  Art  von  Absonderung  fähiges 
Objekt  vorstellen  —  und  zwar  ebensowohl  ein  unzeitliches  als  ein  unräumliches 
Objekt;  —  wenn  die  bekannten  Hemmungen  und  Gegensätze  der  Vorstellungen  nicht 
wären"  (Psychol.  II.  S.  168.)  Schon  hier  an  der  Schwelle  dieser  Untersuchungen  mufs 
Rez.  bekennen  schlechterdings  nicht  zu  begreifen,  was  man  unter  Empfindungen  und 
Vorstellungen  zu  denken  habe,  die  noch  keinem  Empfindenden  und  Vorstellenden  an- 
gehören ;  sollen  sie  überhaupt  nicht  vorgestellt  und  empfunden  werden,  oder  nur  nicht 
von  einem  vorstellenden  und  empfindenden  Subjekte  vorgestellt  und  empfunden  werden  ? 
er  vermag  sich  unter  solchen  subjektlosen  Vorstellungen  und  Empfindungen  nichts  anderes 
zu  denken  als  etwa  Bilder,  die  auf  die  Spiegelfläche  der  einfachen  Wesenheit  fallen, 
ohne  von  ihnen  aufgefafst  zu  werden,  oder  als  an  ihm  wechselnde  Schlagschatten.  Er 
erinnert  sich  sehr  wohl  der  LElBXiTzischen  Sonderung  von  perceptioncs  und  apperceptiones; 
aber  meint,  dafs  auch  ihre  Triftigkeit  zugegeben,  unser  Verfasser  sie  sich  nicht  aneignen 
könne,  weil  er  die  innere  Kraftthätigkeit  verwirft,  wodurch  Leibnitz  die  V01  Stellungen 
aus  ihren  bewufstlosen  Anfängen  sich  entwickeln  läfst.  Und  wie  soll  ein  Mannig- 
faltiges von  Objekten  in  ein  Vorstellen  zusammengefafst  werden,  so  lange  noch  kein 
zusammenfassendes  Subjekt  oder  kein  Vorstellender  vorhanden  ist?  zu  geschweige!!, 
dafs  auch  noch  zu  erklären  wäre,  welches  Zusammentreffen  eines  Mannigfaltigen  ein 
Zusammenfassen  erzeuge,  und  wie  überhaupt  aus  einem  blofsen  Zusammentreffen  ein 
Zusammenfassen  werde.  Die  schlechthin  einfache  Wesenheit,  woraus  das  Ich  wird, 
kann  nicht  für  ein  zusammenfassendes  Subjekt  gelten.  Auch  kann,  bevor  das  Vor- 
stellende sich  gebildet,  wenigstens  nicht  von  einem  bestimmten  zusammenzufassenden 
Mannigfaltigen  die  Rede  sein;  ein  solches  mufs  aus  der  Allheit  des  Mannigfaltigen 
das  Subjekt  sich  begrenzen.     Warum   wird   ferner  nicht  alles  Zusammen  einfacher  Wesen 


Die  Rezension  der  Allgem.  Metaphysik  von  Prof.  Dr.  Brandis  in  Breslau.      400 


zu  Vorstellungen?  werden  die  Selbsterhaltungen  zu  Vorstellungen  bei  bestimmten  Arten 
des  Zusammen  einfacher  Wesen,  oder  nach  eigentümlicher  Qualität  derselben?  in 
ersterem  Fall  müfste  der  Wechsel  unter  den  einfachen  Wesen  stattfinden  noch  ehe  ein 
Zuschauer  vorhanden  wäre,  was  gegen  die  Voraussetzung  ist ;  in  letzterem  Falle  eine 
bestimmte  Qualität  die  Spaltung  bedingen,  welche  Empfindung  und  Vorstellung  not- 
wendig voraussetzen,  und  so  doch  wiederum  die  Einfachheit  der  dem  Zuschauer  zu 
Grunde  liegenden  Wesenheit  aufgehoben  werden.  —  Auch  in  der  ferneren  Erklärung, 
wie  das  Vorstellende  zur  innern  Wahrnehmung  und  zum  Selbstbewufstsein  gelange,  ver- 
mag Rez.  dem  Verfasser  [510]  nicht  zu  folgen.  Der  letzte  Grund  des  Selbstbewufstseins 
wird  in  die  einfache  Wesenheit  des  Vorstellenden  gesetzt,  aber  damit  ihre  Einfachheit 
nicht  getrübt  werde,  sollen  durch  Verschmelzungen  der  Vorstellungen  Massen  sich 
bilden,  deren  eine  als  die  beobachtende  den  neu  hinzukommenden  entgegentrete.  Bei 
welcher  Erklärung  wir  den  Anstofs  nicht  zu  beseitigen  vermögen,  wie  teils  die  einfache 
Wesenheit  das  Ich  irgendwie  Massen  von  Vorstellungen  festzuhalten  im  stände  sein 
könne,  nicht  vielmehr  bei  jedem  Wechsel  in  den  Komplexionen  und  der  Abfolge  durch 
die  jedesmal  stattfindenden  Störungen  in  einer  eigentümlichen  Art  der  Selbsterhaltung 
sich  befinden  müsse,  der  mit  den  früheren  nichts  weiter  als  den  Mittelpunkt  gemein,  teils 
wie  Kontinuität  des  Bewufstseins  und  wie  die  unveräufserlichen  Thatsachen  der  sitt- 
lichen Zurechnung  mit  solchem  Wechsel  der  apperzipierenden  und  bestimmenden  Vor- 
stellungsmasse bestehen  können ;  teils  wie  eine  solche  Annahme  nicht  eben  so  gut 
in  die  Schwierigkeiten  eines  progressus  in  infinitum  zurückführen  solle  wie  der  vom 
Verfasser  verworfene  Begriff  freier  Selbstbestimmung.  „Unter  den  mehrern  Vorstellungs- 
massen, deren  jede  folgende  die  vorhergehende  apperzipiert  .  .  .  mufs  irgend  eine  di  2  letzte 
sein.  Diese  höchste  apperzipierende  wird  nun  selbst  nicht  wieder  apperzipiert."  (Psychol.  II. 
S  222.)  Dieses  mit/s  sind  wir  weit  entfernt  zu  bestreiten;  nur  wollen  wir  es  den  An- 
griffen des  Verfassers  gegen  die  Annahme  freier  Selbstbestimmung  als  Schild  entgegen 
halten,  und  bitten  uns  gelten  zu  lassen,  was  er  für  seine  Theorie  zuletzt  auch  in  An- 
spruch zu  nehmen  sich  genötigt  sieht  —  als  ein  notwendiges  Postulat  gelten  zu  lassen, 
dafs  in  der  Reihe  der  Selbstbestimmungen  irgend  eine  die  letzte  sei.  Aber  hier  er- 
öffnet sich  uns  ein  Gebiet  der  Erörterungen,  in  das  wir  lieber  für  jetzt  nicht  eingehen, 
als  mit  einzelnen  unzulänglichen  Bemerkungen  uns  begnügen  wollen,  wie  dieser  Ort  und 
unser  gegenwärtiger  Zweck  sie  uns  verstatten  könnte  Dagegen  erlauben  wir  uns  kurze 
Entwickelung  der  unmittelbar  vorher  berührten  Punkte.  „Eine  Vorstellung  oder  Vor- 
stellungsmasse wird  beobachtet;  eine  andere  Vorstellung  oder  Vorstellungsmasse  ist  die 
beobachtende"  (Psychol.  II.  S  211);  daraus  soll  Wahrnehmung  hervorgehn  und  die 
Psychologie  ausmitteln,  unter  welchen  Umständen  sie  wirklich  erfolge,  unter  welchen 
anderen  sie  ausbleibe  (S.  219).  Eine  apperzipierende  Vorstellungsmasse  mufs  vorhanden, 
sie  mufs  stark  genug  sein,  der  zu  apperzipierenden  in  ihrem  Steigen  zu  widerstehn  oder 
sie  in  ihrem  Sinken  festzuhalten  u.  s.  w. :  und  nur  in  den  vielfach  zusammengeflossenen 
und  durch  einander  verstärkten  Totalkräften  kann  eine  apperzipierende  Vorstellungsmasse 
gesucht  werden  (S.  221).  So  wird  gelehrt  und  mit  höchst  beachtenswerten  aus  geist- 
voller Beobachtung  und  heller  Reflexion  geschöpften  Bemerkungen  die  Apperzeption  der 
inneren  Wahrnehmung,  ihr  Ausbleiben  bei  schnel[5  1  ijler,  rasch  vorübergehender,  sehr 
mannigfaltiger  und  neuer  Entwickelung  von  Gedanken  oder  bei  heftig  auflodernder 
Leidenschaft  u.  s.  w.  erklärt,  die  Aufmerksamkeit  mit  ihren  verschiedenen  Modifikationen 
(S.  223  ff.)  beleuchtet,  vom  Grunde  der  Stärke  und  Thätigkeit  der  Reflexion  —  einer 
erhöhten  Apperzeption  —  und  von  den  Hilfsmitteln  der  Ausbildung,  welche  dem 
Menschen  seine  geistige  Überlegenheit  über  das  Tier  sichern  sollen  (Hände,  Sprache, 
lange  hilflose  Kindheit,  dabei-  Erziehung),  sowie  von  den  Kategorien  der  inneren 
Apperzeption  als  dem  Erfolg  dieser  Überlegenheit  (Empfinden,  Wissen,  Wollen, 
Handeln,  mit  dem  was  ihnen  untergeordnet),  ausführlich  gehandelt  und  das  Selbstbewufst- 
sein von  seinen  ersten  Anfängen  beim  Kinde  durch  die  verschiedenen  Stufen  seiner 
Entwickelung  verfolgt.  Eine  dritte  Vorstellungsmasse,  welche  das  Zusammenfallen 
zweier  Reihen  in  einein  identischen  Punkt  apperzipiert,  soll  vorhanden  sein,  wo  das 
Wort  Selbst  der  Ausdruck  eines  allgemeinen  Begriffs  solcher  Identität,  auf  einen  vor- 
kommenden Fall  angewendet  wird,  dieser  Begriff  aus  dem  Zusammenfallen,  Verschmelzen 
und  mit  vereinter  Kraft  Hervortreten  der  beiden  gleichartigen  Elemente  zweier  inein- 
ander zurücklaufenden  Vorstcllungsweisen  erst  erzeugt  werden  (S.  207  ff.);  —  das  wahre 
Ich  aber  dasjenige  sein,  in  welchem  jenes  Entgegengesetzte  zum  Gleichgewicht  gelangt 
ist    (S.   283),    jedoch    höchst    veränderlich    bleiben    und    keine    vollkommne    Komplexion 


AlO  Anhang  II. 

sein  (S.  285):  dennoch  ein  Erwägen,  Wählen,  Beschliefsen,  sittlichen  Maximen  gemäfs, 
nach  dem  zusammengesetzten  Verhältnis  der  von  den  apperzipierenden  Vorstellungs- 
massen zuvor  gewonnenen  Ausbildung  und  des  Einflusses,  den  ihm  die  anderen  gleich- 
sam gewogenen  oder  erwogenen  Vorstellungsmassen  gestatten  (S.  418),  stattfinden,  Zu- 
rechnung aber  Schwierigkeiten  mit  sich  führen,  weil  sie  aus  verschiednen  zum  Teil 
entgegengesetzten  Gröfsen  einen  Gesamtwert  bestimmen  müsse,  der  sich  aus  den  Hand- 
lungen und  Aussagen  eines  Menschen  nur  mit  Wahrscheinlichkeit  erraten  lasse,  indem 
dieselben  teils  auf  das  Vorbedachte,  teils  auf  augenblickliche  Reizung,  teils  auf  Gewohn- 
heit, teils  auf  dreiste  Wagestücke,  teils  auf  dringende  Bedürfnisse  hinweisen  (S.  452). 
[513]  Ein  Teil  dieser  Erörterungen,  die  sich  zu  den  eben  mitgeteilten  wenigen  Grund- 
strichen wie  ein  nach  allen  seinen  Teilen  sorgfältig  ausgeführtes  Bild  zu  einem  Schattenrifs 
verhalten,  bewährt  eben  dadurch  seinen  bleibenden  Wert,  und  der  Verfasser  durch  sie 
seinen  hohen  philosophischen  Beruf,  dafs  sie  auch  abgelöst  von  der  Grundannahme,  der 
sie  ihre  Entwickelung  verdanken,  teils  sehr  bedeutende  Resultate,  teils  fruchtbare  Ent- 
wickelungskeime  und  Anregungen  für  neue  Untersuchungen  enthalten,  und  namentlich 
die  Psychologie  nötigen  werden,  die  allmähliche  Steigerung  und  Ausbildung  der  innern 
Wahrnehmung  und  des  Selbstbewufstseins  mit  ganz  anderer  Sorgfalt  wie  bisher  zu  be- 
handeln, der  Annahme  eines  von  vornherein  fertigen  Selbstbewufstseins  sich  entschlagend. 
Aber  so  wenig  vorher  die  Möglichkeit  des  Übergangs  von  der  in  sich  schlechthin  un- 
veränderlichen Qualität  eines  einfachen  Wesens  zu  der  Affektion  der  Empfindung  und 
Thätigkeit  des  Vorstellens,  und  wiederum  vom  Zusammentreffen  einer  Mannigfaltigkeit 
von  Vorstellungen  zum  Zusammenfassen  nachgewiesen  ist;  ebensowenig  hier,  wie  Massen 
von  Vorstellungen  sich  bilden,  zu  irgend  einigem  Bestand  gelangen  und  vom  Ich,  un- 
beschadet seiner  schlechtsinnigen  Einfachheit,  festgehalten  werden  sollen.  Die  Bildung 
derselben  setzt  schon  ein  zusammenfassendes  Denken  voraus,  ohne  welches  die  ein- 
fachen Wesen  ohne  alle  Beziehung  zu  einander,  ohne  Störung  und  Selbsterhaltung,  ohne 
Empfindungen  und  Vorstellungen  bleiben  müfsten,  so  dafs  nicht  einmal  Zusammen- 
treffen, geschweige  denn  ein  Zusammenfassen  stattfinden  könnte,  da  schon  Zusammen- 
treffen Wechsel  voraussetzt,  aller  Wechsel  aber  auf  die  zufälligen  Ansichten  eines  Zu- 
schauers zurückgeführt  wird.  Oder  soll  sich's  mit  dem  Zusammentreffen  von  Empfindungen 
lind  Vorstellungen  anders  verhalten,  wie  mit  dem  Zusammentreffen  der  einfachen  Wesen 
selber,  so  wird  doch  immer  auch  dann  noch  ein  Vorstellendes  und  Empfindendes  vor- 
ausgesetzt, das  den  Wechsel  zu  den  nur  der  Möglichkeit  nach  vor  ihm  vorhandenen  Em- 
pfindungen und  Vorstellungen  hinzu[5i4]brächte.  Doch  angenommen  (wie  undenkbar  es 
auch  ist),  es  seien  Vorstellungen  zusammengetroffen  und  es  hätten  durch  Verschmelzungen 
Vorstellungsmassen  sich  daraus  gebildet,  ohne  dafs  noch  das  zusammenfassende  Denken 
eines  Zuschauers  vorhanden  gewesen ;  wie  wird  eine  der  Vorstellungsmassen  zur  be- 
obachtenden, eine  andere  zur  beobachteten?  Beide  haben  ein  und  denselben  Mittelpunkt, 
die  einfache  Wesenheit,  gemein,  welche  gegen  die  Störungen  sich  selber  erhält,  und 
dieser  Mittelpunkt  vermag  kraft  seiner  absoluten  Einfachheit  die  eine  ebensowenig  wie 
die  andere  festzustellen,  sondern  höchstens  von  der  jedesmal  stärkern  überwältigt  zu 
werden.  Also  in  einer  der  Massen  selber  mufs  das  Beobachtende  sich  entwickeln, 
mithin  Wechsel  in  ihr  stattfinden ;  und  so  fragt  sich  denn  auch  hier  wiederum,  woher 
der  Wechsel,  bevor  das  zusammenfassende  Denken  eines  Zuschauers  vorhanden  ?  Doch 
es  habe  auch  eine  der  Vorstellungsmassen  über  die  andre  den  Sieg  davongetragen  und 
sei  zur  beobachtenden  geworden,  —  wollen  wir  setzen,  ohne  es  zugeben  zu  können,  — 
sie  wird  ihre  Stelle  einer  anderen  abtreten  müssen  und  sofort  diese  einer  anderen.  Dessen- 
ungeachtet machen  wir  auf  Zusammengehörigkeit  aller  Modifikationen  und  Affektionen 
des  Bewufstseins  Anspruch,  und  müssen  darauf  Anspruch  machen,  wollen  wir  nicht 
auf  alle  Verständigung  mit  uns  selber  und  anderen  verzichten.  Auch  reifst  unser  Be- 
wufstsein  nie  ab,  selbst  wo  es  Unterbrechungen  erleidet.  Die  Annahme,  die  jedesmal 
apperzipierenden  Vorstellun«smassen  übertrügen  einen  Teil  ihrer  Elemente  auf  die  ihr 
folgenden  und  auf  die  Weise  werde  Kontinuität  des  Bewufstseins  oder  vielmehr  der 
Schein  davon  erhalten  —  könnten  wir  uns  gefallen  lassen,  wenn  nur  der  Träger  dieser 
verschiedenen  Massen  mehr  als  ein  blofser  Mittelpunkt  wäre,  wenn  er  irgendwie  an  dem 
AYechsel  der  Vorstellnngsmasscn  apperzipierend  teil  hätte  und  uns  dadurch  berechtigte, 
ihn  als  wirksamen  Grund  dieser  verschiedenen  apperzipierenden  Massen  zu  betrachten. 
Vorzüglich  aber  erweist  sich  die  Annahme  als  ungenügend,  wenn  wir  die  Thatsachen 
der  sittlichen  Zurechnung  ins  Auge  fassen.  Was  der  Verfasser  darüber  sagt,  bezieht 
sich    nur    auf    die  Anwendung    des    Begriffs    und    erklärt    keineswegs    wie    die   jedesmal 


Die  Rezension  der  Allgem.  Metaphysik  von  Prof.  Dr.  Brandts  in   Breslau,      a  \  \ 


apperzipierende  Vorstellungsmasse  sich  zurechnen  könne,  was  unter  der  Herrschaft  einer 
anderen,  von  der  jetzt  vielleicht  nur  wenige  vereinzelte  Elemente  übrig,  geschehen  ist: 
an  die  Stelle  reuevoller,  oft  zerknirschender  Zurechnung  könnte  höchstens  ein  Be-[515] 
dauern  treten,  dafs  die  apperzipierende  Vorstellungsmasse  gethan,  was  die  jetzige  nicht  zu 
billigen  vermöge;  ein  Bedauern  ähnlich  dem,  das  uns  begegnet,  wenn  wir  Fehler  wahr- 
nehmen, die  ein  uns  übrigens  durchaus  fremder  Vorgänger  in  der  Amtsführung  sich 
hat  zu  Schulden  kommen  lassen.  Bei  solchem  Bedauern  aber  läfst  es  das  strafende 
Gewissen  nicht  bewenden  und  kann  es  nicht  dabei  bewenden  lassen,  soll  es  zugleich 
treibend  und  anfordernd  sein.  Hier  müssen  wir  inne  halten,  um  nicht  auch  noch,  über 
unser  Ziel  hinaus,  auf  das  praktische  Gebiet,  zur  Erörterung  über  Herbarts  ästhetische 
Urteile  und  praktische  Ideen,  im  Gegensatz  gegen  Kants  kategorischen  Imperativ,  ge- 
führt  zu   werden. 

Zum  Schlufs  stellen  wir  die  Hauptpunkte  nnsrer  Bemerkungen  unter  einen  Ge- 
sichtspunkt zusammen.  Das  letzte  Ziel  der  HERBART'schen  Metaphysik:  so  wie  die 
unendliche  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen,  so  auch  ihre  Veränderungen  aus  schlecht- 
hin einfachen,  unräumlichen  und  unzeitlichen  Wesenheiten  abzuleiten,  die  Beziehungen 
der  Dinge  aufeinander  —  die  absolute  Position  durch  eine  relative  ergänzend  —  her- 
zustellen, und  nicht  blofs  das  Werden  und  Geschehen  selber,  sondern  auch  den  Grund 
desselben,  die  zufälligen  Ansichten  des  Zuschauers,  in  das  Gebiet  des  Scheines  zu  ver- 
weisen —  können  wir  nicht  für  erreicht  halten ;  können  nicht  zugeben,  dafs  es  ihr 
gelungen,  den  Begriff  der  Ursächlichkeit  von  dem  Gegensatz  des  Thuns  und  Leidens 
zu  befreien,  das  wirkliche  Geschehn  in  ein  blofses  Bestehn  wider  eine  Negation,  die 
Kräfte  in  ein  Zusammensein  der  Wesen  mit  andren  von  entgegengesetzter  Qualität 
aufzulösen,  das  Stetige,  Räumliche  und  Zeitliche,  die  Materie  und  die  Bewegung  auf 
blofse  Formen  der  Zusammenfassung  oder  Mifslingen  derselben,  zurückzuführen.  Aber 
auch  angenommen,  Ontologie  und  Synechologie  hätten  ihren  Zweck  erreicht,  die  ein- 
fachen qualitativ  bestimmten  Wesenheiten  von  allem  Wechsel  befreiet,  um  ihn  auf  den 
Zuschauer  überzutragen,  so  wissen  wir  nicht,  wie  wir  zu  ihm  gelangen,  wie  wir  ihn  mit 
Wahrnehmung  und  Selbstbewußtsein  ausstatten  sollen,  vorausgesetzt,  dafs  auch  sein 
realer  Grund  nichts  als  ein  schlechthin  einfaches  qualitativ  bestimmtes  Wesen  sei.  Dafs 
er  die  eignen  Selbsterhaltungen  gegen  all  und  jede  Störung  und  nach  Verschiedenheit 
derselben  auf  verschiedene  Weise  empfinde,  wollten  wir  willig  zugeben,  wenn  ihm  Be- 
wußtsein irgendwie  im  voraus  einwohnte,  vermögen  aber  ebensowenig  schlechthin 
bewufstlose  Empfindungen,  wie  teils  den  Übergang  von  einer  solchen  zu  dem  Bewufst- 
sein  durch  ein  Zusammentreffen  bewufstloser  Vorstellungen,  und  durch  Erhebung  des 
Zusammentreffens  zu  einem  Zusammenfassen  unabhängig  von  einem  zusammenfassenden 
Subjekt,  uns  zu  denken,  teils  ein  unbedingt  anforderndes  und  unbedingt  zurechnendes 
Selbstbewufstsein  in  einer  zur  Herrschaft  gelangten  Vorstellungsmasse  wieder  zu  finden,  [5  16] 
selbst  wenn  in  ihr  oder  durch  sie  alles  Entgegengesetzte  zum  Gleichgewicht  gelangt  wäre. 

