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Full text of "Sämtliche Werke : in chronologischer Reihenfolge"

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JOE  FRIEDR.  HER  BARTS 

SÄMTLICHE    WERKE. 


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JOH.  FR.  HERBART'S 

SÄMTLICHE  WERKE. 


IN  CHRONOLOGISCHER  REIHENFOLGE 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


tKARL  KEHRBACH. 


DREIZEHNTER  BAND. 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


OTTO  FLÜGEL 


LANGENSALZA 

HERMANN  BEYER  &  SÖHNE 

(BEYER  &  MANN) 

HERZOG L.  Sachs.  Hofbüchhändler 

1907 


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Alle  Rechte  vorbehalten. 


Inhalt  des  dreizehnten  Bandes. 


J.  F.  Herbarts  Rezensionen 


von 


Seite 


Salat,  Dr.  J.,  königl.  geistlichem  Rate  und  ordentl.  Professor  zu  Landshut, 
Handbuch  der  Moralwissenschaft.  Eine  ganz  neue  Bearbeitung,  mit  be- 
sonderer Hinsicht  auf  den  Geist  und  die  Bedürfnisse  unserer  Zeit,  nach 
der  dritten  Auflage  seiner  Darstellung  der  Moralphilosophie.      1824       .  3 — 14 

Ohlert,    Dr.  A.  L,  J.,    Die    Schule;    Elementarschule,    Bürgerschule    und 

Gymnasium,  in  ihrer  höheren  Einheit  und  notwendigen  Trennung.    1826        15 — 16 

Fick,  Georg  Karl,  Verweser  der  Ober- Vorbereitungs-Schule  in  Rothen- 
burg, Vergleichende  Darstellung  der  philosophischen  Systeme  von  Kant, 
Fichte  und  Schelling;  nebst  einer  Einleitung,  welche  Bemerkungen 
über  die  Entwicklung  der  philos.  Systeme  überhaupt  enthält.     1825     .        16 — 27 

Jäsche,  Gottlieb  Benj.,  Grundlinien  der  Ethik  oder  philosophischen 
Sittenlehre.  Zunächst  zum  Gebrauche  seiner  Vorlesungen  entworfen.  1824. 
—  Jäsche,  Gottlieb  Benj.,  Der  Pantheismus,  nach  seinen  ver- 
schiedenen Hauptformen,  seinem  Ursprünge  und  Fortgange,  seinem  speku- 
lativen und  praktischen  Werte  und  Gehalte.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte 
und  Kritik  dieser  Lehre  in  alter  und  neuer  Philosophie   i.  Bd.      1826        27 — 40 

Kiesewetter,  Johann  Gottfried  Christian,  Prof.  der  Philos.  u. 
Mathematik  am  medic.-chirurg.  Institut  in  Berhn,  Darstellung  der 
wichtigsten  Wahrheiten  der  kritischen  Philosophie.  Vierte  verb.  Aufl. 
und  vermehrt  durch  einen  gedrängten  Auszug  aus  Kants  Kritik  der 
reinen  Vernunft  und  eine  Uebersicht  der  vollständigen  Literatur  der 
Kantischen  Philosophie.  Nebst  einer  Lebensbeschreibimg  des  Verfassers. 
Von  Christian  Gottfried  FHttner.      1824 40—42 

Rükkert,  L.  J.,  Diaconus  zu  Großhennersdorf  bei  Herrnhut,  Christliche 
Philosophie,  oder  Philosophie,  Geschichte  und  Bibel,  nach  ihren  wahren 
Beziehungen  zu  einander  dargestellt.  Nicht  für  Glaubende,  sondern  für 
wissenschaftliche  Zweifler  zur  Belehrung.  Erster  Band.  Philosophie 
und  Geschichte.      1825 43—53 

Reinhold,  E.,  ord.  Prof.  der  Logik  und  Metaph.  an  der  Univ.  zu  Jena, 
K.  L.  Reinhold's  Leben  und  literarisches  Wirken,  nebst  einer  Auswahl 
von  Briefen  Kant's,  Fichte's,  Jacobi's  und  anderer  philosophirender 
Zeitgenossen  an  ihn.      1825 53 — ^3 

Fichte,  J.  H.,  Sätze  zur  Vorschule  der  Theologie.     1826 64 — 67 


VI  Inhalt  des  dreizehnten  Bandes. 

Seite 
Schlegel,  Friedrich  von,  K.  K.  Legationsrat  und  Ritter  des  Christus- 
Ordens.  Mitglied  der  K.  K.  Akademie  der  bildenden  Künste,  Die  drei 
ersten  Vorlesungen  über  die  Philosophie  des  Lebens.    1827.  —  Schlegel, 
Friedrich  von,    Philosophie  des  Lebens.     In  fünfzehn  Vorlesungen, 

gehalten  zu  Wien  im  Jahre   1827.      1828 67  —  77 

Krug,  Wilh.  Traug.,  Prof.  d.  Philos.  zu  Leipzig,  Allgemeines  Hand- 
wörterbuch der  philosoi)hischcn  Wissenschaften,  nebst  ihrer  Literatur 
und  Geschichte.  Nach  dem  heutigen  Standpunkt  der  Wissenschaft  be- 
arbeitet und  herausgegeben.      1827 77 — 83 

Troxler,  Dr.,  Naturlehre  des  menschlichen  Erkennens,  oder  Metaphysik.  1828  83  —  97 
Buquoy,  Graf  Georg  v.,  Doktor  der  Philosophie  und  mehrerer  gelehrten 
Gesellschaften  Mitglied,  Anregungen  für  philosophisch-wissenschaftliche 
Forschung  und  dichterische  Begeisterung,  in  einer  Reihe  von  Aufsätzen 
eigentümlich  der  Erfindung  nach,  und  der  Ausführung.  1827  .  .  .  97 — 103 
Droz,  Joseph,  Mitglied  der  französischen  Akademie,  Die  Anwendung  der 
Moral  auf  die  Politik.    Aus  dem  Französischen  übersetzt  und  mit  einer 

Einleitung  versehen  von  Aug.  v.  Blumröder.      1827 104 — 113 

Ritter,  H.,  a.  o.  Prof.  a.  d.  Univ.  Berlin,  Die  Halbkantianer  und  der 
Pantheismus.  Eine  Streitschrift,  veranlaßt  durch  Meinungen  der  Zeit 
und  bei  Gelegenheit  von  Jäsches  Schrift  über  den  Pantheismus.  1827. 
—  Jäsche,  Gottlieb  Benjamin,  kaiserl.  russ.  Staatsrat  u.  Prof.  d. 
Philos.  in  Dorpat,  Der  Pantheismus  nach  seinen  verschiedenen  Haupt- 
formen,   seinem    Ursprünge    und    Fortgange,    seinem    spekulativen    und 

praktischen  Wert  und  Gehalt.      1828 113  — 121 

Beneke,  Dr.  Fr.  Ed.,  Psychologische  Skizzen.  2  Bde.  —  Das  Verhältnis 
von  Seele   und  Leib.     Philosophen   und  Ärzten   zu  wohlwollender  und 

ernster  Erwägung  übergeben.      1826 121  — 132 

Hillebiand,  Dr.  Jos.,  ord.  öffentl.  Prof.  d.  Philos.  a.  d.  Univ.  z.  Gießen 
und  Pädagogiarchen  daselbst,  Lehrbuch  der  theoretischen  Philosophie 
und    philosophischen    Propädeutik,    ziuu   Gebrauche    bei    akademischen 

Vorlesungen.      1826 132 — 144 

Krause,  K.  Chr.  Fr.,  Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie.  1828  144 — 164 
Schubarth,  Dr.  K.  E.,  und  Carganico,  Dr.  K.  A„  Über  Seyn,  Nichts 
und  Werden.  Einige  Zweifel  an  der  Lehre  des  Herrn  Prof.  Hegel. 
1829.  —  Brief  gegen  die  Hegel'sche  Encyclopädie  der  philosophischen 
Wissenschaften.  Erstes  Heft.  Vom  Standpunkte  der  Encyclopädie  und 
der  Philosophie.  1829.  —  Über  Philosophie  überhaupt  und  Hegel's 
Encyclopädie    der  philosophischen    Wissenschaften     insbesondere.       Ein 

Beitrag  zur  Beurtheilung  der  letzten.      1829 164 — 170 

Metz,  Andreas,  Prof.  der  Philos.  in  Würzburg,  Ueber  den  BegrifiF  der 
Naturphilosophie;  oder  die  Frage:  Was  hat  die  Philosophie  zu  leisten, 
lun  in  Wahrheit  sich  Naturphilosophie  nennen  zu  können?  verbunden 
mit  der  Frage:  Welchen  Werth  hat  die  Naturphilosophie  sowohl  über- 
haupt, als  insbesondere  für  die  ^Medicin  ?  Aus  den  Jahrbüchern  der  philos. 
medic.  Gesellsch.  zu  Würzburg  besonders  abgedruckt.  1829  ....  170 — 171 
Heinroth,  Joh.  Christian  August,  Prof.  d.  psych.  Heilk.  auf  d.  Univ. 
zu  Leipzig,  Über  die  Hypothese  der  Materie  und  ihren  Einfluß  auf 
Wissenschaft  und  Leben.     1825 171 — 196 


Inhalt  des  dreizehnten  Bandes.  VII 

Seite 
Mehring,  G.,    Über  philosophische  Kunst.     Erstes  Heft:    Eine  historische 

Vorfrage.      1828 196  —  197 

Hegel,  Dr.  Ge.  Wilh.  Fr.,    ord.  Prof.  d.  Philos.  an  d.  Univ.  zu  Berlin, 

Encyklopädie  der  philosophischen  Wissenschaften  im  Grundrisse.     Zum 

Gebrauche  seiner  Vorlesungen.      1827 -.     .      198 — 216 

Wörlein,  J.  W.,  Hauptlehrer  in  Happurg,  System  der  Pädagogik.    Erster 

Band.     Pädagogische  Grundlehren.      1830 216 — 218 

Schwarz,  F.  H.  Ch.,  geh.  KR.  u.  Prof.  zu  Heidelberg.    Erziehungslehre. 

3  Bde.      1829 218—242 

Drobisch,  !Moritz  Wilhelm,  Prof.  d.  Mathematik  an  d.  Univ.  zu  Leipzig, 

Philologie  und  Mathematik,  als  Gegenstände  des  Gymnasial-Unterrichts 

betrachtet;    mit    besonderer    Beziehung    auf  Sachsens   Gelehrtenschulen, 

1832 242-  250 

Weisse,  Chr.  Herrn.,  Prof.  an  d.  Univ.  zu  Leipzig,  System  der  AesthetLk 

als  Wissenschaft  von  der  Idee  der  Schönheit.      1830 250 268 

Kant,  Immanuel,    Anthropologie  in  pragmatischer  Hinsicht.      1833     ■     •     268 270 

Vorrede    zu    Carol.  Lud.  Hendewerk,    Principia    ethica    a  priori   reperta,    in 

libris  S.  V.  et  N.  T.  obvia.      1833  270 271 

Drobisch,  Moritz  Wilhelm,  Prof.  an  d.  Univ.  zu  Leipzig,  Beiträge  zur 

Orientierung  über  Herbarts  System  der  Philosophie.      1834     ....     271 273 

Nieuwenhuis,  Jacobi,  philosophiae  in  academia  Lugduno-Batava  prof. 
ord.  caet.,  Elementa  metaphysices  historice  et  critice  adumbrata.  1833. 
Auch  unter  dem  Titel:  Initia  philosophiae  theoreticae,  vol.  secundi  pars 
prima.  —  Nieuwenhuis,  Jacob us,  quum  magistratum  academiae 
Lugduno-Batavae  solemni  ritu  deponeret,  Oratio  principiorum  pugna  in 
rebus  gravissimis  caute  diiudicanda,  quam  habuit.      1834 273 278 

Strümpell,  Dr.,  Erläuterungen  zu  Herbart's  Philosophie,  mit  Rücksicht 

auf   die  Berichte,   Einwürfe  und  Mißverständnisse  ihrer  Gegner.      1834  278 

Griepenkerl,  Prof.  Dr.  F.  K.,  Briefe  an  einen  Jüngern  gelehrten  Freund 

über  Philosophie,  und  insbesondere  über  Herbart's  Lehren.      1832    .     278  —  279 

Herbart,  Umriß  pädagogischer  Vorlesungen.     1835 280 282 

Kappe,  Dr.  Alexander,  erstem  Oberlehrer  am  Archigymnasio  zu  Soest, 
Platons  Erziehungslehre  als  Pädagogik  für  die  Einzelnen  und  als  Staats- 
pädagogik.    Oder  dessen  praktische  Philosophie.      1833 282  —  284 

Romang,  J.  P.,  Über  Willensfreiheit  und  Detenninismus.  1835.  —  ■Zur 
Lehre  von  der  Freiheit  des  menschlichen  Willens.  Briefe  an  Herrn 
Professor  Griepenkerl  von  Herbart.     1836 285 286 

Hartenstein,  G.,  außerord.  Prof.  d.  Philos.  an  d.  Univ.  zu  Leipzig,  Die 

Probleme  und  Grundlehren  der  allgemeinen  Metaphysik.  —   1836    .     .     286 — 289 

Drobisch,  M.  W.,  Prof.  an  d.  Univ.  zu  Leipzig,  Neue  Darstellung  der 
Logik  nach  ihren  einfachsten  Verhältnissen.  Nebst  einem  logisch- 
mathematischen Anhange.     1836 289 293 

Drobisch,    M.  W.,    Quaestionum    mathematico - psychologicarum    specimen 

primum 293—297 

Suabedissen,  D.  Th.  A.,  Die  Gruadzüge  der  Metaphysik.      1836  .     .     .     297—300 

Herbart,  J.  F.,    Analytische  Beleuchtung   des  Naturrechts   und  der  Moral, 

zum  Gebrauche  beim  Vortrage  der  practischen  Philosophie.      1836  .     .     301—303 

Drobisch,  M.  W.,  Quaestionem  mathematico-psychologicarum.     vSp.  11.     .     304—306 

Hartenstein,  G.,  auct.  philos.  theoreticae  in  univ.  lipsiensi  prof.  ord..  De 

ethices  a  Schleiermachero  propositae  fundamento 306—311 


VIII  Inhalt  des  dreizehnten  Bandes. 


Seite 

Drobisch,  Mauritio  Guilielmo,  anct.,  in  univ.  Lips.  P.  P.  O.,  Quae- 

stionum  mathematico-psychologicarum  fasiculus  I.      1837 ßH— 3^3 

Sample,  J.  W.,  Advocate,  The  metaphysic  of  ethics;  by  Immanuel  Kant; 
translated  out  of  the  original  German,  with  an  introduction  and  appendix 
1836 313-316 

Brzoska,  Dr.  Heinr.  Gust.,  Prof.  an  d.  Univ.  zu  Jena,  Die  Notwendig- 
keit pädagogischer  Seminare  auf  der  Universität,  und  ihre  zweckmäßige 
Einrichtung.      1836 317—319 

Vogel,  Dr.   K.,  Schulatlas  mit   Randzeichnungen.      1837 ;ji9--32i 

Hartenstein,  ord.  Prof.  d.  Philos.  an  d.  Univ.  zu  Leipzig,  Über  die  neuesten 

Darstellungen  und  Beurteilungen  der  Herbart'schen  Philosophie  .     .     .     321—322 

Reiche,    Leonh.    Phil.  Aug.,    Ulzena- Hannoveranus,    De   Kanti    anti- 

nomiis  quae  dicuntur  theoreticis.     Dissertatio  inauguralis,   quam  scripsit     322  —  326 

Callisen,  Christian  Friedrich,  Kurzer  Abriß  der  philosophischen 
Rechts-  und  Sittenlehre,  als  Leitfaden  bey  Vorlesungen  über  diese  Wissen- 
schaft. 1805.  —  Snell,  Christ.  Wilh. ,  Prof.  und  Rektor  des 
Gymnasii  zu  Idstein,  Die  Hauptlehren  der  Moralphilosophie ;  ein  Buch 
für  gebildete  Leser.  1805.  —  Snell,  Christ.  Wilh.,  und  Snell, 
Friedr.  Wilh.  Dan.,  Handbuch  der  Philosophie  für  Liebhaber.  Vierter 
Teil:  Moralphilosophie.  —  Tieftrunk.  Joh.  Heinr.,  Professor  zu 
Halle,  Philosophische  Untersuchungen  über  die  Tugendlehre,  zur  Er- 
läuterung und  Beurteilung  der  metaphysischen  Anfangsgründe  der  Tugend- 
lehre von  IMM.  Kant.  Zweiter  Teil:  Ausführung  der  Pflichten  der 
Menschen  gegeneinander,  nach  den  besonderen  Zuständen  und  Ver- 
hältnissen derselben.      1805* 326 — 334 

Fichte,  Johann  Gottlieb,  Die  Gründzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters, 

in  Vorlesungen,  gehalten  zu  Berlin,  im  Jahre   1804 — 5.      1806.  .     .     .     334 — 340 

Guts  Muths,  J.  C.  F.,  Kurzer  Abriß  der  deutschen  Gymnastik,  ein  Leit- 
faden für  Lehrer  und  Schüler.  (Auch  unter  dem  Titel :  Katechismus  der 
Tumkunst.)  1818.  —  Kayßler,  A.B.,  Prof.  der  Philos.  usw.,  Würdigung 
der  Turnkunst  nach  der  Idee.  181 8.  —  Steffens,  Henrich,  Turnziel. 
—  Passow,  Dr.  Franz,  Tumziel.  —  Passow,  Franz,  Prof.  an 
der  Königl.  Univ.,  Zur  Rechtfertigung  meines  Tumlebens  und  meines 
Turnziels 340—351 


*  Diese  und  die  beiden  nachfolgenden  Rezensionen  konnten  nicht  mehr  chrono- 
logisch eingeordnet  werden,  weil  sie  erst  während  des  Druckes  dieses  Bandes  auf- 
gefunden wurden. 


J.  F.  HERBARTS 

REZENSIONEN 

(Fortsetzung.) 


Hbrbarts  Werke.     XIII. 


Salat,  Dr.  J.,  königl.  geistlichem  Rathe  und  ordentl.  Professor  zu  Lands- 
hut, Handbuch  der  Moralwissenschaft.  Eine  ganz  neue  Be- 
arbeitung, mit  besonderer  Hinsicht  auf  den  Geist  und  die  Bedürf- 
nisse unserer  Zeit,  nach  der  dritten  Auflage  seiner  Darstellung  der 
Moralphilosophie.  —  München,  bei  Finsterlin,  1824.  495  S.  8. 
(2  Thir.) 
Gedruckt  in:  Jenaer  Literatur-Zeitung   1827.  Nr.  6.   7.     SW.  XIII,  S.  483. 

Was  der  Verf.  von  allerlei  fremder  Lehre  sich  angeeignet,  wie  er  es 
eigentümlich  geformt,  was  er  dagegen  verwotfen  und  bestritten  habe^  dies 
kurz  darzustellen  und  zu  beurteilen,  ist  kaum  möglich;  denn  er  verwirrt 
überall  den  Leser  durch  seine  „Seitenblicke",  die  er  sogar  in  den  Über- 
schriften der  Paragraphen  förmlich  ankündigt.  Wenn  er  nötig  hatte,  sich 
gegen  Lüge  und  Verleumdung  auf  seinen  Lebenswandel  und  auf  seine 
Amtsführung  seit  mehr  als  dreißig  Jahren  (S.  490)  zu  berufen:  so  be- 
dauern wir  diesen  Umstand  um  desto  mehr,  da  hieraus  leicht  eine  gereizte 
Stimmung  entstehen  konnte,  die  man  auch  ohnedies  beinahe  vermuten 
müßte,  wenn  man  sieht,  wie  der  Verf.  sich  überall  mitten  in  der  Wissen- 
schaft auf  Zeit- Erscheinungen  einläßt,  die  ihrer  Natur  nach  vorübergehend 
sind.  Da  ist  die  Rede  von  einer  Philosophie,  die  man  auf  die  Erbsünde 
gebaut  hat;  da  wird  die  Behauptung  angeführt:  „/ot  Menschen  ist  nur  ein 
stinkender  Jodesborn'-':  und  eine  andere,  nach  welcher  der  Mensch  von 
dem  Gesetze,  das  er  sich  selbst  gebe,  auch  sich  selbst  dispensieren 
könnte;  ferner  eine  dritte,  nach  welcher  die  Achtung  ein  kaltes,  frostiges 
und  kraftloses  Ding  sein  soll.  Ja  es  werden  sogar  Leute  redend  einge- 
führt mit  folgender  Sprache:  ^MH  der  Moralität  bleibe  man  mir  vom  Halse ; 
Sittlichkeit,  Moralität  sind  ruchlose  Worte.''  Wie  kann  doch  ein  Schrift- 
steller, der  eine  Moral-  Wissenschaft  verspricht,  auf  dergleichen  Reden 
hören?  Sind  es  Philosophen,  die  sich  also  vernehmen  lassen;  so  muß  man 
sich  daran  erinnern,  daß  schon  das  Altertum  klagte,  es  lasse  sich  nichts 
so  Ungereimtes  denken,  was  nicht  irgend  ein  Philosoph  gesagt  habe.  Hr. 
S.  hätte  ivohl  getan,  statt  des  unnützen  Streitens  gegen  Leute,  die  Glicht  be- 
lehrt sein  wollen,  Schleiermachers  I\ritik  der  Sittenlehre  ernstlich  z/i 
prüfen  und  zu  beleuchten;  denn  dies  verdient  das  berühmte  Werk  voll- 
kommen, nicht  aber  ist  es  geeignet,  so  obenhin  benutzt  zu  werden,  wie 
manche  Spuren  der  letzten  Abschnitte  ziemlich  deutlich  verraten.  Je 
strenger  wissenschaftlich  das  Buch,  desto  eindringlicher  wäre  alsdann  eine 
solche  Klage  über  das  Zeitalter  gewesen,  wie  die  in  der  Tat  sehr  ernst- 
hafte und  wichtige  in  der  Vorrede:  der  Lektions-Katalog  einer  berühmten 
norddeutschen  Hochschule   habe   im  Sommersemester   1824   und   in   dem 


J.  F.  Heibarts  Rezensionen. 


darauffolgenden  Winter  auch  nicht  eine  Ankündigung  der  Vorlesungen 
über  Moralphilosophie,  dagegen  zwei  über  Religionsphilosophie  enthalten. 
Rez.  kennt  das  Faktura  nicht;  angenommen  nun,  daß  Hr.  S.  nichts  über- 
sehen habe:  so  verdiente  dieser  Punkt  unstreitig,  daß  darauf  aufmerksam 
gemacht  werde. 

Die  Polemik  des  Verfs.  zeigt  sich  gleich  in  der  Vorrede  als  zum 
Teil  nützlich,  zum  Teil  aber  auch  schädlich  für  die  Wissenschaft.  Nütz- 
lich ist  es,  daß  er  gegen  alle  Mystik  den  Kaiitisclien  Satz  festhält:  Man 
kann  ohne  den  eihische7i  Grundbegriff  kein  ivissenschnflliches  Wort  über  Gott 
rede7i.  Und  wenn  er  diesen  ewig  wahren  Satz  noch  ferner  so  erweitert : 
Moralphilosophie  kann  ohne  Religionsphilosophie  nicht  bestehen,  aber  diese 
kann  ohne  jene  nicht  entstehen:  so  wollen  wir  wegen  des  ersten  Punktes 
wenigstens  mit  niemanden  streiten;  denn  hier  maßt  sich  allemal  das  Gefühl 
eine  Stimme  an,  und  zwar  eine  solche,  welcher  Achtung  gebührt.  Schäd- 
lich aber  für  die  Wissenschaft  ist  die  Polemik  des  Verfs.  gegen  den 
Materialismus,  so  unbegreiflich  ihm  dieses  auch  scheinen  mag.  Denn  bei 
wahrer  Einsicht  in  das  Wesen  der  Moralphilosophie  hätte  der  Verf.  finden 
müssen,  daß  nicht  die  allermindeste  Gefahr  von  dieser  Seite  vorhanden 
ist,  so  oft  auch  unverständige  Materialisten  dieselbe  haben  herbeiführen 
wollen.  Das,  was  sie  erreichen  konnten,  war  eine  falsche  Moral;  die 
wahre  hat  sich  ihnen  stets  entzogen  und  kann  von  ihren  Waffen  gar  nicht 
getroffen  ivcrden.  Der  Verf.  aber  mußte  auf  den  an  sich  lächerlichen 
Streit  Gewicht  zu  legen  sich  um  desto  mehr  hüten,  da  die  Materie^  als  ein 
Gegenstand  der  tiefsten,  weitläufigsten,  und  im  wisse?ischaftlichen  Sinne 
schönsten^  ja  erhabensten  Untersuchungen,  nun  einmal  vor  Augen  liegt,  der- 
gestalt, daß  Mechanik,  Chemie,  Physiologie,  Astronomie  an  Interesse  immer 
zunehmen  und  hierdurch  das  Bedürfnis  einer  echten  Naturphilosophie  von 
Tag  zu  Tage  noch  steigern.  Aber  Hr.  S.  scheint  nur  daran  zu  denken, 
daß  eine  gewisse  Schule  sich  durch  Usurpation  einen  Namen  beigelegt 
hat,  der  von  jener  Wissenschaft  hergenommen  ist.  Wenn  nun  die 
Neigung  für  Naturwissenschaft  in  rascher  Progression  zunimmt,  wird  es 
dann  etwas  helfen,  daß  Hr.  S.  etwa  ein  Dutzendmal  in  seinem  Buche 
erklärt  hat,  er  wolle  „auf  der  Bank  der  Materialisten''  nicht  sitzen?  Es 
müßte  ihm  gar  nicht  einfallen,  daß  bei  wahrer  Einsicht  irgend  jemand 
ihn  dahin  samt  der  Moralphilosophie  könne  verweisen  wollen.  Er  mußte 
die  ganze  Untersuchung  über  die  Materie,  als  etwas  der  Moral  durchaus 
Gleichgültiges,  kennen. 

Die  Einleitung  gehört  zu  den  dunkelsten  Teilen  des  Buchs.  Es  be- 
ginnt: „Wenn  die  Philosophie  weder  bloße  Logik,  noch  die  Physik  als 
solche  ist  (wem  war  denn  so  etwas  eingefallen?):  so  ist  das  erste,  worauf 
es  bei  derselben  ankommt,  die  Sache  oder  das  Reale  (welcher  Schluß!), 
und  zwar  eine  Sache,  die  sich  von  der,  welche  der  Naturwissenschaft 
angehört,  nicht  bloß  de?n  Grade  nach  unterscheidet."  (Gibt  es  etwa  Grade 
der  Materie?)  „Neben  dem  Physischen  nun  heißt  selbige  füglich  das 
Metaphysische."  (Kennt  nun  jemand  die  Sache,  welche  der  Verf.  meint?) 
Auch  das  Moralische  ist  ein  Metaphysisches,  Übersinnliches  (also  vermut- 
lich eine  Sache?),  so  gewiß  dasselbe  weder  ein  Logisches,  noch  ein 
Physisches  genannt  werden  kann  und  auch  der  Moralphilosoph  ist  erstlich 


Dr.  J.  Salat:  Handbuch  der  Moralwissenscliaft. 


Metaphysiker ,  zweitens  Logiker.  Diese  Grundbestimmung  verträgt  sich 
wohl  mit  der  Einteilung  der  Sachwissenschaft  in  Ethik  und  Physik,  sowie 
mit  der  Kantischen  Abteilung  des  Sachbegriffs  in  den  Freiheits-  und 
Naturbegriff.  Nur  steigt  sie  bis  zu  dem  Übersinnlichen  =;  dem  ersten 
Realen  hinauf."  Was  wir  hieraus  lernen,  ist  weiter  nichts,-  als  daß  sich 
Hr.  S.  die  Kantische  Lehre  sehr  willkürlich  nach  seiner  Weise  einrichtet. 
Denn  daß  man  die  Natur,  welche  nur  Erscheinung  ist,  und  die  Freiheit, 
welche  nicht  erscheint,  sondern  des  kategorischen  Imperativs  wegen  ange- 
nommen werden  soll,  nach  Kant  nicht  koordinieren  dürfe,  brauchen  wir 
kaum  zu  erinnern.  Da  nun  der  Verf.  nichts  bewiesen  hat:  so  wider- 
sprechen wir  sogleich  seiner  Behauptung,  die  Moralphilosophie  sei  Meta- 
physik, ohne  weiteres,  und  fügen  nur  hinzu,  daß,  gerade  weil  sie  es  nicht 
ist,  die  alte  Einteilung  der  Philosophie  in  Logik,  Physik,  Ethik,  notwendig 
ist,  indem  von  diesen  drei  Teilen  keiner  mit  einem  andern  verschmolzen 
werden  darf.  Daß  übrigens  der  Verf.  entweder  Theologie  oder  Psycho- 
logie oder  ein  Gemenge  aus  beiden  im  Auge  hatte,  verstand  sich  von 
selbst  und  bestätigt  sich  sogleich.  „Das  Übersinnliche  erscheint  a)  so, 
wie  der  Mensch  objektiv  daran  teil  nimmt,  b)  so,  wie  es  auf  ihn  als 
Subjekt  sich  bezieht.  Daher  das  Sittliche  oder  Gute  nach  der  Idee. 
Was  im  Menschen  vordringt,  ist  seine  Erhabenheit  über  die  Natur.  Daher 
die  Grundsetzung:  das  Moralische  und  Physische.  Auch  das  Moralische 
ist  demnach  ein  Objektives,  aber  hinweisend  auf  den  Menschen  als  Subjekt, 
da  eben  in  demselben  und  vermittelst  dessen  Tätigkeit  (sie!)  das  Über- 
sinnliche, Göttliche  oder  beim  Mangel  eines  anderen  Worts,  die  Vernunft 
realisiert  werden  soll."  (Wer  redet  hier?  Vermutlich  ein  Schüler  und  An- 
hänger jenes  beriihmten  Mannes,  der  ifi  dem  noch  nicht  vergessenen  Systeme 
des  transcendentalen  Idealismus  im  Jahre  1800  von  einer  dritten  Periode 
der  Geschichte  sprach,  wo  das,  was  in  den  früheren  als  Schicksal  und 
als  Natur  erschien,  sich  als  Vorsehung  entwickeln  werde  und  nun  hinzu- 
setzte :  Tüenn  diese  Periode  sein  wird,  dann  tvird'  auch  Gott  sein.  —  Will 
Hr.  S.  mit  dieser  Lehre  nicht  in  Gemeinschaft  treten,  so  hätte  er  sich 
hüten  sollen,  vom  Göttlichen  zu  sagen,  es  solle  erst  realisiert  iverden,  als 
ob  es  nicht  schon  real  iväre ;  und  eben  deshalb  hätte  er  einen  ganz  andern 
Eingang  zur  Moral  suchen  sollen.)  „Wir  unterscheiden  nun  für  die 
Moralphilosophie  den  objektiven  und  subjektiven  Grund,  also  das,  was 
der  Tätigkeit  des  Menschen  vorangeht:  Anlage,  Anregung,  Ankündigung 
—  die  Gnade  in  dreifacher  Gestalt  —  und  dasjenige,  was  durch  die 
menschliche  Tätigkeit  entsteht,  die  Entwicklung  vermittelst  der  Verstandes- 
tätigkeit." (Also  die  Gnade  gehört  in  die  Grundlegung  zur  Moral, 
obgleich  ohne  den  ethischen  Grundbegriff  kein  wissenschaftliches  Wort  von 
Gott  möglich  sein  sollte!  Mit  welcher  Hälfte  dieses  Zirkels  ist  dem  Verf. 
Ernst?)  ,, Indem  der  Grund  im  subjektiven  Menschen  gelegt  wird,  ergibt 
sich  mit  dem  Guten  das  Wahre.  Wenn  sodann  dieser  Grund  mittelst 
des  Verstandes  entwickelt  wird,  so  entsteht  die  Erkenntnis  der  Wahrheit. 
Das  Wahre,  Gute  und  Schöne  gehen  von  dem  Einen  metaphysischen  Ob- 
jekte aus.  Diese  Darstellung,  betreffend  die  Begründung  der  Moral- 
philosophie, weiset  demnach  zurück  auf  den  Entwicklungsgang  der  Ver- 
nunft: Ankündigung,  Anerkennung,  Erkenntnis  des  Göttlichen  oder,  wofern 


J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


dieses  Wort  hier  nicht  gefällt,  des  Übersinnlichen."  Wobei  wir  bemerken, 
daß  uns  dieses  Wort  hier  allerdings  keineswegs  gefällt.  Wer  von  Gott 
reden  will,  der  spreche  das  Wort  deutlich  aus;  wer  aber  besorgt,  der 
heilige  Name  möchte  irgendwo  nicht  am  rechten  Orte  sein,  der  spare  ihn 
für  einen  besseren  Platz! 