Wie  wenig  wir  aber  auch  bis  jetzt  wenigstens  uns  aneignen  können,  was  zunächst 
als  Resultat  der  HERBARTschen  Metaphysik  sich  ergiebt,  so  halten  wir  nichtsdesto- 
weniger sie  und  die  Psychologie  desselben  Verfassers  für  die  Werke  höchst  aus- 
gezeichneter spekulativer  Kraft  und  Tiefe,  und  sind  überzeugt,  dafs  selbst  wenn  es 
dem  Verfasser  nicht  gelingen  sollte,  die  hervorgehobenen  Punkte  gegen  Einwendungen 
zu  sichern,  die  durch  ihn  gewonnene  Ausbeute  von  grofser  Wichtigkeit  ist  und  für  alle 
folgenden  Untersuchungen  auf  diesem  Gebiete  voll  der  fruchtbarsten  Entwickelungskeime, 
deren  Vernachlässigung  unsere  Zeit  entschiednen  Mangels  an  spekulativem  Geist  zeihen 
würde.  Wir  rechnen  hierher  namentlich,  keinesweges  ausschließlich,  1.  die  tief  ein- 
dringende Entwickelung  der  metaphysisch-psychologischen  Probleme  und  ihre  Läuterung 
von  den  Verhüllungen,  mit  denen  man  hin  und  wieder  sie  zu  umgeben  bemüht  gewesen 
ist,  um  den  Schein  ihrer  Lösung  zu  erregen ;  2.  die  Grundlegung  einer  Methodologie,  die 
auf  den  ewig  gültigen  Prinzipien  wissenschaftlicher  Verständigung  beruht  und  zu  Fort- 
schritten treibt,  indem  sie  die  gegenseitige  Bedingtheit  von  Erfahrung  und  Spekulation, 
mit    allem   Reichtum    der    ersteren  und   aller  Schärfe  der  letzteren   in   helles   Licht   setzt; 

3.  die  Beweisführung,  dafs  das  scheinbare  Geschehen  von  dem  wahrhaften  sorgfältig  zu 
unterscheiden,   und   an   die  Stelle  eines  blofs  subjektiven  Scheins   ein  "objektiver  zu  setzen; 

4.  die  Hinweisung  auf  ursprünglich  und  objektiv  bestimmte  Qualitäten  und  die  Nach- 
weisung, wie  sie,  wenn  auch  an  sich  unerkennbar,  die  Erkenntnis  objektiv  gültiget  Be- 
ziehungen zu  bedingen  im  stände  sind;  5.  tiefere  Begründung  der  Annahme,  unsere 
Erkenntnis    beschränke    sich    auf  das   Gebiet  der  Verhältnisse  und   Beziehungen  und  sei 


41. 


Anhang  III. 


in  diesen  ihren  Schranken  ihre  wahren  Zwecke  zu  erreichen  sehr  wohl  im  stände ; 
6.  viele  einzelne  scharfsinnige  Bestimmungen  und  Entwickelungen,  vorzüglich  im  Ge- 
biete der  Svnecbologie. 

Ohne  daher  hoffen  zu  dürfen,  uns  jemals  mit  Herrn  Prof.  Herbart  über  seine 
Grundannahmen  völlig  zu  verständigen,  seinen  Standpunkt  völlig  zu  dem  unsrigen  zu 
machen,  sein  festes  Beharren  darauf  wird  uns  sehr  begreiflich,  wenn  wir  bedenken,  wie 
die  Eigentümlichkeit  desselben  seinem  rüstig  strebsamen  Geist  ein  unermefsliches  Gebiet 
höchst  anziehender  und  immer  fortschreitender  Forschung  eröffnet  und  Philosophie  mit 
Mathematik  auf  eine  früher  nie  versuchte  Weise  verbunden  hat :  ja  wir  begreifen  diese 
Beharrlichkeit  nicht  nur,  sind  vielmehr  auch  überzeugt,  dafs  sie  der  Wissenschaft  reich- 
lich Frucht  getragen  hat  und  ferner  tragen  wird. 

Die  der  Metaphysik  angeschlossenen  Anfänge  der  philosophischen  Xaturlehre 
(S.  425 — 629)  wollen  wir  lieber  von  unserem  Bericht  ausschlief  I7]fsen,  als  einer  gründ- 
lich ins  einzelne  eingehenden  Anzeige  vorgreifen,  wie  sie  sie  verdienen,  und  wir  sie  zu 
liefern  uns  aufser  stand   sehn.  Brandts. 


Anhang  III. 

Zwei  Entwürfe  zu  einem  beabsichtigten  Sendschreiben  an  Branois,  den  Recensenten 

der  Allgemeinen  Metaphysik. 

A.    Erster  Entwurf:    Drei  Briefe. 

Text   von    1    und   2   nach  dem   Manuscript  2068   der  Königsberger  Universitätsbibliothek, 

Text  von  3  nach  den  Herbartischen  Reliquien  (HR). 
(Bereits  gedruckt,  aber  mit  Auslassungen,  in  den  Heibartischen  Reliquien  (HR)  S.  335 — 342.) 


I. 

Am  ersten  Oktober  [183 1]. 

!Gar  zu  lang.,  mein  hochverehrter  Freund!  täuscht  mich  die  Hoff- 
nung, einen  Brief  von  Ihnen  zu  empfangen.  Soll  ich  glauben,  Sie  wollten 
nur  noch  durch  die  Presse  mit  mir  correspondiren  ?  Das  glaube  ich  zwar 
nicht;  und  wenn  ich  es  glaubte,  so  könnte  ich,  was  etwa  meine  literarische 
Angelegenheit  heifsen  mag,  Herrn  Strümpell  aus  Braunschweig  überlassen, 
der  die  Rolle  des  Respondenten  übernehmen,  und  die  Erstlinge  seiner 
philosophischen  Studien  Ihnen  vorlegen  will.  Aber  wohl  sehe  ich  ein,  dafs 
Sie  das  Recht  haben,  keine  blofse  Antwort  auf  Ihre  Recension  meiner 
Metaphvsik.  -  sondern  auch  einen  öffentlichen  und  persönlichen  Dank  für 
Ihre  öffentlich  geäufserte  gütige  Gesinnung  gegen  mich,  zu  erwarten.  Diesen 
Dank  Ihnen  hiemit  abzustatten,  ist  mir  eine  angenehme  Pflicht.  Wenn 
ich  zugleich  einige  Vergeltung  der  kritischen  Aufmerksamkeit  daran  knüpfe, 
so  bitte  ich  Sie,  die  Sie  meiner  Arbeit  gegönnt  haben,  nichts  Vollständiges 
zu  verlangen.  Sie  Selbst,  indem  [2]  Sie  meinen  naturphilosophischen 
Versuch  mit  Stillschweigen  übergingen,  wollten  mich  dadurch  gewifs  nicht 
des  Vortheils  berauben,  welcher  einer  Theorie  daraus  erwachsen  kann, 
wenn  sie  eine  ungezwungenen  Anwendung  auf  sehr  mannigfaltige  Erfahrungs- 

1  Der  Abschnitt  »Gar  zu  lange  .  .  .  realistischen  Ansicht  bekenne«  S.  4  Z.  1 1  v.  o. 
fehlt  in    HR. 

2  In   der  Hallischen   Literaturzeitung   August    1831,    No.    141  — 145. 


Zwei  Entwürfe  zu  einem  beabs.  Sendschreiben  an  Brandis,  d.  Rec.  d.  Allg.  Methaphys.      _i  j  > 

gegenstände  verstattet:  aber  Sie  wollten  auch  nicht  dunkel  werden  durch 
Weitläufigkeit;  und  das  läfst  sich  bey  dem  höchst  weitläufigen  Gegen- 
stande, welcher  hier  nichts  Geringeres  ist  als  die  gesammte  geistige  und 
körperliche  Natur,  nicht  anders  vermeiden,  als  dadurch,  dafs  man  abbricht, 
und  sich  erinnert,  wie  vieles  man  ohnehin  andern  Zeiten  und  andern 
Personen  überlassen  mufs.  Weder  Sie  noch  ich  werden  in  der  Meta- 
physik das  letzte  Wort  behalten;  und  einen  Streit  ausfechten  zu  wollen, 
kann  uns  beyden  auf  keine  Weise  einfallen.  xTur  die  Thatsache,  dafs  wir 
nicht  durchgehends  einverstanden  sind,  können  wir  gemeinschaftlich  be- 
leuchten,  und   die  Gründe  davon  aufsuchen. 

Es  scheint  mir  nicht  nöthig,  Ihre  einzelnen  Ausdrücke  so  pünktlich, 
wie  wenn  ich  darüber  streiten  wollte,  durchzugehn;  sondern  es  wird  ge- 
nügen, dals  ich  nochmals  mich  zu  einer  gänzlich  realistischen  Ansicht 
bekenne. 

Zuerst  nun  bitte  ich  Sie  zu  bemerken,  dafs  einige  Stellen  Ihrer  Re- 
cension  den  Anschein  haben,  mir  einen  [3]  Idealismus  zu  leihen,  der  mir 
durchaus   fremd  ist.      Sie  sagen   S.   (folgen   etwa    6   unbeschriebene   Zeilen). 

Die  wahren,  realen  Elemente,  die  sich  uns  durch  ihr  Erscheinen  an- 
melden, sind  aufser  uns,  völlig  unabhängig  von  uns  vorhanden.  Sie  würden 
vorhanden  seyn,  wenn  wir  auch  gar  nicht  wären.  Dafs  sie  uns  erscheinen, 
ist  für  sie  selbst  nur  eine  entfernte  Folge  ihrer  mannigfaltigen  und  sehr 
wechselnden  Gemeinschaft  unter  einander;  und  wenn  einige  wenige  der- 
selben in  unserm  Handeln  sich  von  uns  etwas  gefallen  lassen  so  ist  dieses 
ihr  Leiden  von  uns  unendlich  gering  im  Vergleich  mit  [4]  der  Gesammt- 
heit  des  wirklichen  Geschehens,  was  aus  jener  Gemeinschaft  hervorgeht. 
Was  ich  von  zufälligen  Ansichten  gesagt  habe,  kann  diesem  Realismus 
nicht  im  Geringsten  Abbruch  thun.  Wenn  der  Mathematiker  die  Kräfte 
nach  verschiedenen  Richtungen  zerlegt,  so  steht  er  darum  gewils  nicht 
auf  einem  idealistischen  Standpunkte;  obschon  er  weifs,  dafs  seine  Zer- 
legung blofs  ein  Hülfsmittel  seines  Denkens  ist.  Er  nimmt  die  Kräfte 
für  etwas  Wirkliches.  Und  die  Zerlegung  wird  jedesmal  geboten  und  be- 
stimmt durch  den  wirklichen  Unterschied  gegebener  Richtungen;  daher 
in  der  Anwendung  der  zufälligen  Ansicht,  als  ob  Eine  Kraft  aus  mehrern 
bestünde ,  nichts  Willkührliches  übrig  bleibt.  Ebenso  betrachte  ich  die 
wirkliche  Verschiedenheit  der  Qualitäten  als  den  Grund,  weshalb  wir  jedes 
reale  Wesen,  das  auf  ein  anderes  wirkt,  durch  eine  bestimmte  zufällige 
Ansicht  würden  auffassen  müssen,  wenn  uns  die  Qualität  eines  jeden  be- 
kannt wäre.      An  wirkliches   Auffassen,   ist  nicht  einmal  zu   denken. 

Sie  wissen,  dafs  ich  weit  entfernt  bin,  diesen  meinen  Realismus  als 
ein  Axiom  hinzustellen.  Das  Ich  [5]  des  Idealismus  war  gerade  der 
erste  Gegenstand  meiner  selbstständigen  Untersuchungen.  Die  Unmöglich- 
keit dieses  Ich  war  deren  erstes  Ergebnifs.  Völliges  Aufgeben  des  ge- 
sammten  Idealismus,  als  einer  in  jeder  Gestalt  unrichtigen  Ansicht,  war 
die  unvermeidliche  Folge.  So  entstand,  auf  rein  theoretischem  Wege, 
mein  Realismus.  Gesetzt  nun,  über  diesen  Punkt  sey  ich  von  Ihnen 
misverstanden  worden,  so  darf  ich  mich  nicht  wundern,  wenn  meine 
ganze  Metaphysik  in  Ihren  Augen  ein  überaus  künstliches,  aber  auch 
überaus    verworrenes   Ansehen    bekam.      Dafs    bey    Ihnen    das    FiCHTEsche 


414  Anhang  III. 


Ich  sehr  viel  mehr  gilt  als  bey  mir,  schliefse  ich  aus  vielen  Stellen  Ihrer 
Recension,  die  zuweilen,  wenn  dadurch  meine  Meinung  sollte  bezeichnet 
werden,  mir  nur  verständlich  wurden,  indem  ich  geradezu  anstatt  des 
Wortes    Ich,    den  Ausdruck,    die  Seele    setzte. 

Es  kommt  nun  freylich  hier  der  Weg  der  Untersuchung  in  Be- 
tracht, welche  an  den  speculativen  Begriff  des  Ich  ist  geknüpft  worden. 
Deshalb  fordern  Sie  mich  zu  einer  Erläuterung  meiner  Methodologie 
auf.  Entschuldigen  Sie,  wenn  ich  dieser  Aufforderung  Folge  zu  leisten 
Bedenken  trage;  wir  [0]  stehen  hier,  wie  es  scheint,  noch  gar  zu  weit 
auseinander.  Der  vordere  Theil  Ihrer  Recension  bezieht  sich  nicht 
hinlänglich  genau  auf  mein  Buch;  und  wenn  nicht  das  Folgende  mir 
näher  träte,  so  hätte  ich  Ihnen  eben  so  wenig,  als  manchem  Andern, 
dem  ich  nur  mein  Stillschweigen  entgegensetze,  zumuthen  mögen,  in  er- 
neuerte gemeinsame  Überlegung  mit  mir  einzugehn.  Um  doch  Einiges 
anzuführen,  bemerke  ich,  dafs  Sie  auf  den  Satz  vom  zureichenden  Grunde 
Sich  beziehen.  Darüber  möchte  ich  am  liebsten  blofs  auf  das  letzte 
Capitel  meiner  Encyklopädie  verweisen,  wo  von  der  gänzlich  leeren  Ab- 
straction  die  Rede  ist,  welcher  man  bey  allgemeiner  Betrachtung  der 
Gründe  sich  hinzugeben  pflegt.  Leibnitz  forderte  l  bekanntlich,  man  solle 
ihm  den  Satz  des  zureichenden  Grundes,  in  dreyfacher  Bedeutung,  als 
ein  Axiom  zugeben.  Er  nahm  es  übel,  wenn  die,  ihm  gegenüber  stehende, 
Freyheitslehre  das  verweigerte.  Meinerseits  mufs  ich  hier  beyden  Par- 
theyen  zugleich  Unrecht  geben.  Der  Fehler  liegt  darin,  dafs  man  voraus- 
setzt, es  gäbe  Gründe,  nur  seyen  nicht  alle  Gründe  zureichend.  Meine 
Untersuchung  stellt  aber  die  ganze  Möglichkeit,  dafs  es  überhaupt  [7] 
Gründe  geben  könne,  von  vorne  herein  in  Zweifel;  und  hier,  wenn  irgendwo, 
ist  meines  Erachtens  Zweifel  der  Weisheit  Anfang.  Weiterhin  folgt  bey 
mir  eine  so  vieltheilige  Sonderung  der  verschiedenen  Arten  von  Gründen, 
dafs  für  einen  allgemeinen  Satz  vom  zureichenden  Grunde  gar  keine  Be- 
deutung übrig  bleibt.  Nicht  nur  die  Erkenntnifsgründe  überhaupt  sind 
verschieden  von  den  Causalitäten :  sondern  die  allgemeinen  Begriffe  jener 
und  dieser  sind  noch  immer  leere  x\bstractionen ;  und  die  ganze  Fiage 
nach  der  Möglichkeit  eines  Grundes  bekommt  erst  dann  einen  Sinn,  wenn 
man  auf  der  einen  Seite  logische  Syllogismen  von  metaphysischen  Prin- 
cipien,  auf  der  andern  die  Causalität  unter  mehrern  realen  Wesen  von 
derjenigen  absondert,  welche  zwischen  den  innern  Zuständen  eines  und 
desselben  realen  Wesens  stattfindet.  Die  Sonderung  geht  noch  weiter, 
aber  hier  mag  genügen  zu  bemerken,  dafs,  wie  bey  Nominal-  und  Real- 
Definitionen,  so  auch  im  Gebiete  der  Abstractionen ,  man  überall  die 
höchste  Vorsicht  anwenden  mufs,  um  nicht  leere  Begriffe  mit  gültigen  zu 
verwechseln;  denn  solche  Untersuchungen,  die  an  jene  erstem  geknüpft 
sind,   brachten   von  jeher  die   Metaphysik  nur  in   Verlegenheit. 

[8]  In  die  Klasse  der  leeren  Begriffe  stelle  ich  nun  auch  diejenige 
Dependenz,  welche  vorgeblich  in  hypothetischen  Urtheilen  noch  etwas 
Besonderes  ausdrücken  soll,  das  nicht  schon  vollständig  in  jedem  Prädikat 
läge,  sofern  dasselbe  als  Prädikat  sein  Subject  voraussetzt.    Sie  aber  wollen 


1  iordert  HR. 


Zwei  Entwürfe  zu  einem  beabs.  Sendschreiben  an  Brandis,  d.  Rec.  d.  AI  lg.  Metaphys.      4  j  ; 

Sich  den  Unterschied  der  kategorischen  und  hypothetischen  Urtheile  nicht 
rauben  lassen.  Gesetzt  einmal,  in  diesem  Punkte  wäre  ich  nachgiebiger 
als  ich  bin :  was  würden  Sie  damit  gewinnen  ?  Natürlich  einen  logischen 
Unterschied,  wo  ich,  der  ich  jedes  antecedens  lediglich  als  ein  Subject, 
jedes  consequens  lediglich  als  ein  Prädicat  —  und  rückwärts  jedes  Sub- 
ject als  ein  antecedens  und  jedes  Prädicat  als  ein  consequens  be- 
trachte, nur  einen  grammatischen  Unterschied  anerkenne.  Vielleicht  auch 
gilt  Ihnen  der  vorgebliche  logische  Unterschied  zugleich  für  einen  psycho- 
logischen ;  und  hier  trage  ich  weniger  Bedenken,  Ihnen  etwas  einzuräumen; 
denn  jede  grammatische  Form  drückt  eine  besondere  Art  des  Verhältnisses 
unserer  Vorstellungen  aus. 

Also  mag  wohl  meine  Strenge  im  Abscheiden  der  Psychologie  von 
der  Losik  hier  den  Grund  der  Mishelligkeit  enthalten.  Allein  wenn  Sie  nun 
fortführen ;    .   .   .   . 


[q]  Zweyter  Brief. 

Dafs  ich  noch  einmal  die  Feder  ergreife,   verehrtester  Freund !   hat  eine 
besondere  Veranlassung. '      Eben  kommt  mir  das  sechste  Stück   der  Schle- 
sischen  Provincial- Blätter  vom  Jahre  1831,  und  hierin  ein  Aufsatz  zu  Gesichte, 
welcher  das  Buch  der  Herrn  Schtjbarth  und  Carganico  über  Philosophie 
überhaupt,    und   über   Hegels  Philosophie  insbesondere   betrifft.      Der  An- 
fang des  Aufsatzes   enthält  eine  Stelle  aus  meiner  Recension  dieser  Schrift;2 
das  Ende  aber  ist  ein  Brief  von  Süvern,   den  ich  Ihnen  ganz  hersetzen  will. 
„Ew.   Wohlgeboren   sage  ich  für  die  mir  gütigst  zugesandte  Schrift 
über  Hegel  den  aufrichtigsten   und  verbindlichsten  Dank.     Ich   habe  sie 
aufmerksam  und  mit  grofsem   Interesse,    und   fast  möchte  ich   sagen,    in 
steter   Unterhaltung  mit  ihrem   Herrn   Verfasser  gelesen,    wozu  ich  mich 
um   so   mehr  angeregt  fand,   als  mir  fast  durchgängige  Übereinstimmung 
mit  meinen  Ansichten  begegnete.     Ich  nehme  keinen  Anstand  zu  gestehen, 
dafs    ich    sie    für    sehr    verdienstlich    halte,    und    wünsche,    [10]   dals    sie 
allgemein  beherzigt  werden   möge.      Mit  grofser  Erwartung  sehe  ich  der 
verheifsenen    Kritik    des    HEGELschen  Systems    entgegen,    und    habe   die 
Ehre  mit  der  vorzüglichsten   Hochachtung  zu   seyn  u.  s.  w. 

Berlin,   23sten  März    1829.  Süvern. 

Wie  konnte  Süvern  so  etwas  schreiben?  —  Dieser  Frage,  mein 
verehrter  Freund,   wird   uns  glaube  ich,   auf  FiCHTEn   zurückführen. 

Kränklich  und  verstimmt,  wie  Süvern  es  im  Jahre  1829  war  (ich 
habe  ihn  bald  nach  dem  Datum  des  Briefes  gesehen  und  gesprochen)3 
konnte  er  allenfalls  glauben,  eine  Streitschrift  gegen  HEGELn,  die  selbst 
als  solche  völlig  bedeutungslos  ist,  werde  den  Zudrang  zu  Hegels  Audi- 
torium etwas  beschränken.  Aber  unmöglich  konnte  sein  stets  wachender 
Geist  es  übersehen,  dafs  diese  Schrift  sich  dergestalt  breit  macht,  als  hätte 
sie  in   HEGELn   die  Philosophie  selbst  getroffen. 

1  Der  unvollendete  Schlufssatz  des  ersten  Briefes:  „Allein  .  .  .  fortführen  .  .  ." 
und  die  Anfangsworte  des  zweiten   Briefes  bis   .   .    .   Veranlassung  fehlen  in   HR. 

2  In   der  Jenaer  L.-Z.    1830,   No.    178. 

3  „.  .   .  und  gesprochen"  fehlt  HR. 


4 1 6  Anhang  III. 

Meine  Erinnerung  an  Süverx  reicht  zurück  bis  in  die  Zeit,  da  er 
mit  mir  zugleich  Student  in  Jena  war;  das  heifst,  ins  Jahr  1794.  Fichte 
war  damals  eben  [11]  aufgetreten.  Den  starken  Eindruck,  welchen  dies 
Auftreten  machte,  hat  Süverx  ohne  Zweifel  empfunden.  Er  hat  späterhin 
Gelegenheit  gehabt,  von  einem  hohen  Standpuncte  herab  Fichtes  Laufbahn 
zu  beob  chten.  Demnach  glaube  ich  annehmen  zu  müssen,  ihm  sey  die 
Philosophie  vorzugsweise  durch   FiCHTEn   repräsentirt  worden. 

Geht  es  der  Mehrzahl  unserer  Zeitgenossen  anders?  Die  Meisten 
urtheilen,  nach  dem,  was  sie  sehen.  Ist  die  Philosophie  ein  paar  Decennien 
lang  idealistisch  gestimmt,  so  halten  sie  den  Idealismus  für  Philosophie 
überhaupt,  und  beurtheilen  das  Wirken  der  Philosophie  nach  dem  Wirken 
des   Idealismus. 

Sehn  Sie  nun,  mein  theurer  Freund,  weshalb  ich  es  ungern  ertrage, 
dafs  Sie  in  einigen  Äufserungen  vorauszusetzen  scheinen,  meine  Metaphysik 
sey  idealistisch  ?  —  Doch  Sie  können  Sich  unmöglich  lange  dergestalt 
täuschen,  über  eine  Thatsache,  die  Ihnen  in  meinen  Büchern  klar  vor 
Augen  liegt.  Darum  wollen  wir  nicht  streiten,  aber  ich  mufs  suchen,  Sie 
aufmerksam  zu  machen.  Dazu  kann  mir  füglich  der  Gegenstand  dienen, 
den  ich  einmal   ergriffen  habe. 

[12]  Doch  bevor  ich  zu  Fichtes  pädagogischen  Ansichten  zurück- 
kehre, hebe  ich  noch  aus  dem  erwähnten  Aufsatze  folgende  Stelle  aus :  J 
„Als  die  Philosophie  unter  den  Griechen  sich  zu  entwickeln  begann, 
hatte  sie  das  Verdienst,  in  einem  Zustande,  wo  die  Menschheit  eben 
erst  herankommend  nur  in  vielen,  wenn  auch  geistreichen  und  genialen 
Einzelnheiten  sich  gewahr  wurde,  dieselbe  an  ein  darüber  schwebendes 
Allgemeine  zu  erinnern,  und  so  dem  Einzelnen  zu  entreifsen,  d.  h.  der 
Einseitigkeit,  der  Beschränktheit  zu  entrücken.  Bey  der  nach  allen 
Richtungen  entwickelten  Stellung  der  Menschheit  in  der  nachchristlichen 
Zeit  ist  die  Gefahr,  einseitig  dahin  gerissen,  und  mithin  auf  etwas  Ein- 
zelnes beschränkt  zu  werden,  weit  weniger  nahe  liegend,  (denn  schon 
die  christliche  Religion  nöthigt  den  Menschen  immerwährend,  Geist  und 
Gemüth  an  einem  universelleren  Ganzen  des  Himmels  und  der  Erde 
zu  üben,)  als  das  Gegentheil,  nämlich  im  Allgemeinen  und  Allgemeinsten  zu 
verschwelen,  und  sich  darin  zu  versenken.  Daher  ist  das  Bedürfnifs  für  die 
neuere  Welt  weit  weniger  vorhanden,  an  das  Allgemeine  besonders  erinnert 
zu  werden;  und  jeder  [13]  Versuch,  darauf  hinzuweisen,  mufs  in  dem 
Maafse  misglücken,  als  bey  dem  reichen  Weltinhalte  und  den  mannigfaltig 
entwickelten  geistigen  Zuständen  die  Formeln,  welche  ersonnen  worden, 
diesenWelt- Inhalt  mit  einem  Male  auszudrücken  und  zu  befassen,  nur 
kahl,  dürftig  und  leer,  mithin  unwahr,  im  Verhältnifs  gegen  dasbefun  den 
werden  können,  was  sie  ausdrücken  sollen.  Daher  scheitert  fast  jedes 
moderne  philosophische  System  an  diesem  reichen,  vor  uns  ausgebreiteten 
Welt -Inhalte;  und  keine  einzige  Formel  von  Kant  und  Fichte  hat, 
mit  Ausnahme  einer  augenblicklichen  Täuschung,  ausgereicht,  sein  wahres 
Verhältnifs  auszudrücken." 


1  Statt  der  Worte:  „Doch  bevor  ich  .  .  .  Stelle  aus"  haben  HR:  „Ich  hebe  noch 
aus  dem  erwähnten   Aufsatze  folgende  Stelle  aus." 


Zwei  Entwürfe  zu  einem  beabs.  Sendschreiben  an  Brandis  d.  Rec.  d.  Allg.  Metaphys.      417 

Auf  diese  Weise  beabsichtigt  man  die  Schrift  der  Herrn  Schubarth 
und  Carganico  dem  Publikum  zu  empfehlen.  In  der  That,  ihr  Sachwalter 
ist  nicht  ungeschickt. 

Im   zu  Allgemeinen  verschweben  ist  schädlich. 

Die   Philosophie  verschwebt  im  Allgemeinen. 

Also  die  Philosophie  ist  schädlich. 

[14]  Quaeritur:  was  heifst:  verschweben  im  Allgemeinen?  Antwort: 
es  heifst  zweyerley;  nämlich  in  der  Ästhetik  heifst  es,  die  Abstraction  so 
weit  treiben,  bis  die  ästhetischen  Verhältnisse  zerstört  sind ;  in  der  Meta- 
physik heifst  es,  die  Abstraction  so  weit  treiben,  bis  einerseits  das  Ge- 
gebene, andrerseits  das  Treibende  der  philosophischen  Probleme  aus  den 
Augen   verschwunden   ist. 

Sie  wissen,  wie  Vieles  ich  gegen  diese  Verkehrtheiten  in  der  Ency- 
klopädie  gesagt  habe.  l  Also  —  was  falsche  Systeme  anlangt  —  concedo; 
was  wahre   Philosophie  betrifft,   —  nego  minorem. 

Übrigens  mögen  Diejenigen,  welche  von  dieser  Seite  die  Philosophie 
angreifen,  ja  dafür  sorgen,  dafs  man  bey  ihnen  recht  viel  Kenntnisse  des 
Besondern  in  Naturwissenschaft  und  angewandter  Mathematik  antreffe;  da- 
mit man  sie  nicht  in  die  Klasse  der  fr  eres  ignorantin  s  versetze. 
Am  allermeisten  aber  mögen  sie  sich  hüten,  dafs  sie  nicht  unter  ver- 
änderten Namen  dieselbe  Philosophie  lehren,  die  sie  darum  angreifen,  weil 
sie  eben  keine  andre  gelernt  haben.  Es  hilft  nichts,  den  Zuschnitt  und 
die  Sprache  neu  zu  gestalten;  die  Sache  mufs  anders  werden. 

[15]  Es  ist  aber  die  Sache  des  Idealismus,  von  der  wir  sprechen. 
Als  dieser  sich  erlaubte,  die  ganze  Welt  unter  den  allge?neinen  Begriff  des 
Nicht -Ich  zu  fassen,  da  machte  er  einen  Versuch,  den  man  ihm  nur  in 
so  fern  gestatten  kann,  als  es  nützlich  ist,  einmal  etwas  Unmögliches  zu 
beginnen,  nämlich  um  sich  von  der  Unmöglichkeit  zu  überzeugen.  Denn 
unmöglich  ist  das  Ich,  welches  dem  Nicht -Ich  gegenüber  stehen  bleibt. 
Aber  dieses  gerade  mufste2  man  einsehen.  Statt  dessen  corrigirte  man, 
uneingedenk  aller  Warnungen  Kants,  das  ungereimte  Ich  durch  eine  trans- 
scendente  Theologie,  die  man  vom  Spinoza  entlehnte.  Das  war  das  Un- 
heil der  Philosophie ;  und  hiemit  war  sie,  und  bleibt  sie  den  leichtfertigsten 
Angriffen   Preis  gegeben. 

Hätte  man  das  ungereimte,  vorgeblich  reine  Ich  von  sich  gethan,  wie 
man  sollte  und  mufste,  so  wäre  auch  sein  lächerliches  Gegenstück,  das 
Nicht -Ich,  von  selbst  verschwunden,  und  die  wirkliche  Welt  wäre  wieder 
in   ihre   Rechte  getreten. 

Bemäntelt  man  aber  vollends  seine  Unwissenheit  mit  Briefen  hoher 
Staatsbeamten,  so  läfst  sich  erwarten,  dafs  solche  Auctoritäten  (von  denen 
freylich  die  Philosophie  nichts  versteht,)  auch  auf  der  entgegengesetzten 
Seite  erscheinen. 

Und  jetzt,  verehrter  Freund,  brauche  ich  Ihnen  gewifs  keine  Er- 
läuterung mehr  darüber  zu  geben,  weshalb  ich  mich  Kantianer  nenne. 
Durch   Kant   war    der    Untersuchungsgeist    von    seiner    falschen    Richtung, 

1  Der  vorstehende  Satz  lautet  in  HR:  „Vieles  gegen  diese  Verkehrtheiten  habe 
ich  in   der  Encyklopädie  gesagt  " 

2  HR   nuifste 

IlKRRAKr's  Werke.     VIII.  27 


4Ig  Anhang  III. 


wohin  er  niemals  durchdringen  kann,  zurück  gerufen.  Hiemit  konnten 
diejenigen  Bahnen,  welche  für  ihn  gangbar  sind,  für  geöffnet  gelten.  Aber 
Fichte  berührte  die  Theologie  mit  gleicher  Unvorsichtigkeit  erst  von  der 
einen,    dann    von  der  andern  Seite.      Damit    war  Alles    wieder    verdorben. 

Und  was  berührte  er  sonst?  Den  Staat!  Das  trieb  er  so  weit,  bis  end 
lieh  gar  eine  Verfassung  für  die  Jugend  herauskam.  Vor  lauter  Bestimmungen 
dessen,  was  der  Staat  sevn  und  werden  solle,  gelangte  er  niemals  zur 
Überlegung  dessen,  was  der  Staat  wirklich  ist  und  seyn  kann.  So  gehts, 
wenn  man  aus  der  Idee  construirt,  anstatt  psychologische  Untersuchungen 
anzustellen. 

Dafs  ungeachtet  aller  begangenen  Fehler,  Fichte  eine  sehr  glänzende 
Stelle  in  der  Geschichte  der  Philosophie  behauptet  und  stets  behalten 
wird,  versteht  sich  von  selbst.  Die  Geschichte  sammelt  Alles,  was  grofs 
ist;  ihr  Warnungsspiegel  zeigt,  was  man  vermeiden  soll,  und  dafür  sind 
gerade  die  deutlichsten  Warnungsmuster  ihr  die  liebsten;  besonders  wenn 
das  Verfehlte  in  guter  Absicht  verfehlt  wurde.  Und  wer  wird  an  Fichtes 
Absichten  zweifeln? 


Text  nach  HR  S.  342—344. 

Königsberg,   28.  Nov.  31. 

Ich  erwähne  noch  mit  zwei  Worten  der  Bewegung.  Nicht  als  ob 
ich  diesen  Gegenstand  an  sich  betrachten  wollte,  sondern  nur  in  Bezug 
auf  den  ganzen  Zusammenhang.  Insofern  können  Sie  nicht  weit  fehlen, 
wenn  Sie  meine  Elemente  als  Leukippische  Atomen  mit  ursprünglicher 
Bewegung  betrachten.  Denn  in  der  That,  (nicht  etwa  blos  in  unsrer 
Vorstellung!)  würden  sich  die  Elemente  in  dem  Räume,  den  ich  den 
intelligibeln  blos  deshalb  nenne,  weil  er  nicht  für  eine  Kantische  Form  der 
Anschauung,  sondern  geradezu  für  den  nämlichen  Raum  gelten  soll,  den 
Andere  den  wirklichen  Raum  nennen,  —  nach  allen  Richtungen  bewegen, 
wenn  nicht  zwei  Umstände  hinzu  kämen;  ein  begreiflicher  und  unbegreif- 
licher. Der  begreifliche  Umstand  ist  die  Attraction  und  Repulsion  der 
Elemente  welche  ich  nachgewiesen  habe,  und  von  welcher  keine  Atomen- 
lehre etwas  weifs.  Diese  Attraction  mufste  die  im  Räume  vorhandenen 
Elemente  dahin  bringen,  sich  in  Weltkörper  zu  verdichten.  Aber  die 
Weltkörper  würden  nach  aller  Wahrscheinlichkeit  noch  immer  kreuz  und 
quer  durch  einander  fahren,  wenn  nicht  der  unbegreifliche  Umstand  hin- 
zukäme —  die  Vorsehung,  —  die  wir  uns  durch  keine  transcendente 
Theologie  verderben  wollen,  —  der  wir  aber  die  Ruhe  des  Fixsternhimmels 
zuschreiben  müssen.  Das  bedeutet  ungleich  mehr,  als  alle  irdische,  mit 
irdischen  Zeit-Begebenheiten  zusammenhängende  aufs  Universum  ohne  Grund 
ausgedehnte  Theologie  mit  ihren  kosmologischen  Ansprüchen.  Unsre 
Theologen  denken  nicht  einmal  an  den  Jupiter,  viel  weniger  an  die  Fix- 
sterne; sie  thun  immer,  als  wäre  die  Erde  der  Mittelpunkt  der  Welt. 
Mögen  sie  doch  durch  Missionäre  einmal  die  Heiden  im  Monde  bekehren! 
Dafs  Vorstehendes  durchaus  realistisch,  und  nicht  im  allergeringsten  idealistisch 
laute,  werden  Sie  einräumen.    Es  lautet  aber  nicht  blos  so,  sondern  es  ist 


Zwei  Entwürfe  zu  einem  beabs.  Sendschreiben  an  Brandis,  d.  Rec.  d.  Allg.  Metaphys.      410 

so  meine  wahre  und  definitive  Meinung.  Finden  Sie,  mein  verehrter 
Freund!  nun  irgend  etwas  in  meinen  Schriften,  das  Ihnen  idealistisch 
klingt,  so  seien  Sie  fest  überzeugt,  dieser  Klang  verführt  Sie!  Den  ein- 
mal vorhandenen  realistischen  Boden  dürfen  Sie,  sofern  Sie  mich  zu 
verstehen  wünschen,  schlechterdings  gar  nicht  mehr  verlassen.  Wohl  aber 
dürfen  Sie  meinen  intelligibeln  Raum  als  die  Erkenntnis  des  wirklichen 
Raumes  betrachten.  Es  wird  Ihnen  an  den  gehörigen  Stellen  schon  wieder 
einfallen,  dafs  ein  Raum,  —  blofser  Raum,  —  doch  eigentlich  nichts 
Wirkliches  sein  könne;  —  aber  diese  Bemerkung  darf  Sie  schlechterdings 
nicht  zum  Suchen  nach  Idealismus  bei  mir  verleiten;  sondern  Sie  können 
leicht  hier  hinreichenden,  unüberwindlichen  Widerstand  leisten.  Und  wenn 
Sie  irgendwo  in  meinen  Schriften  lesen,  der  ganze  Realismus  werde  die 
unvermeidliche  Beute  des  Idealismus,  so  darf  auch  dieses  Sie  durchaus 
nicht  im  geringsten  an  mir  irre  machen,  sondern  Sie  sind  gebeten,  Sich 
sogleich  zu  erinnern,  dafs  bei  mir  den  Idealismus  seine  innern  Wider- 
sprüche platzen  machen.  Daraus  folgt  —  was  sich  von  selbst  versteht,  — 
der  Idealismus  läfst  die  Beute,  die  er  verschluckte,  wieder  fahren;  und 
aus  seinem  Rachen  geht  der  Realismus  völlig  unversehrt,  und  nun  auf 
immer  gesichert,   wieder  hervor. 

Soviel  ich  sehe,  ist  es  allein  der  idealistische  Faden,  an  welchen  ge- 
fafst,  sich  mein  ganzes  Gewebe  unbegreiflich  kraus  und  bunt  gezogen  hat. 
Schneiden  Sie  diesen  Faden  dreist  ab.  Dann  wird  das  Ganze  von  selbst 
glatt  werden;  und  es  wird  Sie  bald  bedünken,  Sie  haben  in  der  ganzen 
Geschichte  der  Philosophie  nichts  so  Glattes  und  Einfaches  gesehen.  Der 
einfachste  Glaube  an  die  Vorsehung  wird  an  die  Stelle  treten;  und  die 
einfachste  Psychologie  nach  Lockes  Weise,  nur  ein  wenig  ordentlicher 
ausgeführt,  wird  sich  zum  Gefäfs  darbieten,  um  unsere  empirischen  Kennt- 
nisse sowohl  des  gesunden  als  des  kranken  geistlichen  Zustandes  in  sich 
aufzunehmen.  In  der  Physik  und  Chemie  und  Biologie  werden  Sie  Sich 
mit  mir,  wie  mit  jedem  guten  Naturforscher,  ohne  weitere  Künstelei  von 
Gesetzen  unseres  Vorstellens  u.  dgl.  bewegen  können,  —  und  ohne  spino- 
zistische  Bedeutmigenl  Ist  das  Verlust,  so  will  ich  ihn  geduldig  tragen. 
Nun  will  ich,  blos  der  mehreren  Sicherheit  wegen,  noch  einmal  auf  einen 
schon  besprochenen  Punkt  Ihres  Briefes  zurückkommen.  Sie  sagen:  — 
einfache  Wesen  seien  vorhanden:  wie  zverden  Vorstellungen  daraus?  Darauf 
antworte  ich: 

1.  Aus  einfachen  Wesen  wird  gar  Nichts.  Sie  bleiben  lediglich 
was   sie  sind. 

2.  Vorstellungen  werden  nicht  aus  Wesen,  sondern  aus  Empfin- 
dungen. 

3.  Empfindungen  sind  innere  Zustände  einfacher  Wesen.  Jedes  Wesen 
ist  und  bleibt  in  jeder  seiner  Empfindung  sich  selbst  gleich,  denn  empfinden 
ist  nichts  anderes  als  sich  selbst  erhalten. 

4.  Jede  einfache  Empfindung  ist  so  einfach,  wie  das  Wesen,  das  in 
ihr   sich  selbst  erhält. 

5.  Jede  Empfindung,    sich    selbst  überlassen,    würde   ewig    fortdauern. 

6.  Keine  Empfindung  ist  an  sich  eine  Vorstellung  von  irgend  Etwas; 
am  wenigsten  ist  sie  ein   Bild  eines  Dinges  aufser  uns. 

27* 


A20  Anhang  III. 


7.  Was  aus  mehreren  Empfindungen  Eines  Wesens  weiter  werde, 
das  hängt  von   dem  Verhältnisse  der  Empfindungen   unter  einander  ab. 

8.  Gefühle  und  Begierden  sind  frühere  Produkte  aus  mehreren  Em- 
pfindungen,   —    frühere,   als  Vorstellungen. 

9.  Vorstellungen,  nämlich  Bilder,  Objecte,  kommen  erst  insofern  zum 
Vorschein,  als  die  Verbindung  der  Empfindungen  bestimmte  Formen  an- 
nimmt. 

10.  Damit  von  einem  Subject  die  Rede  sein  könne,  mufs  erst  die  Vor- 
stellung vom    Vorstellen  sich  gebildet  haben. 

11.  Das  Subject  ist  lediglich  ein  Vorgestelltes,  welchen  das  Vorstellen 
zugeschrieben   wird. 

12.  Die  wirkliche  Seele  ist  nicht  unmittelbar  Subject,  denn  sie  ist 
nicht  unmittelbar  vorstellend,  sondern  sie  ist  nur  mittelbar  vorstellend, 
nwiefern  diejenigen  innern  Zustände  in  ihr,  welche  zuerst  Empfindungen 
waren  (S),  geblieben  sind,  und  in  der  Reproduction  wirksam  wurden  ge- 
mäfs  den  Formen  ihrer  Verbindung,  die  sie  aHmählig  je  nach  vielfach 
wiederholter,  stets  eine  neue  Abbildung  veranlassender  Reproduktion,  ge- 
wonnen haben.      Davon  handelt  die  Psychologie. 


B.    Zweiter  Entwurf,   bekannt  unter  dem  von  Hartenstein  herrührenden  Titel: 

Über  das  Verhältnifs  des  Idealismus  zur  Pädagogik.1     1831. 

[Text  nach  d^m  Msc    2072   der  Königsberger  Universitätsbibliothek.] 


Vorwort.2 

Theorien,  wahr  oder  falsch,  haben  zwar  wohl  niemals  ihren  Urhebern 
bedeutenden  Einflufs  nach  eigner  Wahl  geschafft;  denn  bey  ihrem  ersten 
Hervortreten  sind  sie  in  der  Regel  unwillkommen.  iVber  später  finden  sie 
ihre  Zeit,  um  sich  in  wirksame  Kräfte  zu  verwandeln;  wenn  auch  weit 
entfernt  von  der  Absicht,  aus  der  sie  hervorgingen.  Vieles,  was  ehedem 
unfruchtbare  Speculation  hiefs,  gewann  allmählig  die  Meinung  für  sich,  und 
aus  dem  Schoofse  der   Meinungen   entspringt   das   Handeln. 

Man  hat  den  Idealismus  verlacht,  den  Spinozismus  gescheut;  aber 
jenes  Lachen  und  diese  Scheu  sind  zusammen  in  ernste  und  weil  ver- 
breitete Betrachtung  übergegangen.  Fichte,  der  Idealist,  fand  selbst  für 
pädagogische  Pläne  aufmerksames  Gehör,  als  er  politisches  Heil  für  Deutsch- 
land in  einer  neuen   National-Erziehung  suchte. 

Doch  hier  mag  man  mit  Recht  erstaunen.  Kann  aus  idealistischen 
Grundsätzen   eine  pädagogische  Theorie  herfliefsen?    Zwar  sucht  sich  jeder 


1  Bereits  gedruckt  in: 
SW  =  J.  F.  Herbarts  Sämmtliche  Werke  (Bd.  XI),  herausgegeben  von  G.  Hartenstein. 
Kl  Seh  —  J.  F.  Herbarts  Kleinere  Schriften  (Bd.  II),  herausgegeben  von  G.  Hartenstein. 
B   =  J.    F.    Herbarts    Pädagogische    Schriften    (Bd.    II),     herausgegeben    von   Frdr. 

Bartholomäi. 
R  =  J.  F.  Herbart.  Pädagogische  Schriften  (Bd.  II),  herausgegeben  von  Karl  Richter. 
W    =  J.    F.    Herbarts    Pädagogische    Schriften    (Bd.  II),     herausgegeben    von    Otto 
Whxmann. 
*  Die  Überschrift  fehlt  in  SW. 


Über  das  Verhältnifs  des   Idealismus  zur  Pädagogik.  42  1 

gute  Erzieher  in  den  Geist  und  in  das  Gemüth  seines  Zöglings  hinein- 
zuversetzen, ja  ein  jeder  Lehrer,  während  er  auf  das  didicisse  f elidier 
afies  rechnet,  stöfst  bey  dem  mindesten  Nachdenken  auf  die  Frage,  wie 
denn  wohl  diejenigen  Vorstellungsmassen,  welche  er  durch  seinen  Unter- 
richt dem  Zöglinge  beybringt,  es  anfangen  mögen,  bis  in  die  Sitten,  bis 
in  den  Willen,  bis  in  das  Ich  des  Zöglings  einzuwirken?  Unter  welchen 
Bedingungen  dieser  geforderte  Erfolg  eintreten  oder  ausbleiben  werde? 
Eine  psychologische  Theorie  darüber  ist  ihm  Bedürfnifs ,  wofern  er  nicht 
seinem  Unterrichte  eine  ihm  selbst  unbegreifliche  Zauberkraft  zumuthet. 
Aber  eine  idealistische?  Nach  dieser  wäre  ihm  sein  Zögling1  nur  eine 
Erscheinung.  Oder,  wenn  über  solches  Bedenken  die  Theorie  ihn  wirklich 
hinwegsetzen  könnte,  so  wären  wenigstens  die  Bücher,  die  Bilder,  die 
Charten,  die  sämmtlichen  Lehrmittel  und  das  ganze  Verfahren  bevm 
Unterricht,  nur  Erscheinungen.  Wer  dem  Idealismus  etwas  einräumt, 
ja  wer  ihm  nur  die  geringste  Aufmerksamkeit  gönnt,  der  sollte  doch  diese 
Fragepunkte  nicht  leichtsinnig  beseitigen;  er  hätte  wenigstens  Ursache,  in 
Fichtes  Schriften  diejenige,  wenn  auch  mangelhafte,  Auskunft  aufzusuchen, 
die   sich   hierüber  etwa  darbietet. 

Er  findet  nun  eine  solche  Auskunft  gerade  in  demjenigen  Buche, 
welches  von  allem,  was  Fichte  geschrieben,  wohl  den  gröfsten  Kreis  von 
Lesern   dürfte   angesprochen   haben. 