Wir  mögen  nicht  gern  daran  glauben,  daß  der  Verf.  hier  schon  mit 
seiner  Begründung  der  Moral  fertig  sei;  wenigstens  lassen  wir  dem  Leser 
vorläufig  die  Hoffnung,  das  Folgende  werde  klarer  sein.  Der  erste  Teil, 
welcher  das  Moralische  an  sich  betrachtet,  zerfällt  in  vier  Abschnitte, 
worin  nacheinander  von  der  Anlage,  dem  Gesetze,  der  Triebfeder  und 
dem  Grundsatze  gehandelt  wird.  Und  hier  wird  dann  nun  alles  insofern 
sehr  klar,  als  wir  uns  in  ein  längst  bekanntes  Gebiet  von  Meinungen  ver- 
setzt finden,  worin  die  beliebte  Selbständigkeit ,  vermöge  deren  jeder- 
mann sein  eigenes  System  haben  7vill,  dadurch  behauptet  ivird,  daß  er  sich 
seine  eigene  krmmne  Linie  zum  Spaziergafige  in  dem  Walde  aussinnt,  um 
etwa  hier  und  da  eine  Aussicht  oder  einen  Sitz  zu  gewinnen^  wo  es  ihm 
besser  behagt^  als  auf  den  Plätzen,  die  sich  die  andern  ausgesucht  haben. 
Nach  dem  Verf.,  wie  nach  den  meisten,  soll  man,  bei  der  Grundlehre 
von  der  moralischen  Anlage  (wenn  das  nur  überall  eine  moralische  Grund- 
lehre wäre!)  von  den  menschlichen  Anlagen  ausgehen.  Kant  hat  zwar 
längst  das  Gegenteil  gezeigt,  indem  sein  kategorischer  Imperativ  absicht- 
lich ganz  losgerissen  von  aller  theoretischen  Erkenntnis  dasteht;  aber 
diesen  Meisterzug  versteht  man  heutigestages  nicht  mehr  zu  würdigen. 
Die  menschlichen  Anlagen  werfen  uns  natürlich  in  die  Psychologie.  Und 
hier  ist's  die  gewohnte  Weise,  einzuteilen  nach  Belieben,  um  sagen  zu 
können,  man  habe  eine  bessere  Einteilung  gemacht,  als  andere.  Der 
Verf.  teilt  erst  geistige  und  körperliche,  dann  jene  in  reale  und  formale 
Anlagen,  wo  die  Worte  schon  das  Bekenntnis  enthalten,  daß  bloß  ein 
Begriff  gespalten  sei;  denn  in  der  Wirklichkeit  giebt's  keine  Form  ohne 
Gegenstand.  Das  Ergebnis  jener  Teilung  aber  soll  dasselbe  sein,  wie 
wenn  sogleich  eine  Dreiheit  aufgestellt  wird,  Sin?i,  Verstand,  Vernunft 
(wobei,  wenn  wir  recht  verstehen,  der  Sinn  sich  gar  in  eine  körperliche 
Anlage  verwandeln  wird!),  nur  mit  dem  Unterschiede,  daß  die  philo- 
sophische Darstellungsweise  herabsteige,  also  von  der  Vernunft  ausgehe 
oder  dieselbe  zuerst  setze.  (Freilich  kann  man  nach  Belieben  zuerst  oder 
zuletzt  setzen,  wenn  man  sich  gar  nicht  bekümmert,  in  welcher  Ordnung 
und  unter  welchen  Bedingungen  sich  die  Gegenstände  erkennen  lassen.) 
Und  nun  wird  disputiert  gegen  den  neuen  wie  gegen  den  alten  Vernunft- 
kritiker; weil  nicht  der  persönliche  Trieb  (ein  Unding!)  neben  dem  mensch- 
lichen und  tierischen  auftreten,  wohl  aber  die  Menschheit  auf  der  geistigen 
Seite  in  die  objektive  und  subjektive  (wir  wissen  wahrlich  nicht,  ob 
Menschheit  oder  Seite^  abgeteilt  werden  soll.  Der  Verf.  konnte  um  die 
Zeit,  da  er  sein  Buch  schrieb,  längst  wissen,  daß  neuerlich  im  Gebiete 
der  Psychologie  sorgfältigere  Untersuchungen  angestellt  worden  sind,  nach 
welchen  von  allen  solchen  Teilen,  Trieben  und  Seiten  keine  Rede  ist; 
in  welchen  Grenzen  aber  sein  Bemühen,  mit  der  Zeit  fortzugehen,  stehen 
geblieben  ist,  davon  finden  wir  gleich  noch  andere  Spuren.  Nachdem 
wir   schon    lange    von    der    übersinnlichen   Anlage    des    Menschen    haben 


Dr.  T.  Salat:  Handbuch  der  Moral  Wissenschaft. 


reden  hören,  sollen  wir  hintennach  erfahren,  was  sie  denn  eigentlich  sei. 
Hier  nun  ,,erscheini  wieder  das  Übersinnliche"  (sollte  man  es  glauben,  daß 
ein  solches  Wunder,  vermöge  dessen  das  Nicht -Erscheinende  erscheinen 
müßte,  auch  nur  denkbar  sei?)  ^^ivie  jeder  Mensch  an  demselben  teibiinimt, 
und  wie  dasselbe  folglich  in  alle  nmischlichen  Wesen  als  solche  gelegt  ist. 
Indem  es  nun  vor  jeder  Entwicklung  erfaßt  wird  (natürlich  im  beliebigen 
Abstrahieren),  ergibt  sich  damit  die  sittliche  Anlage.  Auch  diese  ist 
daher  ein  unbedingt  Reales.  Es  kann  schlechterdings  nur  von  einer 
solchen  die  Rede  sein;  denn  die  Einheit  entspricht  dem  einen,  von 
welchem  die  moralische  Anlage  abgeleitet  wird.  Nur  das  Göttliche  im 
Menschen,  nur  das  Reale^  wovon  dieselbe  abstammt  und  sonach  nur  Eines 
geht  hervor."  So  wären  wir  denn  also  aus  einer  höchst  dürftigen  Psycho- 
logie zu  einer  theologischen  —  und  zwar  .spinozistisch  -  theologischen  — 
Ansicht  gelangt.  Denn  der  Verf.  und  mehrere  ihm  ähnliche,  mögen  sich 
sträuben,  wie  sie  wollen;  der  Spinozismus,  dem  sie  e7itfliehe7i  wollen,  ergreift 
sie  ohne  Mühe,  weil  ihre  eigeiien  Bewegungen^  une  von  magischen  Blicken 
angezogen,  sie  zu  ihm  hinführen.  Die  Eitiheit  ist  ihre  Göttin,  die  Vielheil 
ihre  Feindin,  und  das  Reale,  als  solches,  ist  ihnen  das  Beste.  Daß  das 
Übersinnliche,  wenn  es  nichts  weiteres  wäre,  als  real,  völlig  gleichgültig 
sein  würde,  und  weder  gut,  noch  böse,  das  fällt  ihnen  nicht  ein.  Daß 
sie,  um  zur  Sittenlehre  den  Grund  zu  legen,  von  allen  Gedanken  an 
Realität  völlig  loslassen  müssen,  ist  ihnen  unbegreiflich.  Was  beginnen 
sie  demnach.^  Sie  setzen  sich  nach  ihrem  Bedürfnis  sogleich,  ohne  alle 
Frage  nach  den  Gründen  der  Erkenntnis  (die  sie  sogar  wissentlich  ver- 
schmähen und  sich  dessen  rühmen!),  das  ursprünglich  Reale,  die  ab- 
solute Substanz,  gerade  wie  Spinoza.  Und  jetzt,  nachdem  sie  dieselbe 
gesetzt  haben,  darf  niemand  mehr  daran  zweifeln.  Alsdann  lassen  sie 
das  Reale  erscheinen,  sich  darstellen,  auseinander  gehen,  in  der  Form 
vieler  Vernunftwesen.  Jedes  derselben  hat  nun  sittliche  Anlage,  sofern 
es  teil  hat  an  dem  Einen.  Wenn  aber  Spinoza  und  Schelling  ihnen 
sagen,  daß  sie  es  ebenso  mit  der  Natur  machen  müssen,  dann  glauben 
sie  nur  nötig  zu  haben,  ihr  geneigtes  Gehör  zu  verweigern.  Während 
der  langen  Polemik  gegen  den  letzteren  haben  sie  sich  jedoch  dergestalt 
an  seinen  Gedankenkreis  gewöhnt,  daß  von  Untersuchungen  anderer  Art 
nichts  mehr  in  ihnen  ist,  noch  zu  ihnen  gelangt. 

Zweifelt  jemand  noch  an  dem  Spinozismus  des  Verfs.  (nämlich  an 
den  halben  und  zerbrochenen,  welcher  meint,  die  Natur  beliebig  weg- 
lassen zu  können;  denn  freilich  den  ganzen  und  konsequenten  können 
wir  Hrn.  S.  nicht  beilegen):  so  vernehme  er  folgendes:  „die  Vernunft  ist 
selbst  das  Göttliche,  nur  abgeteilt  in  unendliche  und  endliche,  wo  denn  die 
endliche  Vernunft  eben  das  Göttliche  im  Menschen  heißt.  Wer  die 
Sach-Einheit  zwischen  Geist  und  Geist  nicht  annimmt,  der  sehe  wohl  zu. 
ob  er  nicht  mit  dem,  welcher  in  dem  Menschen  nichts  weiter  sieht,  als 
ein  gesteigertes  Tier,  auf  einer  Bank  sitzen  müsse  !'^  (Wüßte  Hr.  S.  nur 
erst,  was  ein  Tier  ist!)  „Und  wenn  ein  neuer  dogmatisierender  Mystizismus 
behauptet,  der  Mensch  habe  kein  Göttliches  in  sich,  sondern  nur  die 
Empfänglichkeit  dafür:  so  fragen  wir:  ist  dieses  Vermögen  ein  logisches 
oder  gar  ein  physisches?"     (Was  soll  denn  die  Frage  helfen?    Ein  wirk- 


8  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


liches  ist  es  ja  doch  in  jedem  Falle,  und  an  der  Wirklichkeit  klebt  Hr.  S. 
nun  einmal;  ein  reines  Ideal  kann  er  nicht  bilden.)  „Die  Vernunft  ist 
demnach  das  Göttliche  selbst,  und  als  menschliche  Vernunft  zugleich  das 
Vermögen  der  Ankündigung  des  Götdichen."  Wobei  nun  in  dem  eben 
gebrauchten  Als  das  Spinoztsiische  quatenus  deutlich  ausgesprochen  ist; 
dieses  quatenus  aber  ist  die  Seele  des  ganzen  Spinozismus,  wie  wir  ander- 
wärts zu  zeigen  uns  vorbehalten.  Damit  es  aber  auch  recht  sichtbar 
werde,  daß  uns  gar  nicht  in  den  Sinn  kommt,  Hrn.  S.  des  konsequenten 
Spinozismus  zu  beschuldigen,  wollen  wir  nicht  unterlassen,  anzuzeigen,  daß 
der  Verf.  auch  die  Freiheit  behauptet,  welche  Spinoza  leugnet,  und 
welche  nirgend  anderswo,  als  in  der  Kantischen  Lehre,  wo  das  Sitten- 
gesetz von  aller  Realität  unabhängig  auftritt  und  die  Gegenstände  der 
Erfahrung,  den  Menschen  selbst  nicht  ausgenommen,  in  Erscheinungen 
verwandelt  sind,  ihren  rechten  Platz  hat,  indem  der  Glaube  sich  vom 
Wissen  losreißt.  Solche  Genauigkeit  muß  man  bei  Hrn.  S.  nicht  suchen. 
Ihm  ist  nach  alter  nachlässiger  Weise  die  Freiheit  erstlich  ein  Vermögen 
des  Guten  und  zweitens  behaftet  mit  der  Möglichkeit  des  Bösen ;  wie  nun 
diese  beiden  Dinge  es  anfangen  sollen,  nebeneinander  zu  bestehen,  das 
kümmert  ihn  nicht.  Bei  ihm  kommt  in  dieser  Hinsicht  ,,das  Wissen  zum 
Glauben,  wie  der  Begriff  zum  Gefühle".  Was  er  weiter  lehrt  vom  Ver- 
hältnis der  sittlichen  Anlage  zur  verständigen  und  ästhetischen  überhaupt 
(wobei  er  gelegentlich,  wie  7Jom  Hörensagen,  eines  neuereji  erwählt,  der  ,,tn 
Versuchung  gekommen  sei,'''  die  Ethik  auf  den  Boden  der  Ästhetik  zu  ver- 
pflanzen), ferner  über  den  Zusammenhang  der  moralischen  Anlage  mit 
der  Würde  der  Menschheit,  über  den  Abfall  und  Verfall  und  über  die 
Unschuld,  das  übergehen  wir,  um  ihn  über  das  moralische  Gesetz,  im 
zweiten  Abschnitte,  zu  hören.  Da  finden  wir  aber  statt  des  Gesetzes 
etwas,  welches  wie  Geschichte  aussieht.  „Es  gibt,  wie  einen  physischen, 
so  einen  geistigen  Vv'^inter.  Darin  befinden  sich  die  ganz  Unmündigen. 
Wilden  und  Verrückten.  Diesen  drei  Menschenklassen  wird  niemand,  der 
nicht  mit  den  Materialisten  auf  einer  Bank  sitzen  ivill,  die  Anlage  zur 
Sittlichkeit  absprechen.  Aber  ganz  unentwickelt  ist  in  denselben  diese 
Anlage,  weil  die  entsprechende  Einwirkung,  die  Anregung,  ohne  die  der 
göttliche  Keim  nicht  treiben  kann,  noch  nicht  oder  niemals,  oder  nicht 
mehr  eintritt.  Wie  aber  das  erziehende  Wort,  Beispiel  usw.  durch  Ohr 
und  Auge  zu  dem  geistigen  Keime  gelange,  dies  gehört  wohl  zur  Nacht- 
seite der  Wissenschaft  und  mag  füglich  das  erste  Geheimnis  der  Moral - 
Philosophie  genannt  werden." 

Sollte  Hr.  S.,  oder  wer  irgend  ihm  ähnlich  denkt,  zur  ^uten  Stunde 
dahin  gelangen,  für  ein  tieferes  Nachdenken,  als  sich  in  dem  vorliegenden 
Buche  off"enbart,  aufgelegt  zu  sein,  so  möge  er  sich  zuerst  fragen,  ob  es 
denn  erwüfischt  und  wohltätig,  ob  es  dem  moralischen  Interesse  angemessen 
sei,  dieses  Geheimnis  so  geduldig  auf  sich  beruhen  zu  lassen.  Die  Bildung 
der  menschlichen  Gesellschaft  hängt  glücklicherweise  sehr  wenig  davon 
ab,  in  welcher  Formel  die  eine  oder  andere  Schule  das  Moralgesetz  abfaßt, 
ob  sie  es  für  Eins  oder  Vieles  erklärt,  und  was  sie  vom  göttlichen  Keime 
mehr  oder  minder  erbaulich  sagen  mag.  Die  Fonnebi  werden  doch  am 
Ende    an    dem  sittlichen    Urteile,    wie  es   unter  gebildeten  Menschen  sich  un- 


Dr.  J.  Salat:  Handbuch  der  Moralwissenscbaft. 


v.'illküriich  erzeugt  und  umläuft,  als  an  ihrem  Maßstabe  geprüft ,  und  ver- 
mögen höchstens  dieses  Urteil  aufmerksamer  auj  gewisse  Punkte  zu  machen^ 
nicht  aber  es  zu  verändern.  Auch  ist  unleugbar  das  allgemeine  sittliche 
Urteil  flicht  einfach  und  nicht  stets  von  einerlei  Art ;  es  geht  nicht  aus  von  einem 
Prinzip,  und  man  wird  sich  eiuig  vergebliche  Mühe  geben,  ihm  nach  allen 
Schul- Vorurteilen  ein  solches  unterzuschieben.  Die  Rede  vom  göttlichen 
Keime  fängt  aber  gerade  da  erst  an,  wichtig  zu  werden,  wo  der  Verf. 
sie  abbricht,  weil  er  das.,  luas  er  zu  untenuchen  keine  Mittel  hat.,  für  ein 
Geheimnis  der  Wissenschaft  hält.  Auf  halb  oder  ganz  Spinozistischeyn  Wege 
wird  auch  nimmermehr  jemand  dahin  gelangen,  nur  eine  Spur  derjenigen 
Untersuchung  zu  finden,  welche  der  allerdings  tief  verborgenen  Möglich- 
keit der  sittlichen  Veredlung  gebührt.  Sondern  es  wird  für  den  Erfolg 
stets  gleichgültig  bleiben,  ob  einer  nach  echtem  Spinozisnms  alles  Sittliche 
samt  dem  Unsittlichen  als  Bestandteil  der  notwendigen  Bewegung  aller 
Dinge  in  dem  Einen,  oder  ob  ein  anderer  das  Gute  und  Böse  wie  eine 
Reihe  von  Wundern  der  Freiheit,  oder  endlich  ob  jemand  mystischer 
Weise  dasselbe  als  göttliches  Wunder  betrachtet.  Denn  alle  diese  Lehren 
kommen  darauf  hinaus ,  daß  der  Mensch  an  der  Beförderring  des  Guten  i?i 
der  Welt  höchstens  seine  Kräfte  üben.,  niemals  aber  damit  etwas  ausrichten 
könne.  Daher  wirken  alle  diese  Meinungen,  sobald  sie  ernstlich  durch- 
dacht werden,  nur  abspaniiend  auf  das  sittliche  Bemühen,  und  es  ist  bloße 
Inkonsequenz,  wenn  jemand  sich  dadurch  angetrieben  glaubt,  irgend  etwas 
von  demjenigen  zu  unternehmen,  was  er  nach  Spinoza  nehmen  muß,  wie 
es  ist,  und  nach  den  anderen,  wenn  auch  im  guten  Glauben,  doch  er- 
warten muß,  wie  es  kommt.  Soll  für  das  Sittliche  absichtlich  und  gar 
kunstmäßig  gewirkt  werden,  so  ist  die  Voraussetzung  unvermeidlich  diese, 
daß  man  in  jenes  Geheitnnis  mehr  oder  weniger  eindringen  könne;  denn  so- 
lange man  davon  nichts  weiß,  könnte  man  nur  blindlings  hatideln.  — 
Diese  unsere  Bemerkung  würde  hier  ganz  an  der  unrechten  Stelle  stehen, 
wenn  der  Verf.  wirklich,  wie  die  Überschrift  besagt,  vom  Gesetze  spräche, 
und  auf  die  Frage  Antwort  gäbe,  wie  das  Gesetz  denn  lauten  solle.  Statt 
dessen  redet  er  vom  Treiben  des  göttlichen  Keims,  so  wie  eine  geistige 
Sonne  einwirkt;  damit  wir  recht  schauen,  wie  das  göttliche  7jieles  gewor- 
den sei,  hier  im  Keime,  dort  in  dem  belebenden  Sonnenstrahl,  dessen 
freilich  ein  göttlicher  Keim  nicht  bedürfen  sollte.  Indem  nun  der  Trieb 
zum  Antriebe  wird  (solche  grammatische  Verwechslung  müssen  wir  uns 
schon  gefallen  lassen):  so  ist  mit  ihm  eine  Kunde  von  dem  Einen,  dem 
der  Mensch  huldigen  soll,  verbunden,  eine  Kunde,  die  füglich  An- 
kündigung heißt.  Und  eben  als  solche  tritt  jetzt  die  Vernunft  ein,  nach- 
dem sie  zuerst  nur  als  Vermögen  derselben  erschienen  ist.  (Erzählt  der 
Verf.  ein  Feenmärchen?  Oder  wo  ist  hier  der  Zusammenhang?)  „Wo- 
durch diese  Entwicklung  der  moralischen  Anlage  bewirkt  werde,  haben 
wir  gesehen."  (Wir  haben  nichts  gesehen.)  Wie  aber  nun  dieselbe  inner- 
lich vorgehe,  ist  das  zweite  Geheimnis  der  Ethik,  und  mag  bei  dem  Blick 
auf  den  Unterschied  zwischen  Wissenschaft  und  Allwissenschaft  nicht 
weiter  stören.  (Trefflicher  Trost  für  alle  Unwissenheit  und  Trägheit.) 
Die  Ankündigung  des  Göttlichen  heißt  Gewissen,  und  es  mag  gesagt 
werden:     Vernunft    ist    das    unentwickelte    Gewissen     und    Geivissen    die   eni- 


jO  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 

wickelte  Vernunft.  Nennt  man  übrigens  das  Gewissen  auch  Bewußtsein, 
welches  sonst  eine  Hervorbringung  des  Subjekts  ist:  so  begegnet  uns  frei- 
Hch  ein  Widerspruch,  da  jenes  nur  als  Gabe  erscheint.  Und  wer  begreift 
ein  Bewußtsein,  das,  als  gegebene  Kunde,  in  dem  Menschen,  aber  nicht 
aus  ihm  ist,  also  keifie  Hervorbringung  desselben,  und  doch  hervorgehend 
aus  der  sittlichen  Natur  der  objektiven  Menschheit?"  —  Der  Verf.  also 
gesteht,  sich  selbst  nicht  zu  begreifen.  Er  beschuldigt  sich  eines  Wider- 
spruchs; dieser  macht  ihn  aber  keineswegs  irre,  führt  ihn  nicht  rückwärts 
auf  seiner  Bahn,  sondern  —  je  unbegreiflicher,  desto  schöner!  Demnach 
können  wir  die  Mühe  sparen,  ihn  zu  widerlegen.  Er  gehört  zu  denjenigen, 
deren  Überzeugung  tiicht  vom  Denken ,  nicht  vom  Untersuchen ,  sondern  von 
ihrem  Wollen  und  Gutdütiken  abhängt  \  je  tiefer  die  Philosophie  sinkt,  desto 
zahlreicher  wird  diese  Klasse. 

An  die  Kunde  von  dem  Einen,  welchem  die  Huldigung  gebührt, 
schließt  sich  natürlich  (!)  die  Kraft  an,  wodurch  letzte  oder  deren  Gegen- 
teil eintritt.  Wie  die  Vernunft  zum  Gewissen,  so  entwickelt  sich  die 
Freiheit  zu  einer  Kraft.  Der  Wille  ist  als  solcher  frei.  Freier  Wille  ist 
ein  Pleonasmus.  Daß  es  an  diesem  Orte  an  Polemik  nach  verschiedenen 
Seiten  hin  nicht  fehlt,  läßt  sich  erwarten.  Indem  nnn  die  Vernunft  zum 
Gewissen  sich  entwickelt ,  ivird  ihm  das  Eine,  dem  es  huldigen  soll^  gesetzt. 
Daher  das  Moralgesetz.  Aber  welches  Reale  ist  nun  dem  Menschen  zur 
Anstrebung  vorgesetzt?  Nicht  bloß  ein  Beschränktes,  sondern  das  Göttliche 
mit  Unbeschränktheit,  heiße  es  Ideal  oder  Gott.  Daher  das  Wahre  in 
der  Sprache  des  Mystikers:  Gott  ist  mein  Moralgesetz.  Auf  die  Frage 
aber:  wer  gibt  das  Gesetz?  wird  geantwortet:  man  müsse  zwei  Ansichten, 
die  idealische  und  die  ethische,  unterscheiden  und  verbinden;  nach  der 
Idee  erscheine  Gott  als  Gesetzgeber;  und  wie  die  Natur  in  jeder  Ge- 
staltung Heterono?nie,  so  sei  die  Menschheit  im  tiefsten  Sinne  des  Wortes 
Autonomie.  Ein  solches  Amalgama  aus  den  am  weitesten  entgegengesetzten 
Vorstellungsarten  bereitet  sich  der  Verf.,  weil  es  ihm  so  beliebt.^  und  weil 
an  kein  Wort,  das  einen  guten  Klang  unter  den  Menschen  hat,  verlieren 
will.  Zu  zeigen,  daß  Freiheit  eben  selbst  eine  Idee,  und  zwar  die  erste 
aller  ethischen  Ideen  ist,  das  wäre  hier  zu  weitläufig. 

In  das  eben  erwähnte  Amalgama  mischt  nun  der  Verf.  beim  An- 
fange des  dritten  Abschnittes,  der  von  der  moralischen  Triebfeder  handelt, 
noch  den  Schiller  sehen  Formtrieb  und  Sachtrieb;  den  letzten  aber  teilt  er 
wieder  in  den  sittlichen  und  sinnlichen.  Gesetzt,  diese  Teilungen  hätten 
in  der  Tat  einen  Gegenstand,  der  aus  solchen  Teilen  bestände,  so  wäre 
das  alles  Psychologie  und  nicht  Moral ;  denn  es  ist  keine  Wertbestimmung, 
sondern  diese  eben,  wonach  uns  einzig  verlangt,  wenn  man  uns  eine 
Sittenlehre  ankündigt,  und  ohne  welche  wir  das  Wort:  sittlicher  Trieb,  gar- 
nicht  einmal  verstehen  können ,  hat  schon  längst  allem  Vorhergehenden 
versteckterweise,  aber  freilich  ebenso  verworren,  als  verhüllt,  zum  Grunde 
gelegen.  Da  uns  nun  nach  der  Psychologie  des  Verf  nicht  gelüstet,  wir 
ihm  vielmehr  noch  weit  eher  ein  treffendes,  wenn  auch  nicht  wissen- 
schaftlich bestimmtes,  sittliches  Urteil  zutrauen:  so  überschlagen  wir  den 
dritten  Abschnitt,  und  kommen  zum  vierten,  der  uns  nun  endlich  mit 
demjenigen  beschäftigt,  was  wir  im  zweiten,  unter  der  Überschrift:  Moral- 


Dr.  J.   Salat:   Handbuch  der  Moralwissenschaft.  i  i 


gesetz,  nach  allgemeinem  Sprachgebrauche  suchten.  Der  vierte  Abschnitt 
fängt  wenigstens  richtig  an.  „Ist  gleich  der  Satz  als  solcher  eine  Her- 
vorbringuns;  des  Verstandes:  so  kann  doch  der  moralische  Satz  dadurch 
nimmermehr  zu  stände  kommen.''  Daß  wir  nun  weiter  von  branclmiden 
und  gebrauchten  Kräften  lesen  (der  Wille  nämlich  soll  die  brauchende, 
und  der  Verstand  die  gebrauchte  Kraft  sein),  scheint  zwar  bloß  ge- 
schrieben, um  die  alte  Psychologie  lächerlich  zu  machen;  hier  aber  tadeln 
wir  es  bloß  darum,  weil  es  immer  noch  uns  in  den  Weg  tritt,  indem  wir 
endlich  einmal  hofften,  zur  Sache,  das  heißt  hier,  zur  ursprünglichen 
Wertbestimmung  zu  kommen.  Aber  der  Verf.  hat  noch  eine  andere 
Kunst,  uns  zur  Ungeduld  zu  reizen.  Diese  Kunst  besteht  in  einer  un- 
glücklichen Wortklauberei^  wovon  die  einzige  Probe  genügen  mag,  daß  er 
das  Gesetz  der  Sittlichkeit  nicht  einen  Satz  genannt  wissen  will.  Der 
Moralsatz  soll  nämlich  als  Hervorbringung  des  Verstandes  ein  Zeitliches, 
das  Gesetz  ein  Ewiges  sein.  So  verbringt  der  Verf.  die  Zeit,  indem  er 
ganz  am  unrechten  Orte  gegen  sie  disputiert,  anstatt  daß  er  sie  hätte 
kurz  und  gut  beiseite  setzen,  und  völlig  ingnorieren  sollen.  Demi  die 
ursprünglichen  Wertbestimmungen  sagen  7iichts  von  der  Zeit,  in  -welcher  sie 
entstehen,  so  wenig,  wie  die  geometrischen  Sätze.,  dereti  Wahrheit  und  Gültig- 
keit schlechthin  zeitlos  ist,  obgleich  sie  auch  Hervorbringungen  des  Ver- 
standes sind.  Wenn  jemand  in  einer  Geometrie  ein  Langes  und  Breites 
reden  wollte  von  der  Würde  derselben,  daß  sie  ein  Ewiges  ist.  und  daß 
ihr  der  Charakter  des  Subjektiven  nicht  anklebt,  so  würde  man  ihm  sagen, 
alles  das  sei  ein  leeres  Gerede,  und  gehöre  nicht  in  die  Geometrie, 
sondern  in  beliebige  Betrachtungen  über  dieselbe.  Wie  wenig  der  Verf. 
im  Stande  ist,  die  leere  Stelle,  die  er  bisher  offen  gelassen,  richtig  aus- 
zufüllen, das  kommt  nun  ganz  offenbar  im  §  25  an  den  Tag.  Da  heißt 
es:  Wie  auch  das  Wort  oder  die  Formel  laute,  Jede  ist  gültig,  welche 
nicht  das  Sinnliche  als  den  Einen  oder  letzten  Zweck  ausspricht,  oder 
aufstellt,  z.  B.  handle  vernünftig,  huldige  dem  Göttlichen  usw.  So  wissen 
wir  denn  nun.  daß  er  das  Positive  oder  Affirmative  der  Sittenlehre  in 
bes'.immten,  allgemeinen  Ausdrücken  aufzustellen  gar  nicht  unternimmt; 
denn  die  Worte  vernÜ7t/tig  und  göttlich  enthalten  nichts  als  die  Frage 
7vas  denn  vernünftig  oder  vollends  göttlich   zu  heißen  verdiene. 