Fichtes  ,. Reden  an  die  deutsche  Nation"  waren  das  Erzeu°;nifs  einer 
Zeit,  die  glücklicherweise  längst  vorüber  ist,  allein  ihre  oratorische  Kraft, 
und  noch  mehr  das  Andenken  an  den  Mann,  der  im  Augenblicke  der 
Gefahr  so  zu  reden  wagte,  sichern  ihnen  eine  lange  Dauer.  Was  ihren 
philosophischen  Gehalt  betrifft,  so  bedarf  es  dessen  nicht,  um  Fichtes 
Lehren  dem  heutigen  Zeitalter  gegenwärtig  zu  erhalten;  der  grofse  Denker 
hat  sich  in  wichtigern  Werken  verewigt.  In  pädagogischer  Hinsicht  kann 
man  ganz  andrer  Meinung  seyn,  ohne  darum  das  Bedürfnifs  des  Wider- 
Sprechens zu  empfinden;  denn  Voischläge,  die  von  der  Ausführung  weit 
entfernt  stehen,  können  auf  keine  Weise  Besorgnifs  einfiöfsen.  Fichtes 
Reden  sind  aber  im  nachstehenden  Briefe  als  ein  willkommener  Stoff"  zu 
einer  Unterhaltung  benutzt,  die  leicht  polemisch  hätte  werden  können, 
und  es  doch  nicht  werden  sollte.  Denn  eine  Recension  in  der  Hallischen 
Literaturzeitung,  welche  von  Denen,  die  sich  für  Metaphysik  interessiren, 
ohne  Zweifel  als  ausgezeichnet  ist  anerkannt  worden,  sollte  nicht  sowohl 
widerlegt,  als  vielmehr  durch  ein  Zeichen  der  Aufmerksamkeit  verdankt 
werden.  Dafs  nun  ein  offener  Brief  keine  förmliche  Abhandlung  enthält, 
wird  um  so  leichter  Entschuldigung  finden,  weil  das  Wesentliche  des  Inhalts 
nicht  sowohl  auf  der  Pädagogik,  als  auf  der  Erinnerung  an  FiCHTEn  und 
an  seine  Lehre  beruht;  welche  bekanntlich  vom  Ich  ausging,  und  jederzeit 
von  neuem  in  Betracht  kommt,  so  oft  sich  über  diesen  wichtigen  Punct 
eine  Differenz  der  Meinungen  erhebt.  Die  denkenden  Pädagogen  werden 
übrigens  wohl  darin  übereinstimmen,  dafs,  wenn  auch  Fichte  sich  niemals 
über  Erziehung  geäufsert  hätte,  doch  seine  Untersuchung  des  Selbst- 
bewufstseyns   ihnen   nicht  gleichgültig  sey;   schon   deshalb,    weil   der  Egois- 


1   ein  Zögling.     SW. 


422 


Anhang  III. 


mus  als  eine  Ausartung  desselben  zu  betrachten  ist,  deren  Verhütung 
gewifs  jedem  praktischen   Erzieher  am   Herzen   liegen   mufs. 

'Der  Anfang  des  Briefes  ist  weggelassen;  er  würde  nur  ein  persön- 
liches  Interesse  haben. 

Allmählig,  mein  verehrter  Freund!  fange  ich  an  zu  glauben,  dafs  ich 
meinen  Hauptzweck  erreicht  habe.  Dieser  bestand,  wie  Sie  wissen,  darin, 
dem  philosophischen  Untersuchungs  -  Geiste  neue  Nahrung  darzubieten. 
Die  stao;nirenden  Wasser  mufsten  in  Bewegung  kommen.  Wird  das  er- 
reicht  —   was  schadet  die  Beschuldigung,   ich   könne  nicht  begreifen,    was 


ich  längst  nur  zu  gut  begriffen  habe,  um  es  mir  gefallen  zu  lassend  Die 
Manier,  wie  man  mich  angreift,  wird  sichtbar  um  Vieles  verständiger,  als 
in  frühern  Jahren;  und  es  läfst  sich  hoffen,  dafs  die  Angreifer  gelegentlich 
selbst  etwas  lernen   werden.     Alles   Weitere  kann  man  der  Zeit  überlassen. 

Ihre  Opposition  gegen  meine  Metaphysik  ist  unstreitig  die  würdigste 
und  durchdachteste,  die  ich  bis  jetzt  gefunden  habe;  obgleich  nicht  frey 
von  Mifsverständnissen.  Ihrem  scharfen  historischen  Blicke  können  diese 
nicht  lange  verborgen  bleiben;  ich  beschränke  mich  daher,  um  Ihnen  so- 
gleich das  eigentliche  Thema  dieses  Briefes  anzuzeigen,  auf  die  einfache 
Bemerkung,  dafs  jeder  Angriff,  wobev  das  Ich  als  ein  Reales  vorausgesetzt 
wird ,  gegen  mich  ein  petitio  principü  ist.  Und  Sie,  mein  Verehrtester, 
werden  sich  gewifs  nicht  mit  der  völlig  undankbaren  Mühe  plagen  wollen, 
mich  zum  Idealismus  zurückzubekehren;  Sie  könnten  höchstens  auf  Augen- 
blicke vergessen,  dafs  ich  der  entschiedenste  Realist  bin,  den  es  geben  mag. 
Oder  würde  etwa  der  Mathematiker,  welcher  Krätte  zerlegt  und  zusammen- 
setzt, Ihnen  darum  Idealist  heifsen,  weil  er  wohl  weifs,  dafs  solche  Zer- 
legungen und  Zusammensetzungen  lediglich  seine,  im  Allgemeinen  zufälligen, 
für  jeden  vorkommenden  Fall  aber  zur  Erklärung  des  Phänomens  noth- 
wendigen  Ansichten  sind?  —  Nicht  die  Ansicht  macht  den  Idealisten, 
sondern  die  Meinung  von  dem  Gegenstände,  dessen  Ansicht  man  aus- 
bildet.  Der  Mathematiker  hegt  die  Meinung,  jede  von  ihm  zerlegte  Kraft 
sey  in  der  Wirklichkeit  nur  Eine;  wenn  sie  ihm  aber  diese  Wirklichkeit 
bestreiten,  so  wird  er  sich  abwenden,  und  mit  solchen  Zweifeln  nichts  zu 
schaffen  haben  wollen.  Ebenso,  mein  theurer  Freund,  bin  ich  es  müde, 
von  Dingen  reden  zu  hören,  die  nur  für  das  Ich,  nur  in  Gedanken  vor- 
handen seyen;  wofern  nicht  die  Beziehung  der  Gedankendinge  auf  die 
realen  Elemente,  welche  unabhängig  von  uns  waren  und  sind  und  seyn 
werden,  klar  vor  Augen  liegt.  Der  Idealismus  hatte  seine  Periode ;  er 
hat  Zeit  genug  gehabt,  sich  zu  versuchen,  sich  der  Welt  anzupassen; 
ja  sich,  wo  möglich,   berichtigen  zu  lassen. 

Offen  gesagt,  mein  verehrter  Freund,  vom  eigentlichen  Disputiren 
mit  Ihnen  schreckt  mich  Ihre  anscheinende  Neigung  ab,  eine  Zeit- 
philosophie zu  behalten,  deren  rechte  Zeit  vorüber  ist.  Damals  als  Kant 
selbst,  und  mit  ihm  die  Kantianer,  jeden  philosophischen  Gegenstand 
nach  der  Kategorientafel  abhandelten,  —  mochte  nun  von  Naturphilosophie, 
oder    von   Ästhetik,    oder    von   Naturrecht,    oder    wovon    immer    sonst    die 


1  Das  Folgende:  „Der  Anfang  des  Briefes  ist  weggelassen,  .  .  .  eine  Zeitphilosophie 
zu  behalten,  deren  rechte  Zeit  vorüber  ist"    (bis  Z.  4  v.  u.)    fehlen   in  SW. 


Über  das  Verhältnifs  des  Idealismus  zur  Pädagogik.  423 

Rede  seyn,  —  damals  war  die  Zeit  der  Kategorien.  Heute  zu  Tage 
findet  man  dergleichen  Abhandlungen  pedantisch.  Wahre  Gründlichkeit 
wird  jedoch  nie  pedantisch.  Wäre  hier  wahre  Gründlichkeit  zu  finden 
gewesen,  sie  hätte  längst  ihr  Recht  überall  geltend  gemacht.  Das  nämliche 
ist  von  allen  den  andern  Formularen  zu  sagen,  die  man  den  Gegenständen 
hat  aufdringen  wollen.  Wie  nach  den  Kategorien,  als  vermeintlichen 
Urgesetzen  unseres  gesammten  Denkens,  entweder  Alles  oder  Nichts  mufste 
abgehandelt  werden:  so  zeigt  sich  bey  jeder  Methode,  die  auf  Allgemein- 
heit Anspruch  macht,  ihre  Falschheit  in  den  einzelnen  Wissenschaften, 
die  fortwährend  einen  andern,  als  den  vorgezeichneten  Gang  gehen. 
Anstatt  aber  dieses  Mifsgeschick  zu  beachten,  halten  die  philosophischen 
Schulen  die  alten  Formeln  vest,  weil  sie  eben  nichts  Besseres  wissen.  In 
ihnen  sieht  es  aus,  wie  in  den  Cabinetten  alter  Physiker,  wo  sich  ein 
unnützer  Apparat  anhäuft,  den  Niemand  braucht,  weil  er  nicht  leistet 
was  gefordert  wird.  Wollen  Sie  solchen  Apparat  behalten?  —  Aber, 
wenden  Sie  ein,  das  Ich  sammt  den  Thatsachen  des  Bewufstseyns,  veraltet 
niemals.  Gewifs  nicht!  Darum  beschäftigt  in  der  That  das  Ich  nicht 
blofs  FiCHTEn,  sondern  auch  Sie  und  mich.  Aber  wer  seinen  Unter- 
suchungen den  Stempel  der  Zeit  durch  die  Art  der  Behandlung  aufdrückt, 
der  giebt  sie  dem  Wechsel  Preis.  Als  Kant  den  menschlichen  Verstand 
in  Kategorien  für  die  Sinnen  weit  einsperrte,  und  der  theoretischen  Ver- 
nunft ihre  Dialektik  verwies;  damals  gab  er  sich  dem  Eindruck  hin,  welchen 
die  mechanische  Physik  durch  ihr  Übergewicht  machte;  Chemie  und 
Physiologie  waren  noch  nicht,  was  sie  heute  sind.  Jetzt  aber  ist  das 
Leben  zum  Thema  des  Tages  geworden;  es  zeigt  uns  das  Mittelglied 
zwischen  dem  Sinnlichen  und  dem  Übersinnlichen.  Wer  jetzt  noch 
Attraction  und  Repulsion  als  blofse  Raumbestimmung  für  sinnliche  Er- 
scheinung behandelt,  der  hat  von  lebender  Materie  sicher  keinen  Begriff; 
ja  nicht  einmal  von  chemischer  Verwandtschaft.  Wir  sind  jetzt  genöthigt, 
uns  in  das  Innere  der  Elemente,  in  ihre  wechselnden  inneren  Zustände 
hineinzudenken;  es  hilft  uns  nichts  mehr,1  der  Materie  eine  allgemeine 
Attraction  und  Repulsion  ohne  innern  Grund  beyzulegen.  Und  als  Fichte 
seine  Wissenschafts -Lehre  entwarf,  —  doch  hier  mufs  ich  ausführlicher 
werden.  Wir  müssen  den  Mann,  an  welchen  Sie  durch  Erwähnung  des 
Ich  so  oft  erinnern,  genauer  betrachten,  sollten  wir  auch  dadurch  von 
Ihrer  Recension  weit  abkommen.2 

Welches  war  die  theologische  Stimmung  der  Zeit,  als  Fichte  mit 
seiner  Kritik  aller  Offenbarung  auftrat?  Sie  wissen  es.3  Welches  war  die 
politische  Stimmung  der  Zeit,  als  gleich  darauf  der  nämliche  Mann  die 
französische  Revolution  beurtheilte?  Sie  wissen  es.3  Man  wollte  aufklären; 
und  man  nahm  dies  Wort  im  ausgedehntesten  Sinne.  In  der  nämlichen 
Zeit  —  in  wenigen  Jahren,  entstand  die  Wissenschaftslehre.  Kurz  darauf 
folgten  Naturrecht  und  Sittenlehre.  Glauben  Sie  wirklich,  derjenige,  der 
sich  so  ganz  und  gar  in  praktische  Interessen  vertieft  zeigt,    habe    mitten 


1  „hilft  uns   nicht  mehr"   SW. 

2  Die  Worte:  „sollten  wir  auch   .  .   .   weit  abkommen"  fehlen  in  SW. 
a  Beide  Male  fehlen  in  SW.  die  Worte:  „Sie  wissen  es". 


^2_l  Anhang  III. 


im  Sturm  die  speculative  Ruhe  besessen,  welche  die  Behandlung  eines 
metaphysischen  Problems  erfordert?  Hat  er  diese  Ruhe  etwa  späterhin 
gewonnen?  Der  Vorwurf  des  Atheismus  verwundete  ihn,  wie  natürlich, 
im  Innersten.  Die  Hoffnungen  des  Enthusiasmus,  welchen  die  französische 
Revoution  erregt  hatte,  verschwanden  bis  zur  äufsersten  Erniedrigung 
Deutschlands.  Und  Fichte  verlor  sich  nun  bis  in  die  düstern  Phantasien 
von  einer  allgemeinen  Sündhaftigkeit  der  Zeit.  Das  Asyl  der  Mathematik 
und  Naturwissenschaft,  was  jeden  Denker  zur  Ruhe  einladet,  war  ihm 
verschlossen.  Aber  die  Neigung,  aus  allgemeinen  Begriffen  zu  construiren, 
ohne  um  genaue  Auffassung  der  Thatsachen  besorgt  zu  seyn,  leuchtet  aus 
allen  seinen  Schriften  hervor.  Die  Gewalt,  welche  er  in  sein  Denken 
legte,  sollte  ihm,  dem  Idealisten,  die  Gültigkeit  der  Begriffe  verbürgen. 
Dals  ein  solcher  Mann  etwas  Grofses  leistete,  war  natürlich;  ob  aber  dies 
Grofse  näher  der  Wahrheit,  oder  näher  der  Dichtung  stand  und  stehen 
mufste,  das  bitte  ich  zu  überlegen.  Jeder  grofse  Dichter  findet  Nachahmer; 
und  Fichte  hat  die  seinigen  gefunden.  Aber  jede  Dichterschule  blühet 
eine  Zeitlang;  dann  wird  sie  matt,  und  bald  stirbt  sie  aus.  Das  erste 
Zeichen  der  Ermattung  pflegt  Schwulst  zu  seyn.  Ob  es  zutrifft,  bitte  ich 
abermals  zu  überlegen.1  Die  Zeit,  mein  theurer  Freund!2  wird  Geständnisse 
erzwingen,  an  die  schon  längst  die  Schulen  gemahnt  werden  von  der  um- 
gebenden Welt;  und  welche  um  desto  trauriger  lauten  werden,  je  länger 
sich    der  Stolz  dagegen  sträubt. 

Zufällig  fand  ich  mich  neulich  veranlafst,  Fichtes  Reden  an  die 
deutsche  Nation  wieder  aufzuschlagen.  Gern  verweilte  ich  hier  bey  dem 
eigentlichen  Glanzpunkte  seines  Lebens.  Seine  moralische  Energie,  das 
Lebensprinzip  seiner  Lehre;  taugte  besser  fürs  Handeln  mitten  in  grofser 
Gefahr,  als  für  irgend  eine  Theorie.  Und  im  jähre  1808  hatte  er  die 
Gelegenheit  sich  zu  bewähren;  denn  sein  freymüthiges  Lehren  war  jetzt 
ein  Handeln.  Er  sprach  Worte  zur  rechten  Zeit,  —  jedoch  die  Zeit 
bestimmte  auch  hier  seine  Gedanken.  Pestalozzi  blühete;  und  Fichte, 
weder  in  Hoffnungen  noch  in  Befürchtungen,  den  wahren  Erfolg  voraus- 
sehend, ward  auf  einmal  zum  Pädagogen.  Gewifs  eine  schwere  Meta- 
morphose für  den  Idealisten! 

Das  Erste,  was  er  nun  vorbrachte,  waren  Äußerungen  des  vollkommensten 
Determinismus;  eben  so  übertrieben  als  seine  Freyheitslehre.  Die  neue 
Erziehung,  im  Gegensatze  der  alten,  müsse  die  wirkliche  Lebensregung  und 
Bewegung  ihrer  Zöglinge,  nach  Regeln  sicher  und  unfehlbar  bilden  und 
bestimmen.  Im  Rechnen  auf  einen  freyen  Willen  des  Zöglings  liege  der 
erste  Irrthum  der  bisherigen  Erziehung,  das  deutliche  Bekenntnifs  ihrer 
Ohnmacht  und  Nichtigkeit.  Denn  sie  bekenne,  den  Willen  und  hiemit 
die  eigentliche  Grund -Wurzel  des  Menschen,  nicht  bilden  zu  können, 
sondern  dies  für  unmöglich  zu  halten.  Dagegen  werde  die  neue  Erziehung 
gerade  darin  bestehen  müssen,  dafs  sie  auf  dem  Boden,  dessen  Bearbeitung 
sie  übernehme,  die  Freyheit  des  Willens  gänzlich  vernichte,  und  strenge 
Nothwendigkeit  der  Entschliefsungen  an  die  Stelle  setze.  Sie  finden  diese 
merkwürdigen   Behauptungen   gleich  im    Anfange  der  zweyten   Rede. 

1  Die  Worte:  „Ob  es  .   .   .  überlegen."  fehlen  in  SW 

-  Die  Zeit  wird  Geständnisse  .   .   .  SW  („mein  theurer  Freund"  fehlt). 


Über  das   Verhältnifs   des  Idealismus  zur  Pädagogik.  42  5 

Zwey  ganz  verschiedene  Betrachtungen  dringen  sich  hier  zugleich  auf; 
die  eine  des  Moralisten,  die  andere  des  praktischen  Erziehers.  Jene  setzt 
voraus,  es  sey  geleistet  was  gefordert  werde;  und  fragt  alsdann,  ob  eine 
solche  rein  determinirte  Sittlichkeit  des  Zöglings  irgend  einen  Werth  habe? 
—  Der  praktische  Erzieher  hingegen,  dem  seine  wirklichen  Sorgen  zur 
Grübeley  keine  Zeit  lassen,  und  der  in  den  zahllosen  Äusserungen  bald 
der  Unbesonnenheit,  bald  der  Verschlagenheit,  bald  der  Lüsternheit 
die  wahre  Unfreyheit  seines  Zöglings  fortwährend  vor  Augen  sieht,  über- 
läfst  recht  gern  FiCHTEn  die  Beantwortung  jener  moralischen  Frage;  er 
würde  das  Geforderte  gerne  leisten,  wenn  er  nur  könnte.  Aber  der  un- 
freie Wille  seines  Zöglings  ist  nichts  destoweniger  ein  Wille;  ein  wirklich 
selbstthätiger,  eigener  Wille;  der  bald  unbeugsam  sich  der  Besserung  wider- 
setzt, bald  schlau  sich  verbirgt,  bald  nach  kurzer  Rührung  ohne  wesent- 
liche Veränderung  nach  alter  gewohnter  Weise  wieder  zum  Vorschein 
kommt.  Alle  diese  Wahrnehmungen  sind  jedoch  weit  entfernt,  dem  prak- 
tischen Erzieher  das  Bekenntnifs  abzupressen :  er  vermöge  gar  nichts  über 
den  Willen  des  Zöglings;  denn  es  giebt  nicht  blofs  Einen  Zögling,  sondern 
viele  und  verschiedene;  und  an  diesen  Vielen  giebt  es  viele,  sehr  ver- 
schiedene Erfahrungen,  die  nirgends  durch  veste  Gränzen  von  einander 
gesondert  sind. 

Auf  dem  rein  praktischen  Standpunkte  noch  einen  Augenblick  ver- 
weilend, wollen  wir  nun  vor  allen  Dingen  bey  FiCHTEn  uns  erkundigen, 
welches  grofse  Mittel  er  denn  erfunden  habe,  um  die  neue,  viel  versprechende, 
ja  geradezu  die  Welt   verbessernde  Erziehung  an  Stelle  der  alten  zu  setzen? 

Die  Antwort  ist  Ihnen  ohne  Zweifel  erinnerlich ;  er  wollte  '  gänzliche 
Absonderung  der  Jugend  von  den  Erwachsenen;  und  ein  für  sich  selbst 
bestehendes  Gemeinwesen  der  Zögli?ige,  das  seine  genau  bestimmte,  in  der 
Natur  der  Dinge  gegründete,  und  von  der  Vernunft  durchaus  geforderte 
Verfassung  habe.  Kein  Wunder!  Wer  von  der  Politik  getrieben,  die 
Pädagogik  als  ein  Hülfsmittel  benutzen  will,  der  schaut  stets  zur  Politik 
zurück.  Wird  denn  auch  der  praktische  Erzieher,  welchem  die  Aufgabe 
seines  Thuns  unmittelbar  durch  den  Blick  auf  den  Zögling  klar  wird,  jene 
hohen   Ansichten  zu  den  seinigen   machen   können  ? 

Nichts  in  der  Welt  erschwert  so  sehr  die  eigentlich  moralische  Er- 
ziehung, als  Anhäufung  vieler  Kinder  auf  einem  Puncte.  Die  unmittelbare 
Folge  davon  ist  ein  geselliger  Geist,  der  sich  unter  ihnen  —  mit  möglichster 
Ausschliefsung  der  Erzieher  bildet,  welche  als  Fremde  betrachtet,  beobachtet, 
beurtheilt,  und  nach  Möglichkeit  umgangen  werden.  Das  offenste  Kind 
vertraut  sich  doch  dem  Gespielen  lieber  als  dem  Lehrer;  wo  aber  vollends 
eine  Menge  gegenübersteht  ihrem  Lenker,  da  berathschlagt  sie  allemal  unter 
sich;  es  sey  denn,  dafs  man  durch  militärischen  Zwang  sie  in  eine  Armee 
verwandele.  Jeder  Director  einer  Lehranstalt  kennt  die  Schwierigkeiten 
der  Disciplin;  wie  weit  aber  ist  noch  von  der  guten  Disciplin  bis  zum 
sichern  Einwirken  auf  das  inwendige,  sittliche  oder  unsittliche  Wollen  der 
einzelnen  Zöglinge!  Den  Schulen  helfen  überdies  die  Familien  nach;  aber 
wo   das   Band   der  Anhänglichkeit  an   Vater    und   Mutter  aufgelösct  ist,  - 


1   „Die  Antwort  ist :  er  wollte      .   ,"  SW.   („Ihnen  ohne  Zweifel  erinnerlich"  fehlt.) 


426  Anhang  III. 


da  gerade  erfährt  der  praktische  Erzieher  seine  Ohnmacht.  Mit  abstracten 
Begriffen  regiert  man  keinen  Knaben.  Warum  sollte  ich  nicht?  fragt  der 
unbesonnene  Jüngling,  den  man  bey  leichtsinnigen  Äufserungen  warnt. 
Die  Bedeutung  seines  Thuns,  wenn  es  dereinst  in  gröfsere  Welt- Verhältnisse 
übergeht,  begreift  er  nicht;  er  will  sich  versuchen!  Und  in  der  That,  ver- 
suchen würde  sich  jene  Fichtesche  Gemeinschaft  der  angehäuften  Jugend; 
alle  möglichen  Verkehrtheiten  würde  sie  versuchen,1  durch  welche  jemals 
irgend  eine  Gesellschaft  roher  Menschen  herdurchgegangen  ist,  wenn  nicht 
ein  heilsamer  Zwang  von  aufsen  hinzukäme,  dessen  Heil  jedoch  zunächst 
nur  in  äufserer  Ordnung  besteht,  und  die  Gemüther  zwar  bändigt,  aber 
zugleich  verschliefst.  Wo  bliebe  da  die  sichere  Bildung  des  Willens?  Der 
beste  Fall  wäre  eintönige  Gutmüthigkeit  durch  gleichförmige  Gewöhnung. 
Fichtes  Vorschlag  ist  daher  nicht  blofs  schimärisch,  wegen  der  Un- 
ausführbarkeit,  sondern  er  ist  geradezu  das  Gegentheil  dessen,  worauf  seine 
eigne  Forderung  ihn  führen  mufste  und  geführt  hätte,  nach  Beseitigung 
der  politischen  Rücksichten  und  Wünsche.  Die  eigentlich  moralische  Er- 
ziehung geht  nie  sicherer,  als  da,  wo  Vater  und  Mutter  nur  ein  einziges 
Kind  haben,  auf  das  sie  gemeinschaftlich  dergestalt  wirken,  dafs  sie  ihm 
die  nächsten  sind  und  lange  Zeit  bleiben;  mit  allmähligem  Zulassen  andrer 
Gesellschaft,  die  sie  nöthigenfalls  wieder  entfernen  können. 

Bekommt  aber  das  natürliche  Bedürfnifs,  Jemanden  zu  haben,  dem 
man  sich  frey  äufsern  und  hingeben  könne,  einen  anderen  Ausweg  als  zu 
Eltern  und  Erziehern:  dann  ist  sogleich  jene  Sicherheit  verloren,  aus  der 
Fichte  sogar  Unfehlbarkeit  machen  wollte.  Und  dies  ist  ein  starker 
Grund,  warum  der  erfahrne  Erzieher  niemals  von  Unfehlbarkeit  zu  reden 
wagen   wird. 

An  ein  praktisches  Interesse  ist  daher  bei  Fichtes  pädagogischen 
Vorschlägen  nicht  zu  denken;  wenn  wir  nicht  etwa  noch  heute  zum  Ge- 
deihen des  Staates  nothwendig  erachten,  dafs  man  die  Kinder  den  Eltern 
entreifse.  Aber  für  uns  Beyde,  mein  verehrter  Freund!  behält  alles,2 
was  von  FiCHTEn  kam,  sein  theoretisches  Interesse.  Und  es  war  ja  die 
Metaphysik,  die  uns  zu  ihm  führte.3  Lassen  wir  daher  Alles  bey  Seite, 
was  sich  für  eine  öffentliche  Erziehung,  (die  jedes  Individuum  nach  seiner 
Art  zu  witzigen  und  weltklug  zu  machen  pflegt,)  sagen  läfst,  und  was  mit 
grofsen  und  leicht  erklärlichen  Übertreibungen  der  Weltverbesserer  oft 
genug  ist  gesagt  worden.  Die  grofsen  Pläne,  welche  man  freylich  nicht 
auf  Privaterziehung  bauen  kann,  werden,  ohne  dafs  ich  es  zu  hindern 
vermag,  die  wahren  Grundsätze  der  Pädagogik  noch  lange  in  Schatten 
stellen;  allein  das  macht  mir  für  jetzt  keine  Sorge.  Sie,  mein  verehrter 
Freund!  sind  der  Gegenstand,  den  ich  im  Auge  habe.  Mit  Ihnen  wollte 
ich  nicht  disputiren ;  aber  mit  Ihnen  unterhalte  ich  mich,  um  Ihnen  wenig- 
stens soviel  abzugewinnen,  dafs  sie  klärlich  einsehen  mögen,  wie  fremd 
mir  der  Idealismus   ist.^ 


1   „Verkehrtheiten  würden  sich  versuchen"  SW. 

Aber  alles,   was  von  FiCHTEn  kam   .    .   .   behält."     SW. 
3  Die  Worte:   „Und  es  war  ...  zu  ihm   führte"   fehlen  in   SW. 
1   Die  Worte:  „Sie,  mein  verehrter  Freund !  .  .  .  mir  der  Idealismus  ist"  fehlen  inSW. 


Über  das  Verhältnifs  des  Idealismus  zur  Pädagogik.  42  7 

Gemildert  war  bekanntlich  auch  bey  Fichteii  der  Idealismus  durch 
die  Annahme  andrer  Vernunftwesen,  aufser  dem  eignen  Ich;  jedoch 
mit  dem  Beding,  dafs  Alle  im  Urwesen  verknüpft  und  im  Grunde  Eins 
seyen.  Für  die  Natur  aber  fand  sich  bey  ihm  keine  Gnade.  Mit 
fmsterm  Ernste,  als  ob  frühere  Schriften  denselben  noch  nicht  genugsam 
verkündet  hätten,  wiederhohlt  er  in  seinen  Reden:  „Der  Wahn,  dafs  in 
der  Natur  Gottes  Wesen  auf  irgend  eine  Weise  unmittelbar,  und  anders, 
als  durch  Zwischenglieder  vermittelt,  eintrete,  stammt  aus  Finsternifs  im 
Geiste,  und  aus  Unheiligkeit  im  Willen."  Gegen  Wen  diese  Erklärung 
eigentlich  gerichtet  ist,  das  wissen  Sie,  mein  Freund,1  so  gut  wie  ich; 
allein  wozu  sollten  wir  eine  alte  Ungerechtigkeit  aufdecken  ?  Wir  würden 
die  Kreuz-  und  Querzüge  unsrer  Literatur,  die  so  oft  ihren  Ursprung  und 
ihre  Triebfedern  verkennt,  damit  doch  nicht  bessern.  Genug,  „jene  todt- 
gläubige  Seyns-Philosophie,  die  wohl  gar  Natur-Philosophie  wird,  die  er- 
storbenste  von  allen  Philosophieen,"  würde  doch  unstreitig  in  Fichtes 
Augen  noch  unendlich  besser  gewesen  seyn  als  die  meinige;  wenn  nicht 
etwa,  wie  man  zuweilen  behaupten  hört,  die  Extreme  sich  berühren. 
Wenigstens  in  der  Consequenz  pflegen s  die  Systeme  der  rechten  und 
linken  Seite  einander  ähnlicher  zu  seyn,  als  die  aus  der  Mitte.  Werden 
wir  denn  strenge  Consequenz,  die  Fichte  unstreitig  mit  rühmlichem  Eifer 
suchte,  auch   wirklich  bey  ihm   antreffen?     Das   wird   sich   allmählig  zeigen. 

Überaus  milde,  ja  über  alles  gerechte  Maafs 3  der  Erfahrung  eben- 
sowohl, als  der  Theologie,  zutrauensvoll  und  selbst  gütig  und  liebreich 
finden  wir  FiCHTEn  da,  wo  er  uns  von  der  ersten  Bedingung  aller  Er- 
ziehung, nämlich  von  dem  Causal-Verhätnifs  zwischen  Erzieher  und  Zög- 
ling, einigen  Bericht  darbietet.  Dies  wichtige  Causal -Verhältnifs  würde 
uns  freylich  äufserst  schwierig  erscheinen,  da  wir  den  eignen  Willen  des 
Zöglings  doch  gewifs  beyde,  wenn  auch  in  einem  näher  zu  bestimmenden 
Sinne,  einen  freyen  Willen  nennen  würden.  Wie  soll  denn  irgend  eine 
Art  von  Freyheit  nicht  blofs  gewonnen,  gelenkt,  bewogen,  sondern  nach 
obiger  Forderung  schlechthin  unfehlbar  bestimmt  werden?  Hören  wir 
zuvörderst  FiCHTEn  über  das  Wesen  der  Freyheit,  nicht  etwa  nach  Er- 
klärungen, die  er  anderwärts  giebt,  sondern  nach  dem  Buche,  was  vor 
mir  liegt. 

„Die  Freyheit  im  Sinne  des  unentschiedenen  Schwankens  ist  nicht 
Leben,  sondern  Vorhof  und  Eingang  zum  wirklichen  Leben.  Endlich 
mufs  es  doch  einmal  aus  diesem  Schwanken  heraus  zum  Entschlüsse  und 
zum  Handeln  kommen;  und  erst  jetzt  beginnt  das  Leben.  Nun  erscheint 
auf  den  ersten  Blick  jeder  Willens- Entschlufs  als  erstes,  keineswegs  als 
zweytes.  Aber  es  sind  zwey  Fälle  möglich;  entweder  nämlich  erscheint 
in  ihm  nur  die  Erscheinung  abgetrennt  vom  Wesen,  oder  aber  das  Wesen 
tritt  selbst  erscheinend  ein;  und  zwar  ist  zu  merken,  dafs  das  Wesen  nur 
in  einem  Wilhnsenischlusse  zur  Erscheinung  werden  kann,  dafs  aber  um- 
gekehrt es  auch  solche  Willensentschlüsse  geben  kann,  in  denen  keines- 
weges   das    Wesen,   sondern   nur  die  hlofse  Erscheinung  hervortritt." 

1  „wissen  Sie,   so  gut  .   .  ."  SW   („mein  Freund"  fehlt.) 

2  „pflegen  Systeme"  .   .   .  SW  („die"  fehlt.) 

3  „Maafs  der  Erfahrung  zutrauensvoll  und"  .   .   .  SW. 


428 


Anhang  III. 


Wie,  möchte  jemand  fragen,  blofse  Erscheinung  tritt  heraus,  und 
zwar  in  einem  Willens -Entschlufs?  Wer,  und  tvem  erscheint  sie  denn? 
Wo  ist  ihr  Object,  wo  ihr  Subject?  —  Halten  wir  uns  nicht  dabey  auf! 
Denn  Fichte  versicheit  uns  sogleich  weiter,  die  blofse  Erscheinung  sey 
fähig  selbst  zu  erscheinen. 

Eine  solche  Erscheinung  der  zweyten  Potenz  aber  sey  unabänderlich 
bestimmt,  und  nothwendig  also  wie  sie  eben  ausfällt.  Hiebey  vermisse 
ich  nun  zunächst  Erscheinungen  der  dritten,  vierten  Potenz,  und  so  femer; 
in  welchen  vermuthlich  die  Nothwendigkeit  noch  um  vieles  nothwendiger 
werden  würde.  Dann  aber  fällt  mir  ein,  dafs  jede  Potenz  immer  noch 
von  ihrer  Wurzel  abhängt,  und  daher  das  Wesen  unausweichlich  die 
Schuld  aller  Erscheinungen,  auch  solcher,  die  es  losgelassen  hat,  wird 
tragen  müssen.  Jedoch  auch  dies  sey  dahingestellt;  ja  es  mag  meinet- 
halben (für  jetzt  wenigstens)  in  der  freyen  Handlung  noch  ein  Mehr,  als 
das  aus  dem  Ganzen  der  Erscheinungen  erklärbare  enthalten  seyn,  und 
dieses  Mehr  mag  auch  so  sichtbar  werden  als  man  verlangt  und  vorgiebt: 
was  beginnt  nun  mit  dem  Allen  der  Erzieher?  —  Wer  an  ein  vestes, 
beharrliches,  und  todtes  Seyn  glaubt,  (sagt  Fichte,)  der  glaubt  daran, 
weil  er  in  sich  selbst  todt  ist;  und  nachdem  er  einmal  todt  ist,  wird  diese 
Ausländerey,  (erinnern  wir  uns  an  die  deutsche  Nation!)  sich  auch  zeigen 
als  Aufgeben  aller  Verbesserung  unserer  selbst  oder  Andrer.  Wie  nun, 
wenn  unser  Zögling  ein  Solcher  ist,  der  also  glaubt?  Wenn  er  nicht  zu 
den   „ursprünglichen   Menschen"  gehört:    was   macht  alsdann  der  Erzieher. 

Antwort:  Die  Sittlichkeit  ist  ursprünglich,  und  vor  aller  Erziehung 
vorher,  in  allen  menschlichen  Kindern,  die  zur  Welt  geboren  werden.  Be- 
lieben Sie  das   eignen   Augen1  (S.   317   des  angeführten   Buches)   zu   lesen. 

Und  damit  ja  kein  Zweifel  übrig  bleibe,  dafs  es  mit  dieser  gütigen, 
milden  Beurtheilung  des  Menschengeschlechts  Ernst  sey:  findet  sich  an 
mehrern  Stellen  die  strengste  Verwerfung  der  Lehre  von  der  Erbsünde. 
„Was  läfst  sich  von  solcher  Belehrung  anders  erwarten,  als  dafs  jeder 
Einzelne  sich  in  seine  Natur  ergebe?  Es  ist  eine  abgeschmackte  Verläum- 
dung  der  menschlichen  Natur,  dafs  der  Mensch  als  Sünder  geboren  werde." 

So  wird  dann  auf  einmal  Alles  leicht!  Der  Erzieher  bestimmt  den 
Willen  seines  Zöglings  —  wozu?  dazu,  dafs  er  sey,  was  er  ist;  nämlich 
sittlich.  Diejenigen,  welche  in  sich  selbst  todt  sind,  belästigen  den  Erzieher 
nicht,  denn  —  sie  verschwanden  und  wurden  nicht  mehr  gesehen,  indem 
von  der  Erziehung  die  Rede  anhub.  Die  Ausländer,  die  Völker  der  un- 
lebendigen Sprachen,  sollten  ja  nicht  erzogen  werden,  sondern  nur  die 
deutsche  Nation!  Das  mag  die  Zeit  entschuldigen,  worin  jene  Reden 
geschrieben   wurden. 

Der  Erzieher  also  soll  die  deutsche  Jugend  lassen  ivie  sie  ist?  Wozu 
denn  jene  hohen  Verkündigungen  einer  neuen  Erziehung?  Dabey  ist 
offenbar  ein  Widerstand,  oder  ein  verderbendes  Prinzip  vorausgesetzt, 
welches  abzuwehren  dem  Erzieher  eine  wenigstens  negative  Thätigkeit 
kosten  wird.  Wir  fragen  demnach  zuerst:  wo  liegt  denn  das  verderbende 
Prinzip?      Und    die  Antwort  wird    uns    nicht    vorenthalten:      „Der  Mensch 


1   Die  Worte:    „Belieben  Sie  .   .   .  zu  lesen"   fehlen  in  SW. 


Über  das   Verhältnifs  des  Idealismus  zur  Pädagogik  4?Q 


lebt  sich  zum  Sünder.  Das  bisherige  menschliche  Leben  war  in  der  Regel 
eine  im  steigenden  Fortschritte  begriffene  Entwickelung  der  Sündhaftigkeit. 
Allenthalben,  wo  die  Gesellschaft  verdorben  ist,  mufs  dasselbe  erfolgen. 
Nicht  die  Natur  ist  es,  die  uns  verdirbt,  diese  erzeugt  uns  in  Unschuld: 
die    Gesellschaft  ists." 

Wodurch  verdarb  denn  wohl  die  Gesellschaft?  So  wird  jeder  Theo- 
log mit  mir  fragen.  Und  ich  frage  weiter:  mit  welcher  Hoffnung  wollte 
denn  Fichte  es  wagen,  aus  der  Jugend  eine  Gesellschaft  zu  bilden?  meinte 
er  wirklich,   diese   würde  nicht  verderben  ? 

Aus  Gründen,  an  welche  Fichte  nicht  entfernt  dachte,  die  Sie  aber 
in  meiner  Psychologie  werden  zu  finden  wissen,  behaupte  ich:  dafs  jeder 
Haufen  von  Menschen,  die  in  Confhct  gerathen,  seyen  sie  alt  oder  jung, 
eine  natürliche  Neigung  in  sich  trägt,  in  vier  Klassen  zu  zerfallen: 
Dienende,  gemeine  Freye,   Angesehene  und   Herrscher. 

Beyspielsweise  wollen  wir  hier  nur  die  Dienenden  ins  Auge  fassen, 
und  für  jetzt  nur  in  der  Erfahrung.  Da  könnte  ich,  weil  docli  von  der 
Jugend  die  Rede  ist,  an  den  alten  Unfug  des  sogenannten  Pennalismus 
erinnern.  Oder,  um  von  Zeitbegebenheiten  zu  reden,  an  den  Unfug, 
welcher  neuerlich  oftmals  von  der  niedrigsten  arbeitenden  Klasse  ausging. 
Aber  ganz  nahe  liegt  mir  das  Unheil,  was  die  Cholera  eben  kürzlich 
unter  meinen  Augen,  und  so  auch  in  mehreren  Städten  und  Ländern 
sichtbar  gemacht  hat.  Da  sie  die  niedrigste  Klasse  am  härtesten  traf, 
so  hat  sie  auf  Menschen,  die  man  sonst  in  der  Gesellschaft  kaum  zu  be- 
merken pflegte,  ein  trauriges  Licht  geworfen;  sie  hat  Einheit  in  diese 
Klasse  gebracht,  deren  Mitglieder  man  sonst  nur  vereinzelt  erblickt,  weil 
sie  am  Gemeingeiste  der  Gesellschaft  keinen  Theil  haben,  so  zahlreich  sie 
auch  in  ihr  vorhanden  sind.  Welche  Einheit?  Die  eines  gemeinsamen, 
aller  Widerlegung  trotzenden  Vorurtheils:  man  wolle  sie  vergiften,  aus 
dem  Wege  räumen;  dazu  seyen  die  Ärzte  angewiesen,  befehligt,  gedungen, 
bezahlt.  Selbst  solchen  Ärzten  deren  wohlthätiges  Helfen  die  armen 
Leute  aus  langer  Erfahrung  kannten,  —  selbst  den  Geistlichen,  den  Beicht- 
vätern trat  dies  Vorurtheil  starr  entgegen.  Es  kam  zu  den  Waffen.  Es 
mufste  Blut  fliefsen.  Aber  diejenigen,  welche  sich  als  freye  Bürger  im 
Staate  fühlten,  blieben  von  dem  Wahn  unberührt.  So  zeigte  sich  eine 
von  den  Scheidewänden,  deren  ich  erwähnt  habe.  Wo  liegt  der  Ursprung 
dieser  unglücklichen  Scheidewand?  Hatte  Jemand  sie  absichtlich  aufgebaut? 
Wünschte  Jemand,  sie  in  dieser  furchtbaren  Gestalt  zu  erblicken?  Nein, 
Aber  ihr  Grund  liegt  in  psychologischem  Mechanismus.  Das  zufällige  Übel 
hat  sie  nur  zur   Anschauung  gebracht. 

Ob  nun  Fichte  in  seiner  Jugend-Gesellschaft  die  natürlichen  Aristo- 
kraten und  Herrscher  dulden  möchte,  kann  allenfalls  in  Frage  gestellt 
werden ;  dafs  er  aber  die  so  eben  nachgewiesene  Scheidewand,  welche  die 
ganz  Herabgedrückten  hinter  sich  verbirgt,  unmöglich  dulden  könnte,  springt 
eben  so  gewifs  in  die  Augen,  als  es  gewifs  ist,  dafs  hiegegen  jeder  tüch- 
tige Erzieher  und  Schulmann  seine  Kraft  aufbietet;  eine  Kraft,  die  als 
ein  Höheres,  als  ein  freyes  moralisches  Prinzip  die  Gesellschaft  von  dem 
natürlichen  Übel  erlöset,  in  welches  sie  sonst  schon  bey  ihrem  Ursprünge 
hinein  gerathen   würde,    und  wodurch    im   Orient    wirklich   manche   Staaten 


42  O  Anhang  ITI. 

unheilbar  sind  verderbt  worden.  An  die  Sclaven,  selbst  bey  Griechen  und 
Römern,  brauche  ich  hier  nicht  zu  erinnern.  Aber  die  Natur,  wie  wenig 
sie  auch  dem  Übel  bey  Erwachsenen  vorbeugt,  hat  doch  die  Jugend  da- 
gegen geschützt,  indem  sie  keine  Jugend  -  Gesellschaft  stiftet,  sondern  die 
Kinder  den  Eltern  anvertraut.  Und  von  Erziehungs- Anstalten  fordert  man 
allgemein,   sie  sollen   die  häusliche   Gesellschaft  möglichst  nachahmen. 

Welches  war  denn  über  diesen  Punct  die  Sprache  des  Idealismus? 
Schon  oben  führte  ich  die  Worte  an:  „ein  Gemeinwesen  der  Zöglinge, 
das  seine  genau  bestimmte,  in  der  Natur  der  Diiige  gegründete,  und  von 
der    Vernunft  durchaus  geforderte   Verfassung  habe." 

In  der  Natur  der  Dinge  ist  jener  psychologische  Mechanismus  ge- 
gründet, der  das  Übel  erzeugt.  In  der  Natur  des  Menschengeschlechtes 
ist  aber  auch  die  Familie  gegründet,  welche  die  Kinder  getrennt  hält. 
Die  Vernunft  fordert,  dafs  es  hiebey  sein  Bewenden  habe,  und  dafs  man  die 
Gefahren  grofser  Gesellschaften  von  den  Kindern  möglichst  fern  halte.  Sie 
will  keine  Verfassung  für  die  Jugend.  Die  Erziehung  ist  ohnehin  schwer 
genug;  man  braucht  sie  nicht  noch  mit  künstlichen  Hindernissen  zu  belasten. 

Aber  den  Idealismus  charakterisirt  das  Verkennen  des  psychologischen 
Mechanismus.  Wenn  er  ihn  nur  nicht  siebt,  dann  meint  er,  sey  derselbe 
auch  nicht  vorhanden.  Er  construirt  aus  der  Idee;  wie  die  Wirklichkeit 
dazu  passe,  das  fragt  er  nicht  eher,  als  bis  das  Wirkliche  ihm  feindlich 
entgegentritt.  Dann  werden  lange  Reden  über  Sündhaftigkeit  gehalten; 
und  hinter  der  Rhetorik  verbirgt  sich  die  Unwissenheit.  Man  streitet  mit 
Worten  gegen  Übel,  deren  Quellen  man  nicht  kennt;  und  welche  durch 
die  angegebenen  Vorkehrungen  nicht  verhütet,  sondern  eben  herbeygeführt 
werden   würden. 

Doch  jener  Zeitpunct,  da  Fichte  die  deutsche  Nation  anredete,  um 
sie  zu  begeistern,  war  nicht  der  gelegene  Zeitpunct,  um  sein  früher  ge- 
bildetes, aus  bekannten  geschichtlichen  Anlässen  leicht  erklärbares  System 
einer  Revision  zu  unterwerfen.  In  Zeiten  der  Noth  tröstet  man  sich  mit 
Idealen;  und  sie  wirken  wohlthätig  wenigstens  auf  die,  welche  sich  ihnen 
hingeben.  Zur  That  kam  es  nicht,  denn  das  Glück  wendete  sich,  und 
zwar  durch  ein  ganz  anderes  Thun.  Möge  nur  nicht  hinter  dem  Schleier, 
der  unsre  Zukunft  deckt,  eine  erneute  Noth  verborgen  seyn,  worin  wir 
uns  abermals  müfsten  durch  Worte  und  Gedanken  zu  trösten  suchen! 
jedenfalls  wollen  wir  den  hochherzigen  deutschen  Patriotismus  in  Ehren 
"halten,  der  Fichtes  Lehren  und  Reden  belebte.  Und  da  wir  uns  hier 
nicht  ins  Politische  verlieren  dürfen,  so  lassen  Sie  uns  wenigstens  von 
seiner  pädagogischen  Ansicht  die  bessere  Seite  aufsuchen. 

Wo  es  darauf  ankommt,  das  unmittelbar  sittliche  Streben  in  kräftigen 
Worten  zu  beschreiben,  da  finden  wir  den  Idealismus  weit  mehr  in  seiner 
rechten  Sphäre,  als  dort,  wo  die  Veranstaltungen  zur  sittlichen  Wirksam- 
keit im  zeitlichen  Handeln  den  Gegenstand  der  Frage  ausmachen.  Gern 
hören  wir  FiCHTEn  reden  von  dem  Triebe  nach  Achtung,  als  der  reinsten 
Gestalt,  worin  das  Sittliche  schon  beym  Kinde  hervortrete.  Gern  lassen 
wir  uns  von  ihm  einschärfen,  dafs  in  der  Behandlung  des  Kindes  kein 
Eigennutz  hervortreten,  kein  Verlust,  den  etwa  dessen  Unvorsichtigkeit  uns 
zufügt,    hart  geahndet  werden  solle.      Unbedenklich   räumen   wir    ihm  ein, 


Über  das  Verhältnifs  des  Idealismus  zur  Pädagogik.  a-xi 

dafs,  wo  Bestrafung  von  keiner  Schaam  begleitet  wird,  es  mit  der  Erziehung 
zu  Ende  geht.  Am  schönsten,  wenn  auch  nicht  allgemein  richtig,  ist  seine 
Beschreibung  der  Kindlichkeit.  „Das  Kind  geht  aus  von  unbedingter 
Achtung  für  die  erwachsene  Menschheit  aufser  sich;  an  ihrer  wirklichen 
Achtung  nimmt  es  ab,  in  wiefern  es  auch  sich  selbst  achten  dürfe. 
Dieses  sich  Vertrauen  auf  einen  fremden ,  und  aufser  uns  befindliehen 
Maafsstab  der  Selbstachtung  ist  der  eigenthümliche  Grundzug  der  Kind- 
heit und  Unmündigkeit,  auf  dessen  Vorhandenseyn  ganz  allein  die  Mög- 
lichkeit aller  Belehrung  und  aller  Erziehung  der  nachwachsenden  Jugend 
zu  vollendeten  Menschen1  sich  gründet.  Der  mündige  Mensch  hat  den 
Maafsstab  seiner  Selbstschätzung  in  sich  selbst,  und  will  von  Anderen  ge- 
achtet seyn,  nur  in  wiefern  sie  erst  selbst  seiner  Achtung  sich  würdig 
gemacht  haben;  und  bey  ihm  nimmt  dieser  Trieb  die  Gestalt  des  Ver- 
langens an,  Andre  achten  zu  können,  und  Achtungswürdiges  aufser  sich 
hervorzubringen.  Diesen  Grundzug  der  Mündigkeit  nun  soll  der  Erzieher 
darstellen,   so  wie  auf  den   erstem  bey  dem  Zöglinge  sicher  zu  rechnen  ist." 