Es  hat  von  jeher  viele  würdige,  moralisch  gesinnte  Männer  gegeben, 
welchen  das  spekulative  Talent  fehlte,  ihrer  Gesinnung  das  rechte  Wort 
dergestalt  zu  geben,  daß  die  Moral,  als  Wissenschaft,  dadurch  hätte  be- 
gründet, und  im  wahren  systematischen  Zusammenhange  aufgestellt  werden 
können.  Wir  betrachten  den  Verf.  als  einen  dieser  Männer;  und  obgleich 
er  uns  im  ersten  Teile  seines  Werkes  sehr  schlecht  befriedigt  hat:  so 
versagen  wir  ihm  dennoch  nicht  unsere  ^Aufmerksamkeit  für  den  zioeiten, 
worin  er  das  Moralische  in  seiner  Erscheinung  betrachtet.  Doch  über- 
schlagen wir  auch  hier  noch  den  ersten  Abschnitt,  welcher  von  der 
moralischen  Wirksamkeit,  und  hiermit  wiederum  in  leeren  Worten  von  der 
Natur  des  Menschen,  vom  Verstände  als  dem  Werkzeuge  der  Veriiunft,  von 
der  Gestaltung  des  Guten  zum  Schönen  usw.  handelt.  Der  ziueite  Abschnitt 
soll  die  Pflichtenlehre  darstellen.  Ohne  uns  hier  auf  die  gewöhnliche 
Einteilung  in  Pflichten  des  Menschen  gegen  uns  selbst  und  andere,    des- 


j2  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


gleichen  der  ersten  in  Pflichten  der  Selbstachtung  und  Selbsterhaltung, 
weiter  einzulassen,  bemerken  wir  in  der  Ausführung  des  Verfs.  eine  Polemik, 
welche  bestimmte  Veranlassungen  gehabt  zu  haben  scheint.  Er  setzt 
zuerst  seine  richtige  Lehre  von  der  Selbstachtung  entgegen  der  Mönchs- 
lehre, welche  auf  Selbstverachtung,  und  der  Mystik,  welche  auf  Selbst- 
vernichtung und  auf  Selbstausleerung  in  betreff  des  Willens  dringt.  Er 
spricht  ferner  gegen  eine  neue  sogenannte  Moral,  die  er  für  ein  System 
der  Liederlichkeit  und  der  Heuchelei  erklärt.  Da  ist  die  Rede  von  einem 
„Gleichgewichte  der  Vernunft  und  Sinnlichkeit",  so  daß  keine  die  andere 
„tyrannisieren"  solle.  Und  der  Verf.  fragt  mit  Recht:  Welch  eine  Ver- 
nunft, die  eine  Tyrannin  werden  könnte  oder  möchte?  Der  Sinn  der 
neuen  Lehre  wird  folgendermaßen  weiter  erklärt:  Die  Fülle  der  Natur 
solle  den  Verstand  nicht  überwältigen,  so  daß  ein  Übermaß  aus 
Mangel  an  Besonnenheit  einträte;  aber  auch  hinwiederum  solle  der  Ver- 
stand nicht  zu  bedenklich  sein,  und  vor  lauter  Besorgnis,  einen  Genuß 
zu  verlieren,  den  Zweck  und  die  Rechte  der  Natur  selbst  verkümmern. 
,,Denn,  heißt  es  in  einer  Universalgeschichte  nach  demselben  Systeme, 
die  Babylonische  Fülle  ist  das  Lehen  der  Menschheit,  auf  seiner  realen  Seite, 
nämlich  in  der  höchste?!  Potenz.''-  Was  ist  das?  Der  Verf.  meint,  es  sei 
weiter  nichts,  als  der  alte  französische  Sensualismus.  Wir  meinen,  es  sei 
erstlich  dieses,  und  zweitens  obendrein  noch  ein  literarischer  Ehrgeiz,  der 
sein  Ziel  verfehlt.  Denn  so  tief  ist  das  Zeitalter  in  keiner  Hinsicht  ge- 
sunken, daß  es  den  Baum,  worauf  solche  Früchte  wachsen,  nicht  nach 
seinen  Früchten  richtig  beurteilen  sollte.  War  der  Verf.,  als  er  sein  Buch 
schrieb,  befangen  zwischen  solchen  Eindrücken,  wie  dergleichen  Sensualis- 
mus auf  der  einen  und  die  Mönchslehre  von  der  Selbstverachtung,  die 
mystische  Forderung  von  der  Selbstvernichtung  auf  der  anderen  Seite 
machen  mußten:  so  wundern  wir  uns  nicht  mehr  über  den  Mangel  an 
Spekulation  im  Buche;  wir  sind  vielmehr  sehr  geneigt,  ihn  über  alles, 
was  zuvor  getadelt  worden,  mit  dieser  seiner  Stellung  zu  entschuldigen. 
Denn  der  Kampf  gegen  solche  Iniehren  ist  kaum  verträglich  mit  dem  reinen 
und  ruhigen  Denken,  tuelches  die  Begrimdung  einer  Wissenschaft  erfordert.  — 
Der  Verf.  spricht  sogar  von  einer  solchen  Moralphilosophie  (von  der  Baby- 
lonischen Fülle?  —  oder  verstehen  wir  ihn  unrecht?),  welche  auf  irgend 
einer  Hochschule  gelehrt,  und  wobei  zugleich,  „um  Hör-  und  Kauflustige 
herbeizuführen,  verschiedene  Lockspeisen,  z.  B.  vermittelst  der  akademischen 
Zeugnisse,  ausgehängt  würden".  Hier  muß  Rez.  schweigen  und  staunen. 
Er  kann  nur  auf  S.  272  des  angezeigten  Buches  verweisen,  wo  jedoch 
vorsichtig  gefragt  wird:  Gesetzt,  es  geschähe  dergleichen,  welche  Grund- 
sätze müßten  wohl  da,  wenn  oder  soweit  die  neue  Lehre  Eingang  fände, 
verbreitet  werden,  auf  Kosten  der  Moralität,  der  Menschheit  des  Vater- 
landes? —  Eine  solche  Frage  pflegt  aber  nicht  als  ein  bloßer  Kasus  hin- 
gestellt zu  werden;  und  so  wenig  Rez.  sich  um  deren  mögliche  Ver- 
anlassung zu  bekümmern  hat,  so  scheint  es  ihm  doch,  daß  es  wohl  andere 
Personen  geben  könnte,  die  sich  darum  vermöge  der  Pflichten  ihrer  Ämter 
zu  bekümmern  haben  würden.  Ferner  spricht  der  Verf.  von  einem  Schüler 
Epikurs,  welcher  den  Satz  aufstellen  möge:  Nicht  vermindern,  sondern 
vermehren  solle  man  die  Bedürfnisse,  und  nur  auf  Vermehrung  des  Stoffes 


Dr.  J.  Salat:  Handbuch  der  Moralwissenschaft.  i^ 


zur  Befriedigung  derselben  zu  gleicher  Zeit  wohl  bedacht  sein.  Und  mit 
dem  vollsten  Rechte  fügt  er  tadelnd  hinzu:  „Nie  entschuldigt  ein  physischer 
Vorteil,  der  arideren  zugeht,  die  unsittliche  Strebung.  Nur  ivo  diese  aus- 
geschlossen ist,  mag  der  Lebensgenuß  stattfinden.'-  Ebenso  stimmen  wir 
seinen  Bemerkungen  über  das  Turnwesen  bei.  „Wie  kann  in  dem  Be- 
dingten, das  nur  physisch  ist,  die  Würde  der  Menschheit  sich  abspiegeln? 
Nicht  was  man  tut,  sondern  wie  man  es  tut,  entscheidet  im  Reiche  der 
Menschheit.  Die  sittliche  Richtung  des  Willens  muß,  wenn  das  Unter- 
nehmen der  zweckmäßigen  Körperentwicklung  nicht  mißlingen  soll,  stets 
vorhergehen.  Es  ist  dahin  zu  sehen,  daß  nicht  Glanzsucht  eintrete,  nicht 
mit  dem  Triebe  zur  Tapferkeit  ein  anderer  sich  bis  zum  Mißverhältnis 
entwickele,  und  daß  auch  das  Eigentümliche  der  Kriegskunst,  der  sich 
nicht  alle  widmen  können,  nicht  vergessen  werde." 

Wir    könnten    noch    manche  Äußerungen    über    einzelnes,    worin    wir 
den  wohldenkenden,  fürs  Gute  mutig  und  eifrig  strebenden  Mann  mit  auf- 
richtiger Achtung  erkennen,  hervorheben;  allein  der  ausdrücklich  angegebene 
Plan  des  Buches  macht  weit  höhere  Ansprüche:   von  einer  Anleitung  zum 
sittlichen  Leben  soll,  laut  den  Worten  der  Vorrede,  nicht  die  Frage  sein, 
sondern    die    Wissenschaft    als    solche    wird    verheißen!    Diese   Ansprüche 
zwingen   uns,   zu  einer  strengeren  Beurteilung  zurückzukehren.    Wir  müssen 
es    demnach  sagen,    daß  von  dem.,  was  der    Wissenschaß   not  tut,    auch   hier 
keine  Spur  zu  finden   ist,    ebensowenig  in   den  späteren  Abschnitten,   welche 
ins    einzelne    gehen,    als    oben    bei    der    Grundlegung    zum   Ganzen.      Die 
alten  Fehler,  welche  Schleiermacher  teils  stehen  ließ,    teils  beging,  sind 
zwar   hier   und    da    durch    ein   richtiges  Gefühl  gemildert,    aber,   soviel  wir 
bemerkt   haben,    nirgends    in    ihrem  wahren  Grunde    gefaßt    und    gehoben. 
Die  Benutzung  Schleieriiachers    zeigt    sich  ziemlich  deutlich  darin,    daß 
zuerst   (wiewohl  nur  gelegentlich  im  ersten  Teile)   von  Gütern,    dann  aber 
im    zweiten    Teile    ausführlich    erst   von  Pflichten,    darauf  von   der  Tugend 
gehandelt  wird;  auch  ist  die  Stellung  der  Pflichten  in  dieser  Hinsicht  be- 
zeichnend.    Aber   Hr.  S.    hätte    bedenken    sollen,    daß   Schleiermacher 
sich   vorzugsweise   von  Spinoza   hat  leiten   lassen,   und  daß  dessen  Werk, 
die    Kritik    der   Sittenlehre,   wiewohl    vielleicht   die   beste  Zierde  der  neu- 
spinozistischen  Schule,  dennoch  wesentlich   dieser  Schule  angehört,  welcher 
Hr.  S.  so  gänzlich    abhold    ist.     Daher   lag    es  ihm  sehr  nahe,    alle  seine 
Überlegung  zu  sammeln,  bevor  er  auch  nur  das  mindeste  daraus  aufnahm; 
ja  er  war  aufgefordert,  sich  kritisch  dagegen  zu  versuchen.    Wie  Schleier- 
macher,  polemisierend   gegen  Kant,   der  Ehrliebe   bei   den    Pflichten    des 
Menschen  gegen  sich  selbst  erwähnt,  mußte  so  auch  Hr.  S.  die  Ehre  auf  die 
Menschheit  in  uns  selbst  beziehen?   Bemerkte  er  nicht,    daß   Ehrensachen 
vor  Gericht  kommen,    weil    es  Rechtssachen    sind?     Der  ganze   Begriff  der 
Ehre  würde  gar  nicht  vorhanden  sein,  wenn  nicht  aus  dem  Umstände,  daß 
jeder  sein  Bild  in  den  Zuschauern  erblickt,  die  ihn  umgeben,  und  ihm  wie 
Spiegel  gegenüber  stehen,  auch  ganz  natürlich  gegenseitige  Rechtsansprüche 
entstünden.    Wenn  ferner  Kant,  und  diesem  kritisch  nachgehend  Schleier- 
macher,   der     Wahrhaftigkeit   unter    den    Pflichten    gegen    uns    selbst    den 
Platz  anweist,   ist   es  nun   genug,   und  erschöpft  es  den  Gegenstand,   daß 
Hr.  S.  denselben  unter  die  offenbar  verworrene  Überschrift  solcher  Pflichten, 


I  ,  J,  F.  Herbarts  Rezensionen. 


worin  Selbstliebe  und  Nächstenliebe  sich  begegnen,  hinstellt?  Die  Liebe 
ist  gewiß  das  letzte,  woran  bei  der  Lüge  gedacht  werden  kann;  und  Hr. 
S.  wird  zuverlässig  seiji  Recht  verletzt  fühlen,  wenn  ihn  jemand  belügt, 
ebensowohl,  als  wenn  man  ihn  verleumdet.  Ferner,  weil  Kant  die  Billig- 
keit^ deren  Begriff  von  dem  des  Rechts  ursprünglich  vollkommen  ver- 
schieden ist  (denn  sie  ist  das  Prinzip  des  Lohnes  und  der  Strafe),  mit 
einem  nicht  hinreichend  dokumentierten  Rechte  verwechselte  (welches  ein 
ganz  anderer  Begriff  ist),  mußte  darum  Hr.  S.  die  Billigkeit  sogar  mit 
der  Bescheidenheit  in  Verbindung  setzen,  mit  der  sie  nicht  die  entfernteste 
Ähnlichkeit  hat,  außer  durch  völlige  Mißdeutung  des  Wortes?  Ferner,  weil 
Schleiermacher  sich  durch  die  offenbarsten  Sophismen  die  Idee  des  Wohl- 
wollens verdorben  hat,  —  wiederum,  nachdem  Kant,  wegen  der  fehler- 
haften Form  seiner  Moral,  die  rechte  Stelle  dafür  nicht  wissenschaftlich 
angeben  konnte,  —  muß  darum  Hr.  S.  sogar  an  der  Sprache  meistern, 
welche  ganz  genau  richtig  den  Ausdruck  Güte  gebraucht,  um  das  Wohl- 
wollen in  seiner  Äußerung  zu  bezeichnen?  Die  Sprache  wird  sich  ihm 
nicht  unterwerfen;  er  aber  hätte  in  diesem  Punkte  von  ihr  lernen,  und 
begreifen  sollen,  daß  gerade  dieser,  in  das  tiefste  Herz  der  Moral  ein- 
greifende Fehler  denjenigen  eine  willkommene  Blöße  darbietet,  die  nur 
darum  die  Liebe  über  alles  preisen,  damit  sie  die  „kalte  Moral"  beschämen 
können.  Und  was  soll  nun  endlich  (da  wir  uns  weiterer  Proben  über- 
heben müssen)  aus  der  Rechtsphilosophie  werden?  Hier  ist  eine  merkwürdige 
Kette  T)on  Fehlern.  Kant  dachte  sich  den  Staat,  das  Ganze  der  von 
Einem  Rechtssysteme  umfaßten  Personen,  als  unabhängig  von  ihrer  Gut- 
artigkeit oder  Bösartigkeit.  Fichte  führte  in  diesem  Sinne  seinen  Staat 
als  Zwangs- Anstalt  aus.  Schelling  geht  weiter;  ihm  ist  (im  Sy.stem  des 
transzendentalen  Idealismus)  die  Rechtslehre  gar  keine  praktische  Wissenschaft. 
,,indem  sie  nur  den  Natur-Mechanismus  deduziert,  unter  ivelchem  freie  Wesen 
als  solche  in.  Wechselwirkung  gedacht  tverden  können".  Schleiermacher 
verläßt  sich  auf  diese  treffliche  Kunde  vom  Recht;  ihm  sind  die  Rechts- 
pflichten, ethisch  angesehen,  gar  nichts  für  sich  Bestehendes ;  sie  haben  nur 
den  Wert  von  technischen  Regeln.  Auch  spricht  er,  den  Schellin gschen 
Ausdruck  wiederholend,  von  einem  mechanischen  Gebiete  des  bloßen  Rechts. 
So  stand  die  Sache  im  Jahre  1803.  Jetzt,  oder  im  Jahre  1824.  da  Hr. 
S.  schrieb,  sind  die  Worte  durch  die  Länge  der  Zeit  gemildert;  dennoch 
weiß  derselbe  folgendes  zu  bemerken: 

„Da  ohne  die  Grundlage  der  Sittlichkeit  überall  keine  dauernde  Rechtlich- 
keit ist :  so  setzet  der  Jurist  erste  wahrhaft  voraus,  indem  er  bloß  von  der 
letzten,  und  hiemit  von  der  Rechtspflicht  handelt."  Aber  die  Juristen  werden 
dem  Hrn.  S.  sagen,  daß  sie  gar  nicht,  oder  doch  nur  in  besonderen,  seltenen 
Fällen,  von  der  Rechtlichkeit,  als  Charakterzug,  sondern  stets  vom  Rechte 
handeln:  und  wir  müssen  hinzusetzen,  daß  niemand  den  Begriff  der  Recht- 
lichkeit verstehen  kann,  wenn  er  nicht  zuvor  weiß,  was  Recht  ist.  - — 
Ungern  betrachten  wir  nun  das  vor  uns  liegende  Buch  als  einen  neuen 
Beweis,  daß  die  Schule,  zu  welcher  Hr.  Salat  gerechnet  wird,  keine  Schule 
für  Spekulation  ist;  während  wir  übrigens  ihre  Verdienste  um  Erhaltung 
und  Belebung  moralischer  und  religiöser  Gesinnungen  sehr  bereitwillig  an- 
erkennen. 


Dr.  A.  L.  J.  Ohlert:  Die  Schule,  Elementarschule,  Bürgerschule  und  Gymnasium.         i  r 


Ohlert,   Dr.  A.  L.  J.,  Die  Schule;  Elementarschule,   Bürgerschule 

und  Gymnasium,  in  ihrer  höheren  Einheit  und  nothwendigen 

Trennung.   —   Königsberg,    1826. 

Gedruckt  in:  Jenaer  Literatur-Zeitung   1826,  Nr.  11.     SW.  XIII,  S.  499. 
Willmann,  Päd.  Schriften  II,  S.  227. 

Der  Verf.  beruft  sich  auf  Nachdenken  und  eigene  Erfahrung;  daß 
er  dazu  berechtigt  war,  erhellt  aus  der  Schrift  selbst;  er  darf  also 
Gehör  zu  finden  erwarten,  und  wir  können  uns  um  so  mehr  mit  einer 
kurzen  Anzeige  begnügen.  Zwar  gleich  die  erste  Behauptung  des  Buches, 
der  Schulunterricht  sei  jetzt  besser,  die  häusliche  Erziehung  aber  schlechter 
als  sonst,  möchte  uns  zu  einer  weiteren  Diskussion  fast  auffordern.  Der 
Verf.  ist  laut  der  Dedikation  an  Herrn  Diekmann  (Direktor  der  Dom- 
schule zu  Königsberg,  welchem  die  größte  Verehrung  bezeigt  wird)  offenbar 
noch  zu  jung,  als  daß  er  aus  langer  Erfahrung  reden,  und  entfernte  Zeiten 
vergleichen  könnte;  Rez.'  aber,  dessen  sehr  bestimmte  Erinnerung  über  den 
Anfang  der  französischen  Revolution  hinausgeht,  hat  das  manierierte  ver- 
künstelte Wesen  der  damaligen  Erziehung  in  höheren  Ständen,  und  die 
rohe  Sorglosigkeit  in  den  mittleren  und  unteren  noch  zu  lebhaft  im  Ge- 
dächtnis, um  nicht  zu  wissen,  welche  Wohltat  damals  Campe,  Salzmann  usw. 
dem  Zeitalter  erzeugten;  eine  Wohltat,  die  noch  fortdauert,  obgleich  von 
manchen  jetzt  schlecht  verdankt  wird.  Der  Verf.  aber  knüpft  an  seine 
Meinung  eine  Besorgnis,  welche  sehr  gegründet  ist;  diese  nämlich,  daß 
Eltern  jetzt  mit  Hilfe  pädagogischer  Bücher  und  Theorien  die  Jugend  be- 
obachten und  erziehen  wollen,  ohne  des  richtigen  Gebrauchs  der  all- 
gemeinen Sätze  mächtig  zu  sein.  Dennoch  können  die  Eltern  nur  gegen 
zu  großes  Selbstvertrauen  gewarnt  werden,  nicht  gegen  die  Bücher;  denn 
ohne  diese  würden  sie  es  noch  schlechter  machen,  als  jetzt.  —  Der  Verf. 
beträchtet  nun  das  sechsfache  Leben  des  Menschen  in  religiöser,  sittlicher, 
berufsmäßiger,  geselliger,  häuslicher  und  äußerlich  schicklicher  Hinsicht; 
dafür  soll  die  Erziehung  vorbereiten.  Aus  der  verlangten  berufsmäßigen 
Bildung  wird  die  Verschiedenheit  der  Schulen  abgeleitet.  So  kommt  denn 
allerdings  ganz  richtig  das  Gymnasium  als  Schule  des  gelehrten  Standes 
zum  Vorschein,  dessen  Beruf  die  Bekanntschaft  mit  der  Vergangenheit  er- 
fordert. Daher,  und  aus  keinem  anderen  Grunde,  die  Notwendigkeit  der 
alten  Sprachen,  die  aus  gleicher  Vorliebe  bis  auf  den  heutigen  Tag  so 
oft  ganz  unrichtig  abgeleitet,  und  mit  unhaltbaren,  untergeschobenen  Be- 
weisen ohne  irgend  eine  Notwendigkeit  verteidigt  wird,  da  jener  Grund 
für  sich  allein  vollkommen  hinreicht.  „Der  Gelehrte  (sagt  der  Verf.) 
empfängt  die  Überlieferungen  der  Väter  und  Urväter;  und  den  Anfängen 
der  Wissenschaft  nachspürend  und  die  Grundlage  des  jetzigen  Zustandes 
der  Dinge  aufsuchend,  verfolgt  er  die  Fäden,  die  sich  durch  alle  Ge- 
schlechter bis  zu  seiner  Zeit  hinziehen;  er  sieht  die  Fortschritte  und  Rück- 
schritte, die  Abweichungen  vom  geraden  Wege  ebensowohl  als  dessen 
richtige  Befolgungen.  So  erkennt  er  die  Bedingungen  des  Fortschreitens 
der  Wissenschaft,  wie  der  Menschheit;  denn  er  sieht  den  Boden,  auf 
welchem  die  Bäume  wurzelten,  die  das  Schiff  des  Staates  und  der  Ge- 
sellschaft gebildet  haben,   die  Klippen,   an   denen   es  Gefahr  lief,   zerschellet 


l6  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


zu  werden,  ja  bisweilen  wirklich  Schaden  litt,  und  den  Hafen,  wohin  es 
gesteuert  werden  soll.  Dazu  bedarf  der  gelehrte  Stand  notwendig  jener 
Kenntnis:  er  würde  ohne  sie  seine  Hauptbedeutung  verlieren."  Nachdem 
dieses  vom  Geistlichen,  vom  Rechtsgelehrten,  vom  Philosophen  und  Arzte 
noch  insbesondere  gezeigt  worden,  folgt  der  Gegensatz  der  anderen  Stände 
gegen  jenen.  „Der  Gelehrte  bestimmt  die  Meinungen,  leitet  sie,  und 
regiert  so  die  Angelegenheiten  der  Menschheit  (etwas  stark  hyperbolisch!); 
die  anderen  lassen  sich  leiten,  nehmen  auf,  und  wenden  das  Empfangene 
auf  die  Gegemvart  an.  Bürger,  Handarbeiter,  bedürfen  nicht  der  genauen 
Kenntnis  der  Vorzeit;  die  Ausübung  ihrer  Geschäfte  beruhet  nicht  auf 
dem,  was  die  Menschen  früher  dachten,  glaubten,  lehrten,  da  sich  die 
Verhältnisse  der  Völker  und  Menschen  geändert  haben.  Deshalb  aber 
gebrauchen  sie  ganz  andere  Vorbereitungen,  als  der  Gelehrte.  Die  Sitten 
der  Lebenden,  die  gegenwärtigen  Verhältnisse  der  Völker  und  Staaten,  dies 
ist  das  Element,  worin  sie  sich  ohne  Mißgriffe  bewegen  sollen.  Daß  sie 
nicht  ein  erträumtes,  phantastisches  Glück  der  Vorwelt  wiederholen  wollen, 
sondern  als  ruhige  Bürger  und  friedliche  Untertanen,  die  bestehenden 
Verhältnisse  auffassen,  wie  sie  sind,  und  sich  in  dieselben  fügen;  daß  sie 
einen  richtigen  Blick  für  das  Jetzt  haben,  und  diejenigen  Kenntnisse  be- 
sitzen, welche  zum  Verstehen  und  Ausüben  der  Fertigkeiten  der  einzelnen 
Fächer  notwendig  sind,  das  soll  die  Vorbereitung  für  diese  Stände  be- 
wirken, und  danach  sind  auch  die  Unterrichtsmittel  derselben  zu  be- 
stimmen." Der  Verf.  ergänzt  nun  die  richtigen  Betrachtungen  durch  eine 
andere,  die  vielleicht  noch  mehr  Gewicht  hätte  bekommen  sollen,  nämlich 
durch  Rücksicht  auf  die  zugemessene,  Zeit  zum  Unterrichte,  bei  welcher  in 
allen  Fällen,  wo  nicht  Besuch  der  Universität  im  Plane  liegt,  die  gelehrte 
Bildung  nur  Halbgelehrte  hervorbringt,  ein  unglückliches  Geschlecht,  das 
nirgends  hin  paßt;  und  welche  wiederum  die  Elementarschulen,  denen 
die  kürzeste  Zeit  gegönnt  wird,  absondern  von  den  Bürgerschulen.  „Z??V 
nötige  Einheit  der  Schulen  (jeder  Art)  verlangt  durchaus^  daß  nur  Ein  Zweck, 
ToenigsteJis  Ein  Hauptzweck^  durch  dieselbe  erreicht  tverden  solle.'-''  Der  Verf. 
spricht  weiterhin  von  .^^Ampliibial-Gyynnasium  und  Amphibial- Bürge) schulen ;''^ 
er  bekennt,  bisweilen  sei  es  nicht  möglich,  abgesonderte  Gymnasien  und 
Bürgerschulen  einzurichten,  und  dann  sei  Etwas  freilich  besser,  als  nichts. 
Wir  brauchen  ihm  dahin  nicht  zu  folgen:  die  vorstehenden  Proben  mögen 


genügen. 


Fick,  Georg  Karl,  Verweser  der  Ober-Vorbereitungs-Schule  in  Rothen- 
burg, Vergleichende  Darstellung  der  philosophischen  Systeme 
von  Kant,  Fichte  und  Schelling;  nebst  einer  Einleitung,  welche 
Bemerkungen  über  die  Entwicklung  der  philosophischen  Systeme  über- 
haupt enthält. —  Ohne  Angabe  des  Druckortes  und  Verlegers.  1825. 
8.  (9  Gr.) 
Gedruckt  in:  Jenaer  Literatur-Zeitung   1827,  Nr.  33,  34.     SW.  XIII,  S,  502. 

Die  Schule   des  Idealismus,    welcher  Kant,    Fichte  und  Schelling, 
ihrer    Differenzen    ungeachtet,    gemeinschaftlich    angehören,    ist    zwar    die 


Georg  Karl  Fick :  Vergleichende  Darstellung  der  philosophischen  Systeme.         1 7 


Schule  eines  jeden  gewesen,  der  sich  heutzutage  mit  Philosophie  in 
Deutschland  beschäftigt;  und  sie  hat  den  Kreis  der  Meinungen  für  die 
meisten  dergestalt  begrenzt,  als  ob  außerhalb  desselben  keine  Philosophie  mehr 
zu  finden  iväre.  Dennoch  wird  es  mit  jedem  Jahre  deuthcher,  daß  sich 
das  Zeitalter  vom  Idealismus  hinweg  und  dem  Realismus  zuwendet.  Die 
Versuche,  auf  andere  Wissenschaften,  z.  B.  auf  Staatslehre  und  Heilkunde, 
den  Idealismus  zu  übertragen,  verunglücken  zu  sichtbar,  als  daß  man  lange 
dabei  beharren  könnte.  Da  nun  die  Menschen  nach  dem  Eifolge  am 
liebsten  urteilen,  so  verlassen  sie  den  Idealismus  zwar  7iicht,  wie  sich  ge- 
bührt, als  entschieden  ividerlegten  Irrtum,  —  sondern  etwa  als  eine  un- 
bequeme Hypoihese,  die  niemanden  belästigen  kann,  sobald  nur  sich  niemand 
um  sie  bekümmert.  Hieraus  entsteht  ein  sonderbares  Verhältnis.  Sagt 
man  diesem  Zeitalter,  daß  die  Periode  des  Idealismus  vorbei  sei,  und  daß 
sie  nichts  anderes  war,  noch  werden  konnte,  als  eine  Episode  in  der  Ge- 
schichte der  Philosophie.^  so  erschrecken  noch  immer  die  Ohren  vor  dem 
ungewohnten  Klange  der  Worte.  Denn  wofern  auch  Fichtes  eigentlicher 
und  ganzer  Idealismus  zu  schroff  erscheint:  so  gilt  doch  der  halbe,  nach 
Kantischer  oder  Schellingischer  Art,  denen  für  ein  notwendiges  Übel,  die 
sich  einen  ganzen  und  echten  Realismus  nicht  anders  denken  können,  als  in 
den  materialistischen  oder  andern  verhaßten  Gestallen.  Auch  ist  nichts  öfter 
wiederholt,  und  nichts  lieber  geglaubt  worden,  als  die  Behauptung:  alle  erdenk- 
baren philosophischen  lehren  seien  längst  dagewesen ;  man  müsse  wählen  unter 
dem  Vorhandenen,  weil  sich  nichts  Neues  mehr  erfinden  lasse;  die  Dreistig- 
keit der  Spekulation  sei  nur  zu  weit  gegangen,  und  statt  im  Forschen  noch 
weiter  zu  gehen,  müsse  man  vielmehr  umkehren,  keinesweges  aber  sich 
und  andere  noch  länger  beunruhigen.  Dennoch  ist  das  Zeitalter  nicht 
eigentlich  im  Umkehren  begriffen,  wenn  wir  uns  dabei  eine  absichtliche 
und  geregehe  Bewegung  denken,  —  sondern  vielmehr  im  Zurücks  inken. 
Es  begnügt  sich  mit  Halbheiten  und  Mitteldingen^  nachdem  es  den  Mut 
verlor,  e'.was   Ganzes  zu  fassen. 

Unter  solchen  Umständen  könnte  nun  eine  vergleichende  Darstellung 
der  Lehren  jener  drei  Männer  recht  nützlich  werden,  wofern  sie  im 
historischen  Geiste  geschrieben  wäre.  Denn  auf  Geschichte  hören  auch 
diejenigen  noch,  welche  vom  Räsonnement  längst  ermüdet  sind.  Und 
wollte  jemand  sagen,  der  Gegenstand  sei  gegenwärtig  noch  nicht  reif  für 
die  Geschichte,  er  stehe  uns  noch  zu  nahe,  als  daß  wir  seine  Umrisse 
schon  ganz  zusammenfassen  könnten:  so  scheint  doch  dieser,  im  all- 
gemieinen  sehr  gegründete  Einwurf  nicht  die  IMöglichkeit  auszuschließen, 
daß  irgend  ein  vorzüglicher  Kopf  sich  könnte  in  hinreichender  Entfernung 
einen  Standpunkt  schaffen,  aus  welchem  betrachtet,  die  Kantische  Lehre 
wieder  als  das  erscheinen  würde,  was  sie  ursprünghch  war,  nämlich  Kritik; 
welche  nicht  selbst  System  sein  will,  aber  wohl  dem  System  eine  Reform 
anmutet.  Aus  dem  nämlichen  Standpunkte  ließe  sich  dann  weiter  zeigen^ 
erstlich:  weshalb  in  der  älteren,  schon  kraftlos  gewordenen  Schule  die 
vom  Kritiker  geforderte  Reform  unterblieb,  und  zweitens:  welche  Folgen 
nun  eintreten  mußten,  da  die  Kantische  Kritik  selbst  die  Gestalt  eines 
Systems  bekam.  Daß  der  halbe  Idealismus  Kants  nicht  bleiben  konnte, 
dieser    zweite    Punkt    würde    seine    genügende    Aufklärung    erst    dann    mit 

Herbakts  Werke.     XIII.  2 


l8  J-  F-  Herbarts  Rezensionen, 


Sicherheit  erlangen,  wenn  zuvor  jener  erste  historisch  entwickelt  wäre,  was 
eigentlich  der  Reformator  der  älteren  Schule  in  ihr  hätte  wirken  müssen, 
damit  sein  halber  Idealismus,  welcher  einen  Fehler  andeutete,  aber  nicht 
heilte,  unnötig  geworden  wäre.  Über  der  Nachweisung,  daß  Fichte  habe 
vollenden  müssen,  was  Kant  anfing,  ist  nur  zu  sehr  die  Frage  in  Schatten 
getreten,  worum  denn  nicht  in  Kants  eigene?i  Augen  sein  Werk  ein  halbes 
gewesen  sei,  und  wie  es  ihm  habe  scheinen  können,  das  zu  leisten,  was 
es  leisten  soll.  —  Wer  über  Kants  Beginnen  in  historischem  Geiste 
schreiben  wollte,  der  müßte  sich  natürlich  hüten,  in  die  Verhältnisse,  worin 
jener  sich  bildete,  die  späteren  Ansichten  hineinzutragen.  Ebenso  be- 
stimmt müßte  er  aber  auch  Fichtes  Versuch,  eine  Lehre  zu  ergänzen, 
die  zum  Bruchstück  geworden  war,  seitdem  sie,  ihre  kritische  Bestimmung 
verlierend,  die  Rolle  des  Systems  spielte,  —  als  einen  Versuch  von  ganz 
anderer  Art  und  Richtung  charakterisieren.  Nicht  minder  würde  die 
besondere  Stellung,  in  welcher,  nachdem  durch  Fichtes  Arbeiten  das 
ethische  Feld  besetzt  schien,  Schellings  Augenmerk  auf  die  noch  wenig 
bearbeitete  Naturlehre  fallen  mußte,  genau  zu  bezeichnen,  und  in  ihren 
Folgen  zu  würdigen  sein.  Endlich  müßte  Reinholds  höchst  bedeutender 
Einfluß  auf  die  mit  Übertreibung  geforderte  Einheit  in  der  Philosophie 
nicht  mit  Stillschweigen   übergangen   werden. 

Das  erste  nun,  was  uns  beim  Hineinblicken  in  die  vor  uns  liegende 
kleine  Schrift  —  deren  geringer  Umfang  durch  den  reichhaltigen  Gegen- 
stand die  gedrängteste  Fülle  hätte  erhalten  sollen  —  aufifällt  und  be- 
fremdet, ist  das  ganz  unhistorische  Stillschweigen  von  dem,  was  der  Lehre 
Kants  zunächst  vorherging,  nämlich  die  Leibnizisch  -  Wolffsche  Schule,  und 
was  ihr  zunächst  folgte,  insbesondere  Reinholds  Bemühungen.  So  fehlt 
der  Kritik  ihr  nächster  Beziehungspunkt,  und  ihr  Schicksal,  daß  sie  den 
Schein  eines  Systems  gewann  und  hierdurch  aus  der  Rolle  fiel,  bleibt 
unerklärt.  Statt  dessen  aber,  was  man  fordern  konnte,  gibt  der  Verf. 
etwas  ganz  Unnötiges,  nämlich  eine  „Darstellung  der  griechischen  Philo- 
sophie bis  auf  Platon"  von  Seite  17  —  26.  Wie  war  es  dem  Verf. 
möglich,  in  solcher  Kürze  von  Altem  und  Neuem  zu  sprechen?  Die 
Antwort  findet  sich  bald.  Weit  entfernt  von  dem  Streben,  welches  den. 
Historiker  bezeichnen  würde,  den  allzu  nahe  liegenden  Gegenstand  so 
weit  als  möglich  in  die  Ferne  zu  rücken,  scheint  er  vielmehr  noch  in 
Schellings  Auditorium  festzusitzen,  welches  er  in  Erlangen  besuchte 
(laut  S.  78);  und  von  der  hochgepriesenen  Einheit  geblendet,  sieht  er 
nicht  nur  in  Heraklits  Lehre  das  Identitätssystem  (und  sogar  den  Ideal- 
Realismus),  sondern  auch  in  Platon,  dem  offenbaren  Gegner  des  Heraklit, 
erblickt  er  den  Bekenner  des  nämlichen  Systems;  desgleichen  stellte,  wenn 
wir  ihm  glauben,  Fichte  kein  eigenes  System  auf,  da  er  ja  nur  das 
Kantische  weiter  ausbildet;  und  endlich  findet  sich  auch  bei  Schelling 
große  Annäherung  an  Fichte!  Es  fehlt  also  nicht  viel  daran,  daß  in  der 
philosophischen  Welt  alles  Eins  sei;  und  die  Philosophen  müssen  sehr 
böse  Leute  sein,  da  sie,  wiewohl  im  Grunde  beinahe  einverstanden,  doch 
soviel  streiten,  und  den  Schein  großer  Mißhelligkeit  erkünsteln!  —  Wirk- 
lich, wenn  man  bedenkt,  wieviel  Unheil  der  Zwiespalt  der  Meinungen  in 
der   Welt    stiftet:    so    kann    man    eine    solche   Lust    am    unnützen    Hader 


Georg  Karl  Fick:  Vergleichende  Darstellung  der  philosophischen  Systeme.         jq 


nicht  hart  genug  anklagen.  Wie  aber  soll  man  diejenigen  beurteilen,  welche 
den  Verdacht,  als  sei  der  Streit  unter  den  Philosophen  nur  ein  leeres 
Gezänk,  begünstigen,  ohne  die  Gründe  des  Streits  gehörig  studiert  zu 
haben?  Sollten  sie  vielleicht  kein  Gewicht  haben,  um  die  Schwere  eines 
solchen  Verdachts  abwägen  zu  können?  —  Rez.  würde  nun  freilich  weder 
Kant  noch  Fichte  noch  Schelling  zu  kennen  glauben,  wenn  er  in 
einer  vergleichenden  Darstellung  ihrer  Lehren  nichts  mehr  zu  sagen 
hätte,  als  was  man  hier  davon  liest;  indessen  ist  seine  Aufmerksamkeit 
auf  das  Büchlein  verlängert  worden  durch  den  Umstand,  daß,  wie  schon 
erwähnt,  der  Verf.  Schellings  Zuhörer  in  Erlangen  gewesen  ist;  und 
anderen  kann  es  vielleicht  ebenso  gehen.  Wir  dürfen  zwar  keineswegs 
darum  einen  Bericht  oder  auch  reine  Proben  der  dort  empfangenen  Ein- 
drücke hier  zu  finden  glauben ;  besonders  da  der  Verf.,  obgleich  er  wohl 
,,das  System  nach  seiner  neuesten  Form  dar  stellen  köJinte/'  sich  doch,  um 
nicht  vorzugreifen,  begnügen  will,  es  in  der  älteren  Form  zu  zeigen. 
Allein  gerade  von  dieser  älteren  Form  scheint  er  ungemein  wenig  zu 
wissen;  besonders  ist  der  Naturphilosophie,  also  gerade  dem  Wichtigsten 
und  Eigensten,  kaum  eine  flüchtige  Erwähnung  gegönnt;  überdies  bildet 
der  äußerst  schlichte  und  prosaische  Vortrag  einen  so  auffallenden  Kon- 
trast gegen  den  bunten  Schimmer,  welcher  in  früherer  Zeit  alles  umgab, 
was  aus  der  nämlichen  Schule  kam,  daß  man  sich  veranlaßt  findet,  irgend 
eine  Veränderung  zu  mutmaßen.  Wir  wollen  daher  dem  Büchlein, 
welchem,  an  sich  betrachtet,  eine  kurze  Anzeige  hätte  genügen  können, 
ins   Einzelne  folgen. 

Die  Einleitung  meint:  es  müsse  für  die  philosophischen  Systeme 
einen  höheren  Einheitspunkt  im  menschlichen  Geiste  geben;  sonst  müßte 
entweder  alle  Einheit  des  menschlichen  Geistes  gänzlich  wegfallen  oder 
die  Verschiedenheit  der  Systeme  würde  von  Verrücktheit  herrühren. 
Also  werde  man  durch  das  Studium  der  Philosophie  nur  desjenigen 
Systems  sich  bewußt,  welches  ursprünglich  in  unserem  Denkvermögen  be- 
gründet liege.  Rez.  hat  nun  das  Unglück,  an  gar  kein  T)e\\k- Vermögen 
zu  glauben,  und  noch  viel  weniger  an  ein  System,  das  darin  liege;  daher 
denn  auch  die  klare,  und  aus  dem  natürlichen  Ursprünge  unserer  Er- 
kenntnis gar  leicht  begreifliche  Tatsache  der  großen  Verschiedenheit  unter 
den  Systemen  keine  Sorge  wegen  Verrücktheit  nach  sich  zieht.  Indessen 
mag  dem  Verf.  eingeräumt  werden  (wenn  schon  unter  vielen,  ihm  un- 
bekannten, näheren  Bestimmungen),  daß  die  Systeme  bloß  einzelne  Momente 
des  wahren  und  ganzen  Systems  hervorheben,  oder  auch  Momente  der 
Entwicklung  aus  Unstetigkeit  in  ungehöriger  Ordnung  sich  folgen  lassen, 
wodurch  Verwechselungen  zwischen  Giund  und  Begründetem  veranlaßt 
werden.  Von  denjenigen  Systemen,  worin  der  Grundtypus  aller  anderen 
gegeben  ist,  versucht  er  nun  folgende  Deduktion :  Zwei  entgegengesetzte 
Pole  finden  sich  bei  jedem  Menschen  vom  ersten  Augenblicke  an,  da  er 
sich  seiner  bewußt  ist.  (Also  gibt  es  einen  solchen  Augenblick?  Und 
zwar  einen  bestimmten  ersten?;  Denn  eben  durch  dieses  Bewußtsein  seiner 
selbst  wird  er  ein  Einzelnes  für  sich,  da  er  im  Gegenteil  als  physisches 
Wesen,  abhängig  von  Natureinflüssen,  bloß  Glied  des  Weltganzen  ist. 
(Die   wohlbekannte   Sprache   des    Spinozismus !)    Ebenso   ist   er   durch   das 


20  J-  F-  Herbarts  Rezensioneu. 


Moralgesetz    und    die  Ideen    als  Einzelnes    dem   Allgemeinen   oder   Ganzen 
verknüpft   (spinozistische    res  cogitans,    die   mit  der  res  extensa   Eine   Sub- 
stanz sein   soll),  da  ja   das  Moralgesetz  nichts  toeiter  fordert,  als  eine  Unter- 
werfung des   Einzelnen   unter  die  Gesetze  dos   Allgemeinen,   und   er  durch 
die    Ideen    des    Allgemeinen    inne    wird!    (Glückliche    Verschmelzung    des 
Kontianismus  und  Spinozismns !  Aber  warum  fordert  denn   das   Moralgesetz 
noch     erst     die    Verknüpfung,    die    schon    vorhanden,     und     völlig    unzer- 
reißbar   ist?     Vermutlich,    weil    der   Verf.    nichts    weiter   davon    weiß.)      In 
den    verschiedenen    Verhältnissen    dieser   beiden    Pole    (seltsamer    Magnet, 
dessen   Pole   verschiedene    Verhältnisse  gestatten !)    beruht  alle  theoretische 
und  praktische   Verschiedenheit  der   Menschen   (dürftige   Psychologie!)   und 
diese  Entgegengesetztheit  der  beiden  Pole   begründet  zwei  entgegengesetzte 
Vermögen   unseres  Geistes,    welche,    wie  die  Pole,    eins   ohne  das  andere 
nicht   sein    können.     (Der   menschliche  Geist   also  wäre  so  einförmig,    wie 
der   Magnet    oder    wie   die  Voltaische  Säule!)    Und   diese  Vermögen   sind: 
Vernunft  und    Verstand!   Wo   bleibt  die   Sinnlichkeit?    Wo   bleibt   Begehren, 
Fütilen,    Wollen;    wo    bleiben    die    Affekten?     Wo    bleibt    die    Kontinuität, 
wo    die   unerschöpfliche   Mannigfaltigkeit    der  Gedanken   und   der  Gemüts- 
zustände?   —    Alles    das,    wofür    die  Sprachen    aller   Völker    zu  arm  sind, 
um   es  auszudrücken,  geht  unter  in   dem   U7iiversaiisierenden  Vermögen   und 
dem    individualisierenden.      Und    wir    ?ollen    uns    gefallen    lassen,    in  diesen 
ärmlichen   Gegensatz,    der   mit  Vernunft   und   Verstand    nicht    einmal    eine 
Ähnlichkeit  hat  (denn   zum   Verstände  rechnet  jedermann  auch   den  Besitz 
und  Gebrauch   der  allgemeinen   Begriffe,  und   zur  Vernunft  gehört  auch   das 
Gewissen,   welches  in   einzelnen  Fällen   klarer  und   lauter  zu  sprechen  pflegt, 
als   in   allgemeinen   Formeln),    alles  das  hineinzuzwängen,    was  die   Psycho- 
logen   so    überreichlich    an    die    Woite     Vernunft    und     Verstand   geknüpft 
haben,    daß    diesen    Ausdrücken    kaum    eine    bestimmte    Bedeutung    übrig 
bleiben   konnte?    —    Doch   weiter!    Nun  kann  es  aber  auch   sein,   daß  der 
Mensch   in   dem    Gebrauche  seiner  Denkvermögen"-   (wer  ist  der   Brauchende? 
Wie  ist  er  verschieden   von   den  gebrauchten   Vermögen?    Wie  faßt  er  sie 
an,    wie    setzt    er    sie    in    Bewegung,    wann    er    sie    brauchen    will?    Woher 
kommt  ihm   der  Wille,   sie  zu  brauchen  ?)  „durch   etwas,   von  dem  vorzugs- 
weise   bestimmt    wird,    wodurch    er  Glied    des   Ganzen    oder  ein   Einzelnes 
für  sich   ist,   dadurch,   daß   er  gerade  dieses  vorzugsweise  festhält,   wodurch 
die   Macht    des    anderen   Bestimmenden,    welches    die   beiden   Pole  in  sich 
schließen,   gewählt  wird"    (Nichts  von   dem   allen  kann  sein!   Wenn  einmal 
ein    echtes    polarisches  Naturverhältnis  vorhanden   ist,    so  sind   beide   Pole 
zugleich  stark   und   schwach;   und   wo  der  Zufall   mit  einem  regellosen  Sein- 
Können  anfängt  zu  spielen,    da  ist  das   einzige,    was   vom   Spinozismus  mit 
einigem  Grunde  des  Rechtes  mag  gerühmt  werden,  nämlich  die  Konsequenz 
völlig    verdorben.)       „Ist    nun     die    Vernunft    vorherrschend;    so    entsteht 
Pa?ttheismus ;  ist  der   Verstand   vorherrschend,    so  entsteht  Atomistik.''    Wir 
haben    hier     die     Hauptsache    kurz    zusammengezogen,    beim    Verf.    aber 
gibt  es   dazwischen  allerlei  mögliche  Systeme,   deren  Deduktion  schon  durch 
den    einzigen   Umstand    zu    nichts    wird,    daß    dabei    auf  ein   unbestimmtes 
Mehr    oder    Weniger    im    Vorherrschen    des    einen    oder   des    andern    Ver- 
mögens   gerechnet   ist.      Nur   das    einzige    wollen  wir  bemerken,    daß,    wie 


Georg  Karl  Fick :  Vergleichende  Darstellung  der  philosophischen  Systeme.         2  I 

zu  erwarten  war,  das  Identitäts- System  als  dasjenige  gepriesen  wird,  worin 
Vernunft  und  Verstand  Hand  in  Hand  gehen,  —  doch  mit  der,  selbst 
diesen  Ruhm,  wenn  es  einer  wäre,  wieder  vernichtenden  Nebenbestimmung, 
daß  Vernunft  das  leitende,  also  überwiegende  Prinzip  sei.  mdem  Ja  erst 
ans  der  Einheit  die  Mannigfaltigkeit  hervorgehen  könne,  — '-  eine  offenbare 
petitio  priiicipii.  Wir  hatten  zwar  nichts  Wahres  und  gründlich  Untersuchtes, 
jedoch  wenigstens  Nachklänge  eines  geistreichen  Vortrages  hier  erwartet. 
Wir  finden  aber  weder  den  Pantheismus  vernünftig,  noch  die  Atomistik 
verständig,  noch  das  Identitätssystem  vernünftig- verständig,  noch  das  Vor- 
getragene geistreich.  Sondern  Pantheismus  und  Atomistik  sind  rohe  Versuche 
früherer  Zeit,  die  von  mangelhafter  Auffassmtg  der  metaphysischen  Probletne 
herrühren ;  Proben  eines  jugendlichen  Schaifsinnes,  denen  das  Zeitalter  endlich 
entwachsen  sein  sollte;  daher  man  zur  Empfehlung  eines  neueren  Systems 
kaum  etwas  Schlechteres  sagen  kann,  als  daß  es  zwischen  jene  beiden  in 
die  Mitte  falle.  Damit  wird  jedoch  nicht  geleugnet,  daß  für  jene  friihere?i 
Stufen  der  philosophischen  Bildung,  wo  Pantheismus  und  Atomistik  ihren 
Platz  haben,  beide  Lehren  recht  sehr  vernünftig  und  verständig  zu- 
gleich sein  konnten.  Gemeine  Köpfe  waren  es  gewiß  nicht,  von  denen 
solche  Lehren  erfunden  wurden.  Aber  gemein  und  trivial  ist  die  Wort- 
spielerei und  Deutelei,  welche  mit  den  Worten  Vernunft  und  Verstand 
noch  immer  fortgesetzt  wird,  ohne  Spur  von  Überlegung,  daß  diese  Aus- 
drücke sich  auf  die  allerverschiedensten  Stufen  der  geistigen  Ausbildung 
übertragen  lassen,  und  deshalb  durchaus  nicht  gebraucht  werden  können, 
um  irgend  welche  Produkte  bestimmter  Bildungsstufen  damit  zu  be- 
zeichnen. 

Der    Verf.    eröffnet    nun    seine    Darstellung    der    Lehre    Kants    mit 
folgender  Poesie: 


o^ 


/n  des  Wissens  trüglich  helle  Höhen 
it/ögst  du   nicht  zu  weit  versteigen  dich, 
A/ancher  glaubt  das    Höchste  zu   verstehen, 
.^ber  täuscht  jedoch  gewaltig  sich. 

iVicht  wird  der  Vernunft  es  je  gelingen, 

Z7ebersinniichs  klar  zu   machen  sich, 

.£"s  kann   niemand  dieses  je  erringen, 

Zaß  doch,   IMensch,  nur  sein,  was  nicht  für  dich. 

^eine   Kenntnis  von   der  Dinge  Wesen   können  wir  erhalten, 
^iles  denken  wir  nach  der  Erscheinung  Form  ; 
Nwr  als  Regel  deines  Handelns  möge  Gott  im  Innern  walten, 
Transcendentes  ist  nur  subjektive  Norm. 

Wie  hier  der  Name  Immanuel  Kant,  so  werden  späterhin  durch 
ähnliche  Verse  auch  Fichtes  und  Schellings  Namen  verherrlicht.  In 
den  Bemerkungen  über  Kants  Lehre  hätte  nun  der  historische  Geist 
sich  zeigen  sollen ,  der  dem  historischen  Gegenstande  gebührte.  Daß 
Kant  das  Geschäft  übernahm,  eine  Vernunft  zu  kritisieren,  die  aus  falscher 
Ontologie  und  Kosmologie  Beweise  fürs  Dasein  Gottes  hernehmen  wollte ; 
daß  diese  falsche  Ontologie  von  einem  ens  realissimum  redete,  und  daß 
mit  ihr  Spinoza   gemeine  Sache    machte  durch  den  Satz:  quo  plus  reali- 


22  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


tatis,  aut  Esse,  unaquaeque  res  habet,  eo  plura  attiibuta  ipsi  competunt; 
daß  dagegen  Kant  in  der  Vernunftkritik  erklärte:  ^,Sein  ist  kein  reales 
Prädikat,  sondern  bloß  die  Position  eines  Dinoes ;"  daß  nun  ferner  diese 
richtige  Einsicht  in  den  wahren  Begriff  vom  Sein  ihm  die  ganze  alte 
Metaphysik,  samt  dem  Spinozisnms,  würde  in  die  Hände  geliefert  haben, 
wenn  er  seinen  Vorteil  gehörig  verfolgt  hätte ;  daß  er  statt  dessen  der 
Vernunftkritik  eine  Kritik  des  Verstandes  und  der  Sinnlichkeit  vorschob, 
wobei  er  gänzlich  unkritisch  die  alte  empirische  Psychologie  veraussetzte; 
daß  er  gleichwohl  mit  richtigem  Blicke  die  Frage  vom  Ursprünge  dem  Er- 
kenntnis auf  die  Formen  der  Erfahrung  hinlenkte,  worauf  es  allein  an- 
kommt, weil  die  Materie  der  Erfahrung,  die  Empfindungen,  gar  kein 
Wissen,  sondern  lediglich  subjektive  Zustände  sind ;  daß  überdies  hier 
bloß  von  der  empirischen  Wissenschaft  die  Rede  war,  indem  gefragt 
wurde,  ob  die  Anschaming  sich  nach  den  Gegenständen,  oder  ob  um- 
gekehrt, die  gegebeiien  Gegenstände  sich  nach  den  Formen  des  Anschauens 
und  Denkens  richteten;  daß  dieser  Frage  der  halbe  Idealismus  Kants 
völlig  zu  genügen  schien,  weil  die  Formen  der  Erfahrung  noch  aus  keiner 
Mechanik  des  Geistes  erklärt  worden  waren;  daß  eben  deshalb  das  da- 
malige Zeitalter  mit  jener  Antwort  auf  die  Frage  vom  Urspmnge  des 
Wissens  so  sehr  zufrieden  war,  indem  die  Antwort  zur  Frage  paßte;  daß 
erst  in  späterer  Zeit  die  Unhaltbarkeit  des  halben  Idealismus  zum  Vor- 
schein kam,  sowie  dereinst  die  Unhaltbarkeit  auch  des  ganzen  Idealismus 
den  vollkommenen  Realismus  zurückführen  wird  :  —  dies  wären  ungefähr 
die  Momente  gewesen,  deren  Entwicklung  der  Verf.,  auch  wenn  er  inner- 
halb der  engsten  Grenzen  hätte  stehen  bleiben  wollen,  sich  doch  zur 
Pflicht  rechnen  mußte;  und  das  um  so  mehr,  da  er  selbst  bemerkt,  daß 
neue  philosophische  Systeme  gerade  durch  den  Gegensatz  gegen  die  frühern 
zu  entstehen  pflegen,  woraus  sogleich  folgt,  daß  Hr.  F.  seine  Arbeit  da- 
mit anfangen  mußte,  die  Ontologie  der  älteren,  vorkaiitischen  Schule  zu 
studieren,  und  von  den  Eifolgen  dieses  Stjtdiiims  den  Leser  sehr  genau  zu 
unterrichten ,  imi  ihn  auf  den  rechten  Standpunkt  zu  stellen.  Aber  was .  hat 
er  uns  von  der  älteren  Schule  zu  berichten?  Es  ist  so  kurz,  daß  wir  es 
wörtlich  anführen  können:  „Die  früheren  Systeme  machten  von  den 
Dingen  außer  uns  die  Erkenntnis  abhängig,  und  erklärten  dieselbe  aus 
der  Beschaffenheit  der  ersten;  andrerseits  sprachen  sie  von  Gott,  Frei- 
heit, Unsterblichkeit,  ohne  ein  höheres  Prinzip  der  Einheit  aufzusuchen, 
wodurch  diese  Ideen  zu  einem  organischen  Ganzen  verknüpft  werden 
könnten.  Da  man  von  den  Dingen  außer  uns  ausging,  und  auf  diesem 
Wege  nichts  fand,  glaubte  Kant  den  entgegengesetzten  Weg  einschlagen 
zu  müssen."  Sollten  denn  wirklich  die  älteren  Systeme  ein  noch  höheres 
Prinzip  aufsuchen  als  Gott?  War  denn  das  ens  realissim.um  noch  nicht 
die  Einheit?  Fand  die  Schule  wirklich  nichts,  da  sie  doch  ein  sehr  ge- 
ordnetes System  der  Metaphysik  nach  allen  vier  Teilen  derselben  auf- 
stellte, welches  wenigstens  äußerlich  einen  Anblick  von  Rundung  und 
Ausarbeitung  gewährt,  dessen  kein  neueres  System  sich  in  gleichem  Grade 
rühmen  kann?  Und  was  das  Ausgehen  von  den  Dingen  außer  uns  anlangt, 
so  ist  dies  noch  immer  Sitte  bei  den  Physikern,  Naturhistorikern,  Ärzten, 
Geschichtsschreibern.   Staatsmännern    usw.,    und    so    wird    es   auch    stets 


Georg  Karl  Fick:  Vergleichende  Darstellung  der  philosophischen  Systeme.         23 


bleiben.  Die  Erfahrtmg  hat  ihre  Macht  und  Gewalt  gegen  alle  Systeme, 
die  ihr  nicht  hinreichende  Ehrfurcht  zollen,  so  kräftig  geltend  gemacht, 
daß  die  Philosophie  in  Gefahr  schwebt,  an  ihrer  eigenen  früheren  Über- 
spannung —  in  der  Periode  Kants  ,  Fichtes  und  Schellings  —  zu 
sterben.  Eben  jetzt  liegt  uns  ein  Tageblatt  vor  Augen,  worin  von  der 
Büchermesse  des  Herbstes  1826  berichtet  wird;  von  der  Philosophie 
heißt  es  darin:  sie  trachtet  in  der  historischen  Richtung  das  Gewonnene  zu 
ordjien;  offenbar  das  Klügste,  was  sie  tun  kann.  So  unphilosophisch  diese 
Äußerung,  so  gewiß  ist  sie  der  Stimmung  des  Zeitalters  im  Ganzen  ge- 
mäß. Der  Empirismus  ist  an  der  Tagesordnung;  und  er  wird  solange 
daran  bleiben,  bis  man  endlich  begreift,  daß  gerade  die  Erfahrung  selbst 
es  ist,  welche  nicht  bloß  berechtigt,  sondern  treibt  und  zwingt,  und  von 
jeher  gezwungen  hat,  über  sie  hinaus  zu  gehen,  um  ihre  übersinnliche 
Ergänzung  durchs   Nachdenken  zu  suchen. 

Anstatt  nun   die    wahre   Eigenheit    der    Kantischen  Lehre  aus    ihrem 
Verhältnisse    zu    dem,    was    hervorging,    zu  entwickeln,   braucht  der  Verf. 
sie    bloß    zum   Vorspiel,    um    durch   Erniedrigung    derselben     Fichte    und 
ScHELLiNG    zu    erhöhen.      „Welche    objektive   Erkenntnis  räumt  uns  Kant 
ein?    Keine!"    Und    wie    sucht    ihn    der    Verf.    deshalb    zurechtzuweisen? 
„Will   Kant  konsequent  bleiben,  so  muß  er  zugestehen,  daß  die  Erkennt- 
nis von   Menschen,   welche    man  verrückt  zu  nennen  pflegt,   ebenso  unum- 
stößlich ist,   als  jene  der  Gescheuteren."     Dabei   fiel   dem   Rez.   das  jüngst 
vernommene  Wort  eines  Arztes  ein:   „jetzt  herrscht  die  Manie  der  Seelen- 
krankheitskunde."    Dann   wird  die  längst  bekannte  Bemerkung  wiederholt, 
daß    es    in  Kants  Lehre    inkonsequent   sei,   von  Dingen  außer  uns  noch 
zu  reden.      So    wahr    dieses   ist,    so   begreift    man  denn  doch  auch  leicht, 
daß  Kant  den  Vorschlag,  sich  zum  vollkommenen  Idealismus  zu  wenden, 
nicht  annehmen  konnte,  mdem  bekanntlich  die  unbegreifliche  Schranke  im 
Ich,  worauf  die  Welt  der  Objekte  zurückgeführt   werden  soll,   weit  entfernt, 
irgend    einen   Knoten    zu  lösen,    vielmehr  selbst  den  unauflöslichsten   aller 
Knoten    darstellt.      Es  sind   zweierlei   ganz  verschiedene   Dinge:    das   eine, 
zu  zeigen,   daß  die   Konsequenz  der  Kantischen  Lehre  unwillkürlich  auf  den 
vollen    Idealismus    führe;    das    andere,    im   Ernste    gegen   Kant    die    Zu- 
mutung   auszusprechen,    er  hätte,    wie  unser  Verf.  sich  ausdrückt,  ,,lieber 
aus  dem  Ich  alles  deduzieren,   mid  die  Objektenwelt  bloß  für  eine  dem   Ich  ge- 
setzte Schranke    erklären    sollen."      Woher    denn    die  Schranke?    Wer  setzt 
sie,  und   wie  kommt  sie  in  das   Ich?   Über   diese  Frage   würde  sich  Kants 
Besonnenheit   nimmermehr    durch    irgend    eine    falsche  Vorspiegelung    be- 
ruhicft    haben.      Freilich    über    den    unermeßlichen    Reichtum    der    Natur, 
über    die   Bestimmtheit    jedes    einzelnen  Dinges,    über    die   Ordnung    und 
Folge,  worin  die  Gegenstände  uns  gegeben  werden,  sucht  man  bei  Kant 
jeden   Aufschluß  vergebens,    seine  vorgeblichen   Formen,  welche  allem  auf 
gleiche   Weise  zum  Grunde  liegen   sollen,   erklären  im  einzelnen  nicht  das 
mindeste.      Aber    gerade    ebenso    unfähig   ist    in    diesem  Punkte  der    voll- 
kommene Idealismus.     Es  ist  zwar  sehr  leicht,   aus   dem  Ich  die   Unmög- 
lichkeit,    daß    es    allein    gesetzt    werden    könne,     zu    zeigen;    irgend    ein 
Mannigfaltiges,    mit    einigen    näheren    Bestimmungen,  forderte  Fichte  mit 
Recht  als  Bedingung  des  Selbstbewußtseins.     Aber  damit  wird  soviel  wie 


J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


nichts  geleistet.  Die  individuale  Erfahrungswelt  jedes  einzelnen  sollte 
deduziert  werden  ;  dies  fordern  wir  vom  Idealismus,  wohl  wissend,  daß  er 
es  nicht  leisten  kann.  Bis  hierher  nun  würde  Kant  sich  niemals  ein- 
gelassen haben.  Hätte  er  gesehen,  wohin  die  Konsequenz  ihn  treibe: 
so  wäre  er  rückwärts  gegangen  und  hätte  seine  psychologischen  Voraus- 
setzungen schärfer  untersucht.  In  Fichtes  Geist  eindringen,  heißt,  sich 
in  die  Individualität  eines  Mannes  von  seltener  Kühnheit,  von  unauflialt- 
samem  Unternehmung^geiste,  hineinversetzen;  man  wird  alsdann  von  Be- 
wunderung erfüllt,  aber  man  erlangt  keine  wissenschaftliche  Evidenz;  und 
man  kann  nicht  wünschen,  daß  die  nämliche  Individualität  sich  in  einem 
anderen  wiederhole,  am  wenigsten  in  einem  solchen,  der  durch  sich 
selbst  so  groß  ist  wie  Kant. 

Sehr  flach  und  den  Gegenständen  ebensowenig  als  den  Personen 
angemessen,  finden  wir  das  Folgende:  „Da  Kant  uns  alle  Erkenntnis 
des  Übersinnlichen  absprach,  allein  unser  Ich  doch  übersinnliche  Ideen 
hat:  so  sah  er  wohl  ein,  daß  er,  um  nicht  sich  selbst  zu  widersprechen, 
diese  Ideen,  welche  er  zu  einer  Tür  herausgewiesen  hatte,  zu  einer  anderen 
wieder  hereinlassen  mußte."  (Was  soll  hier  der  Satz:  unser  Ich  hat 
übersinnliche  Ideen?  Es  hat  sie  als  anthromorphistische  und  deshalb  viel- 
fach problematische  Vorstellungen;  daran  ist  kein  Zweifel;  aber  die  bloße 
Tatsache  des  Habens  reicht  auch  ni(  ht  weiter.  In  dieser  Beziehung  mußte 
Kant  gar  nichts;  er  brauchte  sie  nicht  hereinzulassen,  denn  er  hatte  sie 
nicht  hinausgewiesen.)  „Vermcge  seines  subjektiven  Standpunktes  ließ  er 
sie  bloß  als  regulativ  gelten.  Er  berief  sich  dabei  auf  die  moralische 
Natur  des  Ich,  welches  die  Idee  einer  moralischen  Wellordnung  in  sich 
trage.*'  (Fast  scheint  es,  der  Verf.  verwechsele  die  Lehren  der  Vernunft- 
kritik vom  empirischen  Gebrauche  des  regulativen  Prinzips  gar  mit  den 
Glaubenslehren,  welche  Kant  auf  das  Sittengesetz  baute!)  „Wie  kann  aber 
ein  Moralgesetz  für  mich  etwas  Beseligendes  haben,  von  dessen  objektiver 
Realität  iih  nicht  überzeugt  bin?  Wie  kann  ich  wissen,  ob  nicht  das^ 
was  ich,  nach  den  Bedingungen,  welchen  mein  Ich  unterworfen  ist,  für 
Moralilät  halte,  gerade  die  größte  Immoralität  ist?-'  Wovon  redet  tier 
Verf.?  Von  der  Moralität,  die  ein  inneres  Verhältnis  des  vernünftigen 
Wesens  zu  sich  selbst  ist,  —  oder  von  einer  äußeren  Sache?  Etwa  von 
einem  Dinge  an  sich;  oder  auch  von  einem  Verhältnis  der  Dinge  an 
sich?  Wäre  Moralität  ein  solches  Verhältnis,  so  hätte  es  einen  Sinn,  zu 
sagen :  ich  weiß  nicht,  ob  das,  was  in  meinen  Augen  sittlich  ist,  nicht 
vielleicht  in  den  Dmgen  an  sich  die  höchste  Unsittlichkeit  sein  mag. 
Und  allerdirgs  erinnern  wir  uns,  daß  der  Verf.  schon  oben  im  Namen 
des  Moralgesetzes  nichts  weiter  zu  fordern  wußte,  als  Unterwerfung  des 
Einzelnen  unter  die  Gesetze  des  Allgemeinen.  Kein  Wunder  nun,  daß 
eine  solche  Vorstellungsart  (die  gerade  mit  dem,  was  an  Kants  Dar- 
stellung des  sogenannten  kategorischen  Imperativs  das  Unzulängliche 
ausmacht,  obenhin  übereinstimmt)  sogleich  in  Verwirrung  gerät,  wenn  sie 
ihre  objektive  Realität  nachweisen  soll.  Denn  unstreitig  muß  man  das 
Allgemeine,  —  das  heißt  in  der  Sprache  des  Spinozismtis:  das  Ganze,  — 
kennen  und  im  Auge  haben,  um  sich  ihm  zu  unterwerfen;  falls  nämlich 
diese   Unterwerfung    nicht  schon    von    selbst   vorhanden  ist!    Glücklicherweise 


Georg  Karl  Fick:  Vergleichende  Darstellung  der  philosophischen  Systeme.         25 


aber  ist  sie,  der  Spinozistischen  Ansicht  zufolge,  vorhanden;  denn  der 
Mensch  kann  aus  der  Einheit  des  Universums  nicht  herausfallen!  Wozu 
denn  noch  die  unnütze  Sorge  wegen  der  Moralität?  Wir  würden  allen 
Anhängern  des  Spinozisnms  raten,  für  Moralität  nur  ganz  ruhig  die  Natur 
sorgen  zu  lassen.  Alsdann  würden  sie  weniger  von  Gegenständen  reden, 
deren  sie,  wissenschaftlich  genommen,  nicht  mächtig  werden  können. 
Wenigstens  wer  außer  der  subjektiven  Überzeugung  von  der  Moralität, 
so  wie  sie  mit  vollständiger  Ichheit,  das  heißt  hier,  mit  vollem,  gebildetem,, 
persönlichem  Selbstbewußtsein  zusammenhängt,  noch  eine  davon  ver- 
schiedene, objektive  Kenntnis  fordert,  welche  nicht  bloß  verpflichtend^ 
sondern  beseligend  sein  und  mit  der  Erkenntnis  der  Weltordnung  zu- 
sammenhängen soll,  —  der  hat  uns  in  diesem  Punkte  ein  Bekenntnis 
abgelegt,  über  welches  hinaus  wir  kein  stärkeres  vei langen.  Der  wahre 
Gehalt  der  Kantischen  Lehre  war  ein  ganz  anderer;  die  Rückblicke  auf- 
Seligkeit  und  Welt  waren  dort,  wo  es  auf  Anerkennung  der  Pflicht  ankam, 
ausdrücklich  verboten.  Was  sein  W/,  war  dort  streng  geschieden,  von  dem, 
was  sein  miiß.  Vieles  fehlte  bei  Kant  an  der  Entwicklung  der  Sittenlehre; 
aber  der  Geist  der  Lehre  im  allgemeinen  war  gut,  und  die  Zeitgeno.ssen 
bezeugten  einstimmig,  es  sei  ein  edler  Geist.  Tiefer  können  wir  auf 
diesen   Geo-enstand   hier  nicht  einiiehen. 