Sichert  —  Nein;  das  bestätigt  die  Erfahrung  nicht.  Nur  soviel  be- 
stätigt sie,  dafs  da,  wo  die  beschriebene  Gesinnung  des  Zöglings  sich  ent- 
weder gleich  Anfangs  vorfindet,  oder  wo  sie  doch  früher  oder  später  ge- 
wonnen wird,  von  diesem  Puncto  an  das  Geschäft  der  Erziehung  leicht 
und  glücklich  von  statten  geht.  Ein  erstes,  vorläufiges  Ziel  ist  also  hie- 
mit  richtig  aufgesteckt,  welches  zu  erreichen  die  Sorge  des  Erziehers  seyn 
mufs.  Ein  Ziel,  das  gleichwohl  niemals  dann  erreicht  wird,  wenn  einmal 
eine  jugendliche  Menge  begonnen  hat,  ihrem  Gesammt-Urtheil  mehr  zu 
trauen,  als  dem  Urtheil  des  ihr  fern  stehenden  Erwachsenen.  Und  selbst 
den  besten,  einzeln  stehenden  Zögling  dünkt  oft  genug  das  Urtheil  des 
Erziehers,  wenn  nicht  falsch,  so  doch  zu  stark,  zu  hart,  zu  streng.  Ab- 
gesehen davon,  dafs  kein  Erzieher  vollkommen  ist,  dafs  also  der  Zögling 
in  einzelnen  Fällen  sich  ein  richtig  abweichendes  eignes  Urtheil  bildet,  — 
abgesehen  hievon  ist  zwischen  dem  nothwendigen  Ernst  des  Erziehers 
und  dem  Leichtsinn  der  Jugend  eine  weite  Distanz,  die  durch  kein,  noch 
so  grofses  Vertrauen,  ganz  ausgefüllt  wird.  Und  in  der  Erfahrung  sind 
Fälle  genug  vorgekommen,  wo  ein  Knabe,  ja  ein  noch  sehr  junges  Kind, 
eine  Art  von  Stolz  darin  setzt,  unartig  seyn  zu  können.  Wäre  Fichtes 
Behauptung  allgemein  wahr;  woher  käme  es  denn,  dafs  selbst  Kinder,  die 
man  noch  zu  den  guten  zählen  mufs,  dennoch  eine  Freude  darin  finden, 
zuweilen  allein  zu  seyn,  um  thun  zu  können,  was  ihnen  unter  Aufsicht 
nicht  gestattet  wird?  Manches  wird  verboten,  und  mufs  verboten  werden, 
was  dennoch  heimlich  geschieht.  Ein  so  reines  pädagogisches  Verhältnifs, 
worin  dergleichen  gar  nicht  vorkäme,  gehört  zu  den  seltenen  Ausnahmen; 
und  diese  setzen  ein  Zartgefühl,  ein  frühes  geistiges  Leben  voraus,  dessen 
nur  glückliche  Naturen  fähig  sind.  Dergestalt  sind  wir  genöthigt,  auch 
hier  dem  Idealisten  zu  widersprechen,  wo  wir  ihm  gern  beystimmen  möchten. 

Dem  Idealisten?  War  denn  Fichte  wirklich  Idealist,  als  er  das 
Vorstehende  schrieb?  Oder  schob  sich  ein  fremder  Gedanke  an,  welchen 
das  System  selbst,    nach   strenger  Consequenz,    wird  ausscheiden    müssen? 


1  „zu  vollendeten  Menschheit  .  .  ."  SW. 


.  ,  7  Anhang  III. 


—  Diese  Frage,  mein  Verehrtester,1  wird  Sie  vielleicht  näher  berühren 
als  das  Vorhergehende.  Denn  mir  fällt  Ihr  „durchaus  fremder  Vorfahr  im 
Amte"2  dabey  ein;   Sie  werden   bald   sehen  wie  das  zugeht. 

Nach  strengem  Idealismus  ist  der  Zögling  eine  blofse  Erscheinung, 
ein  Nicht -Ich  für  den  Erzieher,  ohne  alle  Realität,  aufser  in  wiefern  der 
Erzieher  einen  solchen  Zögling  in  sich  setzt.  Oder  auch  umgekehrt:  dem 
Zögling  ist  sein  Mentor  eine  blofse  Erscheinung;  ein  Nicht- Ich,  ohne  alle 
Realität,  aufser  in  wiefern  das  Ich  des  Zöglings  jenes  Nicht- Ich  in  sich 
setzt.  Diesen  Idealismus  dürfen  wir  von  FiCHTEn  keinesweges  fordern. 
Er  hatte  ihn  längst  verlassen,  bevor  an  unsre  Reden  gedacht  wurde.  Wir 
müssen  hier  gemäfs  dem  zuvor  angeführten  FiCHTEschen  Dogma  voraus- 
setzen :  Das  Wesen  trete  in  beyde  Willens  -  Entschlüsse  ein,  sowohl  in  den 
des  Einen,  zu  erziehen,  als  in  den  entsprechenden  des  Andern,  sich  erziehen 
zu  lassen.  Denn  mit  Willens -Entschlüssen,  in  denen  die  blofse  Erschei- 
nung heraustritt,  abgetrennt  vom  Wesen,  könnten  wir  in  guter  Erziehung 
nichts  anfangen. 

Allein  sehen  Sie  nun,  was  mir  begegnet.  Traue  ich  dem  Zögling 
einen  ächten  Willens- Entschlufs  zu,  sich  erziehen  zu  lassen,  so  wird  er 
mir  gleichsam  vor  Augen  so  grofs,  so  männlich,  so  mündig,  dafs  er  bald 
keine  Erziehung  mehr  braucht.  Gehe  ich  rückwärts  in  seine  Kindheit,  so 
finde  ich  keine  ächten  Willens -Entschlüsse,  also  nichts,  worin  das  Wesen 
nach  obiger  Vorschrift  —  hervortreten  könnte.  Ja  bey  der  Geburt 
gränzt  der  Zögling  so  nahe  an  die  blofsen  Naturdinge,  dafs  durchaus 
Zwischenglieder  nöthig  werden,  wenn  wir  nicht  in  die  bekannte  Erstorben- 
heit  der  Naturphilosophie  verfallen  wollen.  Diese  Zwischenglieder  sind 
am  natürlichsten  die  Eltern.  Sie  denken  in  die  Erscheinung,  welche  sie 
ihr  Kind  nennen,  eine  künftige  Vernunft  hinein,  lange  vorher,  ehe  eine 
solche  wirklich  darin  ist;  —  womit  ich  denn,  beyläufig  gesagt,  auch  auf 
meinem  Standpuncte  sehr  wohl  zufrieden  und  völlig  einverstanden  bin. 
Blieben  wir  nun  stehen  bey  der  Erziehung  der  ersten  paar  Jahre:  so  möchte 
uns  keine  auffallende  Schwierigkeit  begegnen.  Allein  jener  Trieb  nach 
Achtung,  jene  Kindlichkeit,  die  schon  ein  Gewissen,  wenn  auch  aufser  sich, 
hat,  —  das  Alles  mahnt  uns  an  den  Knaben,  der  längst  darüber  hinaus 
ist,  von  sich  in  der  dritten  Person  zu  reden.  Das  Ich  ist  in  ihm;  er 
weifs  von  Sich.  Wie  machen  wir  es  nun,  dafs  er  sein  Gewissen,  und  den 
Maafsstab  seines  Werthes  dennoch  aufser  sich  habe?  Etwa  so,  wie  das 
idealistische  Ich  Stein  und  Holz  und  überhaupt  die  Sinnenwelt  aufser  sich 
setzt?  Gehört  denn  das  Gewissen  auch  in  diese  Klasse  der  gemeinen 
Dinge  ?  Gesetzt,  dem  sev  also :  dennoch  will  es  mir  nun  immer  noch 
nicht  gelingen,  das  Fehlende  in  dem  eigentlichen  Ich  des  Zöglings  gerade 
in  den  Erzieher  hineinzubringen;  vollends  da  es  unbestimmt  bleiben  mufs, 
wer  der  Erzieher  sey  ?  ob  der  Vater,  oder  ein  angenommener  Erziehungs- 
Gehülfe,  oder  beym  Autodidakten  ein  Buch,  oder  bey  dem  wild  heran- 
gewachsenen Jüngling  eine  Geliebte.    Nehmen  wir  noch  hinzu,  dafs  schlechte 


1   ,. Diese  Frage  wird  Sie  .   .   ."  SW  („mein   Verehrtester'  fehlt.) 
'  Die  Stelle  lautet  übrigens  bei  Brandes:    „durchaus  fremder  Vorgänger   in  der 
Amtsführung"  (vergl.   oben  S.  411,    Z.  6   v.  o.). 


Über  das   Verhältnifs  des  Idealismus  zur  Pädagogik.  433 

Erziehung  wohl  ebenso  häufig  ist  als  gute,  und  dafs  die  Mehrzahl  der 
Menschen  eigentlich  gar  nicht  merklich  von  diesem  oder  jenem  erzogen 
wird,  sondern  statt  aller  Erziehung  eine  Menge  von  Einwirkungen  theil- 
weise  annimmt  oder  abstöfst:  so  wird  das  Ich  des  Zöglings,  der  den  Maafs- 
stab  seiner  Selbstachtung  aufser  sich  bald  hier  bald  dort  hat,  und  ihn  viel- 
leicht bis  ins  späteste  Alter  noch  an  Erinnerungen  irgend  einer  frühern 
Auctorität  heftet,  —  vor  meinen  Augen  etwas  so  Buntes  und  Zufälliges 
dafs  ich  darauf  willig  Verzicht  thue,  in  einem  fremden  Systeme  consequent 
zu  denken;  und  mich  gern  begnüge,  nach  eigner  Ansicht  den  Anknüpfungs- 
punct  der  Ichheit  in  jedes  Thun  und  in  jede  Hingebung  ohne  Mühe  ver- 
legen, —  oder  besser,  ihn  so  vielfach  annehmen  zu  können,  als  er  sich 
darbietet. 

Um  kurz  und  ernst  zu  sagen,  was  ich  denke:  —  der  Begriff  der 
Erziehung  ist  ein  gegebener;  keine  idealistische  Constiuction  kann  ihn  er- 
reichen, ohne  in  die  gröbsten  und  offenbarsten  Fehler  zu  gerathen.  Das 
allein  schon  ist  eine  genügende  Widerlegung  des  Idealismus  in  jeder  Form, 
die  er  versuchen  kann.  Und  eine  von  den  wichtigsten  Proben  wahrer 
Metaphysik  und  Psychologie  besteht  gerade  darin,  dafs  sie  das  pädagogische 
Causalverhältnifs  begreiflich  macht. 

Fichtes  pädagogische  Ansicht,  dafs  der  gute,  lenksame  Zögling  den 
Maafsstab  seiner  Selbstschätzung  nicht  mit  vollem  Selbst -Vertrauen  in  sich 
sucht,  sondern  sich  auf  das  Urtheil  seines  Erziehers  stützt :  bezeichnet 
richtig  das  Verhältnifs  zwischen  diesem  und  jenem;  aber  wäre  das  Ich 
des  Zöglings,  —  oder  überhaupt  irgend  ein  Ich,  anzusehen  als  ein  Reales, 
und  deshalb  in  sich  Vollständiges,  so  würde  ein  so  wichtiger  Theil  des  Wissens 
von  Sich,  wie  der,  welcher  liegt  in  dem  Wissen  vom  eignen  Werthe,  niemals 
von  dem  eignen  Ich  getrennt,  in  eine  andre  Person  können  verlegt  werden ; 
sondern  mit  dem  Selbstbewufstseyn  schlechthin  verbunden  seyn  und  bleiben. 
Und  dies  ist  um  desto  auffallender,  da  hierin  die  Jahre  keinen  wesent- 
lichen Unterschied  machen ;  vielmehr  bey  sehr  vielen  Individuen  lebens- 
länglich der  Beichtvater  die  Stelle  des  Erziehers  behauptet:  ohne  dafs  man 
ihnen  darum  die  Persönlichkeit  absprechen  darf.  Die  pädagogische  That- 
sache  ist  richtig;  die  Erklärung  derselben  nach  idealistischen  Ansichten 
ist  unmöglich.  Höchstens  hätte  nach  diesen  Ansichten  der  Zögling  sich 
einen  Erzieher  eingebildet;  er  hätte  sein  eignes  Gewissen  in  der  Einbildung 
aus  sich  hinausgetragen.  Aber  er  hat  einen  zvirklichen  Erzieher;  und  noch 
mehr !   diesen  wirklichen   Erzieher  hat  er  sehr  nöthig. 

Wäre  es  Ihnen,  verehrter  Freund!11  vielleicht  gefällig,  hier  einmal 
an  Ihren  oben  erwähnten  Einwurf  zurückzudenken  ?  Sie  werden,  glaube 
ich,  Stoff  zu  einer  interessanten  Vergleichung  antreffen.  Wenn  nach  meiner 
Psychologie  in  einem  Menschen  mehrere  Vorstellungsmassen  sind,  deren 
jede  zu  eigner  Ausbildung  gelangt;  wenn  alsdann  eine  derselben  handelnd 
hervortritt,  eine  andre  aber  dieses  Handeln  appercipirt,  und  es  lobt  oder 
tadelt :  dann,  sagen  Sie,  kann  keine  Zurechnung  Statt  finden.  Denn  die 
appercipirende  Vorstellungsmasse  ist  gleichsam  eine  fremde  Person.  Sie 
ist  unschuldig.    Jene  erste,   welche  den  Sitz  des  Handelns  ausmachte,   würde 


11   „Wäre  es  Ihnen   vielleicht   .    .   .   ."  SW, 
Herbart's  Werke.     VIII  28 


4-j4  Anhang  III. 


allein  gelobt  oder  getadelt  werden.  Aber  wo  bleibt  nun  die  Person,  welche 
Sich,  das  heilst,  ihr  eignes  Ich  beurtheilt?  Keine  der  beyden  Vorstellungs- 
massen ist  das  Ich,  also  ist  Niemand  da,  welchen  die  Zurechnung  träfe; 
folglich  müfste  es  keine  Zurechnung  geben,  was  absurd  ist.  Diesen  Ein- 
wurf erläuternd,  fragen  Sie,  ob  denn  Jemand  sich  das  anrechnen  werde, 
was  ein  ihm  durchaus  fremder  Vorfahrer  in  der  Amtsführung  ver- 
brochen hat? 

Bevor  ich  mich  zur  Antwort  anschicke,  lassen  Sie  uns  doch  jene 
Beschreibung  des  Zöglings  nach  FiCHTEn  zurückrufen.  Dieser,  und  eben 
so  alle  erwachsenen  Beichtkinder,  oder  die,  ihnen  ähnlich,  einen  Gewissens- 
rath  aufser  sich  haben,  stellen  uns  das  in  der  Wirklichkeit  dar,  was  jene  beyden 
Vorstellungsmassen  Bedenkliches  hatten.  Wenn  der  Sohn  einen  Fehltritt 
begeht,  so  tadelt  ihn  der  Vater.  Aber  dabey  bleibt  es  nicht.  Der  Sohn 
schämt  sich :  —  weshalb  ?  Etwa  deshalb,  weil  er  den  Tadel  anerkennt  ? 
Vielleicht!  Doch  das  ist  nach  FiCHTEn  nicht  die  Hauptsache  beym  Zög- 
ling als  solchem.  Denn  er  hat  den  Maafsstab  seiner  Selbstschätzung  aufser 
sich.  Also  aufser  ihm  liegt  der  Tadel,  der  ihn  verwundet!  Wollen  wir 
das  etwa  leugnen?  Die  pädagogische  Erfahrung  sagt  wirklich,  dafs  man 
den  Kindern  beynahe  Alles,  was  man  will,  zur  Ehre  und  zur  Schande 
machen  kann.  Woher  kämen  auch  sonst  so  viele  thörichte  Ehrenpuncte, 
die  im  gemeinen  Leben  Schaden  genug  anrichten  ?  Man  hat  sie  erkünstelt. 
Die  Möglichkeit  eines  solchen  Erkünsteins  gehört  zu  den  leidigen  psycho- 
logischen Wahrheiten,  die  man  gern  —  nicht  einräumt,  und  die  dennoch 
wahr  sind.  Lob  und  Tadel  wirken  auf  die  Menschen,  auch  wenn  sie 
selbst  kein  Urtheil  über  sich  fällen;  und  selbst  ohne  Rücksicht  auf 
Nutzen  oder  Schaden.  Sie  haben  wirklich  ein  Gewissen  aufser  ihrem 
Ich;  und  zwar  ein  solches,  wie  man  es  ihnen  macht  und  giebt;  schlecht 
oder  gut. 

Das  ist  das  Erste ;  aber  auch  ein  Zweytes  dürfen  wir  nicht  vergessen. 
Wenn  der  Sohn  einen  Fehltritt  beging,  so  schämt  sich  des  Sohnes  auch 
der  Vater.  Giebt  er  sich  Rechenschaft  davon?  Vielleicht!  Denn  er  hätte 
durch  bessere  Erziehung  bessere  Früchte  erzeugen  sollen.  Aber  das  pafst 
nicht  immer.  Sein  Gewissen  sagt  ihm  oft,  er  habe  Alles  gethan,  was  er 
vermochte.  Und  dennoch  schämt  sich  der  Vater.  Noch  mehr!  Des  Bruders 
schämt  sich  der  Bruder.  Nicht  blofs  der  ältere,  der  ein  Beyspiel  geben 
sollte,  sondern  auch  der  jüngere.  Auch  die  Schwester  schämt  sich.  Die 
ganze  Familie  zieht  sichs  zu  Gemüthe.  Ja  die  ruhigen  Bürger  im  Staate 
schämen  sich,  wenn  die  Truppen  feige  waren.  So  dehnt  sich  die  Zu- 
rechnung aus  ins   Unbestimmte,   weit  hinweg  über  das  individuelle   Ich. 

Aber,  sagen  Sie,  der  Nachfolger  schämt  sich  nicht  dessen,  was  der 
durchaus  fremde  Vorgänger  verbrach.  Also  giebt  es  einen  solchen  durch- 
aus fremden!  Daran  erkenne  ich,  (wenn  Sie  das  ernstlich  meinen,)  den 
Realisten.  Der  Idealist  hätte  gesagt:  humani  nihil  a  nie  alienum  puto ; 
denn  die  Menschheit  ist  Eins.  Alle  Menschen  müssen  sich  dessen  schämen, 
was  irgend  Einer  verbrach.  Ja  die  Consequenz  fordert  duichaus,  dafs  man 
sich  auch  derjenigen  Sünden  schäme,  die  im  Monde  und  auf  dem  Jupiter 
begangen  werden.  Denn  —  wie  ungelegen  immerhin  diese  Erinnerung 
seyn  möchte   —   das   Wesen  ist  es,  welches  in  den    Willens-Entschlüssen  heraus- 


Über  das  Verhältnifs  des  Idealismus  zur  Pädagogik.  435 

tritt.  Oder  wollen  Sie  den  Mond  und  den  Jupiter  saintnt  deren  Bewohner 
etwa  geradezu  unter  die  Erscheinungen  der  zweyten  Potenz  rechnen  ?  — 
Doch  Ihnen  darf  ich  nicht  zumuthen,  Fichtes  Lehre  zu  vertreten.  Sie 
räumen  im  Gegentheil  mir  ein,  dafs,  wo  Zurechnung  in  Frage  kommt, 
recht  füglich  Einer  dem  Andern  durchaus  fremd  seyn  könne;  womit  denn 
die  versuchte  Zurechnung  verneint  und  abgewiesen  ist.  Allein  zugleich  geben 
Sie  zu  verstehen,  dafs  sich  dies  Fremdseyn  nicht  überall  vorfinde ;  und  so 
dürfte  ich   fast  glauben,   wir  wären  einander  etwas  näher  gerückt. 

Und  worin  näher?  Darin,  dafs  die  vorerwähnten  bevden  Vorstellungs- 
inassen,  welche  der  Voraussetzung  nach  in  Einer  Seele  seyn  sollen,  nicht 
nöthig  haben,  sich  mit  gegenseitig  durchaus  fremden  Personen  vergleichen  zu 
lassen.  Sie  stehen  einander  gewifs  näher  als  Sohn  und  Vater,  Zögling 
und  Erzieher.  Denn  der  vveitläuftige,  vielfach  bedingte  Procefs  des  Han- 
delns und  Beobachtens,  des  Sprechens  und  Verstehens .  ohne  welchen 
Zöslins  und  Erzieher  von  einander  nichts  wissen  würden,  ist  zwischen 
den  mehrern  Vorstellungsmassen  einer  und  derselben  menschlichen  Seele 
in  der  Regel  nicht  nöthig.  In  der  Regel,  sage  ich ;  weil  ausnahmsweise 
auch  das  Gegentheil  vorkommt.  Wenn  der  Geschäftsmann  sich  etwas 
aufzeichnet,  wenn  der  Reisende  sein  Tagebuch  führt:  so  leitet  er  eine 
Correspondenz  mit  sich  selbst  ein,  die  ihren  Weg  durch  die  Sprache 
nimmt.  Allein  in  den  Fällen,  wo  das  Gewissen  laut  spricht,  geht  die 
Schaamröthe  dem  Selbstgespräche  voran,  zum  Zeichen,  dafs  eine  Vor- 
stellunssmasse  schon  weit  früher  die  andre  verstanden  hatte,  bevor  der 
Tadel  zum  Worte  kommt.  —  Alle  diese  Weitläufigkeit  sollte  wohl  ent- 
behrlich seyn  ;  denn  vom  Verschmelzen  der  Vorstellungsmassen,  so  weit  sie 
irgend  können,  ist  am  gehörigen  Orte  gesprochen;  dies  Verschmelzen  aber, 
so  weit  es  reicht,  hebt  alle  Vielheit  und  Sonderung  auf;  es  stellt  sich  in  ihm 
die  Einheit  der   Seele  dar. 