Noch  schwächer,  als  das  vorige,  sind  die  Bemerkungen  des  Verfs. 
über  Fichte.  „Die  Gründe,  worauf  das  Fichlesche  System  gebaut  ist, 
sind  unumstößlich,  und  es  hängt  alles  mit  solcher  mathematischen  Kon- 
sequenz zusammen,  daß  nicht  leicht  etwas  ganz  Falsches  nachgeiviesen  werden 
kann\  nur  die  große  Ausdehnung  seiner  Grundsätze  läßt  das  System  in 
den  Vorwurf  der  Einseitigkeit  verfallen.'-  Was  möchte  doch  ein  Mathe- 
matiker sagen,  wenn  er  eine  solche  Rede  zu  lesen  bekäme!  Eine 
mathematische  Konsequenz  aus  unumstößlichen  Gründen,  gibt  klare 
Wahrheit.  Daran  etwas  iiicht  gaftz  Wahres  nachzuweisen,  ist  unmöglich. 
Wo  aber  nicht  leicht  etwas  ganz  Falsches  kann  nachgewiesen  werden,  da 
sind  wir  im  Gebiete  der  schwankenden  Meinung,  weit  entfernt  von 
mathematischer  Schärfe.  Was  nun  Fichtes  Lehre  anlangt,  so  müssen 
wir  in  der  Tat  jeden  bedauern,  der  noch  nicht  Zeit  genug  gehabt  hat, 
diesem,  schon  ziemlich  alt  gewordenen,  ja  schon  ziemlich  verlassenen, 
durch  keine  Vorliebe  des  Zeitalters  unterstützten  Systeme  die  gänzliche 
Unhaltbarkeit  seiner  Grundlage  anzusehen;  und  ebenso  das  äußerst  lose 
Gewebe  seiner  Folgerungen.  Eine  Lehre,  die  so  wenig  eine  feste  Form 
gewinnen  kann,  wie  jene  von  ihrem  Urheber  selbst  immer  von  neuem 
umhergeworfene,  verrät  schon  dadurch  ihre  Subjektivität,  ihre  Unfähigkeit, 
jemals  ein  festes  Objekt  der  Erkenntnis  darzubieten,  das  bei  aller  Ver- 
schiedenheit der  Individualitäten  allgemein  gültig  werden  müßte.  Ein 
Leser,  den  Fichtes  eigene  Unbeständigkeit  der  Darstellung  nicht  auf- 
merksam macht  auf  den,  in  der  Sache  liegenden  Mangel  an  Festigkeit, 
wird  nimmermehr  zum  Kritiker  werden.  Hätte  aber  auch  Fichte  sich 
zur  reifsten  Darstellung  erhoben;  wäre  das  Ich  vollständig  analysiert; 
wären  die  Untersuchungen,  die  von  hier  ausgehen  müssen,  gehörig 
gesondert  von  denen,  welchen  das  davon  ganz  verschiedene  Verhältnis 
zwischen  dem  Ich  und  Nicht-Ich  zum  Grunde  liegt;  lägen  die  verschiedenen 


20  ]•  ^-  Herbarts  Rezensionen. 


Reflexionspunkte,  auf  welche  sich  das  Fichtesche  Ich  nach  und  nach 
erheben  muß,  nicht  bunt  durcheinander  geworfen;  wäre  die  Ordnung, 
die  SCHELLING  im  Systeme  des  transcendentalen  Ideahsmus  in  diese 
Verwirrung  mit  rühmücher  Bemühung  hineinzubringen  suchte,  wirklich 
wohl  gelungen  (während  sie  an  den  auffallendsten  Fehlern  leidet),  sähe 
man  nicht  bei  Fichte  immer  ein  Streben  nach  vorausbestimmten  Ziel- 
punkten, eine  Unterwürfigkeit  der  Spekulation  unter  vorgefaßte  Meinungen, 
eine  Begrenzung  durch  Mangel  an  historischer,  mathematischer  und 
physikalischer  Kenntnis;  hätte  die  Manier  der  Vereinigung  widersprechender 
Glieder,  die  dort  Methode  genannt  wird,  je  eine  bestimmte  Form  ange- 
nommen, und  bestimmte  Verfolgung  erlangt:  so  müßte  dennoch  die 
vollkommene  Unmöglichkeit  sowohl  der  Methode,  als  der  Prinzipien  (wir 
sprechen  von  Prinzipien  in  der  INIehrzahl,  weil  in  der  Tat  die  Fichtesche 
Lehre  nicht  Ein  Prinzip  gehabt  hat),  klar  einleuchten  und  den  Denker 
nach  der  gerade  entgegengesetzten  Richtung  hinweisen.  Wir  haben  nicht 
Ursache,  hier  nochmals  zu  sagen,  was  längst  ausführlich  genug  entwickelt 
worden  ist;  für  vorurteilsvolle  Köpfe  aber,  die  nicht  wollen  geirrt  haben, 
sind  alle  Entwicklungen  vergebens;  vollends,  wenn  sie  mit  dem  Verf. 
Geiuicht  darauf  legen^  daß  ihnen  das  System,  was  sie  gerade  zu  lernen 
Gelegenheit  hatten,  da  sie  jung  waren,  damals  schon  als  das  natürlichste 
erschien!     Soweit  geht  die   Vorliebe  der  Menschen  für  ihre  Täuschungen! 

Nach  allerlei  Lobreden  auf  Fichtes  Lehre  fallen  dem  Verf.  zwar 
hintennach  ein  paar  Fragen  ein,  die  er  hätte  mit  Ernst  verfolgen  und 
als  Keime  der  Untersuchung  benutzen  sollen;  statt  dessen  wirft  er  sie  in 
den  seltsamsten  Ausdrücken  hin,  z.  B. :  Warum  ist  das  Ich  verbunden, 
sich  ein  anderes  entgegenzusetzen?  —  und  sogleich  beruhigt  er  sich  mit 
der  Bemerkung:  diese  Fragen  möchten  einem  Fichtianer  sehr  schwer  zu 
beantworten  sein.  Er  eilt  nämlich  jetzt  zu  seinem  ,, höheren  Einheits- 
punkte, in  welchem  die  Übereinstimmung  unseres  denkenden  Ich  mit  der 
uns  umgebenden  Außenwelt  vermittelt  wird;"  durch  diesen  soll  es  für 
uns  allerdings  möglich  werden,  die  Dinge  nach  ihrem  inneren  Wesen  zu 
erkennen;  es  soll  sich  die  Zusammenstimmung  unseres  denkenden  Ich  und 
der  sinnlichen  Anschauung  genügend  erklären  lassen. 

Am  kürzesten  ist  der  Verf.  über  Schelling;  und  er  sagt  uns 
bekannte  Dinge.  Die  Frage :  wiefern  Erkenntnis  der  Außenwelt  uns 
zukommt,  steht  im  Vordergrunde;  aber  die  schlechterdings  notwendige 
Analyse  der  Erfahrung,  ihre  Zerlegung  in  Maieric  (Empfindung)  und  Form 
(Verknüpfung  der  Empfindungen,  wodurch  Dinge  und  Veränderungen 
erst  gegeben  werden,  und  worauf  alles  Wissen  beruht),  diese  Zerlegung  fehlt 
gänzlich.  Das  Absolute  ist  nach  alter  Gewohnheit  ein  absolut  Ideales, 
welches  ebensogut  auch  absolut  real  ist;  im  Beispiele  liegt  die  Idee  des 
Dreiecks,  platonisierend,  jedem  einzelnen  Dreiecke  zum  Grunde,  und  im 
Gegenteile  spiegelt  jedes  einzelne  Dreieck  die  Idee  des  Dreiecks  zurück, 
,,und  wir  sehen  also,  daß  das  Ideale  zugleich  das  Reale  ist'' ;  —  vergessen 
aber  nach  hergebrachter  Weise,  daß  die  Idee  —  es  sollte  heißen:  der 
allgemeine  Begriff  des  Dreiecks,  —  von  weiterem  logischen  Umfange  und 
minderem  Inhalte  ist,  als  jedes  bestimmte  Dreieck,  daher  der  Spiegel 
sehr    schlecht    beschaffen    sein    muß,    indem    er,    gleich    allen    schlechten 


Gottlieb  Benj.  Jäsche:  Der  Pantheismus,  nach  seinen  verschiedenen  Hauptfonnen.         27 


Spiegeln,  seine  eigene  Farbe  mit  einmischt  in  das  Bild.  Mit  ähnlicher 
Nachlässigkeit  geht's  fort.  Die  Einheit,  insofern  sie  dem  Gegensatze  als 
über  ihm  befindlich  entgegensteht,  ist  Gott.  „Nur  dadurch^^  daß  Gott  dem 
Gegensatze  entgegensieht,  daß  er  als  durch  denselben  beschränkt  gedacht 
wird,  läßt  sich  die  Persönlichkeit  Gottes  und  das  Bervi/ßtsein  desselben  er- 
kläten.''  Demgemäß  besteht  der  Hauptunterschied  des  Fichteschen  und 
Schellingschen  Systems  darin:  daß  das  Schellingsche  System  das  in  das 
Absolute  setzte  was  Fichte  in  das  Ich  setzte.  Vergessen  sind  dabei  die 
obigen,  vom  Ich  ins  Absolute  versetzten  Fragen,  „welche  einem  Fichtianer 
schwer  zu  beantworten  sein  möchten''.  Eine  Schranke,  die  das  Ich  in 
sich  setze,  war  unbegreiflich.  Wie  mag  denn  wohl,  um  des  Verfs.  Sprache 
zu  reden,  das  Absolute  verbunden  sein,  dem  Gegensatze  entgegenzustehen? 
Wieviel  Sinn  die  Frage  oben  hatte,  gerade  soviel  hat  sie  hier;  und 
geradeso  wenig  ist  daran  zu  denken,  daß  sie  jemals  beantwortet  werden 
könnte.  Auch  mit  der  Polarität  ist  noch  alles  beim  Alten;  und  die  Miß- 
deutung der  (ohnehin  schon  mit  sich  selbst  zerfallenden)  Kantischen 
Anfangsgründe  der  Naturlehre  —  jene  Mißdeutung,  welche  einst  den 
Magnetismus  zur  ersten  Dimension  der  Materie  stempelte,  —  scheint 
{wenn  wir  schließen  dürfen  nach  dem,  was  wir  hier  lesen)  auch  noch 
keiner  Verbesserung  unterworfen  zu  sein.  Desgleichen  ist  im  Menschen 
noch  immer  „die  höchste  Entfernung  vom  Absoluten  gegeben;  doch  soll 
durch  den  Menschen  die  bewußte  Einheit  hergestellt  werden,  da,  ehe  die 
Gegensätze  herausgetreten  waren,  zwar  auch  eine  Einheit  war,  aber  eine 
unbewußte.'-  Dabei  fallen  uns  nun  zwar  allerlei  Fragen  ein,  wegen  der 
Persönlichkeit  und  wegen  des  Bewußtseins  in  Gott,  welches  oben  bestimmt 
behauptet  wurde.  Allein  wir  mögen  dergleichen  Fragen,  die  leicht  das 
Gefühl  verletzen,  gern  den  Theologen  überlassen.  Fragt  man  uns,  was 
der  .Verf.  geleistet  habe,  so  antworten  wir:  er  warnt  durch  sein  Beispiel; 
keiner  möge  mit  gleicher  Befangenheit  und  gleich  unzulänglicher  Vor- 
bereitung, sich  an  den  höchst  interessanten  Gegenstand  wagen! 


Jäsche,  Gottlieb  Benj.,  Grundlinien  der  Ethik  oder  philosophi- 
schen Sittenlehre.  Zunächst  zum  Gebrauche  seiner  Vorlesungen 
entworfen.   —   Dorpat    1824. 

Jäsche,  Gottlieb  Benj.,  Der  Pantheismus,  nach  seinen  verschie- 
denen Hauptformen,  seinem  Ursprünge  und  Fortgange, 
seinem  spekulativen  und  praktischen  Werthe  und  Gehalte. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  und  Kritik  dieser  Lehre  in  alter  und 
neuer  Philosophie.  I.  Bd.  —  Berlin  1826. 
Gedruckt  in:  Leipziger  Literatur-Zeitung    1827,   Nr.  76,    77.      SW.  XII,  S.  552. 

Erst  durch  das  zweite  dieser  Werke,  welches  vermutlich  viele  Leser 
finden  wird,  da  es  ein  Wort  zu  seiner  Zeit  und  nicht  so  schwach  ist,  als 
manches   neuere   von   ähnlicher  Tendenz,    ist  Rez.    aufmerksam   geworden 


28  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


auch  auf  das  frühere,  das,  für  sich  allein  betrachtet,  nur  das  Interesse 
eines  Kompendiums  von  bekanntem  Inhalte  gewähren  würde,  Hr.  J.  ist 
Kantianer  im  guten  Sinne;  d.  h.  die  Kantischen  Vorstellungsarten  haben 
zwar  bei  ihm  ein  merkliches  Übergewicht,  und  machen  ihn  befangen,  wo 
es  darauf  ankommt,  andere  Ansichten  vorurteilsfrei  zu  prüfen;  aber  sie 
sind  sein  geistiges  Eigentum  geworden;  er  weiß  sie  darzustellen  und  sie 
haben  ihn  nicht  gehindert,  mit  der  neueren  philosophischen  Literatur  auf- 
merksam fortzugehen.  Er  fühlt,  daß  der  Kantianismus  Beruf  hat,  mit 
dem  neuerlich  überhandnehmenden,  und  in  allerlei  Formen  künstlich  ver- 
hüllten Pantheismus  sich  ernstlich  in  Streit  einzulassen;  einen  Streit,  der 
länger  dauern  kann,  als  man  sich  auf  beiden  Seiten  vorzustellen  scheint. 
Zwar  hat  der  Kantianismus  seine  großen  Schwächen,  und  als  transcenden- 
taler  Idealismus  wird  er  den  Sieg  wohl  nicht  davon  tragen.  Aber  er 
hat  auch  zwei  feste  Punkte;  den  einen  besitzt  er  in  dem  richtigen  Be- 
griffe vom  Sein,  wodurch  Kant,  wenn  er  ihn  nur  gehörig  benutzt  hätte, 
nicht  bloß  einen  bekannten  ontologischen  Beweis  würae  widerlegt, 
sondern  eine  wahre  Ontologie  begründet  haben,  die  sich  mit  keinem 
Pantheismus  verträgt.  Den  andern  starken  Punkt  befestigte  Kant,  indem 
er  gleich  dem  Platon  gegen  allen  Eudämonismus  protestierte;  wodurch 
eine  kosmische  Sittenlehre,  welche  als  Darstellung  eines  Realen  auftreten 
und  die  Form  einer  Güterlehre  vorzugsweise  annehmen  will,  entschieden 
zurückgewiesen  ist,  wie  sehr  sie  auch  den  Pi.aton  gegen  dessen  klare 
Worte  in  ihr  Interesse  zu  ziehen  sucht.  Es  könnte  wohl  einmal  jemanden 
einfallen,  die  ganze  Psychologie  oder  psychische  Anthropologie  des 
Kantianismus  zusamt  der  Freiheitslehre,  als  bloße  Nebensachen  darzustellen; 
die  man  als  vorgeschoben  und  angefügt  jenen  beiden  Punkten  anzusehen 
hätte;  indem  Kant  nach  Erläuterungen  und  nach  Hilfsmitteln  suchte,  um 
das,  was  er  beabsichtigte,  nämlich  Kritik  der  Theologie  und  der  Moral, 
zu  Stande  zu  bringen.  Alsdann  würde  freilich  der  Streit  zwischen  Kants 
Lehre  und  dem  Pantheismus  anders  als  jetzt  zu  stehen  kommen,  und 
es  würde  sich  zeigen,  daß  in  Kants  Kritik  der  spekulativen  Theologie 
nicht  bloß  die  Leibnizisch -Wolffische  Lehre,  sondern  vollkommen  ebenso 
scharf  der  Spinozismus  getroffen  und  verwundet  ist,  so  daß  ihm  alle  seine 
proteusartigen  Verwandlungen  auf  die  Länge  nicht  helfen  können.  Allein 
wie  die  Sache  liegt,  muß  Rez.,  so  gewiß  er  im  wesentlichen  auf  des  Verfs. 
Seite  steht,  sich  doch  hüten,  für  diesmal  sich  in  den  Streit  dergestalt  ein- 
zulassen, als  ob  er  sich  für  eine  oder  die  andere  Partie  zu  erklären  hätte. 
Denn  Hr.  J.  endigt  mit  der  Andeutung,  „daß  überhaupt  jede  auf  Einheit 
und  Ganzheit  Anspruch  machende  Philosophie  als  eine  positive  Wissen- 
schaft und  Theorie  des  fV  y.ui  nüy  auf  Leugnung  der  Freiheit  hinaus- 
laufe;'' und  er  meint,  diese  Überzeugung  würde  nur  die  Wahl  übrig  lassen, 
entweder  der  Freiheit  den  Rücken  zu  kehren,  oder  von  jedem  Versuche 
zu  wissenschaftlicher  Ausbildung  eines  mit  der  Freiheit  unvert inbaren 
Systems  abzustehen.  „Wofür  wir  uns  bei  dieser  Alternative  zu  entscheiden 
haben  möchten,  das  wird  ohne  Zweifel  hauptsächlich  darauf  ankommen, 
ob  wir  dem  theoretischen  Verstandes-  oder  dem  praktischen  Vernunft- 
Interesse  das  Primat  einräumen  sollen?''  Die  Antwort  jedes  Kantianers 
auf    diese  Frage    ist   bekannt;    wir   haben  jedoch    hier  mancherlei  zu  er- 


Gottlieb  Benj.  Jäsche:  Der  Pantheismus,  nach  seinen  verschiedenen  Hauptformen.         29 

innern.  Erstlich  wollen  wir  eine  Stelle  aus  Kants  Kritik  der  praktischen 
Vernunft,  welche  von  dem  erwähnten  Primat  handelt,  wörtlich  hersetzen. 
,.Wenn  reine  Vernunft  für  sich  praktisch  sein  kann,  so  ist  es  doch  immer 
7iur  eine  und  dieselbe  Vertiiinft,  die,  es  sei  in  theoretischer  oder  praktischer 
Absicht,  nach  Prinzipien  a  priori  urteilt,  und  da  ist  es  klar,  daß  sie, 
wenn  ihr  Vermögen  in  der  erstem  gleich  nicht  zulangt,  gewisse  Sätze  be- 
hauptend festzustellen,  indessen,  daß  sie  ihr  auch  eben  nicht  widersprechen, 
eben  diese  Sätze,  sobald  sie  unabtrennlich  zum  praktischen  Interesse  ge- 
hören, annehmen,  und  mit  allem,  was  sie  als  spekulative  Vernunft  in 
ihrer  Macht  hat,  zu  vergleichen  und  zu  verknüpfen  suchen  müsse" 
Hier  spricht  Kant  gar  nicht  von  dem  Falle,  wo  ein  theoretisches  Interesse 
vorhanden,  noch  weniger  von  dem  Umstände,  daß  die  theoretische  Unter- 
suchung auf  ein  entscheidendes  Resultat  könnte  geführt  haben.  Wer 
praktische  Interessen  gegen  klare  theoretische  Beweise  würde  aufbieten 
•wollen,  der  könnte  nicht  ohne  großes  Unrecht  Kants  Autorität  für  sich 
anführen,  da  ja  offenbar  diese  Autorität  nur  soweit  gilt,  als  eine  Lücke 
des  Wissens  durch  einen  vernünftigen  Glauben  soll  ausgefüllt  werden. 
Keineswegs  nun  begnügt  sich  der  Pantheismus  damit,  bloß  eine  Lücke 
des  Wissens  zu  bezeichnen.  In  ihm  liegt  vielmehr  die  Behauptung  eines 
positiven  VVissens  und  folglich  muß  Wissen  gegen  Wissen  auftreten,  wenn 
er  soll  überwältigt  werden.  Unsere  zweite  Bemerkung  sei  folgende:  der 
Verf  begeht  einen  Fehler,  indem  er  sich  auf  die  Voraussetzung,  ,,jede 
auf  Einheit  und  Ganzheit  Anspruch  machende  Philosophie  sei  Theorie 
der  All-Einheit,"  überall  nur  einläßt:  das  heißt  den  Gegnern  gewonnenes 
Spiel  zugestehen.  Er  mußte  gegen  solche  Art  von  Totalität,  welche  die 
Philosophie  nur  durch  Pantheismus  erreichen  könnte,  geradezu  protestieren, 
als  gegen  ein  ganz  falsches  Ideal  Der  Verf.  war  schon  auf  besserem  W'ege, 
als  er  in  §  58  seiner  Ethik  schrieb:  ,,Jede  bloß  theoretische  Behandlung 
der  Ethik  kann  immer  nur  die  praktisch  bedeutungs-  und  gehaltlosen 
Ideen  von  ewiger  Einheit  und  Notwendigkeit  im  Sein  und  Wesen  der 
Dinge,  und  von  ewiger  Ordnung  der  Dinge  zum  Grunde  legen,  woraus 
aber  kein  Prinzip  der  praktischen  Notwendigkeit  des  Sollens  und  der 
Pflicht  sich  ableiten  läßt.''  Hierbei  verspricht  die  Anmerkung  für  die 
mündlichen  Vorlesungen  eine  Kritik  verschiedener  Versuche  zur  Be- 
gründung der  Ethik  durch  Ideen  und  Prinzipien  einer  bloß  theoretischen 
Spekulation,  z.  B.  von  Spinoza,  Fichte,  Schei.ling,  Hegel  u.  a.  m. 
Ferner  hat  sich  der  Verf.  auch  von  der  theoretischen  Seite  her  (die  durch 
kein  Primat  der  praktischen  Vernunft  entbehrlich  werden  kann)  auf  einen 
besseren  Weg  leiten  lassen  durch  den,  zwar  unvollendeten  aber  gehalt- 
vollen Aufsatz  von  Kraus  in  dessen  nachgelassenen  philosophischen 
Schriften  (Königsberg  1812),  welchen  er  gleich  in  der  Vorrede  erwähnt, 
und  den  jeder  kennen  und  durchdenken  sollte,  wer  immer  über  Pantheis- 
mus für  oder  wider,  zu  sprechen  gedenkt.  Denn  in  diesem  Aufsatze 
herrscht  ein  Grad  von  ontologischer  Besinnung,  den  man  zum  aller- 
wenigsten sich  völlig  muß  zu  eigen  gemacht  haben,  und  der  doch  manchem 
berühmten  Manne,  z.  B  dem  Spinoza,  ganz  offenbar  gefehlt  hat.  Wir 
werden  darüber  anderwärts  weiter  sprechen;  genug  für  jetzt,  daß  der 
Verf.  eben  nicht  nötig  hatte,    sich   seinen  Gegnern  soweit  hinzugeben,   als 


■jQ  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


in  obiger  Äußerung,  die  den  ersten  Band  beschließt,  leider  geschehen  ist. 
Die  Philosophie  wird  zur  Einheit  und  Ganzheit  insoweit,  als  es  sich  für 
sie  gebührt,  dann  gelangen,  wenn  sie  soviel  Zusammenhang,  als  in  ihren 
Gegenständen  wirklich  enthalten  ist,  auch  wirklich  darstellt;  nicht  aber,  wenn 
sie  das  an  sich  Ungleichartige,  welches  gesondert  einander  gegenüber  zu 
stellen  ihr  obliegt,  in  eine  chaotische  Masse  zusammenzwängt,  wodurch 
alle  wahre   Erkenntnis   verloren  geht. 

Das  Vorstehende  wird  im  allgemeinen  die  Stellung  bezeichnen,  welche 
der  Verf.  gegen  den  Pantheismus  genommen  hat;  jetzt  wollen  wir  über  das 
Einzelne  kürzlich  berichten.  Der  erste  Abschnitt  enthält  allgemeine  Be- 
trachtungen über  den  Pantheismus  mit  Rücksicht  auf  die  verschiedenen, 
darüber  herrschenden  Ansichten.  „Wie  viele  verschiedene  Bedeutungen 
muß  docli  der  Begriff  des  Pantheismus  zulassen,"  ruft  der  Verf.  aus,  nach- 
dem er  es  als  eine  seltsame  und  befremdende  Erscheinung  angeführt  hat^ 
daß  der  Lehrer  der  absoluten  Identität,  welcher  sich,  gemäß  seiner  aus- 
drücklichen Versicherung,  sowohl  dem  Inhalte  als  der  Sache  nach  dem 
Spinoza  am  meisten  zu  nähern  geglaubt  hatte,  späterhin  gestand,  niemand 
stimme  mehr  als  er  in  den  Wunsch  ein,  der  unmännliche  pantheistische 
Schwindel  möge  aufhören;  überdies  aber  vergönnte,  man  möge  sein  System 
Pantheismus  nennen,  weil  in  Bezug  auf  das  Absolute  schlechthin  betrachtet, 
alle  Gegensätze  verschwänden.  Wobei  wir  gelegentlich  bemerken,  daß, 
wenn  diese  Lehre  auch  nicht  Pantheismus  heißen  müßte,  sie  doch  gewiß 
den  Namen  Spinozismus  nicht  verweigern  kann,  indem  ein  überall  wieder- 
kehrendes, durch  nichts  begründetes  und  verteidigtes  Quatenus,  d.  h.  ein 
beliebiges  Betrachten  in  diesem  oder  jenem  Bezüge,  von  dieser  und  von 
jener  Seite,  ohne  irgend  eine  genügende  Nachweisung  über  den  Ursprung^ 
und  die  Möglichkeit  aller  dieser  vielen  Seiten,  gerade  die  Seele  des- 
Spinozismus  und  sein  Grundfehler  ist.  —  Hr.  J.  trägt  übrigens  kein  Be- 
denken, diese  Lehre  unter  die  Kategorien  der  pantheistischen  Systeme  mit 
aufzunehmen,  worin  wir  ihm  alsdann  beistimmen  werden,  wann  dieselbe 
irgend  ein,  in  gleichem  Grade  wie  Spinozas  Ethik  folgerecht  ausgearbeitetes 
Werk  wird  aufzuweisen  haben,  wodurch  sie  den  Namen  eines  Systems 
verdienen  könne.  —  Die  Nominal -Definition,  durch  welche  der  Verf. 
fürs  erste  den  Begriff  zu  fixieren  sucht,  lautet  nun  so:  Pantheismus  ist 
dasjenige  System,  nach  welchem  Gott  alles,  oder  das  All  ist.  Aber  hierin 
(fährt  er  fort)  liegt  eine  Vieldeutigkeit.  Entweder  Gott  ist  Vereinigungs- 
punkt aller  Realität  der  von  ihm  abzuleitenden  Wesen,  oder  es  ist  nichts 
außer  ihm,  in  welchem  letzteren  Falle  die  Welt  der  Dinge  geleugnet 
wird.  Beide  Bestimmungen  aber  sind  noch  nicht  treffend.  Nach  der 
ersten  Bedeutung  würde  der  Pantheist  sich  vom  Theisten  nicht  unter- 
scheiden ;  nach  der  zweiten  würde  der  Begriff  seine  Anwendbarkeit  auf 
die  pantheistischen  Systeme,  selbst  auf  das  eleatische,  verlieren.  (Wir 
werden  auf  diesen  Punkt  tiefer  unten  zurückkommen.)  „Welche  Be- 
wandtnis es  aber  auch  mit  der  eleatischen  Lehre  haben  möge"  (fügt  der 
Verf.  mit  Recht  zweifelnd  an  der  Wahrheit  seines  vorigen  Ausspruches 
hinzu),  „dies  wenigstens  leidet  keinen  Zweifel,  daß  auf  Spinoza,  und  mit 
ihm  auf  eine  nicht  unbedeutende  Anzahl  alter  und  neuer  Denker  die 
Benennung   eines   Pantheisten   anzuwenden   sei."     Hier   wird  Herder   er- 


Gottlieb  Benj.  Jäsche:  Der  Pantheismus,  nach  seinen  verschiedenen  Hauptformen.         31 

wähnt,  durch  welchen  Spinoza  von  dem  Vorwurf  der  Identifikation  Gottes 
mit    den    Dingen    soll    befreit    sein;    auch  Schelling,    nach   welchem    der 
Unterschied  des  Grundes  und  der  Folge,  des  Ursprünglichen  und  des  Ab- 
geleiteten,   Gott    und    die    Dinge    weit    genug    trennen    soll;     (Wir   können 
damit   nicht    einstimmen.      Man    zeige  uns   erst  die   Ableitung!    Diese  fehlt 
bekanntlich  bei  Spinoza  ganz  und  gar,    und  zwar  deswegen,    weil  er  sich 
vor    dem   Anstößigen,    das  man   bei  ihm   gefunden  und   wogegen   man  ihn 
alsdann    mit    unnötiger    Mühe  verteidigt    hat,    überall    gar    nicht    fürchtete. 
Nichts  Anstößigeres    kann    ersonnen    werden,    als  die  offenbare,    völlig  un- 
umwunden ausgesprochene  Unrechtslehre  im  zweiten  Kapitel  des  tractatus 
politicus.    Und  in  der  Ethik  kann  man  die  erste  beste  Seite  aufschlagen, 
um    zu   lesen,    daß  Gott   affiziert  sei  u.  dergl.;   wie  in  der  propositio  IX, 
partis  II,    die    uns  gerade   zufällig  ins  Auge  fällt,   und   die  so  lautet:    idea 
rei  singularis,  actu  existentis,   Deum  pro  causa  habet,  non  quatenus  infinitus 
est,    sed    quatenus    alia  rei  singularis  actu  existentis  idea  affectus  conside- 
ratur,   cuius  etiam  Deus  est  causa,   quatenus  alia   tertia  aff'ectus   est,   et  sie 
in   infinitum.    Affektionen   aber  beziehen  sich  nach   bekannter  Schulsprache 
auf  die  Substanz,  und   hiermit  fällt  der  Satz  nicht  in  die  Sphäre  der  Be- 
griffe   von   Grund  und   Folge,    sondern   von  Substanz  und   Accidenz.      Daß 
aber   Schilling    allerlei   Ableitungen,    den    Worten    nach,    versucht    hat, 
wissen    wir   gar    wohl.      Wir    besinnen  uns  recht  wohl  auf  den   Satz:    „das 
Unendliche    ist    absolut   nur   als    absolute  Verneinung    des   Nichts,    als  ab- 
solutes Bejahen    seiner    selbst    in    allen   Form.en,    als   unendliche  Copula." 
Wir    wissen,    daß    diese  Selbst- Bejahung    in    der   Form    des  Endlichen    ge- 
schehen soll,   und  bezweifeln   vollkommen,   daß   dies   absolut  ungereimt  ist, 
indem  Unendliches  in   der  Form   des  Endlichen   sich  keineswegs  selbst  be- 
jahen,  sondern  selbst   verneinen   würde.     So  offenbar  vergebliche   Versuche 
des   Ableitens,    wodurch   Grund    und   Folge    sollen  getrennt  werden,   über- 
zeugen  uns  denn  vollends  von   dem,    was  wir  ohnehin  wußten,    daß  keine 
Ableitung,   keine  Trennung,  keine  Sonderung  der  Folge   vom  Grunde   hier 
anzubringen   ist,   sondern   daß  es  bei  Spinozas  klaren  Worten   bleibt:   Gott 
ist  affiziert  vom  Endlichen;   wobei  wir  noch   hinzusetzen,  daß  wir  uns  auf 
das    doppelte    quatenus^    in    dem    quatenus    infinitus    und    quatenus  affectus 
est,    nicht    einlassen,    indem   7?jan   auf  die    Weise  allen   möglichen    Unsinn   ver- 
teidigen könnte)    Der  Verf.,  hier  wie  anderwärts  den  Gegnern   zu  viel  ein- 
räumend,   hilft    sich    endlich    mit    dem   Ausspruche:    „Pantheismus    ist  die 
Lehre,    welche    das    Verhältnis    Gottes    zur    Welt    als    ein    Verhältnis    der 
Immanenz    oder    des    Begriffenseins    der    Dinge    in    Gott   vorstellt."     Aber 
nun    drückt    ihn    wiederum    der    Umstand,    daß    alsdann    die    Emanations- 
Systeme    von    der   Klasse    der  pantheistischen   würden   ausgeschlossen  sein, 
wohin    sie    doch    pflegen    gerechnet  zu    werden.      Darum   soll  eine  weitere 
und    engere    Bedeutung    des    pantheistischen   Grundbegriffes    unterschieden, 
und    hiermit    Immanenz    und   Emanation    als    zwei    besondere  Formen    be- 
trachtet   werden.       Nun    die    Fragen:    ist    der    Pantheismus,    als    solcher, 
Atheismus?     Fatalismus?     Und    wie    verhält    er    sich    zum    Materialismus? 
Intellektualismus?     Realismus?     Idealismus?     Dualismus?    Aber    der    Verf. 
scheint    hier   nur    die   Größe  und   Wichtigkeit  des  fraglichen   Gegenstandes 
zeigen    zu    wollen;    einerseits,    indem    er    die    Schwierigkeit    bemerkt,    den 


^2  J-  F-   Herbarts  Rezensionen. 