Und  mit  ihm  kommt  die  Einheit  des  Ich ;  nämlich  bevm  Gesunden 
und  Besonnenen.  Täuschen  wir  uns  aber  ja  nicht  über  diesen  Punct ! 
Denn  aller  Angewöhnung  an  das  idealistische  Ich  zum  Trotze,  kennt  schon 
längst  die  Psychologie  Zustände  genug,  in  welchen  das  Ich  nicht  vollkommen 
Einst  ist;  und  sie  verfehlen  auch  nicht,  die  Zurechnung  zu  begränzen. 
Doch  mit  Wahnsinn,  Rausch,  Nachtwandeln  und  dergl.  will  ich  Sie  nicht 
aufhalten.  Die  Ichheit  erzeugt  sich  fort  und  fort;  sich  sammelnd  wächst 
sie,  und  als  ein  wachsender  Faden  durchläuft  sie  theils  die  Lebenszeit, 
theils  den  Reichthum  der  Gedanken,  theils  Pläne  und  Maximen;  doch 
sieht  sie  auch  oft  mühsam  genug  sich  selbst  in  den  verschiedenen  Vor- 
stellungsmassen ;  und  klagt,  bey  weitem  nicht  ganz,  und  nicht  von  selbst 
mit  sich  Eins  zu  seyn.  Diese  Klage  erschallt  bald  aus  der  einen,  bald 
aus  der  andern  Vorstellungsmasse ;  denn  das  Ich  ist  vieltönend,  und  viel- 
bedürfend, und  vielfordernd  an  sich  selbst,  und  keinesweges  stets  einerley 
Wissen   und   Wollen   von   sich. 

Sind  diese  Sätze  etwa  neu?  Der  Idealismus  machte  sie  neu;  denn 
er  verkannte  sie.  Und  die  alte  Psychologie  der  Seelenvermögen  erlaubte 
ihm  das ;  denn  sie  unterschied  zwar  die  Substanz  der  Seele  vom  Ich ; 
aber  nur  als  Substanz  und  Accidens;  sie  begnügte  sich,  die  Accidenzen 
nur  gerade   hineinzuschütten    in    die  Substanz.      Dadurch    wurde    die  Seele 

28* 


Ai  5  Anhang  III. 


verdächtig.      Doch    nichts    weiter    davon !      Sie  würden    glauben,    ich    wolle 
Ihnen   aufdringen,  was  Sie   verschmähen.  ' 

Im  Vorigen  kam  es  blofs  darauf  an,  zu  begreifen,  dafs  sich  das  Ich 
tadelt  oder  lobt,  indem  eine  Vorstellungsmasse  die  andre  beurtheilt.  Nun 
erzeugt  freylich  nicht  das  Ich  die  Vorstellungsmassen,  wohl  aber  wird  es 
selbst  von  ihnen  vielfach  und  fortwährend  erzeugt;  ja  die  Zurechnung  ist 
grofsentheils  selbst  der  Actus  dieser  Erzeugung,  Verknüpfung,  Verschmelzung. 
„Habe  ich  das  gethan  und  gesagt?"  Ja,  ruft  man  ihm  zu,  du  bist  S'huld 
durch  dein  Thun  und  Lassen.  So  setzt  man  ihm  reyn  Ich  aus  Theilen 
zusammen,  wenn  eine  mühsame  Erinnerung  nicht  von  selbst  das  Einzelne 
aus    verschiedenen   Vorstellungsmassen    vollständig   genug   verbunden   hatte. 

Ein  andermal  hört  man  Viele  zugleich  rufen:  „Haben  wir  das  ge- 
than?" Ja,  lautet  die  Antwort,  Ihr  seyd  Schuld,  alle  zusammen;  denn  Jeder 
von  Euch  hat  Etwas  dabev,  und  Jeder  von  Euch  hätte  die  Andern  zurück- 
halten sollen.  —  Da  kommt  das  Wir  und  das  Ihr  zum  Vorschein,  wo 
Viele  sich  gemeinschaftlich  zurechnen,  was  —  bald  Einer  von  Allen,  — 
bald   Alle  wie  Eine   Person,  gethan   oder  gelassen  haben. 

Der  Kreis  dieses  Wir  und  Ihr  bestimmt  sich  höchst  zufällig,  und  ver- 
ändert, vergröfsert,  verkleinert  sich  nach  den  Umständen.  Keine  Mög- 
lichkeit ist  hier,  ein  idealistisches  Ich  zum  Grunde  zu  legen.  Gäbe  es 
erst  ein  Ich,  und  dann  Vorstellungen  des  Ich,  so  wäre  sein  Pluralis,  das 
Wir,  durchaus  undenkbar.  Es  entsteht  geradezu  aus  den  Vorstellungen, 
die  Jeder  im  Kreise  der  Andern  sich  bildet.  Und  eben  so  entsteht  das 
Ich ;  obgleich,  wegen  der  Einheit  der  Seele,  um  sehr  Vieles  vester  und 
bestimmter  als  das  Wir  und  das  Ihr. 

Sie  sehen  nun  ohne  Zweifel,  mein  Verehrtester,  dafs  es  noch  einen 
wichtigen   Punct  giebt,   worin  wir  bevde  einverstanden  sind.2 

Die  Zurechnung  steht  vest.  Darauf  baueten  Sie,  indem  Sie  mir  wegen 
der  verschiedenen  Vorstellungsmassen  Einwendungen  machten.  Aber  auch 
meinerseits  baue  ich  darauf,  indem  ich  darauf  dringe,  dafs  es  nicht  nur 
eine  Zurechnung  giebt  zum  Ich,  sondern  auch  zum  Wir;  und  zwar  zu 
einem  solchen  Wir,  welchem  schlechterdings  keine  ursprüngliche  und  zugleich 
seinen  Kreis  begränzende  Einheit,   als  reales  Prinzip,  zum  Grunde  liegen  kann. 

Und  jetzt,  mein  vereintester  Freund!  überlasse  ich  es  Ihnen,  darüber 
nachzudenken,  wie  vieles  in  den  Behauptungen,  die  Sie  mir  entgegen- 
stellen, Sie  wohl  abändern  würden,  wenn  Sie  Sich  einmal  mit  mir  über 
Folgendes  vereinigten : 3 

Das  Ich  ist  kein  reales  Prinzip.  Beym  reifen  Manne  zwar  ist  es  ein 
mächtiger  Strom.  Aber  im  Kinde  flofs  dieser  Strom  aus  tausend  Bächen 
zusammen,  welche  mit  sich  führen,  was  die  Umgegend  darbot.  Und  des- 
halb ist  Erziehung  die  Bedingung  der   Humanität. 

Jetzt  sey  das  Ich  bey  Seite  gesetzt;  aber  von  dem  Wir  ist  noch  ein 
Wörtchen ■*  zu   reden;   denn  seine  Construction  kommt  bey   der  Erziehung 


1  Die   Worte:   „Sie  würden   glauben    ....   verschmähen."  fehlen  in  SW. 

2  Die   Worte;   „Sie  sehen  nun  ohne   Zweifel   ....    einverstanden   sind."   fehlen 
in  SW. 

3  Die  Worte:  „Und  jetzt  ....   über  Folgendes  vereinigten:"  fehlen  in  SW. 

4  „Wort"  SW. 


Über   das  Verhältnifs   des  Idealismus  zur  Pädagogik.  a?j 

gar  sehr  in  Betracht.  Und  Fichte,  in  seinem  jugendlichen  Gemeinwesen, 
hätte  darauf  stofsen  müssen.  Der  Zusammenhang  mit  dem  Obigen  wird 
hier  von   selbst  einleuchten. 

Das  Wir  ist  das  vergröfserte  Ich;  und  es  zeigt  dessen  Veränderlich- 
keit nach  vergröfsertem  Maafsstabe.  Weit  schwerer  noch  als  das  Ich 
gelangt  das  Wir  zu  einem  bestimmten ,  vollends  zu  einem  edlen 
Charakter. 

Zwar  fehlt  der  Ausdruck  Wir  in  keines  Menschen  Sprache  ganz  und 
gar.  Denn  Jeder  hat  irgend  Etwas  mit  Andern  gemeinschaftlich  gethan 
und  gelitten.  Aber  vergleicht  man  die  Energie,  womit  verschiedene  Menschen 
das  Wir  aussprechen,  so  findet  man  die  mannigfaltigsten  Abstufungen.  Nicht 
bey  dem  Herrscher,  der  von  sich  in  der  Mehrzahl  redet;  noch  weniger 
bev  dem  Schriftsteller,  der  nur  deshalb  das  Wir  gebraucht,  weil  er  gar 
keine  bestimmte  Person  anzeigen  will,  erwartet  man  die  eigentliche  Be- 
deutung des  Wir;  aber  es  ist  schlimm,  wenn  sie  auch  in  der  Gesellschaft 
nicht  überall  hervortritt;  und  eben  so  schlimm,  wenn  sie  streitende  Par- 
theyen  in  der  Gesellschaft  anzeigt.  Erinnern  wir  uns  jetzt  nochmals  jener 
vier  Abtheilungen,  welche  der  psychische  Mechanismus,  sich  selbst 
überlassen,  von  keinem  höhern  Geiste  geleitet,  in  der  Gesellschaft  hervor- 
bringt. Jene  Unglücklichen,  welche  die  Cholera  in  Harnisch  brachte  gegen 
Ärzte  und  Behörden,  weil  sie  von  der  wohlthätigen  Absicht  beyder  nichts 
begriffen,  sprachen  auf  einmal  das  Wir  mit  einer  Energie,  von  der  sie 
bis  dahin  nichts  wufsten ;  denn  jetzt  hatten  sie  sich  zusammengerottet,  und 
meinten  bewaffnet  durchzudringen.  Bald  kehrte  ihr  voriger  Zustand  zurück; 
das  Wir  verschwand ;  das  demüthige  Ich  trat  wieder  an  seinen  Platz : 
denn  diese  Leute  sind  in  der  Regel  froh,  wenn  sie  als  Clienten  irgend 
einem  Patron  sich  anhängen  können,  sonst  stehn  sie  einzeln  und  verlassen. 
Das  Gegenstück  zu  ihrem  demüthigen  Ich  zeigt  uns  der  Angesehene,  und 
sein  vornehmes  Ich.  Er  braucht  sich  nicht  anzuschliefsen.  Die  con- 
ventionelle  Höflichkeit  bezeichnet  weite  Distanzen  verschiedener  Rangstufen 
in  den  Gesellschaften  der  Angesehenen.  Wo  denn  hat  das  eigentliche 
Wir  seinen  wahren  Sitz?  Natürlich  nur  in  der  Klasse  des  Mittelstandes; 
der  längst  als  der  dritte  Stand  pflegt  gezählt  zu  werden,  und  zugleich  als 
der  unterste,  weil  die  vierte  Klasse  gar  nichts  dauerhaft  Vereinigtes,  keinen 
Stand,   in   der  Gesellschaft  bilden   kann. 

Welche  politische  Betrachtungen  sich  hieran  knüpfen,  das  ist  bekannt 
genug.  Aber  dafs  dieselben  nicht  blofs  in  die  Pädagogik,  sondern  bis  in 
die  Psychologie  zurückgreifen,  dies  scheint  wenig  bemerkt  zu  seyn.  Und 
doch  ist  es  nicht  anders.  Das  Wir  zeigt  den  Gemeingeist  an;  die  Unter- 
suchung des  Gemeingeistes,  nach  seinem  Ursprünge,  seiner  Beschränkung, 
seiner  möglichen  Ausartung,  ist  eine  Untersuchung  über  das  Wir,  theils 
im  Gegensatz,  theils  in  Verbindung  mit  dem  Ich.  Die  Politik  hat  nicht 
blofs  ihre  Ultras,  sondern  auch  ihre  Gemäfsigten;  unter  diesen  besitzt  sie 
manchen  ruhigen  Denker;  und  es  ist  zu  hoffen,  dafs  ein  seither  irgend 
einmal  den  angegebenen  Faden  rückwärts  bis  in  die  Psychologie  verfolgen 
wird.     Möchten   Sie   Selbst,  '   mein  hochgeschätzter  Freund  !   Sich   dazu   auf- 


1  Die  Schlußworte :  „Möchten  Sie  Selbst  ....  Frucht  tragen  kann."  fehlen  in  SW. 


438  AnhaDg  IV. 

gefordert  finden  !  Dann  würden  Sie,  glaube  ich,  noch  manchmal  an  meine 
Metaphysik  denken,  die  ich  Ihnen  hiemit  zu  fernerer  Berücksichtigung 
empfehle;  und  zwar  ohne  Scheu  vor  Ihren  Einwendungen.  Dann  gewifs 
bedarf  Metaphysik  solcher  Gegner,  von  denen  sie  ernstlich  durchdacht 
wird,  weit  nöthiger,  als  der  Empfehlung  an  eine  Menge,  der  sie  keine 
Frucht  tragen   kann. 


Anhang  IV. 

Zwei  Worte  über  Naturphilosophie. 

Text   nach   der  Hallischen  Literatur-Zeitung.     1832,   Intelligenz-Blatt  Nr.  4.   S.  26  ff. 
[Bereits  gedruckt  SW.    Bd.  IV  S.  608—611.] 


Im  Journal  complementaire  des  sciences  medicales  hat  Jemand,  nach 
Anführung  meines  Satzes:  l'irritabilite  des  series  d'idees  est  ce  dont 
clepend  la  connaissance  de  l'activite  intellectuelle,  für  gutgefunden  also  fortzu- 
fahren :  ce  probleme  sera  plus  facile  a  resondre,  quand  nous  aurons  vu,  que 
les  series  d'idies  naissent  dans  une  Serie  de  ganglions  cerebraux.  Diese  alte, 
längst  abgewiesene,  hier  gegen  meine  Psychologie  erneuerte  Zudringlichkeit 
kann  im  allgemeinen  daran  erinnern,  dafs  nicht  selten  grofse  Gelehrsamkeit 
mit  grofser  Unwissenheit  in  einer  Form  beisammen  sind.  Sie  erinnert  mich 
insbesondere,  dafs  in  den  beiden  schätzbaren  Recensionen  meiner  Metaphysik, 
sowohl  in  der  hallischen  als  in  der  jenaischen  A.  L.  Z.,  die  Naturphilosophie 
so  gut  als  ganz  übergangen  ist;  gleich  als  wäre  sie  nur  ein  zufälliger  Anhang 
zur  Metaphysik.  Es  sind  aber  Psychologie  und  Naturphilosophie  die  beiden 
gleich  nothwendigen  Mittelglieder,  durch  welche  Metaphysik  und  Erfahrung 
dergestallt  in  Verbindung  stehen,  dafs  jede  von  der  anaern  Licht  empfängt. 
Und  Niemand  darf  hoffen,  in  einer  von  den  genannten  drei  Wissen- 
schaften vesten  Fufs   zu  fassen,  der  nicht  die  beiden  andern  damit  verbindet. 

Nachstehendes  kann  als  Ergänzung  der  einen  jener  angeführten  Re- 
censionen, und  als  Gegenbemerkung  zur  andern  angesehen  werden,  ohne  dafs 
eine  genauere   Nachweisung  deshalb  nöthig  wäre. 

Innere  und  äufsere  Zustände  der  realen  Elemente  bestimmen  sich 
gegenseitig.  Dieser  Satz  ist  zwar  nicht  der  lang  gesuchte  erste  Grundsatz 
aller  Philosophie,  (der  Stein  der  Weisen,  den  man  niemals  finden  wird,) 
aber  er  ist  derjenige  Lehrsatz  der  Metaphysik,  von  wo  aus  sich  unsere 
Naturkenntnis  bequem  überschauen  läfst.  Die  Beobachtung  giebt  Aus- 
kunft wegen  der  äufsern  Lage  (wenn  auch  nicht  genau  und  nicht  voll- 
ständig; man  weifs  z.  B.,  dafs  Sauerstoff  und  Wasserstoff  in  jedem  Theil- 
chen  Wassers  oder  Eises  beisammen  sind.  Anstatt  der  innern  Zustände 
hat  man  bald  Kräfte,  bald  Ideen,  bald  gar  Elektricitäten  hinzugedacht. 
Diese  mag  man  sämmtlich  bei  Seite  lassen;  selbst  die  Ideen,  wenn  sie 
sich  in  den  Vordergrund  der  Naturlehre  drängen,  stiften  dort  nur  Schaden. 
Es  genügt,  den  einfachen  Gedanken  vestzuhalten :  entgegengesetzte  und  ver- 
bundene Elemente  bleiben,  was  sie  sind.  Oder  noch  deutlicher:  sie  hüten 
sich,   der  falschen  Theorie   Folge    zu  leisten,    nach   welcher    sie  sich  in   ein 


Zwei  Worte   über  Naturphilosophie.  4SQ 

Drittes  wirklich  verwandeln  sollten.  Sie  erhalten  sich  selbst.  Kann  denn 
aber  der  innere  Zustand  der  Selbsterhaltung,  welcher  mit  der  Verbindung 
entsteht,  und  mit  der  Verbindung  wächst,  —  ohne  Ende  wachsen?  Oder 
giebt  es  ein  Maximum,  eine  Grenze  der  Intensität  für  die  innern  Zustände} 
Wüfste  hier  die  Metaphysik  nicht  zu  antworten,  so  würde  die  Erfahrung 
sprechen,  Denn  jeder  gefrierende  Wassertropfen  enthält  die  Antwort. 
Zwar:  nach  Entfernung  der  Wärmequelle  sollte  Condensation  folgen;  und 
die  Condensation  sollte  gleichförmig  sein.  Denn  jede  bestimmte  Con- 
figuration  weicht  ab  von  der  geometrischen  Continuität.  Die  Elemente, 
die  schon  in  Verbindung  waren,  schon  angefangen  hatten,  einander  die 
innern  Zustände  zu  bestimmen,  sollten  ohne  Zweifel  ihrem  Zuge  des  tiefern 
Eindringens  folgen;  lediglich  darum  (und  aus  keinem  andern  Grunde,  als) 
weil  räumliche  Trennung  zu  dem  schon  begonnenen,  an  sich  gar  nicht 
räumlichen,  Causalnexus  der  innern  Zustände  nicht  pafst.  Dies  ist  der 
allgemeine  Grund  der  scheinbaren  Anziehung,  (die  eben  so  wenig  jemals 
durch  einen  wahrhaft  leeren  Raum  geht,  als  Cohäsion  einen  Rifs  im  Glase 
heilt).  Aber  das  gefrierende  Wasser  verschmäht  die  allgemeine,  gleich- 
förmige Condensation.  Beso?idere  Repulsionen  widersetzen  sich;  sie  be- 
wirken hier  die  Configuration  des  Eises,  wie  anderwärts  die  Kristallbildung 
der  Salze.  Nämlich  die  innein  Zustände  hängen  jedesmal  von  den  Elementen 
ab ;  und  indem  sie  bei  vollkommener  Durchdringung  erhöhet  werden,  erreichen 
sie  in  ledern  besonderen  Falle  auf  eigne  Weise  ihre  Grenze.  Deshalb  nun, 
indem  ihnen  die  äulsere  Lage  entsprechen  mufs,  kommt  die  Durchdringung 
nicht  ganz  zu  Stande;  die  Art  aber,  wie  sie  gehemmt  wird,  ist  die  Con- 
figuration. Und  hierauf  beruht  alle  Räumlichkeit  im  Dasein  dessen,  was 
wir  Materie  nennen.  Es  ist  unvollkommene  Durchdringung  der  Elemente, 
die  selbst  nicht   Materie  sind. 

Dies  vorausgesetzt,  (worin  freilich  nicht  viel  weniger  als  die  ganze 
allgemeine  Metaphysik  eingewickelt  liegt,)  so  zeigen  sich  nun  sogleich  die 
Haupttheile,  worin  die  Naturphilosophie  zerfallen  mufs.  Entweder  bringen 
die  Elemente,  indem  sie  zur  Form  des  materialen  Daseins  zusammentreten, 
schon  innere  Zustände  mit,  oder  nicht.  Im  ersten  Falle  entsteht  aus  der 
beständig  fortgehenden  Wechselbestimmung  des  Äuiseren  eine  ganze  Ge- 
schichte voll  unaufhörlicher  Veränderung.  Diesen  Fall  kann  die  todte 
Natur  nicht  klar  und  unzweideutig  vor  Augen  stellen.  Vielmehr  ist  hier 
das  Gebiet  des  Lebens,  wobei  die  grofse  Frage  nach  der  Zweckmäfsigkeit 
noch  einer  höhern  Bestimmung  vorbehalten  bleibt.  Im  zweiten  Falle  läfst 
sich  starre  Materie  als  noth wendiges  Product  vorhersehen;  wofern  nur  dazu, 
nicht  blofs  quantitativ,  sondern  auch  qualitativ  das  gehörige  Verhältnifs  der 
Elemente  vorhanden  ist.  Pafst  hingegen  letzteres  nicht,  um  eine  dauernde 
Verbindung  zu  begründen,  so  zeigen  sich  wiederum  mehrere  mögliche 
Fälle,  welche  darin  übereinkommen,  dafs  sie  die  bekannte  Strahlung  der 
Imponderabilien  erwarten  lassen;  das  heifst:  zwar  Attractionen,  aber  solche, 
woraus  unhaltbare  Resultate  in  Ansehung  der  innern  Zustände  entspringen; 
und  hiemit  augenblicklicher  Übergang  der  Attraction   in   Repulsion. 

Hiernach  ist  nun  lebende  Materie  im  allgemeinen  nicht  schwerer  zu 
begreifen,  als  todte;  und  strahlender  Stoff  nicht  schwerer  als  ruhender; 
keine  Art  Materie  aber    ist    begreiflich    ohne    innere  Zustände;    und    man    hat 


440  Anhang  V. 

nach  diesen  früher  die  Psychologie  zu  fragen,  bevor  man  von  Ganglien 
des  Gehirns  in  höherem  als  anatomischen  Sinne  redet.  Übrigens  lautet 
nicht  blofs  das  Gesagte  völlig  realistisch,  sondern  ist  auch  realistisch;  ohne 
andern  idealistischen  Vorbehalt,  aufser  dem  einzigen,  dafs  man  den  Idealis- 
mus —  einen  theoretischen  Irrthum  -  genau  kennen  mufs,  um  ihn  weder 
mit  praktischen  Ideen  und  ästhetischen  Idealen,  noch  auch  mit  den  zu- 
fälligen Ansichten  des  idealen  Zuschauers  in  der  Metaphysik  zu  verwechseln. 
Wenn  der  Astronom  den  heliocentrischen  oder  den  jonicentrischen  Ort 
eines  Sternes  unterscheidet  von  dem  geocentrischen,  so  geräth  er  darum 
bei  Niemanden  in  Verdacht,  als  wolle  er  in  eigner  Person  von  der  Sonne 
oder  vom  Jupiter  aus  das  Planetensystem  beschauen.  Vor  Zeiten  gab  die 
Sternkunde  ihren  ansehnlichen  Beitrag  zu  den  Verdriefslichkeiten  des 
Denkens;  seitdem  sie  aber  die  verschiedenen  Standpunkte  der  Betrachtungen 
gehörig  sondert,  hört  man  nichts  mehr  davon.  Die  Philosophen  könnten 
es  eben  so  bequem  haben,  wenn  sie  in  Ansehung  des  ästhetischen,  meta- 
physischen und  psychologischen  Standpunktes  dieselbe  Bedingung  erfüllten. 
Das  Gegentheil  geschieht,  wenn  man  einseitig  die  Naturphilosophie  bald  an- 
greifet, bald  wieder  vernachlässigt,  als  ob  sie  entweder  Alles  oder  Nichts  wäre. 


Anhang  V. 

A.   Ein  metaphysisches  Bedenken  Strümpells. 

[Text  nach  dem  Original.] 
(Bisher  ungedruckt.) 