Pantheismus    in     irgend     einer    seiner    Gestalten    festzuhalten ;     andrerseits, 
indem   die  Furcht  vor  diesem  Proteus  keine   leere  Furcht  vor  einem  bloßen 
Namen,  sondern   durch   die  Geschichte  unserer  neuern  und  neuesten  Philo- 
sophie   nur    zu    wohl    begründet    sei.      Ja    freilich!    Diese    Furcht    ist    voll- 
kommen begründet,  besonders  u'eil   daraus  eine  voreilige  Furcht  und  Scheu 
vor  aller  Philosophie   —    nicht  etwa  bloß  entstehen  kann,  sondern  wirklich 
entstanden    ist;    woraus    eine  Gewalt    und   ein   Streit  alier  Arten  von    Vor- 
urteilen,   denen    nunmehr    das  Gegengewicht   des    Denkens   fehlt,    gar  bald 
ferner   entstehen   muß.    Der  Verf.  selbst  aber  scheint  uns  hier  eine  Neigung 
zu    einem    theologischen    Dogmatismus    zu    verraten,    den    wir    bei    einem 
kritischen   Philosophen    nicht    erwartet    hätten.      Wir    lesen    da    etwas    von 
einem  „Dualismus,   welcher  den  Gegenstand   der  höchsten   Idee  nicht  bloß 
über    die   Nalur,    als   Inbegriff  der  Erscheinungen,    sondern   auch   über  die 
übersinnliche  Welt  erhebe;"  da  indessen  die  Absicht  dieser  Stelle  nicht  ganz 
deutlich    ist,    so    erinnern    wir    bloß  an   die   Frage:    Was  kann  ich   wissen? 
Dem   Verf.    ist   doch    gewiß  bekannt  und  gegenwärtig,    daß  jeder  übereilte 
Dogmatismus    sich    wider   seine    Absicht    in   Nahrung    für    die   Zweifelsucht 
verwandelt?    —    Er    lehrt  ja  selbst,    daß  „diejenigen   Denker,    welche  dem 
echten   Kritizismus  treu   bleiben,  den   letzten   Zweck  aller  Philosophie  nicht 
in    Erweiterung    und    Vollendung    eines    allumfassenden,    keiner   Ergänzung 
durch    Glauben    bedürfenden     Wissens,    sondern    in    Rechtfertigung    eines 
rein   vernünftigen  Glaubens   setzen;"  womit  Rez.  sehr  nahe  übereinstimmen 
würde,    sähe    er    nicht    die    große    Unbehutsamkeit    vor    Augen,    welche    in 
Bestimmung     der    Gegenstände    des    Glaubens,     und    in     Bestreitung    der 
Gegner,    überall    begangen    wird.   —   Der  Verf.  schließt  nun  seinen   ersten 
Abschnitt    mit    der    folgenden    Erklärung:    „Es    ist    unsere    bestimmt    aus- 
gesprochene Absicht  bei  den  folgenden  Untersuchungen,   den  Rationalismus 
des    rein    vernünftigen    Glaubens    in    seinen    wohlgegründeten    Rechten    und 
Ansprüchen    gegen    die    widerrechtlichen   Anforderungen    des  Rationalismus 
eines  falschen^  angemaßten    Wissens  geltend   zu  machen.     Denn   diese   Unter- 
suchungen   sollen     hoffentlich    zu    dem     Resultate    führen,     daß    die  .von 
manchen  so  hoch  gepriesene  Schlußfestigkeit  aller  Hvperphysik  des  Pantheis- 
mus  kein   haltbares   Fundament  habe,  sondern   auf  einem  Prinzipe  beruhe, 
welches    nur    für   die    um  ergeordnete   Sphäre    des   niederen    Wissens  um   Dinge 
der  Stnnenwelt  gültig   ist,   für  die  höchste  Region   der  Ideen   ewiger    Wahrheit 
aber,   zu  welcher  die  Vernunjt  im  Glauben  sich  erhebt,   keine  Gültigkeit  habe, 
weil   hier    ein    höheres   Gesetz    waltet,    dem    das   niedere   Prinzip  sich  unter- 
werfen   muß."      Über    beide   Prinzipien,    das    höhere    und    niedere^    soll    der 
nächstfolgende  Abschnitt  bereits  einige  genügende  Aufschlüsse  geben. 

„Welcher  Theist  wird  es  leugnen  wollen,''  sagt  Hr.  J  gleich  auf  den 
ersten  Seiten  des  zweiten  Abschnittes,  „welcher  wird  es  anstößig  und  be- 
denklich finden,  der  Welt  der  Dinge  schon  vor  ihrer  ivirkliclmi  Existenz 
eine  Art  von  Dasein  in  Gott  zuzuschreiben^  und  sonach  eine  ursprüngliche 
Immanenz  des  Seins  und  Wesens  derselben  im  göttlichen  Urwesen  und  Ursein 
vorauszusetzen!"  (Eine  starke  Probe  der  oben  bemerkten  Unbehutsamkeit!) 
.„Aber  welche  verschiedene  Deutungen  läßt  derselbe  Begriff  von  Immanenz 
zu!"  Der  weiteren  Entwicklung  vorarbeitend,  teilt  nun  Hr.  J.  den  Grund- 
gedanken   der    pantheistischen    Lehre    in    zwei    Hauptgedanken,    eigentlich 


Gottlieb  Benj.  Jäsche:  Der  Pantheismus,  nach  seinen  verschiedenen  Ilauptformeu.         ^3 

nur    zwei  verschiedene  Seiten;    nämlich  Alles   ist  Eines,    und,    das  alleinige 
Wesen  ist  zugleich  Alles.      Der  erste  Satz  hebt  alle  qualitative  Differenz  in 
dem  Realen  gänzlich  auf.     Er  kann   drei   verschiedene  Gestalten  annehmen, 
indem    der  Pantheismus    sich    bald    mit    dem   Materialismus,    bald  dem   /«- 
tellektualismus,    bald    dem    gemeinsamen    Grundprinzipe   der  Materie   und   des 
Geistes  vorzugsweise  befreundet.    In   der  ersten  Form  ist  der  Pantheismus 
Naturvergötterung,    Hylozoismus,    ionische    und    stoische    Naturlehre.      Die 
zweite  war  ursprünglich  orientalisch,   indisch,  gnostisch,  tienplatonisch ;   später 
findet    sie    sich    bei    Malebranche,    endlich    bei   Fichte,    Hegel  u.  s.  f 
Die    dritte,    dualistische    Form,    worin   gleiche    Realität    der    Körper-    und 
Geisterwelt   anerkannt   wird,    zeigt   sich    bei  Spinoza  und  Schelling,    bei 
letzterem    in    einer    geläuterten    (oder    auch    getrübten?)    Eigenheit.      Der 
zweite  Satz  war:   ein  alleiniges    Wesen  ist  Alles.    Dies  ist  der  Ausdruck  der 
quantitativen   Einheit  eines   vollendeten   Ganzen,    welches  nichts  außer  sich 
hat,  als  das  Nichts.    (Also  doch  das  Nichts  hat  es  außer  sich?  Wir  stellen 
diese    Frage   nicht    hierher   in   Beziehung   auf   den   Verf,    sondern    in   Be- 
ziehung auf  Schelling,  nach  welchem,  wie  oben  bemerkt,  das   Unendlich 
sich    damit    beschäftigt,     das    Nichts    zit    verneinen,     wie    auch    das    Band 
Raum    und    Zeit    verneint,    und    dadurch    sehr    wichtige    Dinge    zu    stände 
bringt,    worüber   das  Buch    von    der   Weltseele   Auskunft  gibt.)      „Die  ein- 
zelnen   Weltwesen    und    deren   Veränderungen    sind    nun    im  Systeme    des 
materialistischen    Pantheismus    besondere    Teile    und    Äußerungen    der    Ur- 
materie    und   Weltseele;    in    dem    des  idealistischen   sind   sie  Gedanken   der 
absoluten   Intelligenz;  im  dualistischen   Pantheismus  sind  sie  besondere  Er- 
scheinungsweisen   der    zugleich    denkenden    und    undenkenden   Natur."   — 
Derselbe  Grundgedanke  aber  nimmt  noch  mehrere  mögliche  Bestimmungen 
an.      Ersdich,    das    wahre    Identitätssystem    ist    das    des   Parmenides    und 
Melissos,   nach  dem  Satze   A  =  A;   worin  das  Sein  lediglich  als  sein  eigejies 
Prääikat   auftritt,    ohne  Trübung    durch    irgend    eine  Differenz,    daher  un- 
fähig zur  Erklärung  der  Welt.      Zweitens,   wenn  das  eine  als  Substanz  be- 
stimmt   wird,    so    wird    ihr,    als    dem    ursprünglichen,    ein    anderes  Sein,    ein 
abgeleitetes,    als   Accidenz    beigelegt;    es   entsteht    eine  Differenz   in    der  In- 
diff'erenz;  ein   Gegensatz  zwischen   Ursein  und  abgeleitetem  Sein,  zwischen 
Grund  und   Folge.     (Und  rückwärts,  fügen  wir  hinzu,   liegt  diesem  Gegen- 
satze  der   Begriff  des  Verhältnisses   zwischen   Substanz   und  Accidenz   zu 
Grunde,  daher  hätte  der  Verf.  nicht  unvorsichtigerweise  dem  von  ihm  S.  47 
genannten  Schriftsteller  Fries  beistimmen   sollen,   welcher  alle  Schwierigkeit 
zu  beseitigen  meinte,  wenn  er  den  Gegenstand  lieber  durch  die  Kategorie 
der  Ursache  als   durch  die  der  Substanz  auffaßte.     Das  hilft  zu  nichts,   wie 
wir    segen    den    nämlichen    Schriftsteller    schon    früher   in    diesen   Blättern 
bemerkt    haben.)       Dieser     dynamische    Pantheismus    kaim    nun    die    vor- 
erwähnten   drei    Formen,    die    materialistische,    idealistische    und    dualistische 
Form,  annehmen.      Wiederum  aber  gibt  es   für  den  letztern,  dualistischen 
Pantheismus    einen    höheren    und    einen    niederen    Standpunkt.      Entweder 
er    betrachtet   Raum   und   Zeit   als  Formen    der  Dinge    an    sich;    macht  Sein 
und   Wirken    von   ihnen  abhängig;    erfüllt  mit  der  Ausdehnung  der  unend- 
lichen Substanz    den   Raum,    und    mit    dem   Werden    der  Dinge    die  Zeit: 
alsdann  kann  er  dem  Vorwurfe  einer  Identifikation  Gottes  mit  der  Sinnen- 

HüRBARis  Werke.     XIII.  3 


T^  ].  F.  Herbarts  Rezensionen. 

weit  nicht  entgehen;   vielmehr  kommt  zu  dem   Verhältnisse  der  Innnanenz 
zwar    noch    das    der  Dependenz    hinzu,    aber    der  Unterschied   des  Unend- 
lichen  und   des  Endlichen  ist  doch   lediglich  quantitativ,   der  Qualität  nach 
hingegen    bleibt   das  Sein   der  Dinge   immer   das  Sein  Gottes.     Oder   der 
dualistische    Pantheismus    wird    durch    den    Kritizismus    befreit    von    dem 
Ankleben    an   Raum    und   Zeit;    er   setzt    nun    eine  qualitative,    wesentliche 
Differenz    zwischen    dem  Sein  in  der  Erscheinung,    und  dem  wahren  Sein 
an    sich.     Dieser   letztere  ist  der  Schellingsche  Pantheismus.    —    Nun  muß 
noch  die  Emanationslehre  in  ihrem  Gegensatze  gegen  strengen  Pantheismus 
betrachtet    werden.      Nach    dem    echten    Pantheismus    gibt    es    keine    Übcr- 
oän<re,  keine  Atisgänge;  das  Weltall  besitzt  ewig  die  gleiche  Vollkommenheit 
(und  Unvollkommenheit!);  es  verschwindet  der  Unterschied  zwischen  dem 
Guteil    und    Bösen.      Hingegen    in    der    Emanationslehre    scheint    die    Welt 
außergöttlich    und  Gott   außei-weltlich.      Doch    scheint    es    nur   so!    Denn  da 
Gott  die  notwendige    Ursache  der  Emanation  sein  soll,  so  sind  die  daher 
fließenden   Dinge  yiicht  wirklich  außer  ihm.     Die  Grundlage  beider  Lehren 
bleibt  dieselbe.     „Gott  kann  unter  keiner  andern   Form  sein  und  gedacht 
werden,    als  unter  der  Form  des  Universums,  welches  sonach  Gott  selbst 
ist.      Der    ganze    Unterschied    aber   läuft    darauf   hinaus,    daß    nach    dem 
Pantheismus    in   Gott    nicht   das    Wesen    ohne  die  Form,    ivie  auch   die  Form 
nicht  ohne  das    Wesen  sein  kann;  dagegen  im  Emanationssysteme  die  Form 
erst   nach   und   nach   zu    dem    Wesen   hinzukommt.     Das  Übergehen    von 
Wesen  zu  Form,  und  das  Hineinbilden  des  Wesens  in  die  Form,  mag  nun 
entweder  als  ein  Herniedersteigen  von  den  vollkommensten,  oder  umgekehrt, 
als   ein  Hinaufsteigen    von    den   niedrigsten   zu   den   höchsten  Stufen    dar- 
sestellt  werden:    immer  bleibt  das  Verhältnis  der  besonderen  Formen  zum 
Wesen    Gottes    ein    Verhältnis    der   Einheit    und  Identität.      Wir    wollen    und 
können  es  der  Emanationslehre  wohl  einräumen,  daß  sie  die  Individualität 
der  Weltwesen  nicht  leugne  und  aufhebe,  aber  wir  können  ihr  nicht  zu- 
cestehen,   daß  hierdurch   eine  reale    Verschiedenheit  zwischen  Gott  und  der 
Welt  begründet  werde.     Die  Welt  ist  der  von   sich  selbst  gleichsam  durch 
einen   Abfall  getrennte  Gott."    —    „Möge  man  auch  die,  im  intellektualen 
Emanationssysteme  herrschende,  Vorstellungsart  mit  Schelling  so  deuten 
wollen,     daß    Gott    hier,     wenigstens    als    ruhiger    Giund   der    Dinge    an- 
genommen werden  könne,    und  die  Tätigkeit  oder  Handlung  vielmehr  in 
das  Emanierende,    als   in    das,    woraus   es   emaniert,   gelegt   werde:    so  ist 
doch  immer  die  Trennung  des  ersteren  vom  zweiten  in  der  Notwendigkeit 
gegründet,    sofern    das    Überfließeti    in    die    Welt   durch  die   Überfülle  des   Ui- 
wesens   an    unendlicher  Realität,    die   eben   deswegen   dadurch  auch  überall 
nicht  vermindert  werden  kann,    notwendig   erfolgt.      Das    Ubetßießende  reißt 
durch  seine  eigeyie   Schwere  sich   los ;   das   Urivesen   wird  dadurch  setner  Ubci- 
fülle  entledigt.''' 

Unsere  Leser  mögen  nach  den  vorstehenden,  freilich  sehr  ins  Kurze 
gezogenen,  Proben  die  ungemein  schätzbare  Klarheit  beurteilen;  womit 
der  Verf.  seinen  Gegenstand  behandelt,  und  welche  gewiß  vielen  sehr 
belehrend  werden  kann.  Vom  dritten  Abschnitte  können  wir  keine  Aus- 
züge weiter  machen,  er  ist  historisch;  in  der  ersten  Abteilung  desselben 
wird    von    den    Eleaten    gehandelt,    in    der    zweiten    von    dem    physischen 


Gottlieb  Benj.  Jäsche:  Der  Pantheismus,  nach  seinen  verschiedenen  Hauptforaien.        35 

Pantheismus,    unter   mehreren  Rubriken,   nämlich  zuerst  vom  Begriffe  der 
Weltseele,    als    bloßer    Bewegungskraft    des    Alls    (hier    von    Anaximander 
und  Empedokles),  dann  von  derselben,  als  Lebenskraft  der  Natur  (Thaies 
und   Anaximenes),    darauf   von    der   Weltseele   als   Intelligenz  (Pythagoras, 
Diogenes,    Heraklit),    endlich    von    der    stoischen    Naturphilosophie.      Im 
nächstfolgenden  Bande  soll  diese  historische  Darstellung  fortgesetzt  werden. 
—  Wir    müssen   nun   hier   einen   vorhin    übergangenen    Punkt   nachholen. 
Der  Verf.  hat  nämlich  in  Ansehung  der  eleatischen  Lehre  zwar  die  vom 
Rez.     längst    gegebene    Erklärung    mit    einer    dankenswerten    Sorgfalt    be- 
rücksichtigt,   und    sich  im  ganzen  beistimmend  geäußert;    dennoch  läßt  er 
sich  den  hergebrachten  Satz  nicht  nehmen :   die  Eleaten  seien  Pantheisten. 
Nun    fehlt    aber    in    der    ausgebildeten    eleatischen    Lehre    zweieriei    am 
Pantheismus,    nämlich  erstlich   der  Begriff  der    Welt,    oder  des  Universums, 
als    einer  Vielheit    wandelbarer  Dinge;    zweitens    der  Begriff  von    Gott,    als 
dem    Oberhaupte    einer   sittlichen    Welt.     Auch  räumt  Hr.  J.   soviel  ein:    die 
Eleaten    haben    das    Dasein   der   Sinnenwelt   geleugnet,   welchen   Umstand 
insbesondere   die  Gründe    des  Zeno   gegen  die  Bewegung  ganz  unleugbar 
dartun.      Allein    jetzt    meint  Hr.  J.,    die  Eleaten    könnten    wohl    eine    zeit- 
und    raumlose    intelligible  Welt  nach  Fichtes  Weise  angenommen  haben. 
Wirklich    ist    diese    Ausrede,    um    die   Eleaten    nicht    von    der    Liste    der 
Pantheisten    wegstreichen    zu    müssen,    die    einzige    noch    übrige,    und    sie 
findet   Veranlassung    in    dem  Satze    des  Parmenides:    das  Erkennen  selbst 
sei  das   Seiende.      Dennoch   wird  damit  nichts  gewonnen.     Freilich   konnte 
die  wahre  Erkenntnis  nirgends  anders  bleiben,  sie  hätte  sonst  außer  dem 
Seienden    Platz   nehmen   müssen,    das   heißt,   sie   wären   für  nichts   erklärt 
worden.      Aber  dies   zufällige   Ziisavimentreffen   mit  dem  Idealistnus  gibt  fioch 
lange   keine   fichtesche   Atisicht.      Zu    der    letzteren   gehört   ein    vorausgehe?ider 
Realismus,    ivie    ihn    Fichte    im   Anfange    des  Buches    über   die  Bestimmung 
des   Menschen    sehr   deutlich    beschreibt.      Dieser    muß    umgekehrt,    aber    nicht 
ganz   weggeworfen  werden,    wie  es  die  eleatische  Spekulation  getan  hatte. 
Sie   behielt   ebensowenig   ein   wirkliches  Erscheinen,    als    eine  Vielheit   der 
Dinge.    Denn   dazu  wäre   Fichtes  produktive  Phantasie  nötig  gewesen,  ein 
Man?iigfaltiges   von    Tätigkeiten   im   Innern   des  Realen,    welches  dessen   einfache 
Qualität  gar  nicht  zidäßt.     Fichten   mußte  Descartes,  Locke,  Leibniz, 
Kant    vorangehen;    seine   Lehre  hat  ihre  bestimmte  Stelle  in   der   Geschichte, 
und    kann    ebensowenig    auf  eine  frühere    hinausgerückt    werden.,    als    irgend 
welche   historischen  Zeugnisse   vorhanden    sind,   die   uns  dazu  berechtigen 
würden.     Es    geschieht    übrigens   nur   aus  Achtung   gegen    den  Verf.,    daß 
Rez.    sich  hier  auf  eine  Antwort  einläßt.    —    Weit  richtiger  ohne  Zweifel 
ist  aber  die  Tendenz  des  ganzen  Werkes.    Sie  geht  dahin,  dem  Pantheis- 
mus   die    Lehre    von    Schöpfung    durch    Freiheit    entgegenzustellen.      Dieses 
nun    führt   auf  die   Bemerkung,    daß  beide  Meinungen   schon  seit  undenk- 
lichen   Zeiten    einander    entgegen    gestanden    haben.      Könnte    eine    von 
ihnen  die  andere  besiegen,   so  ist  nicht  abzusehen,  warum  das  nicht  längst 
geschehen    wäre.      Auf  Begreiflichkeit   tut    der  Verf.   für  seine  Ansicht  voll- 
kommen   Verzicht    (S.    103),     woraus    natüriich    folgt,     daß    den    Gegnern 
unter  solchen  Umständen   auch  nicht  im   mindesten  bange  sein  darf,  man 
werde   ihnen   ihre  Unbegreiflichkeiten    vorrücken,   indem    sie   den  Vorwurf 


J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


sonst    sogleich    zurückgeben    könnten.      Schade    nur    um    den    Scharfsinn, 
womit    der  Verf.    bisher    die    Begriffe    entwickelt    hat,    da    am  Ende    doch 
nichts  Begreifliches  herauskommt  und  herauskommen  soll!    Das  Schlimmste 
aber   ist,    daß   dieser  Scharfsinn,    wie  wir  in  ähnlichen  Fällen  oft  bemerkt 
haben,    immer   nur   den  Gegnern    in    die   Hände  arbeitet.     Denn  was  er- 
reicht der  Verf.  durch  alle  seine  Mühe?    Dies,  daß  der  Pantheismus  die 
Freiheit    muß    fahren    lassen,    und    daß    also    die    offenbare  Torheit    eines 
berühmten  Schriftstellers,   Kantische  transcendentale  Freiheit  dem  Spinozis- 
mus    einpflanzen  zu  wollen,    rückgängig  gemacht  wird.     Hierbei  kann  der 
Pantheismus   nur  gewinnen.    Denn  die  Schwierigkeit,   welche  der  Ursprung 
des  Bösen   hervorbringt,    fällt   nun   ganz   auf  die  entgegenstehende  Lehre, 
welche    dort,    wo    schlechterdings    irgend    eine    dunkle    Notwendigkeit    muß 
anerkannt    werden,    statt   des   Schleiers,    vor   welchem    die    Gedanken   des 
Menschen    still    stehen    sollten,    ein    grelles  Licht   anbringt,    indem   sie   so 
entscheidend    als    möglich    das    Wort    Freiheit    ausspricht!    Es    ist    schon 
schwer,    sich    irgend    welche   Umstände    so    vorzustellen,    daß  in   Rücksicht 
auf  dieselben  ein  heiliger  Wille  das   Böse  vorhersehen  und  doch  zulassen 
konnte,    damit    Gutes    entweder    daraus    entstehe,    oder    doch    überhaupt 
durch    sein    Übergewicht    dafür    Ersatz    schaffe!    Wenn    aber    die    strenge 
Lehre  von  eigentlicher  Schöpfung  alle  möglichen  Rücksichten  hinwegnimmt 
(indem  gar  nichts  da  sein  soll,   worauf  irgend  Rücksicht  könnte  genommen 
sein),   wenn  alsdann   die  freie  Tat  alle   Verantwortung  auf  sich  nimmt,    so 
kann    wohl  der  Pantheismus  sich  rühmen,    er  bringe  wenigstens  das   Böse 
ohne   Verschuldung    in    die   Welt,    weil    er    kein   Wissen    und    kein  Wollen 
dabei     voraussetze.       Es    leidet    kaum    einen    Zweifel,     daß    konsequente 
Pantheisten    diesen    Vorzug    ihrer    Lehre    sehr    wohl    gefühlt   haben.      Ob 
aber   dem  Verf.   die  Erinnerung  hieran  gegenwärtig  gewesen  sei?   das  kann 
Rez.  nicht  bestimmen.    Soviel  ist  gewiß:   die  Schwierigkeit  würde  abnehmen 
in    dem   Grade,    wie    ein   Schriftsteller    sich   mehr  neigen   möchte  zu   einer 
laxen   Moral.      Wer  unter  gewissen   Bestimmungen  für  erlaubt  hält,    Böses 
herbeizuführen,   als   Mittel   und   Veranstaltungen  des  Guten,   dem  ist  über- 
haupt das  Problem  der  Theodicee  minder  wichtig,  und   er  hat  nicht  nötig, 
noch  außer  dem  heiligen   Willen   einen  Grund  der  Unvollkommenheit  an- 
zunehmen.     Rez.    hat    sich   in    dieser  Hinsicht  in   dem   zuerst  angeführten 
Buche,  der  Sittenlehre  des  Verf.  umgesehen,  wovon  nun  noch  einige  Nach- 
richt muß  gegeben  werden.    Vorläufig  nur  die  Bemerkung,  daß  darin  keines- 
wegs eine  laxe  Moral,  wohl  aber  dagegen  eine  starke  Kantische  Befangen- 
heit, und  sehr  wenig  Studium  der  entgegenstehenden  Lehren  anzutreffen  ist; 
welches  unangenehm  auffällt,    wenn  man  eben  von  dem  Werke  über  den 
Pantheismus  herkommt,  und  darin  mit  Vergnügen  die  Sorgfalt  des  Verf.,  sich 
in    die    verschiedensten    Gesichtspunkte    zu   versetzen,    wahrgenommen    hat. 
Die  Vorrede  von   Nr.   i    enthält  die    ungemein  dreiste   Behauptung: 
ohne    bestimmte    Anerkennung    einer    ethischen    Metaphysik    werde   jede 
Lehre   der  Ethik  entweder  zu  einer  bloßen  Physik  der  Sitten  herabgesetzt, 
zum  Systeme  irgend   eines  praktischen  Sensualismus  und   Empirismus  sich 
gestaltend,    in    welchem    die    Notwendigkeit    und    Allgemeingültigkeit    der 
Pflichtgebote    verloren   gehe,   —   oder    in    eine    bloße   Logik    des  Sittlichen 
verwandelt;  welche  die  gehaltleere  Form  der  bloßen  Verständlichkeit  unserer 


Gottlieb  Benj.  Jäsche:  Der  Pantheismus,  nach  seinen  verschiedenen  Hauptformen.         ^7 

Handlungen    zum    obersten    Grundsatze    der   Sittlichkeit    erhebe,    —    oder 
endlich    in    einer    Begründung    der    Ethik    durch    Ästhetik    das    Heil    der 
praktischen    Philosophie    suche.      Daß    aber    nach    Kants    Ansichten    die 
Ethik    ebensowenig    bloße    Logik,    als    bloße    Physik    oder    Ästhetik    sein 
solle,   —   „das  bezeugen   die  authentischen   ebenso  klaren  und  bestimmten, 
als  gehalt-  und  würdevollen  Erklärungen  des,   vom  Gefühle  der  Erhabenheit 
und    Würde    des    Pfiichtgebots    so    lebendig    ergriffenen    und    begeisterten 
Moralphilosophen".    Wirklich  haben  wir  Mühe,  in  dieser  etwas  ungehaltenen 
Rede    den    ruhigen    und    klaren   Denker,    den    uns    die    Schrift    über    den 
Pantheismus    vor  Augen    stellte,    wieder  zu  erkennen.     Nicht  von   Kants 
Ansichten,   von   seiner  persönlichen  Denkart,    —   sondern  von  dem  wissen- 
schaftlichen Werte  seiner  Formeln   ist  die  Frage,  wenn  man  ihn  beschuldigt, 
daß    sein    kategorischer    Imperativ    den    sittlichen    Wert   der    Gesinnungen 
in    logische    Allgemeingültigkeit    der    Maximen    verwandele.      Die    Gehalt- 
losigkeit der  Grundformel    hat    er    freilich    durch   Hilfsformeln,    und   durch 
Vorschriften    ohne    richtige   Ableitung    un    der    Rechts-    und    Tugendlehre) 
zu  verbessern  gesucht,    aber  solche  Nachhilfen  verraten  eben  den  Fehler 
der  ursprünglich  angegebenen   Hauptformel.     Ebenso  unpassend,  als  diese 
Berufung   auf  die  Ansichten    und    Gesinnungen  Kants,    wo    es  auf  seine 
wissenschaftliche  Genauigkeit  ankam,   ist  nun  ferner  jene  Zusammenstellung 
der  Physik   der  Sitten  mit  der  ästhetischen   Beurteilung  derselben.     Diese 
letztere    ist  eine  Wertbestimmung,  jene  erstere    dagegen  ist  eine  psycho- 
logische  Erklärung,    wie  die  Sitten    entstehen   und    sich  fortbilden  können. 
Nun  ist    die  Wertbestimmung  gerade   das,   was  die  Sittenlehre  leisten  soll; 
die  psychologische  Erklärung  aber  ist  das,   worum  sie  sich  nicht  bekümmern 
soll.     Noch  mehr!    Die  Wertbestimmung  ist  das,   was   in    allem  sittlichen 
Urteile  wirklich  vollzogen  wird,  wiewohl  im  gemeinen  Leben    mit  manchem 
Irrtum    vermengt:    die    psychologischen   Erklärungen    aber,    wodurch    bald 
unzeitige   Entschuldigungen   eines  Vergehens  herbeigeführt,  bald  durch   die 
Frage  nach   der  Tunlichkeit  des   Geforderten    allerlei  Zweifel   an  der  For- 
derung selbst  aufgeregt  werden,  —  diese  meist  übel  angebrachten  Reflexionen 
haben  von  jeher  die  Sittenlehre  verunstaltet,   und  die  schlimmsten  Zweifel 
dann   veranlaßt,  wann   die   Physik  der  Sitten  gar  eine  ethische  Metaphysik 
vorstellen  wollte,   als  ob   der  Stolz  des  Namens  die  niedrige  Verwandtschaft 
bedecken    könnte.      Es    wäre   eine    wichtige  Aufgabe    für  einen   Historiker, 
alles  das  Unheil  zusammenzustellen,    was    aus   solcher  Verunreinigung  der 
Sittenlehre  schon  entstanden  ist.    Platon  stellt  in  der  Republik  die  edelsten 
Grundsätze   des  echten  sittlichen  Geschmackes  auf,   aber  er  kann   es  nicht 
lassen,    ihnen    eine    falsche    Psychologie    [Xoyog,    S^v/nog    (■nidr/Ai'u)    unter- 
zuschieben.    Die    Stoiker  haben   nicht   genug   an    dem  ofio).oyui\ianog  t^»' 
sie  müssen    noch    allerlei   Betrachtungen    über    die    ersten   Strebungen    der 
Natur  einmengen.    Kant  knüpft  an  seine  Sittengesetze  noch  eine  Freiheits- 
lehre,   die    ihn    allen    metaphysischen    Zweifeln    preisgibt.      Spinoza    und 
Fichte  stellen  gar  ihre  falsche  Metaphysik  dergestalt  in  den  Vordergrund, 
als    ob    das    Sittliche    darauf  beruhte,    und    damit    stünde    und    fiele!    Alle 
diese  Mißgriffe,  samt  denen  der  Engländer,  die  von  Gefühl  und  Sympathie 
reden,    gehören  in  Eine    Klasse,   weil    sie   da,    wo   es   lediglich   auf  Wert- 
bestimmungen ankommt,  unnütze  Zusätze  einmengen,  welche  nichts  vermögen , 


ß8  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


als  Mißhelligkeiten  herbeizuführen,  und  dasjenige,  worüber  im  Grunde 
alle  Parteien  einverstanden  sind,  in  Schatten  zu  stellen.  Rez.  verwirft 
die  sogenannte  ethische  Metaphysik  des  Verfs.  durchaus,  und  mit  der 
reifsten  Überzeugung,  wohl  wissend  gleichwohl,  daß  er  sich  mit  dem 
Verf.  über  die  eigentlichen  Wertbestimmungen  ziemlich  leicht  vereinigen 
würde,  weil  diese  von  jener  gar  nicht  abhängen.  Der  Grund  aber,  weshalb 
wir  diesen  Streitpunkt  hier  hervorheben,  liegt  in  einer  Rücksicht  auf  den 
zu  erwartenden  2.  Teil  des  Werkes  über  den  Pantheismus,  dessen 
spekulativen  nicht  bloß,  sondern  auch  praktischen  Gehalt  zu  würdigen 
der  Verf.  sich  vorgesetzt  hat.  Hierzu  nun  wird  erfordert  werden,  daß 
sich  der  Verf.  besonders  genau  mit  Schleiermachers  Kritik  der  Sittenlehre 
beschäftige;  einem  Werke,  dessen  Einfluß  fortdauernd  wächst^  während 
es  sowohl  eine  starke  Polemik  gegen  Kant,  als  eine  entschiedene  Vorliebe 
für  Spinoza  deutlich  an  den  Tag  legt.  Solange  aber  in  der  Kantischen 
Schule  noch  einiges  Leben  ist,  kann  sie  unmöglich  zugeben,  daß  dieser 
Einfluß  ohne  Gegenwirkung  von  ihrer  Seite  bleibe;  und  wir  haben  uns 
längst  gar  sehr  über  die  Sorglosigkeit  gewundert,  womit  sie  es  geschehen 
läßt,  daß  über  die  Fehler  der  Kantischen  Sittenlehre  triumphiert  wird 
mit  Hilfe  anderer,  weit  größerer  Fehler.  Wird  dagegen  der  Streit  von 
beiden  Seiten  so  ausgeführt,  daß  aller  Vorrat  an  Mitteln  dabei  in  Be- 
wegung kommt,  so  kann  das  Ende  desselben  ein  großer  Gewinn  für  die 
Wissenschaft  sein. 