Der  Gedanke,  dafs  über  den  Hauptpunkt  der  Metaphysik   —  die  Lehre  von 
der  Materie,   —   sich  in  meinem  Kopfe  ein  Mifsverständnis  erzeugt  haben  könnte 
und    also    vielleicht    sogar    eine    wirkliche  Differenz    stattfände    zwischen    der  von 
Ihnen  begründeten  Ansicht  darüber  und   meiner  Art,   sie  verarbeitet  zu  haben    — 
ist    mir   ein    unerträglicher    und    ich    bitte  daher    nur    aut  einen   Augenblick  noch 
einmal  um  Ihr  gütiges  Gehör.     Aber  auch  darum  möchte  ich  Sie  ersuchen,   dafs 
Sie    bei    mir    gefälligst    die    Ansprüche    des    schärfsten    und    notwendigsten    meta- 
physischen  Denkens   in  Anwendung    bringen,    denn    in    solchen   Angelegenheiten, 
wie  die  unsrigen,   darf,    weder  von  aufsen  noch  von   innen,    nicht  ein  Iota  falsch 
sein ;    —    sonst  ist's  kein  Wissen,  das  man  Kraft  besitzt,  gegen  jeden  Angriff  un- 
wandelbar zu  behaupten.      Dies  zu  meiner  Rechtfertigung. 
Dal's    die  Materie    nicht    ein   Reales    sein  kann   —   darüber  ist  kein   Wort  zu  ver- 
lieren;   ebensowenig    aber    auch  darüber,    dafs  Niemand,    der    nicht  die   zwingenden   Be- 
weggründe,   „wir    müssen    über    die    Erfahrung    hinausgehen",    allzusammen    eingesehen 
hat  und    getrieben    von    der    Aufgabe    „du    sollst    alles    Gegebene    zu    erklären    suchen", 
den  von  Ihnen  gegangenen  Weg   als    den  einzig  richtigen  erkennt  und  ihn  darum   noch 
einmal  ebenso,   wie  es   Ihnen  damals  zu  Mute  gewesen  sein  mufs,  selbst  geht   —  jemals 
zu   dem    Geiste  einer  wahrhaften  Philosophie  gelangen   kann. 

Ich  nehme  nun  in  diesem  Augenblicke  den  ganzen  Gang  der  von  den  Prinzipien 
ausgelaufenen  demonstrierenden  Reflexion  bis  dahin  als  vollendet  an,  wo  ich  die  Lber- 
seugung  in  mir  entstanden  sehe : 

es  ist  weiter  nichts,  als  eine  unbestimmbare  Menge  realer  Wesen,  jedes  von  seiner 
eigentümlichen  Qualität:  und  es  giebt  weiter  kein  eigentliches  Geschehen,  als 
jenes  wirkliche,  jenes  bestimmte  Ereignis  in  einem  solchen  Wesen,  welches  ich 
Selbsterhaltung,  überhaupt  einen  einfachen  inneren  Zustand  nenne,  erzeugt  unter 
den  bekannten  Bedingungen. 
Dies  ist  der  erste  Ausdruck  der  rein  metaphysischen  Denkweise,  deren  Strenge 
nie  wieder  etwas  nachgegeben   werden   darf. 


A.    Ein  metaphysisches  Bedenken  Strümpells.  4 _}. 1 


In  der  nun  folgenden  Einteilung  glaube  ich  das  Nötige  über  die  Deduktion  der 
Materie  hier  am  besten  anbringen  zu  können,  weil  daraus  vielleicht  auch  erhellt,  wie 
ich  etwa  eine  „Monographie  über  das  Problem  der  Materie"  einrichten  würde.  Nämlich 
aus   dem   Gesagten  folgt  sogleich   dies : 

Nehmen  wir  an,   dafs  eins  unter  jenen  realen   Wesen  eine  Seele  sei,    so   fällt 
alles   Gegebene  entweder 

1.  in    die    Klasse    dessen,    welches    in    diesem    einen   Wesen    für    sich,    nachdem    ein 
wirkliches   Geschehen  in  ihm  ist,   sich  bildete ;   oder 

2.  in    die  Klasse  dessen,    welches    in    realen    Wesen    aufser    diesem,    und    sie    unter- 
einander und   in  Beziehung  aufeinander  gesetzt,   sich  ergiebt ;   oder  endlich 

3.  in   die  Klasse  dessen,   welches  als  Produkt  eines  zwischen  jenem  einen  Wesen  und 
den  übrigen  aufser  ihm  seienden  stattfindenden  Zusammenhanges  seine  Erklärung  findet. 

Diese  Punkte,   unter  denen,  einzeln  genommen  oder  kombiniert,   alles  enthalten 
sein   mufs,    will   ich  nun  in  Beziehung  auf    die  Lehre  von  der  Materie  ausfüllen, 
'loch  nur  andeutend,   da  es   von  Ihnen   selbst  schon  vollständig  ausgesprochen  ist. 
In   der  ersten  Nummer  würden  wir  die  subjektiven,  in   der  zweiten   die  objektiven 
Gründe  erhalten  und  in  der  dritten  müfsten  diese  so  verbunden  dargestellt  werden,   dafs  es 
uns  zur  völligen  Evidenz  wird :   so  mufs  das,  was  wir  jetzt  Materie  nennen,  entstanden  sein. 
Sie    sehen  aber,    dafs  ich   subjektive  Gründe    alles    dasjenige  nennen   will,    welches 
sich,   sobald  einfache  Empfindungen   in  der  Seele  sind,    nach   den    bekannten    Gesetzen 
aus    diesen    bilden    mufs,    dies    möge    nun  unmittelbar  geschehen    oder  möge  dazu  mehr 
Zeit  gehören.      Dahin   rechne  ich  besonders  die  Raumprodukte,   die  vorzüglich,   wie  man 
sich   ausdrückt,    unter    den  Empfindungen   des  Gesichts    und   Gefühls  sich  einfinden  und 
die    ganze  Täuschung,    in    der    wir    sie    aus    uns  hinaustragen,    so  dafs  wir  sogar  sagen: 
„die    Materie   erfüllt   den    Raum'1;     alsdann    besonders    die    psychologische    Entstehung 
jener  Einheit,    die    in    der    Folge    als    Subjekt    erscheint    und    ebenfalls    aus    uns    hinaus- 
getragen   wird;    mit    einem   Worte    aber    alle    die    psychologischen  Produkte,    die  wir  in 
die  Auffassung  der  Welt  hineinmischen.    Die  subjektiven  Gründe,   einen   so  bedeutenden 
Anteil  an   der  Erklärung  sie  auch  haben   mögen,   gelten  doch  nichts  ohne  die  objektiven ; 
aber  auch  umgekehrt. 

Die  objektiven  Gründe  bilden  aber  die  eigentliche  Basis;  denn  hierhin  gehört 
erstens  die  Beweisführung  der  Notwendigkeit,  dafs  unter  der  Annahme  des  Zusammens 
und  der  bestimmten  Gegensätze  der  Wesen  sich  unter  ihnen  Attraktion  und  Repulsion 
einfinden  mufs;  alsdann  das  daraus  folgende  Aufsereinander,  wodurch  die  an  sich  ein- 
fachen Realen  für  uns  zu  einem  Räumlichen  werden ;  also  die  Nachweisung  einer 
bestimmten  Konfiguration,  der  Lage  u.  s.  w.,  wodurch  die  Entstehung  des  räumlichen 
Produktes  in  unserer  Seele  unabänderlich  bestimmt  wird  (so  dafs  wir  hier  diese,  dort 
jene  Gestalt  sehen  müssen)  und  überhaupt  die  Nachweisung  aller  jener  Phänomene,  die 
wir  als  Eigenschaften  der  Materie  nennen,  aus  inneren,  ohne  unser  Zuthun  notwendig 
stattfindenden  Gesetzen  in  dem  Zusammen  wirklich  aufser  uns  seiender  Wesen  selbst. 
Die  Vereinigung  aller  dieser  Punkte  geschieht  wirklich  durch  den  Zusammenhang 
der  aufser  uns  seienden  Wesen  mit  unserer  Seele  —  und  nun  entsteht  das,  was  wir 
Materie  nennen. 

Wenn   mich    also  jemand   fragte,    der  Ihre  Philosophie  versteht:    was  ist  Materie? 
so   würde  ich  antworten  : 

sie    ist    ein    Produkt,    erzeugt    im   Zusammenhang    einer    Intelligenz    und    anderer 

Realen,  jedesmal  mit  den  Spuren  hier  der  Auffassung  der  Intelligenz,   dort  innerer 

Eigentümlichkeiten  jener  Realen   selbst  behaftet  und  notwendig  bestimmt. 

Demnach    würde    ich    im    streng    metaphysischen  Sinne    nicht    sagen  können,    dafs 

z.   B.    dieses    Papier    doch    Materie    sein    würde,     wenn    nicht    zwischen    den    ihm    zum 

Grunde  liegenden  Wesen  und  meiner  Seele  in  diesem  Augenblicke  ein  Zusammenhang, 

eine  Auffassung   stattfände.     Legen  Sie    es    weg,    so  behalten  die  Wesen,  aus  denen  es 

besteht,    ihre    bestimmte  Dichtigkeit  u.  s.  w.   alles    das,    was  aus  ihnen   selbst  und    ihrem 

Zusammen  untereinander  und   auch  noch  mit  anderen   Wesen   aufser  ihnen   folgen   mufs, 

bleibt ;   aber  in   demselben   Augenblicke,   wo   wir  es  rein  für  sich  denken  wollen,   mischen 

wir  auch  unsere  Auffassung  in  Gedanken  schon  wieder  mit  hinein.    Das  Raumerfüllen 

hat  in   Beziehung  auf  die   Wesen   selbst  keine   Bedeutung,   sondern 

auch  das  unvollkommene  Zusammen  gilt  in  betreff  der  Wesen  selbst,  allen  Zu- 
sammenhang mit  irgend  etwas  anderem,  also  auch  mit  uns,  den  Auffassenden, 
gänzlich    weggedacht,    durchaus    nicht    mehr,    als    wenn    wir    als  reflektierende   In- 


442  Anhang  V. 

telligenz  uns  zwei  oder  drei  oder  mehrere  Wesen  in  einem  unteilbaren  Punkt  zu- 
sammengefallen denken,  wo  wir  dann  auch  mit  Recht  sagen,  sie  bilden  keine  Materie. 

Und  wie  wäre  das  auch  möglich,  da  aus  Realen  selbst  nie  etwas  wahrhaft 
Äußeres  werden  kann,   wohl  aber  für  das   eine  als   ein  Auffassendes   der  übrigen  ? 

Ich  habe  nun  nicht  zu  befürchten,  mifsverstanden  zu  werden;  dazu  könnten  nur 
die  Worte  Veranlassung  geben,  denn  die  Sache  selbst  ist,  wie  ich  überzeugt  bin,  ganz 
so,  wie  sie  auch  von  Ihnen  gedacht  wird. 

Dafs  aber  dem  Idealismus  dadurch  auch  nur  im  geringsten  näher  gerückt  werde, 
ist  ebenfalls  nicht  einmal  möglich,  weil  unsere  Philosophie  von  dessen  Tendenz  in 
ihrem  eigentlichen  Kern  himmelweit  entfernt  ist;  wie  ich  denn  überhaupt  glaube,  nicht 
besorgt  sein  zu  dürfen,  von  solchen  Dingen  noch  jemals  hintergangen  zu  werden,  von  denen 
Sie  selbst  behaupten,  dafs  ihr  Irrtum  unmittelbar  am  Tage  liegt,  wenn  man  sie  nur  ., scharf 
denken"  wolle.  Was  aber  die  Naturphilosophie  betrifft,  so  verlieren  deren  Bestimmungen 
ebensowenig  an  ihrem  eigenen  Gewichte,  denn  der  Standpunkt  ihrer  Reflexion  und  ihrer 
Untersuchungen  ist  ein  ganz  anderer  als  da,  wo  man  im  allgemeiyien  erst  nach  dem  Ursprünge 
der  Materie  fragt,  und  deren  Deduktion  ist  schon  fertig,  wenn  jene  ihre  Arbeiten  beginnt. 

Die  ganze  obige  zweite  Nummer  wird  durch  sie  ausgefüllt.  —  und  man  denkt 
dabei  gar  nicht  einmal  daran,  weder,  wie  wir  gezwungen  sind,  sie  so  aufzufassen,  noch 
wie  es  zugeht,  dafs  von  Wesen  aufser  uns  irgend  etwas  in  unsere  Seele  hineinkommen 
konnte.  Sondern  einzig  und  allein  haben  wir  es  in  ihr  mit  der  Erforschung  der  ob- 
jektiven Gründe,  d.  i.  den  notwendigen  Voraussetzungen  zu  thun,  die  wir  in  den  Realen 
selbst  in  ihrem  Zusammen  und  dem  Geschehen  in  ihnen  u.  s.  w.  machen  müssen,  um 
jedesmal  diese  bestimmte,  und  keine  andere,  Materie  und  deren  Äufserungen  zu  erklären. 
Von  den  so  bedeutenden  Folgen  aber,  welche  sich  aus  diesem  Innersten  unserer 
Philosophie  ergeben,  kann  leider  nur  dann  erst  einmal  die  Rede  sein,  wenn  die  übrigen 
Schulen  sich  werden  mit  uns  eingelassen  haben;  —  mögen  Sie  die  Güte  haben,  mich 
durch  Ihre  Zurechtweisung  in  meinen  Reflexionen  zu  unterstützen,  damit  meine  Zeit 
nicht  unnütz  verloren  gehe.  ^tr- 


B.  Herbarts  Entgegnung  auf  ein  metaphysisches  Bedenken  von  Strümpell. 

[Text  nach  dem  Original.] 
(Bereits  gedruckt  in  HR  S.  345   und  346.) 


Es  scheint,  das  unvollkommne  Zusammen  sey  der  einzige  Gegenstand, 
der  Bedenken  erregen  konnte,  indem  er  fühlen  läfst,  es  sey  noch  nicht 
Alles  entwickelt,  was  darüber  zu  sagen  wäre.  Vielleicht  treffe  ich  den 
Punkt  der  Bedenklichkeit  auf  folgende  Weise,  indem  ich  den  Ursprung 
dieses   Begriffes  aufsuche. 

1.  In  der  Ontologie  wird  das  Wort  Zusammen,  welches  zuerst 
am  Ende  der  Methode  der  Beziehungen  zum  Vorschein  kam,  ein 
Ausdruck  für  wirkliches  Geschehen  der  paarweise  zusammengehörigen 
Selbsterhaltungen.  (Metaphysik  II.  S.  1 70.) 1  Dadurch  beschränkt 
sich  die  Bedeutung  des  Worts  gar  sehr,  während  ihm  dennoch  auch 
die  Anwendung  auf  Vorstellungen,  die  in  Einer  Seele  zusammen  sind, 
mufs  gelassen  werden. 

2.  Später  wird  das  Nicht -Zusammen  bedeutend  (ebendaselbst 
S.  200),2  es  entwickelt  sich  daraus  erstlich  das  An-Einander,  aber 
fernerhin  auch  jede  Vervielfältigung  des  Aneinander,  die  starre  Linie, 
die  Durchkreuzung  mehrerer  starrer  Linien  u.  s.  f. 


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1  s.  oben  S.  103. 

2  s.  oben  S.    119. 


B.   Herbarts  Entgegnung  auf  ein  metaphysisches   Bedenken  von   Strümpell.      443 


So  weit  nun  war  vom  unvollkommnen  Zusammen  noch  gar  kein  An- 


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lafs  zu  sprechen.  Wie  aber,  wenn  wir  jetzt  diesen  Begriff  rückwärts,  bis 
in  die  Ontologie  hineintrügen?  —  Alsdann  wäre  seine  Bedeutung:  ver- 
mindertes wirkliches  Geschehen.  Die  Verminderung  nun  wäre  zwar  ein 
leerer  Gedanke;  aber  soweit  das  mindere  Geschehen  wirklich  reichte,  wäre 
das,  wiewohl  nur  unvollkommne,  Zusammen  doch  ein  Zusammen,  also  der 
Ausdruck  des   Causal-Verhältnisses. 

Es  ist  hiebey  zu  bemerken,  dafs  der  Lauf  der  Untersuchung  gar 
nicht  aus  dem  Zusammen  das  wirkliche  Selbsterhalten  erklärt,  sondern  das 
Zusammen  der  Wesen  von  Anfang  an  durch  das  Selbsterhalten  seine 
Aufklärung  und  Bedeutung  erhält.  Nicht- Zusammen  heifst  Anfangs  blofs: 
Nicht- Selbst  erhalten.  Diesem  ganz  allgemeinen  Begriffe  bleibt  auch  später- 
hin jede   Raumdistanz   logisch   untergeordnet. 

3.  Ganz  anders  gestellt  ist  die  Betrachtung  dort,  wo  das  unvoll- 
kommne Zusammen  zuerst  zum  Vorschein  kommt.  Die  Synechologie  hat 
dort  die  Qualitäten  und  Selbsterhaltungen  gänzlich  fallen  lassen.  Nachdem 
dieselben  bey  Seite  gesetzt  sind,  stöfst  sie  in  der  Raumconstruction,  mit 
der  sie  einzig  beschäftigt  ist,  auf  unvermeidliche  Widersprüche.  Hier  nun 
ist  das  unvollkommne  Zusammen  ein  reiner  Raumbegriff;  anfangs  ohne 
alle  Beziehung  auf  wirkliches  Geschehen.  —  Darin  eben  liegt  etwas  Un- 
bequemes, dafs  die  Begriffe  des  Zusammen  und  Nicht-Zusammen  anfangs 
im  ontologischen  Sinne  allein *  auftreten,  und  erst  später  den  Begriff  des 
unvollkommnen  Zusammen  als  einen  neuen  Ankömmling  zwischen  sich  auf- 
nehmen; zuerst  in  blofs  synechologischer  Bedeutung.  Allein  der  Lauf  der 
Untersuchung  bringt  das  so  mit  sich;  und  eine  bequemere  Darstellung  in 
dieser  Hinsicht  möchte  sich  kaum  finden  lassen. 

2 Wenn  diese  Bemerkungen  in  Ansehung  Ihres  Aufsatzes  überflüssig 
sind:  so  ists  blofs  ein  Zeichen,  dafs  ich  gegen  letztern  nichts  einzuwenden 
habe,  ich  finde  darin  nichts  bedenklich,  als  nur  die  Bedenklichkeit,  womit 
er  geschrieben  ist. 


Anhang  VI. 

Herbarts  Entgegnung  auf  die  Einwürfe  des  Herrn  N. 

Text  nach  dem  Msc.   2380,   2  der  Königsberger  Universitätsbibliothek. 

(Bisher  ungedruckt.) 


Über  die  Metaphysik  des  Unterzeichneten  hat  sich  Hr.  N.  ebenfalls 
mit  einer  Ausführlichkeit  verbreitet,  die  vermuthen  läfst,  er  wünsche  Be- 
rücksichtigung seiner  Einwürfe.  In  der  That  könnte  wohl  in  so  fern  darauf 
eingegangen  werden,  als  das  achtungsvolle  Benehmen  des  Herrn  N.  nichts 
zu  wünschen  übrig  läfst.  Allein  es  steht  ein  andres  Hindernils  im  Wege. 
Herr  N.  scheint  nicht  bemerkt  zu  haben,  in  welcher  Folge  die  Arbeiten 
des    Unterzeichneten    sind    bekannt    gemacht    worden.       Der    Metaphysik 


1  „allein"  fehlt  in  HR. 

2  Die  Schlufsworte:  „Wenn  diese  Bemerkungen  —  womit  er  geschrieben  ist."  fehlen 
in  HR. 


444  Anhang  VI. 

(nämlich  dem  grölsem  Werke)  ging  die  Psychologie  voran;  dieser  die 
allgemeine  Einleitung  in  die  Philosophie  nebst  der  Logik,  nachdem  noch 
früher  die  praktische  Philosophie  und  die  allgemeine  Pädagogik  herausgegeben 
waren.  In  dieser  absichtlichen  Zeitfolge  wollen  auch  die  Bücher  gelesen  seyn. 
Es  kann  nichts  helfen,  mit  dem  Metaphysiker  zu  streiten,  so  lange  er  den 
Unterschied  der  Psychologie,  welche  zurückschaut  auf  den  früheren  Gang 
unserer  Ausbildung,  von  der  Metaphysik,  welche  von  jetzt  an  unsre  künf- 
tigen Überzeugungen  zu  bestimmen  hat,  nicht  mit  Bestimmtheit  anerkennt. 
Es  kann  nichts  helfen,  von  diesen  beyden  Wissenschaften  zu  reden,  so 
lange  man  versucht,  an  der  Logik  zu  künsteln  und  zu  meisten,  anstatt 
sie  zu  nehmen,  wie  sie  ist,  und  ihren  freylich  nicht  überall  zulänglichen 
Vorschriften  wenigstens  so  weit  nachzukommen  als  sie  reichen.  Es  kann 
nichts  helfen,  über  eine  durchaus  theoretische  Wissenschaft  (und  eine  solche 
ist  die  Metaphysik)  mit  demjenigen  zu  verhandeln,  der  von  praktischen 
Bedürfnissen  noch  gedrückt  wird,  und  wegen  des  Ursprungs  der  moralischen 
Urtheile  besorgt  ist.  Dieser  Ursprung,  nämlich  aus  den  zum  Grunde 
liegenden  ästhetischen  Urtheilen,  mufs  zuerst  ins  Reine  gebracht  seyn.  Es 
mufs  anerkannt  seyn,  dafs  kein  blofses  sie  volo  sie  jubeo  der  praktischen 
Vernunft  (wie  Kant  sagte)  in  der  Moralität  herrscht.  Der  Macht  und 
Gewalt  mufs  erst  ihr  Rechtstitel  gesichert  seyn.  Das  moralische  Urtheil, 
welches  Eins  und  ungetheilt  ist  in  Bezug  auf  die  Tugend,  aber  bis  ins  Un- 
endliche vielgespalten  in  Bezug  auf  die  Pflichten,  beruht  auf  einer  Auctorität, 
die  keine  Gewalt  ist;  nämlich  auf  ästhetischen  Urtheilen,  in  bestimmter 
Mehrzahl  und  in  geschlossener  Reihe.  Das  ist  die  Lehre,  womit  der 
Unterzeichnete  zuerst  dem  Kantianismus  entgegentrat,  der  allerdings  einer 
starken  Reform  in  vielen  Puncten,  nicht  aber  einer  radicalen  Veränderung 
bedurfte.  Man  konnte  die  Kantische  Lehre  verbessern,  ohne  ihrer  mo- 
ralischen Würde  und  ihrer  kritischen  Behutsamkeit  Abbruch  zu  thun. 
Dafs  Fichte  aus  dem  halben  Fehler  des  Kantischen  halben  Idealismus  den 
ganzen  Fehler  des  ganzen  Idealismus  machte:  dies  hätte  in  so  fern  nützlich 
werden  können,  als  ein  ganzer  Fehler  leichter  sichtbar  wird  als  ein  halber. 
Statt  solcher  Benutzung  gab  man  einigen  poetischen  Launen  Gehör, 
welchen  der  Spinozismus  das  Glück  gehabt  hatte  wohl  zu  gefallen;  so 
stürzte  man  das  neunzehnte  Jahrhundert  in  eine  Irrlehre  zurück,  die  selbst 
das  siebzehnte  Jahrhundert  schon  verschmäht  hatte;  vergessend,  wie  höf- 
lich aber  auch  wie  ernst  Platon  die  Dichter  aus  seiner  Republik  ver- 
wiesen hatte.  Sollten  denn  wohl  solche  Künstlerlaunen  auch  in  Holland  ge- 
wirkt haben?  Oder  sollte  Herr  N.  nicht  wissen,  wie  vielen  Antheil  die 
Auctorität  Lessings  und  Göthes  an  dem  Gange  der  philosophischen  Schulen 
in  Deutschland  gehabt  haben?  Für  denjenigen,  welcher  die  Metaphysik 
als  eine  Geschichte  der  Schulen  betrachtet  und  darstellt,  ist  doch  ohne 
Zweifel  dieser  Umstand  von  Wichtigkeit;  und  wir  glauben  Hrn.  N.  darauf 
aufmerksam  machen  zu  dürfen. 


ß 

K44 
1887 
BD. 8 
C.l 

ROBA