Der  Verf.  handelt  seine  Ethik  im  ersten  Teile  allgemein  als  Ideen- 
und  Prinzipienlehre  ab;  darauf  im  zweiten  Teile  besonders  als  Tugend- 
lehre. Von  der  vorausgeschickten  anthropologischen  Untersuchung  der 
praktischen  Vermögen  des  menschlichen  Geistes  schweigt  Rez.  ganz,  weil 
er  sonst  alles  Einzelne  würde  angreifen  müssen.  Wie  sehr  aber  in  diesem 
Buche  alles  beim  alten  geblieben,  wie  wenig  selbst  auf  das  Bekannteste 
aus  Schleiermachers  Kritik  ist  Rücksicht  genommen  worden:  dies  zeigt 
sich  sogleich  §  34,  wo  als  drei  ethische  Haupt-  oder  Kardinalbegriffe 
nebeneinander  genannt  werden  Tugend,  Pflicht  und  Recht.  Jedermann 
erwartet  zu  hören:  Tugenden,  Pflichten  und  Güter;  nachdem  ScHLEfER- 
MACHER  die  Verwirrung  unter  diesen  Begriffen  stark  genug  getadelt,  auch 
deutlich  genug  gezeigt  hat,  daß  sie  sich  verhalten  wie  Gesinnung,  Tat 
und  Werk.  Aber  der  Verf.,  hierum  ganz  unbekümmert,  scheint  seine 
drei  Begriffe  zusammenzustellen  wie  Wirklichkeit  (der  sittlichen  Güte), 
Notwendigkeit  (im  Pflichtgebote)  und  Möglichkeit  (nach  dem  Begriöe  des 
Erlaubten).  Denn  er  gibt  dem  Rechte  die  allgemeine  Bedeutung  des 
Moralisch  -  Möglichen.  Wir  wollen  uns  hier  nicht  darauf  einlassen,  zu 
fragen,  ob  irgend  etwas  von  ethischer  Bedeutung  vorkommen  könnte, 
das  nicht  logisch  genommen  unter  den  Begriff  des  Notwendigen  fiele? 
Soviel  wenigstens  ist  klar,  daß,  wer  mit  Kant  und  dem  Verf.  alles  auf 
einen  kategorischen  Imperativ  baut,  dieser  nirgends  das  Sollen,  nirgends 
die  Notwendigkeit  los  werden  kann,  —  weder  bei  der  Tugend  noch  beim 
Rechte,  —  und  daß,  wenn  dennoch  ein  Begriff  von  dem,  was  nicht 
schlechthin  gesollt  wird,  ethische  Bedeutung  vorgibt,  dies  nur  durch 
Künstelei  geschehen  kann.  Das  schlimmste  aber  ist,  daß  sogar  in  An- 
sehung des  Rechtes  alle  neueren  Untersuchungen  vom  Verf.  sind  vernach- 


Gottlieb  Benj.  Jäsche:  Der  Pantheismus,  nach  seinen  verschiedenen  Hauptformen.         ^q 


lässigt   worden.      Da   wird    noch   behauptet,    das    Recht    betreffe    nur    das 
äußere   Verhältnis,    als  ob   Unrechtes    zu    wünschen    keine    Gewissenssache 
wäre!     Noch    mehr!     Aus    dem     Rechtsgesetze     fließen    Pflichten,     welche 
Zwangspflichten   heißen,    weil    die   Erfüllung    der  Verbindfichkeit   bei   ihnen 
kann    erzwungen    werden!    Wie  lange   wird   doch   dieser    alte  Irrtum  noch 
wiederkehren!      Daß    schon    Hr.    Hofr.    Hugo    das    alte    Naturrecht    eine 
Totschlags  -  Moral    nannte    (denn:   „wer   gezwungen    werden  soll,    den  muß 
man    allenfalls    auch    töten   dürfen!"),    dieses    ist,    wie    es    scheint,    wieder 
vergessen.     Daß    Kant   selbst,    in    seiner   Rechtslehre,    wenn   schon  wider 
Willen,    die    Falschheit    des    eingebildeten  Zwangsrechtes  verraten  hat,    ist 
unbeachtet   geblieben.      (Kant    führt    nämlich    den    Begrift    des    Unrechtes 
als  den  des  Hindernisses  der  allgemeinen  Freiheit  auf;    Zwang  aber,  der 
dem   Unrechte  wehrt,    ist  nun   wiederum   Hindernis    -des  Hindernisses  der 
Freiheit,  also  ist,    „nach   dem  Satze   des   Widerspruches"    mit  dem   Rechte 
die     Befugnis    zu    zwingen    verknüpft;    und    jetzt   braucht    der    Leser   nur 
noch  einen  Schritt    im   Nachdenken   weiter  zu  gehen,    um   zu   finden,    daß 
jeder  Zwang,   der  mehr  ist,   als  bloße   Negation  der  Negation  des  Rechtes, 
—   d.  h.  jede    zwingende  Gewalt,    welche    an    sich    eine   positive  Tätigkeit 
enthält,   und   die   bloße  Entziehung  willkürlicher  Gefälligkeiten  überschreitet, 
außerhalb  der  Grenzen  jener  nach  dem  Satze  des  Widerspruches  gefundenen 
Befugnis  liegt;   daher  denn    diese  Befugnis  beinahe  in   nichts  verschwindet, 
und    zwar    keine  Totschlagsmoral,    aber    auch    nichts   Brauchbares    ergibt.) 
Rez.  hat    längst   anderwärts   die  wahren  Gründe    desjenigen  Zwanges  ent- 
wickelt,  welcher  in  unseren  Staaten  und  Gesetzgebungen  angewendet  wird; 
aber    es   ist    hier    nicht    der  Ort,    darauf   weiter  einzugehen,    da    der  Verf 
zwar   die  streitigen    und    schwierigen   Gegenstände    berührt,    aber    nirgends 
tiefer   eindringt,    sondern  sich  in  die  engsten  Grenzen  eines  bloßen  Lehr- 
buchs einschließt.    Die  besondere  Ethik,  oder  Tugendlehre,  benutzt  zuerst 
die  vier  Kardinaltugenden  der  Alten  (wobei  die  Gerechtigkeit  nach  Platon 
für  sittliche  Güte  überhaupt  genommen  ist),   um  die  tugendhafte  Gesinnung 
zu  beschreiben,   welches   nicht  unrichtig,  aber  mangelhaft  ist.      Dann   folgt 
die  Lehre   vom   tugendhaften  Verhalten,   oder  von   den  Pflichten;    wo  nun 
leicht  zu    zeigen    sein    würde,    daß    hier,    nachdem    die  Formel    des    kate- 
gorischen Imperativs    so   gut    als    ganz    verlassen   ist,   weil  sich  in  der   Tat 
nichts    aus    ihr  machen   läßt,    dagegen    der    echte    ästhetische  Begriff  von 
der  Würde  der  Persönlichkeit    eigentlich  alles  allein  leisten  muß,    welcher 
jedoch  wiederum  sehr  unbestimmt  aufgefaßt  ist,   weil  es  an  der  notwendigen 
Sonderung     der     ursprünglich     untereinander     verschiedenen     ästhetischen 
Beurteilungen  fehlt;   ohne  welche  nichts  in  der  ganzen  Sittenlehre  deutlich 
auseinander    treten    kann.      Allein    es    darf  nicht  scheinen,    als   sollte  dem 
geehrten  Verf.  insbesondere  irgend  etwas   von  demjenigen,   was  er  mit  so 
vielen    gemein    hat,    ungünstig    ausgelegt    werden.      Rez.    beschränkt    sich 
vielmehr  auf  den  Wunsch,   Hr.  J.  möchte  im   2.  Teile  seines  Werkes  über 
den  Pantheismus    dieselbe   Umsicht    auf    den    verschiedenen    Feldern    der 
Systeme,  welche  den    i.  Teil    so  rühmlich   auszeichnet,  auch  in   Ansehung 
der    praktischen    Philosophie    zu    Tage    legen,     die    wirklich     heutigestages 
Gefahr  läuft,    in    eine    höchst    nachteilige  Dienstbarkeit  gegen  den  Spino- 
zismus  zu  geraten.    Zwar  auf  die  Länge  der  Zeiten  ist  die  Gefahr  gering. 


AQ  J.  F.  Herbaris  Rezensionen. 

Es  war  eine  falsche,  höchst  oberflächliche  Naturphilosophie,  welche  dem 
Spinozismus  unter  uns  zu  neuem  Ansehen  verhalf.  Dereinst  kann  sich 
eine  Zusaramenwirkung  wahrer  Naturphilosophie  und  wahrer  Psychologie 
entwickeln.  Allein  beide  Wissenschaften  sind  schwer,  und  das  Zeitalter 
liebt  in  der  Philosophie  das  Leichte.  Der  Empirismus  hat  eine  entfernte 
Verwandtschaft  mit  dem  Spinozismus;  beide  begegnen  sich  leicht  in  einer 
Art  von  angenehmer  Plauderei  über  die  Natur  der  Dinge;  wobei  man 
zwar  eigentlich  auf  der  Oberfläche  bleibt,  aber  sich  doch  gelegentlich  ein 
Ansehen  von  Tiefsinn  oder  poetischer  Ahnung  gibt.  Hiervon  ist  der 
geehrte  Verf.  der  vorliegenden  Schriften  vüUig  frei;  daher  wir  auf  die 
Fortsetzung  seiner  literarischen  Bemühungen  uns  freuen,  und  denselben 
einen  weiten   Wirkungskreis  wünschen. 


Kiesewetter,  Johann  Gottfried  Christian,  Prof.  der  Philosophie  und 
Mathematik  am  medic.-chirurg.  Institut  in  Berlin,  Darstellung  der 
wichtigsten  Wahrheiten  der  kritischen  Philosophie.  Vierte 
verb.  Aufl.  und  vermehrt  durch  einen  gedrängten  Auszug  aus  Kants 
Kritik  der  reinen  Vernunft  und  eine  Uebersicht  der  vollständigen  Lite- 
ratur der  Kantischen  Philosophie.  Nebst  einer  Lebensbeschreibung 
des  Verfassers.  Von  Christian  Gottfried  Flittner.  —  Berlin,  in 
der  Flittnerschen  Buchhandl.,  1824.  XXII,  264  und  in  der  zweiten 
Abtheilung  noch  348   Seiten.     (2    Rthlr.    12    Gr.) 

Gedruckt   in:  Jenaer  Literatur- Zeitung   1827,   Nr.   87.     SW.   XIII,  S.   517. 

Die  dritte  Auflage  dieses  Buches  ist  vom  Jahre  1803.  Daß  über 
20  Jahre  später  noch  eine  vierte  Auflage  eines  Buches  erscheinen  würde, 
welches  schon  damals  zu  den  ///;■  die  Wissenschaft  unbedeutenden  gehörte, 
konnte  sich  zu  jener  Zeit  wohl  kein  Urteilsfähiger  vorstellen.  Aber  die 
Tatsache  liegt  vor  Augen,  und  sie  ist  ein  Zeichen  der  Zeit!  In  diesen 
Jahren  von  1803  — 1824  ist  die  Philosophie  zwar  vorwärts,  aber  zugleich 
auf  anderen  Seiten  so  sehr  rückwärts  geschritten,  daß  beides  sich  in  ein 
Gleichgewicht  stellt,  wovon  die  natürliche  Folge  nun  vorhanden  ist.  Eine 
nicht  unbedeutende  Zahl  von  Menschen  blieb  auf  dem  vorigen  Punkte 
stehen,  empfahl  im  stillen  das  reine  unveränderte  System  Kants  und 
hierzu  muß  denn  wohl  Kiesewetter  ein  treuerer  Führer  geschienen  haben, 
als  Krug  und  Fries.  Das  Publikum  mag  sich  wohl  erschemen  wie  ein 
Mann,  der  die  verlebten  Jahre  noch  einmal,  jedoch  besser,  zu  durch- 
leben wünscht.  Was  nun  das  Individuum  nicht  vermag,  das  versucht 
die  Menge;  sie  will  den  früheren  Zeitpunkt  zum  gegenwärtigen  machen, 
und  hofft  alsdann  von  dort  her  den  Lauf  noch  einmal  und  glücklicher 
zu  beginnen.  So  können  jedoch  nur  diejenigen  hoffen,  welche  das  Ver- 
hältnis Kants  zu  seinen  Vorgängern,  und  vollends  zu  den  Zeitgenossen 
nicht  kennen.  Weder  der  Grad  von  Abspannung  in  aller  Spekulation, 
wie  zu  Kants  Zeiten,  noch  der  Rest  eines  ungeprüften  Dogmatismus 
aus    der    früheren    Periode,    wogegen    sich    im    Laufe   seines   Lebens    sein 


J.  G.  Chr.  Kiesewetter:  Darstellung  der  wichtigsten  Wahrheiten  us^v.  41 


Geist   übte    und  bildete,   ist  heutigestages  vorhanden.     Kant  hat  gewirkt, 
und   die  Zeit  hat  sich  bewegt;   darum   ivürde  jener,  falls  sein  Geist  eiii  neues 
flehen  jetzt    begönne,    eine   ganz    andere   Kritik    atis   sich    entwickeln,    als  jene 
Kritiken    der    Vernunft    und   der    Urteilskraft.      Aber   davon    begreifen    die- 
jenigen   nichts,    welche    das    Heil    der    Wissenschaft,   sowie    der    Welt,    im 
Stillstehen    suchen.      Und    wir    lassen    uns    ihre    Täuschung   gern    gefallen; 
unter    einer  Bedingung  jedoch,    die  sie  uns  nach   ihren   eigenen  Ansichten 
zugestehen    müssen.     Es    ist    diese:    daß    sie    nicht   die   Darstellung   eines 
andern,    sei   es   nun  Kiesewetter   oder  wer  sonst,    —   an  die  Stelle  der 
eigenen    Schriften    Kants    setzen    sollen.      Dies    ist    der  Punkt,    worin    wir 
den   Grund    des  Zweifels    finden,    ob  wir  das  vorliegende   Buch  empfehlen 
dürfen   oder  nicht.     Wenn  es  mit  Sicherheit  dahin  wirkte^  die   Werke  Kants 
in    neuen    Umlauf  zu    bringen,    so    würde    es    luohltätig  wirken;    denn    der 
Geist    des  großen  Mannes  lebt  in  seinen    Werken,    unbeachtet  der  Mängel  des 
Systems.    Aber  daß  man   vorgebe,  die  ivichtigsten   Wahrheiten  herausgezogen 
zu    haben    (daher    es    denn    nicht  mehr  dringend  nötig  scheinen  wird,    die 
Originalschriften   zu  studieren),    während  sich  in  dem   Auszuge  neben   den 
Wahrheiten    auch   die   ivichtigsten  Irrtümer  beisammen   finden,    die  nun,  da 
sie  von  ihrer  Stelle  gerückt,  von  der  Eigentümlichkeit  des  Vortrages  ent- 
kleidet sind,  nicht  mehr  das  Streben  und   Arbeiten   des  Kantischen  Geistes 
in   verwandten  Geistern   aufregen   können;   —    dies  ist's,   was   uns  den  Wert 
des  vorliegenden   Buches  und  seine  mögliche  Wirksamkeit  sehr  verdächtig 
macht.      Jedoch    allerdings    kann    es    wirken,    indem    die    Kantische   Lehre, 
als   steifer  Dogmatismus    dargestellt.,    gfgen    einen    kritischen    Kopf   ebenso 
anstößt,     wie     der    alte     Wolffische    Dogmatismus     verstieß     gegen    Kants 
Prüfungsgeist.      Und    was    folgt  daraus?    Eine    Wirkung  zwar,    aber  gerade 
die  entgegengesetzte  von  der  beabsichtigten.    Ja,  diese  Wirkung  ist  längst 
vorhanden.    Der  Kantianismus  ist  ein   Stein  des  Anstoßes  geworden,  nicht 
durch   Kant,    sondern    durch    die  Zudringlichkeit  anderer,   welche  meinten 
für  ihn  kämpfen  zu   müssen,    statt,    wie  sich's  für   Denker  gebührt,    ihn  zu 
prüfen. 

Ein  Buch,  das  schon  durch  drei  Auflagen  bekannt  ist,  müßte  uns 
sehr  wichtig  scheinen,  wenn  wir  uns  bewogen  und  selbst  berechtigt  glauben 
sollen,  es  ausführlich  zu  rezensieren.  Wir  geben  demnach  zuerst  Rechen- 
schaft von  den  Veränderunger»  der  vierten  Auflage,  und  alsdann  ein  paar 
Proben  von  Kiesewetters  Beredsamkeit  aus  der  Einleitung,  welche,  wie 
es  uns  scheint,  das  Buch  für  diejenigen,  die  es  noch  nicht  kennen,  von 
seiner  besten  Seite  zeigen  werden.  Nach  dem  Willen  des  Verfs.  ist  die 
erste  Abteilung  mit  einem  gedrängten  Auszuge  aus  der  Vernunftkritik 
vermehrt,  nebst  Erklärungen  der  Kunstworte.  Dieser  Teil  des  Buches 
beträgt  zwar  nur  15  Seiten,  er  scheint  uns  aber  gut  geraten,  und  wie  er 
sollte,  im  Geiste  des  Verfs.  gearbeitet.  Ebenso  liest  man  gern  die  Bio- 
graphie Kiesewetters.  Was  die  angehängte  Literatur  betrifft,  welche 
nicht  bloß  Kants  eigene  Schriften,  sondern  auch  das,  was  über  dessen 
System  geschrieben  ist,  enthalten  sollte,  so  ist  es  freilich  seltsam  zu  ver- 
gleichen, was  darin  aufgenommen  und  was  darin  weggelassen  wurde.  Da 
steht  z.  B.  Schopenhauer  wegen  des  Anhanges  zu  seiner  Well  als  Vot- 
stellung   und  Wille:    es   fehlen   aber  Krug   und  Fries!    Doch  wer  hat  in 


42  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


den  letzten  dreißig  Jahren  nicht  über  Kant  geschrieben?-*  Das  Unter- 
nehmen hätte  müssen  anders  begrenzt  und  die  Literatur  nicht  bloß 
alphabetisch  geordnet  werden,  wenn  es  hätte  zweckmäßig  ausgeführt  werden 
sollen.  Übrigens  ist  die  erste  Abteilung  unverändert  geblieben;  die  zweite 
im  Ausdrucke  verbessert  worden.  —  In  der  Einleitung  redet  Kiesewetter 
von  den  Freunden  und  Gegnern  der  Philosophie.  Er  geht  nicht  sanft 
um  mit  den  letzten.  „Der  wahre  Anhänger  der  Philosophie  hat  allen 
Vorurteilen  den  Krieg  auf  Leben  und  Tod  angekündigt ;  er  reißt  dem 
Gleißner,  der  durch  falsche  Religionssätze  die  Tugend  und  das  Recht 
untergräbt  und  Götzendienst  statt  Gottesverehrung  predigt,  die  Maske 
vom  Angesicht;  er  gewöhnt  das  blöde  Auge  nach  und  nach  an  die 
Strahlen  der  Sonne  der  Wahrheit,  und  macht  die  glimmende  dunstende 
Lampe  des  Herkommens  verlöschen;  er  führt  den,  welcher  gewöhnt  war, 
an  den  morschen  Stützen  fremder  Meinung  einherzugehen,  und  sich  ohne 
diesen  Stab  für  verlassen  hielt,  mit  mächtigem  Arm,  erweckt  in  ihm  das 
Gefühl  seiner  eigenen  Kraft  und  gewöhnt  ihn,  selbst  zu  denken  und  zu 
handeln;  er  erzieht  das  Kind  zum  Manne;  er  eifert  gegen  Anarchie,  die 
alle  Bande  der  bürgerlichen  Ordnung  zerreißt  und  Menschen  in  blutgierige 
Tiger  und  wütende  Hyänen  umwandelt;  aber  auch  gegen  Despotismus, 
der  den  Keim  der  Menschheit  zerstört,  und  den  Menschen  zum  Vieh 
herabwürdigt;  und  dringt  auf  gesetzliche  Freiheit.  —  Sie  (die  Gegner) 
kämpfen  nicht  mit  erlaubten  Waffen;  im  Gefühl  ihrer  Nichtigkeit  schleichen 
sie  sich  herbei  und  suchen  durch  einen  versteckten  Dolch  von  hinten  zu 
durchbohren.  Daher  ihre  Klagen  über  die  Abnahme  der  wahren  Re- 
ligiosität und  Tugend,  die  sie  auf  Rechnung  der  durch  die  Philosophie 
bewirkten  Aufklärung  schreiben.  An  euch  lieg/  die  Schuld,  an  euch,  die 
ihr  Götzen  statt  Gott  verehren  lasset!  Eure  Lehren  verfinstern  den  Ver- 
stand und  machen  das  Herz  welk.  Sobald  der  Mensch  aus  dem  Schlummer 
des  Herkommens  erwacht,  fühlt  sich  sein  Gemüt  durch  die  kräftige  Sprache 
der  Pflicht  gestärkt;  euer  Geschwätz  von  Glück,  Belohnung,  Strafe  ekelt 
ihn  an;  er  fühlt  die  Nichtigkeit  ^?^i?;^/- Behauptungen,  er  will  durch  Gründe 
bestimmt  werden.  Wenn  der  Philosoph  gegen  Despotismus  aller  Art 
eifert,  wenn  er  die  Herrscher  an  ihre  Pflichten  erinnert:  so  schreit  ihr, 
er  predigt  Anarchie.  —  Eine  andere  Klasse  von  Gegnern  verachtet,  was 
sie  nicht  kennt,  um  der  Mühe  des  Lernens  überhoben  zu  sein.  Sie  er- 
heben die  Erfahrungskenntnis,  und  wissen  nicht,  daß  die  Erfahrung  ihre 
letzten  Gründe  aus  der  Philosophie  nimmt;  daß  die  Gesetze,  nach  welcher 
Erfahrung  allein  möglich  ist,  nicht  aus  der  Erfahrung  selbst  geschöpft 
werden  können  usw."  Man  sieht,  diese  Beredsamkeit  kämpft  gegen  eine 
Roheit,  welche  in  dem  Kreise,  wo  Wissenschaft  soll  gepflegt  werden,  der- 
gestalt vorbei  sein  muß.  daß  man  nicht  mehr  nötig  habe,  daran  zu 
denken. 


L.  J.  Rükkert:  Christliche  Philosophie  usw.  4^ 


Rükkert,  L.  J.,  Diaconus  zu  Großhennersdorf  bei  Herrnhut,  Christ- 
liche Philosophie,  oder  Philosophie,  Geschichte  und  Bibel, 
nach  ihren  wahren  Beziehungen  zu  einander  dargestellt. 
Nicht  für  Glaubende,  sondern  für  wissenschaftliche  Zweifler  zur  Be- 
lehrung. Erster  Band.  Philosophie  und  Geschichte.  —  Leipzig, 
b.  Hartmann,  1825.  467  S.  Zweyter  Band.  488  S.  8.  (3  Rthlr.) 
Gedruckt  in:    Leipziger  Literatur  -  Zeitung   1827,  Nr.    iii,    112.  S\V.   XII,  S.   575. 

Christliche  Philosophie  ist,   den  Worten   nach,   eine  Art   von  Philosophie; 
ihr  Gegenstück,  philosophisches   Christentuin ,    gleichfalls  wörtlich  genommen, 
muß    eine    Art    7>oii    Christejitum    sein.      Um    klare   Begriffe    zu   gewinnen, 
wird   es   gut   sein,    beides    näher   zu    betrachten.     Ist  im  ersten  Falle  das 
Christentum   das    Bestimmende,    welches    aus   dem  ganzen    Umfange  der  Philo- 
sophie   eine  geivisse  Art   heraushebt:    so    rühren    die    herrschenden   Ge- 
danken   dieser  Philosophie    von    ihm   her;    der    Christ,    als  solcher,    ist  als- 
dann   übergegangen    ins    Philosophieren.     Ist    dagegen  im    zweiten   Falle    die 
Bestimmung,    woraus    eine    Art   oder  Ansicht    des    Christentums    hervorgeht, 
der  Philosophie   eigen:    so  gibt  sie  den  Anstoß;    der  Philosoph  hat  jenes 
zum     Objekte    seiner     Betrachtung    gemacht.       Natürlich    kann    gezweifelt 
werden,    welches    besser    sei;    allein    wenn    wir  nicht    irren,    so  ist  beides 
nicht    frei    von    Bedenklichkeiten.      Wir    erinnern    zuerst    an    die   Zeit,    wo 
das    philosophische     Christentum    mehr    Freunde,     oder     wenigstens    lauter 
sprechende    Stimmen   für   sich    hatte,    als    jetzt.     Damals    wollte   man  das 
Christentum    der  Philosophie  näher  bringen;    es    sollte    begrcißichet    werden; 
man  hörte  selbst  von  exegetischen    Versuchen  zu  diesem   Zwecke.      Aber  es 
dauerte    nicht    lange,    so    forderte    das    Christentum    den    Respekt    zurück, 
welcher   den   urkundlichen  Worten  gebührt.     Also  Respekt  trat  wieder  an 
die  Stelle  einer  gewissen    Vertratdichheit ,   welche  zu  weit  gegangen  war,   und 
sich    nicht    rein    von   Zudriiiglichkeit  erhalten  hatte!     Nun   können   wir  uns 
aber    nicht    verhehlen,     daß    Zudringlichkeit    von    beiden    Seiten    möglich, 
und  daß,  von  welcher  Seite   sie  auch  komme,    sie    stets  gefährlich   ist  für 
das  gute  Vernehmen  zweier  Mächte,  die  einander  berühren  können,  und 
deren  jede  ein   selbständiges    Dasein    besitzt.      Dies    selbständige    Dasein    hat 
sowohl   die  Philosophie  als  das   Christentum.    Jene  ist,  historisch  betrachtet., 
älter,   und  in  Ansehung  ihres  Inhaltes   beschäftigt  sie  sich  mit  einer  Menge 
von    Problemen,    um    welche    sich    dieses    nicht    kümmert.      Dazu   kommt, 
daß  sie  stets  in  Untersuchung  schwebt,   und   wo  sie   Haltung  und  Festigkeit 
gewinnt,   dieselbe  doch  nur  sofern  behaupten  kann,   als  sich  die  Untersuchung 
fortwährend   bereitwillig   zeigt ^    die   Behauptung    zu    bekräftigen.      Sie    steht 
überdies  ihrer   Natur  nach  in  sehr  enger  Verbindung  mit  der  Mathematik, 
und   in   wichtiger   Beziehung  auf  Physik  und    Geschichte.    Daß  nun  manche 
in    ihr    noch    immer    die    alte  ancilla    theologiae   sehen:    dies    scheinen  die 
einseitigen  Darstellungen  einiger  Schulen  zu  veranlassen.    Man  keimt  aber 
die  Philosophie  schlecht,  so  lange   man   mir  diese  oder  jene   Schule  kennt/ 

Welche  Einseitigkeit  auf  den  Verf.  des  vorliegenden  Buches  gewirkt 
habe,  das  liegt  deutlich  am  Tage;  er  hätte  indessen  wohl  getan,  darüber 
offen    zu    sprechen.     Schon    die  Äußerung   der  Vorrede:    „was    die    Form 


44  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


als  Vorlesjingen  anlangt  (in  dieser  Form  ist  das  Buch  geschrieben),  so 
war  sie  mir  die  einzig  mögliche;  ich  haUe  den  mündhchen  Vortrag  für 
den  einzigen,  durch  welchen  der  Zweck  des  Unterrichts  vollständig  erreicht 
werden  könne,  und  kann  meine  Abneigung  gegen  den  schriftlichen  nicht 
ablegen;"  —  schon  diese  besondere  Meinung,  und  der  Versuch,  ein 
Buch  zu  einer  Nachahmung  des  mündlichen  Vortrages  zu  machen,  während 
man  den  gewöhnlichen  Kathedervortrag,  auch  bei  aller  Freiheit  der  Rede, 
ebensogut  als  eine  Nachahmung  des  schriftlichen  Vortrages  betrachten 
kann,  —  erinnerte  uns  an  Fichtes  Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeit- 
alters, wo  S.  92  eine  leicht  erklärbare  Anwandlung  von  übler  Laune 
gegen  Leserei  und  Schriftstellerei  vorkommt.  Und  aus  dem  Buche  selbst 
kam  uns  gleich  beim  Aufschlagen  eine  Art  von  scharfem  Luftzuge  entgegen, 
der  die  schon  entstandene  Vermutung  bestätigte.  Man  vernahm  die 
Ankündigung:  ,,Ich  halte  für  meine  Pflicht,  Ihnen  darüber,  was  ich 
eigentlich  vorhabe,  eine  so  bestimmte  Auskunft  zu  erteilen,  als  mir  nur 
möglich  sein  wird,  wovon  der  Erfolg  der  sein  soll,  daß  —  für  den  Fall, 
da  einer  oder  einige  von  Ihnen  zu  der  Einsicht  kämen,  diese  Vorträge 
hätten  ihm  entweder  gar  nichts  genützt,  oder  wohl  gar  geschadet  —  für 
diesen  Fall  ich  aller  Verantwortlichkeit  los  und  ledig  sei,  und  niemand 
sagen  könne,  er  habe  sich  das  nicht  ziorgestelll.'^  (Treffliche  Wendung, 
um  die  Neugier  zu  spannen!)  ,,Daß  ich 's  also  gleich  mit  Einem  Worte 
sage:  Ich  will  Ihne?i  zimi  Gewinn  einer  festeti  religiösen,  oder  richtiger, 
theologischen  Überzeugimg,  behilflich  sein.'''  (Dies  Eine  Wort  wird  sicher 
niemanden  abschrecken.)  „Ich  werde  von  nichts  anderm  handeln,  als  von 
dem,  was  man  gememhin  Sachen  des  Glaubens  nennt,  das  heißt,  von 
demjenigen,  was  der  Mensch  als  währ  annehmen  müsse,  in  Hinsicht  auf 
die  Frage:  Wer  bin  ich,  und  was  bin  ich?  (eine  psychologische  Frage!) 
und  was  soll  ich  sein?"  (eine  moralische  Frage!)  „Wodurch  bin  ich  das, 
was  ich  bin,  und  wodurch  kann  ich  das  werden,  was  ich  sein  soll  ?"^ 
(Fragen,  die  in  der  Naturphilosophie  und  Psychologie  gerade  ebenso- 
sehr, als  in  die  Theologie  hineingreifen.  Wo  sind  nun  die  Sachen  des 
Glaubens?)  „Der  Mensch  also  ist  der  eigentliche,  und,  genau  genohimen, 
einzige  Gegenstand  aller  unserer  künftigen  Untersuchungen;  und  zwar 
nicht  der  sichtbare  Mensch  oder  Körper  —  sondern  der  Geist.  Und 
wenn  es  möglich  wäre,  über  diesen  zu  einer  festen  Überzeugung  ^u 
gelangen,  ohne  uns  um  irgend  etwas,  was  nicht  er  selbst  ist  zu  bekümmern, 
so  —  dürften  wir  uns  berechtigt  halten,  alle  Bemühungen  um  Wissenschaft 
ohne  Einfluß  hierauf  als  unnütz  und  vom  Ziele  abführend,  zu  verlachen 
oder  zu  bemitleiden!'''-  Mit  diesen  Worten  ist  das  ganze  Werk,  gleich  auf 
der  vierten  Seite,  scharf  gezeichnet.  Allmählich  aber  erweitert  sich  der 
Kreis.  Es  kommen  hinein:  i.  die  Untersuchungen  über  Gott  und  Welt, 
insbesondere  über  die  Geisterwelt,  2.  die  Erforschung  des  Menschen. 
3.  die  Feststellung  seiner  Bestimmung.  Dies  macht  nur  den  ersten 
Hauptteil ;  der  zweite  gibt  die  Betrachtung  der  Geschichte  des  Menschen- 
lebens. Der  dritte  will  die  wesentliche  Lehre  des  Christentums  darstellen 
und  den  Wert  desselben  beurteilen.  —  Das  wäre  der  natürliche  Plan 
einer  Entwicklung  des  — philosophischen  Christentums  \  denn  bei  christlicher 
Philosophie    mußte    das    Christentum   im    Vordergrunde    stehen ,    und  das 


L.  J.   Rükkert:   Christliche  Philosophie  usw.  4^ 

Philosophieren     von     ihm     ausgehen.       Aber    unser    Verf.    betritt    in    Ge- 
danken  das   Katheder,   weil   er  mehr  Redner  ist,  als   Denker. 

Damit  nun  die  Schule,   worin  er  festhängt,  deutlicher  zum  Vorscheine 
komme,    wollen    wir   ihn    reden    lassen.      „Ein    nicht    philosophisches  Ver- 
fahren  nimmt  das  Vorhandene,   wenn  es  ihm   dargeboten   wird;   oder  sucht 
auch   dasselbe  auf,    aber  in  der  Erfahrung   und   ohne   Prinzip,    und   bildet 
sich  aus    dem   Gefundenen   die   Begriffe,    und    ordnet    dasselbe   denn  wohl 
auch,    wie  man   sich  ausdrückt,    systematisch,    oder   was    sonst    damit    tun 
mögen,    welche    so    verfahren.      Das    wissenschaftliche    Verfahren    sucht  in 
sich    selber    die  Grundformen    alles   Vorhandenen  auf,    und  beurteilt  nacli 
ihnen    diese    letztere ;    der    festen    Überzeugung,    daß    der    Mensch    über 
nichts    ein    völlig    gültiges    und  sicheres   Urteil   fällen   könne,    was  er  nicht 
zuförderst  als   Idee  angeschaut  hat,    also  natürlich    auch    über   nichts,    was 
als    Idee   gar    nicht  geschaut    werden   kann  "     (Das    letztere    ist    vermutlich 
ein    Caput  mortuum,    was   man   wegwerfen    kann,    wie  die    alte   Chemie  es 
mit  den   Rückständen    ihrer  Versuche  machte,    als   sie    noch  im   Zustande 
der  Barbarei    war.)     Das    Hauptgeschäft    ist    also,    über  die    Ideen    selbst 
zur   Klarheit  zu  gelangen,    als    welche    die    Grundlage    aller    Untersuchung 
bilden;  und  das  andere  dann,   das  Wirkliche  mit  den  Ideen  zu  vergleichen, 
und  die   Mittel  aufzusuchen,    wie  das   Wirkliche    und  das  Ideale    eins    und 
dasselbe  werden   mögend'-     Ja  freilich!  So  ungefähr  gewöhnte    man  sich  vor 
fünfundzwanzig  Jahren,    zu    reden!     Daß   seitdem    etwas    mehr    Besinnung 
in  die  Philosophie  gekommen,  davon  weiß  der  Verf.  nichts.    Er  verwechselt 
noch    die    Vergleichung    der    Ideen    und    des    Wirklichen,    welche    in    die 
praktische    Philosophie    gehört,    und    dort    an    der    rechten   Stelle  ist,    mit 
dem    in    der    Metaphysik    nötigen    Verfahren.     Daß   jenes,    von    ihm    be- 
schriebene  Beginnen,    nun  lange  genug  ohne    Kritik    geherrscht,    in    allen 
möglichen   Erschleichungen  sich  herumgetrieben,   Widersprüche  auf  Wider- 
sprüche   gehäuft,    Erfahrung    und    Philosophie    entzweit,    eifie    Menge    der 
würdigsten    Gelehrten    zurückgestoßen,    und    den   Wirkungskreis    der  Philo- 
sophie nicht  erweitert,   sondern  verengt  hat,  und  fortdauernd  verengen  wird, 
solange  es  anhält,   —   warum   sollten   wir  dem  Verf.  das  hier  beweisen  und 
entwickeln  ?    Seine  Anmaßungen  mögen  versuchen,   wie  weit   sie  gelangen 
können;    für  uns    sind  sie    ein  Schauspiel.      Als  ob   Fichtes    mangelhafter 
Aufsatz    über    den    Begriff  der   Wissenschafislehre    vom  Jahre    1794,    erst 
dreißig  Jahre    später    erschienen    wäre;     als    ob    man    seitdem    nicht    Zeit 
genug  gehabt  hätte,  über  die  Bedingungen  nachzudenken,   unter  denen  ein 
philosophisches  Prinzip,    sich    selbst    überschreitend,    noch    etivas    anderes  außer 
sich    selbst   gewiß   machen    könne^    als    ob    noch  niemand    eingesehen   hätte, 
ein   Prinzip    könne^    wenn    es    nicht    vom   Zufalle    der    logischen     Verknüpfung 
einer  Pjämisse    mit  anderen   und  wieder  anderen    Prämissen     abhängen    solle, 
unmöglich    die    Form    eines    Satzes,    sondern    müsse    die    Form    eines    Begriffs 
haben   (denn   an   eine  Idee  ist  hier  gar  nicht  zu  denken,  falls  jemand  wirklich 
denken    und  nicht  schwärmen    ivill),    mit  Einem   Worte,    als    ob    das    Philo- 
sophieren  des   Verf.   darin   bestände,  freunde,    halb   veraltete  Irrtümer  für  die 
seinigen    auszugeben ;    erzählt  er  uns   höchst  ernsthaft:   „Die  Grundlage   muß 
gewiß  und  unumstößlich,    —    etwas  schlechthin  Wahres  sein,   —   über  allen 
Beweis  erhaben,  völlig  unbeweisbar  sein,    —   einen  solchen  Grundsatz,  oder 


a()  J.  f.  Herbarts  Rezensionen. 

eine  mit  solcher  Eigenschaft  begabte  Grundidee  werden   wir  (der  Verf.  und 
seine  Zuhörer!)    zu    suchen    haben."     Doch    nein!     Die  Zuhörer  behalten 
nicht  Zeit  zum  Suchen.     ,,Gott  ist:  das  ist  der  Satz,   dessen  wir  bedürfen. 
Sie  erstaunen,  meine  Herren,  und  fragen   voll  Verwunderung,  ob  Sie  richtig 
hören?   —  Daß  der  Satz  unumstößlich  sei,  wird  Ihnen  sogleich  einleuchten, 
wenn    ich   Ihnen   sagen   werde,    was    der    Satz    bedeute.      Indem    ich    nämlich 
sage,    Gott  ist,    sage  ich  nichts    anderes,    als:    Die    sittliche    Weltordnung, 
deren    Idee    meinem    Geiste  ursprünglich    und    notwendig    einwohnt,    hat 
Wirklichkeit,  d.  h.  sie  besteht  nicht  allein  in  mir,  als  ein  objektloses  Gebilde 
meiner  Vernunft,    sondern    auch    außer    mir,    und    ist  Objekt    für    die   Be- 
trachtung meines  Geistes.    Sobald  wir  jenen  Worten  diesen  Sinn  beilegen, 
—    und   einen   anderen  können  sie  nicht   haben,    —   so  befinden  wir  uns 
ganz    auf   dem    Gebiete    der  Sittlichkeit;    auf   diesem    ist    alles  gewiß.   — 
Aber   hier    höre   ich    Sie    sagen:    Das  also  wäre  unser  Gott?    Eine  bloße 
Idee,  die  die  Welt  regiert?  Nichts  Lebendiges?   —   Ich  werde  auf  Ihren 
Einwand  Rücksicht  nehmen.    Sagten  wir  weitergehend:   eine  Idee  können 
wir   uns   nicht    denken    ohne    ein   Wesen,    das    die  Idee   hat,    —    es   muß 
mithin   ein  solches  Wesen  da  sein,   denkend  und  wollend,  ähnlich   unserm 
Geiste:    sagen    wir    dies,    so    will    ich    zwar   gar   nicht   gegen    diese    Rede 
streiten;  allein   ich  behaupte  mit  Bestimmtheit,    daß  wir  weiter  gehen,   als 
wir  gehen  können.    Es  kann  sehr  wohl  Menschen  geben,  welche  sich  mit 
dem    begnügen,     was    wir    als    unumstößlich    gefunden    haben;     und    alle 
vernünftige    Pantheisten    werden    sich    damit   begnügen,    oder    haben  sich 
damit    begnügt."     (Also    auch    Spinozas  Substanz    war   ursprünglich    eine 
sittliche  Weltordnung?     Wieviel  mag  doch  der  Verf.  von  Spinoza  gelesen 
haben?)     „Sodann,    zugegeben,     daß    wirklich    jeder    Mensch    so    denken 
müsse,  so  folgt  hieraus  noch  keineswegs,    daß  dem  wirklich  so  sei;   nach 
der    Beschaffenheit    unseres    Denkvermögens    sind    wir    dann     allerdings 
genötigt,  so  zu  denken,  aber,  wer  sagt  uns,    daß  nicht  anders  beschaffene 
Wesen    anders    denken    müssen?"    (Haben    nun    die    Zuhörer    des   Verfs. 
etwas  Gedächtnis,   so  fragen    sie   ihn  hier  unfehlbar,  wie  Er  denn  vorhin 
dazu  gekommen  sei,  sich  auf  eine  innerlich  angeschaute  Idee  zu  berufen, 
da  ja  wohl  anders  beschaffene  Wesen  auch  andere  Ideen  haben  könnten. 
Und    seine  Antwort    wird    ein    Machtspruch    sein ;    oder    im    besten    Falle 
wird  er  ihnen   etwas  von  der  Kantischen   Lehre   erzählen.)    „Hiermit  wird 
gar  nicht  die  Vorstellung  von  einem  lebendigen  Gotte  ausgeschlossen;  sie 
kann    sehr   wohl    dabei    bestehen.      Auch    ich    bin  nicht    im   stände,    einen 
Gedanken  zu  denken,  ohne  ein  Denkendes,  eine  Ordnung  ohne  Ordnendes. 
Ich    denke    mir    daher    solches;     wenn    ich  mich  aber   nun  frage,    was  es 
sei?    so    antworte   ich  mir  sogleich,    daß  ich   dies  nicht  wisse.     Ich  weiß 
nur   soviel,    daß   ich    meinen  Glauben   an    die   sittliche  Weltordnung    eine 
Form  gegeben  habe,  unter  welcher  er  meiner  Beschränktheit  näher  gebracht 
wird;   —    wollte   ich  dieselbe  weiter  ausmalen,  so  zöge  ich  sie  ganz  herab 
in  mein  Vorstellen."     Aber  darin  war  sie  von  Anfang  an  ganz  und  gar! 
Wir  sehen   hier  ein  Bruchstück  von  Fichteschem  Idealismus  aus  einer  Periode, 
die  wir  nicht    genauer  in   Erinnerung  bringen    mögen.      Wer  jene  Periode 
kennt,   der  weiß,   daß  damals  die  Philosophie  in  einem  schnellen  Übergange 
begriffen  war:  und  daß  seitdem  von   allen  Seiten  Bemühungen  angewendet 


L.  J.  Rükkert:  Christliche  Philosophie  usw.  aj 


wurden,  um  der  idealistischen  Überspannung  abzuhelfen.  Was  aber  soll 
uns  das  verlorene  Fragment  einer  beinahe  vergessenen  Verirrung,  wie  es 
hier,  als  ob  es  eine  ewige  Wahrheit  wäre,  mit  unvergleichlicher  Dreistig- 
keit wieder  zum  Vorscheine  kommt?  Sollen  die  Literaturzeitungen  dem 
Verf.  sagen,  und  buchstäblich  zeigen,  woher  seine  Weisheit  stammt?  — 
Fichte  schrieb  in  der  Appellation,  S.  38,  folgende  Worte:  daß  der 
Mensch  die  verschiedenen  Beziehungen  jener  Ordnung  auf  sich  und  sein 
Handeln,  ivenn  er  mit  andern  davon  zu  reden  hat^  in  dein  Begriffe  eines 
existierenden  Wesens  zusammenfasse  und  fixiere,  —  ist  die  Folge  der  Endlich- 
keit seines  Verstandes,  aber  unschädlich  usiu.  Wir  enthalten  uns  einer  genaueren 
Vergleichung,  so  nahe  sie  gelegt  ist;  und  fragen  nun  noch  den  Verf.,  ob 
er  denn  auch,  gleich  Fichten,  eine  Reihe  tiefsinniger,  streng  wissen- 
schaftlicher Werke,  —  gleichsam  eine  esoterische  Philosophie  —  auf- 
zuweisen habe,  die  seinen  Beruf,  als  Philosoph  aufzutreten,  dokumentieren 
könnte?  —  Duo  cum  faciunt  idem,  non  est  idem!  Es  war  schlimm  genug, 
daß  Fichte  eine  Lehre  populär  aussprach,  die  nur  in  der  Geschichte  der 
Philosophie,  als  einzelne  Ansicht  vo7i  einein  geiüissen  Standpunkte  aus,  in  der 
Mitte  vieler  andereri  und  entgegengesetzten  Ansichten  bemerkt  werden  muß ;  es 
ist  aber  noch  ungleich  schlimmer,  daß  ein  Mann,  der  kein  selbständiges 
Denken   verrät,  sich  dergleichen   erlaubt. 

Es  hat  ihm  beliebt,  in  der  Vorrede  zu  sagen,  „die  Sachen  seien  ganz 
sein  Eigentum,  Frucht  seines  Nachdenkens;  was  er  nicht  aus  sich  selbst 
nehmen  konnte,  das  habe  er  durch  Angabe  seiner  Gewährsleute  ehrlich 
angezeigt !"■  Zugleich  hat  ihn  beliebt,  Fichten  zwar  nicht  zu  nennen,  aber 
wohl  auf  eine  Weise,  wogegen  wir  im  Namen  eines  jeden  philosophischen 
Systems  alles  Ernstes  protestieren  müssen,  Fichtes  Lehren  durcheinander 
zu  werfen,  so  daß  nichts  mehr  am  rechten  Platze  steht;  zum  klaren 
Beweise,  daß  er  keinen  Begriff  davon  hat,  wie  man  ein  System  behandeln 
muß,,  um  es  zu  benutzen.  Es  ist  Mißhandlung  der  Fichteschen  Lehre, 
daß  jetzt  in  der  dritten  Vorlesung,  nachdem  die  sittliche  Weltordnung 
gleich  an  die  Spitze  gestellt,  und  zum  ersten  Prinzipe  gemacht  worden 
war,  dasjenige  hintennach  kommt,  was  an  die  ersten  Sätze  der  Wissen- 
schaftslehre erinnert.  Denn  da  heißt  es  nun:  „Gott  ist  Gott,  das  wird 
nun  unser  zweiter  Hauptsatz  werden  müssen;  d.  h.  wir  müssen  die  Idee 
Gottes,  deren  Realität  unser  erster  Satz  besagte,  zum  Subjekte  machen, 
um  im  Prädikate,  nach  dem  Grundsatze  A  =  A  die  nämliche  Idee, 
in  ihre  Merkmale  zerlegt,  wieder  hinzustellen."  Sollen  wir  nun  hier  etwa 
aus  Fichtes  Wissenschaftslehre  wörtlich  abschreiben,  was  Fichte  dort 
an  den  (sehr  unnützen)  Satz:  Ich  bin  ich,  mit  Hilfe  der  (ebenso  unnützen) 
Formel  A  =  A  anknüpft  ?  Besäße  der  Verf.  kritischen  Geist :  so  hätte 
er  begriffen,  daß  dies  eine  sehr  schwache  Stelle  ist,  die  niemand  nach- 
ahmen darf;  statt  dessen  reißt  er  die  Form  los  vom  Gegenstande,  und 
wirft  das  Losgerissene  an  einen  Ort  hin,  wo  es  zu  gar  nichts  dient.  Von 
einer  Zerlegung  in  Merkmale  liegt  nichts  in  der  Formel  A  =  A ;  und 
der  Verf.  verrät  hier,  ohne  den  mindesten,  auch  nur  scheinbaren  Gewinn, 
daß  er  Nachahmer  und  nicht  Selbstdenker  ist.  Wer  mit  Gott,  als  sittlicher 
Weltordnung,  anhebt,  der  ist  gleich  in  der  Aufstellung  des  Prinzips  so 
freigebig  gewesen,    daß    er    keiner    leeren  Formel    mehr  bedarf,   um    alles 


48  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

mögliche    herzuleiten.     Die    bekanntesten  Begriffe,    welche  jedermann    aus 
den    Kinderjahren    mitbringt,     drängen    sich    von    selbst    herbei;     und    es 
kostet     keine     Mühe,     die     Prädikate:     Ewigkeit,     Allgegenwart,     Einheit, 
Absolutheit,    Allgen ugsamkeit,    Heiligkeit,    Güte    herbeizuschaffen.      Widrig 
aber    sind    die    leeren    Künsteleien    des    Verfs.    und    wir    wollen     bei    einem 
solchen   Gegenstande    davon    keine   Notiz    nehmen.      Mit    der  allgemeinen 
Gotteslehre   sind   wir  fertig;     es  folgt  die  allgemeine   Weltlehre.      Daß  nun 
hier  eine  Spur  von  einigen  physikahschen  und  mathematischen  Kenntnissen 
zu    sehen    sein   solite,    daran    ist   nicht  zu  denken;    nichts  als  die  Leicht- 
fertigkeit   der    alten     Kosmologie  kommt    zum     Vorscheine;     ein     kurzes 
Pröbchen  reicht  hin.     „Der  Glaube  an   das  Sein  der  sittlichen  Weltordnung 
fordert  den  Glauben  an  das  Sein  der  Welt;  denn  —  eine  Ordnung  fordert 
ein  Geordnetes!  —  So  wahr  ich  selbst  bin"  (hier  wird  das  Fichtesche  Ich 
zum   Prinzipe!),     „so  wahr    bin  ich   zur    Sittlichkeit   bestimmt"    (wir  wissen 
zwar  noch   nicht,   was   das   Wort  Sittlichkeit  eigentlich  bedeute!),  ,,so   wahr 
ich   zur  Sitllichkeit  beslimvit  bin^  so   wahr  ist  Gott  und  sittliche   Weltoi'dnungy 
(Hier  ist,  nach  Fichtes  Weise,  aus  dem  Ich,  als  dem  Prinzipe,  derjenige 
Gegenstand,    welchen  der   Verfasser    vorhin    proprio   Marte    zum    Prinzipe 
machen  wollte,    geschlossen    und    abgeleitet!)    Also:    „So    wahr    ich    selbst 
bin,  so  wahr  ist  die   Welt."     So  ist  durch   einen   leichten   Schluß  Fichtes 
Lehre  zugleich  benutzt  und  widerlegt!   Denn  der  Schlußsatz  klingt  wenigstens 
vollkommen     realistisch;      und     die     Zuhörer     des    Verfs.,     wenn     sie    den 
Idealismus  nicht  anderswoher  gründlich  kennen,  werden  sich  nur  wundern, 
daß  Fichtes  Idealismus  so    leicht  könne    zurecht    gewiesen    werden !    — 
Die    kleine  Frage,    ob    die  Materie    der  Welt    ihr  Sein    etwa    durch    sich 
selbst,   oder  durch   ein   ungöttliches   Prinzip  habe?   wird   mit  leichter  Hand 
zur  Seite  geschoben;    sie  ist  ja  unbedeutend!  Ebenso  leicht  kommen  nun 
die  bekannten  Sätze    hervor:    die  Welt  sei  ewige  Wirkung  Gottes,  sie  sei 
nur  Eine,  und   ein    vollkommenes  Werk  Gottes.     Wir   haben    in  der  Tat 
nicht  Lust,  die  alten  kosmologischen  Sätze   aus  der  vorkantischen  Schule 
genauer  zu  vergleichen,    um  darzutun,    wie   auch    hier   die  Gedanken  des 
Verfs.   im  fremden  Gleise  fortgehen.      Es  folgt  die  allgemeine   Geisterlehre: 
„Die     Annahme     einer    sittlichen     Weltordnung    setzt    das    Sein    solcher 
Wesen  voraus,  welche  der  Sittlichkeit  fähig  seien.    Weil  wir  also  an  Gott 
glauben,    glauben    wir    an    die  Geisterwelt."      Natürlich    kommt    der    Verf. 
jetzt  auf  die  Frage  von  der  Freiheit   des  Willens;    und  faßt  dieselbe  auf 
eine    Weise,    womit    wir    in    einer    populären    theologischen    Schrift    wohl 
zufrieden    sein    würden.      „Alle   Geister    müssen  in   Ewigkeit    beitragen   zur 
Vollführung  der  einen   göttlichen   Idee.      Es  kann    und   darf  nicht  gedacht 
werden,    daß    die    freie  Tätigkeit    der  Geister   je  zu    einem   Erfolge    führe, 
der   der  göttlichen  Idee  nicht  angemessen   wäre ;   es  ist  nicht  möglich,  daß 
die  Geisterwelt,  als  Ganzes,   oder  ein  Teil  von   ihr,  dem  einen  und  ewigen 
göttlichen  Gedanken   mit  Erfolg  entgegenstehe;   auch  nur  eins  der  göttlichen 
Werke  wider  Gottes  Willen   zerstöre,   oder  irgend  wie  verändere ;   auch  nur 
einen  der  göttlichen  Zwecke  in  der  Ausführung  verhindere.  —  Die  Geister- 
welt,   unbedingt    unterworfen   dem  Prinzipe  der  sittlichen  Weltordnung,    ist 
demselben  ursprünglich  frei  unie7'tan;  sie  soll  heilig  sein  und  ivill  es  sein ;  sie 
erkennt  die  Notwendigkeit  es  zu  sein,  sie  ist  daher  ursprünglich  heilig  und 


L.  J.  Rükkert :  Christliche  Philosophie  usw.  ^g 


selig.  —  Ursprünglich:  das  heißt,  inwiefern  sie  ein  Werk  Gottes  ist,"  aber 
nun  kommen  die  Schwierigkeiten!  „Nötigung  hebt  die  Freiheit  auf.''  Wie 
hilft  sich  der  Verf.?  Erstlich  fällt  der  Philosoph  aus  den  Wolken,  indem 
er  behauptet:  „Was  wir  von  der  Freiheit  wissen,  das  wissen  wir  nicht 
a  priori,  sondern  vermöge  der  in  der  Erfahrung  gegebenen  Tatsache 
unseres  Bewußtseins."  Hier  mag  Kant  —  der  Urheber  der  neuern 
Freiheitslehre  —  seinen  gewichtvollen  Einspruch  tun;  denn  bei  so  grenzen- 
loser Leichtfertigkeit,  womit  immer  von  neuem  der  nämliche  Gegenstand 
falsch  behandelt  wird,  müssen  wir  denn  doch  wohl  dazu  beitragen,  daß  der 
ohne  Vergleich  bessere  Denker,  obgleich  er  in  diesem  Punkte  vom  Irrtume 
nicht  frei  war,  nicht  in  Vergessenheit  gerate.  Kant  also,  am  Ende 
seiner  langen  Erörterungen  über  die  Freiheit,  in  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft,  schärft  folgendes  ein :  Man  muß  wohl  bemerken^  daß  ivir  nicht 
die  Wirklichkeit  der  Freiheit  haben  dartiin  ivollen.  Denn  wir  köfinen  aus 
der  Erfahrung  tiiemals  auf  etwas^  was  gar  nicht  nach  Effahrungsgesitzen 
gedacht  werden  muß,  schließen.  Ferner  haben  wir  auch  nicht  eininal  die 
Möglichkeit  der  Freiheit  beweisen  wollen;  daß  Natur  der  Kausalität  aus 
Freiheit  wenigstens  nicht  widerstreite,  dies  zu  zeigen,  war  das  einzige, 
was  wir  leisten  konnten.''  Und  hiermit  im  genauesten  Zusammenhange 
steht  kurz  vorher  die  Note:  Die  eigentliche  Moralität  der  Handlungen, 
Verdienst  und  Schuld,  bleibt  uns  daher  selbst  in  unserm  eigenen  Ver- 
halten gänzlich  v^erborgen.  Unsere  Zurechnungen  können  nur  auf  den 
empirischen  Charakter  bezogen  werden;  wieviel  aber  reine  Wirkung  der 
Freiheit  sei,  kann  niemand  ergründen.  So  weit  Kant.  Jetzt  müssen  wir 
noch  ein  paar  Worte  an  die  obige  Populär- Philosophie  vom  Erfolge  wenden^ 
den  die  Geister.^  frei  wie  sie  sind,  doch  nicht  sollen  ändern  können.  Was  für 
ein  Erfolg  mag  denn  das  sein,  worauf  in  der  sittlichen  Weltordnung 
Wert  gelegt  wird?  Welches  sind  die  göttlichen  Werke,  die  von  der 
Freiheit  unangetastet  bleiben?  Etwa  der  Bau  des  Himmels;  oder  die 
Ordnung  im  Leben  und  Sterben  der  Menschen?  An  solchen  Werken 
vergreift  sich  gewöhnlich  die  Freiheit  nicht;  oder  wenn  sie  es  im  kleinen 
versucht  etwa  (durch  die  Vaccine,  oder  durch  Blitzableiter),  so  fällt  dem 
nachdenkenden  Menschen  sogleich  ein,  daß  die  möglichen  Erfolge  solcher 
Versuche  doch  in  die  sittliche  Weltordnung  nicht  störend  eingreifen,  und 
also  nicht  Sünde  sein  werden.  Woran  liegt  denn  aber  dieser  oft  genannten 
sittlichen  Weltordnung?  Das  Wort  selbst  spricht  deutlich:  am  Sittlichen, 
das  heißt  an  den  Gesinnungen.  Daher  ist  allerdings  der  gefürchtete 
Erfolg  vorhanden,  die  Vollführung  der  göttlichen  Idee  ist  in  ihrer  Wurzel 
angegriffen,  indem  die  Gesinnungen  von  der  Sittlichkeit  abweichen;  und 
der  theologische  Dogmatismus  des  Verfs.  hätte  es  vorhersehen  sollen,  daß 
er  an  dieser  Klippe  unfehlbar  scheitern  mußte,  so  gewiß  das  Übel  und 
das  Böse  zu  den  unleugbaren  Tatsachen  in  unserer  Welt  gehört.  Der 
Fehler  liegt  aber  darin,  daß  ursprünglich  Gott  =  der  sittlichen  Weltordnimg.. 
wie  eine  mathematische  Gleichung,  war  hingestellt  worden,  aus  welcher 
man  nun  mit  aller  dogmatischen  Dreistigkeit  Schlüsse  ohne  Ende  ableiten 
könne;  unbesorgt,  wie  hart  man  auf  die  Grenzen  des  menschlichen 
Wissens  stoßen  werde.  Die  Welt  ist  ein  Gegenstand  der  Erfahrung; 
dieser  Gegenstand  aber  ist  unermeßlich;  die  Erfahrung  auf  unsern  Planeten 

Herbarts  Werke.     XIII.  4 


CQ  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


höchst  unvollstnndig;  die  Ordnung  der  Welt  ist  uns  beinahe  gänzlich  un- 
bekannt; obgleich  einige  Proben  uns  zur  Bewunderung  erheben.  Kein  an- 
maßendes Urteil  über  die  Weltordnung  darf  dem  Menschen  in  den  Sinn 
kommen;  Demut  und  Glaube  ist  unser  Los.  —  Wenn  aber  dies  ein 
Theolog  nicht  weiß,  wer  soll  es  denn  wissen?  Müssen  durchaus  die  Philo- 
sophen Glaubejislehrcr  iverden,  und  ist  es  nicht  genug,  wenn  sie  sich  von 
demjenigen,  was  man  nicht  wissen  kann,  still  zurückziehen? 

Unser  Verf.  jedoch  ist  noch  lange  nicht  am  Ende  mit  seinem  Wissen. 
Er    überträot    die    conservatio    mundi    auf   die   Freiheit;    nicht  nur  einmal, 
sondern  unaufhörlich  werden   die  Geister  durch    Gotl  freie    Wesen.      Hierin 
findet    er    einen    göttlichen   Einfluß    auf    die  Freiheit;    und  warnt  vor  dem 
Stolze,    womit   der  Mensch   sich  vor  Gott  hinstelle,    sprechend:    Siehe  ich 
hätte    böse    sein    können,    und    bin    so    gut;    gib    mir    nun    meinen   Lohn! 
Natürlich    spannt    er    unsere    Erwartung    nun    desto    höher,    zu    erfahren, 
wie    denn    die    unter    beständigem   göttlichen    Einßnsse    seiende    Freiheit    ivird 
dennoch    zum    Bösen.,    —    das    ja    nur    um    so    böser    sein    muß!     verirren 
könne?    Liegt  etwa  die  Schuld  an  der  Materie?    Keinesweges!    Der  Verf. 
weiß  zwar  nicht,  ob  eine  Materie  wirklich  vorhanden  ist;  aber  das  behauptet 
er:   Herrschen  könne  die  materielle  Welt  niemals  über  die  geistige.     Und 
auch    der   Mensch    hat    sein    tvahres    und   eigentliches    Wesen    in    der  sittlichen 
Natur;    er   kann    keine  Störung    in  der  göttlichen   Ordnung  wirken,    er  ist 
ursprünglich    heilig    und    selig!     Was    wird    nun    der  Verf.    beginnen,  wenn 
sich    die  Tatsache    des  Bösen    dennoch    aufdringt?    —    Er   macht    daraus 
einen   Gegenstand    der    breitesten   kanzelmäßigen  Rhetorik,    indem    er   die 
Erfahrung,    die    er    nicht    zu    erklären    weiß,    und    zu    deren   richtiger  Auf- 
fassung   er    sich    mit  Gewalt    (wie    so    manche  Theologen    zu  tun  pflegen) 
die  Wege    versperrt   hat,    nackt   hinstellt.     Aus   dem  ganzen  Gerede,    das 
geradeso  langweilig  ist,  wäe  es  bei  ähnlicher  Überspannung   erst   neuerlich 
anderwärts    vorkam,    heben    wir    nur    den    einzigen    charakteristischen  Zug 
heraus,    daß    es    dem    Kinde    übel  ge7iommen    7vird,    gleich    nach    der    Geburt 
schon    sein    leibliches    Wohlbefinden    zum    einzigen   Zivecke    zu    machen.  _    Jeder 
Unbefangene  kann  aus  dieser  Probe  sehen,  daß  der  Verf.,  indem  er  von 
,;Irrtum  über  das  Wesen  des  Guten  und  Bösen"  redet,  sich  selbst  gerade 
am    tiefsten    und    am    schädlichsten    in  solchen  Irrtümern   befindet,    die  zu 
schwärmerischen  Vorstellungen  verleiten  müssen,  sobald  sie  sich  zu  weiteren 
Folgerungen    entwickeln.      Was  wird  es  helfen,    wenn  wir  ihm   sagen,    daß 
Gutes  und  Böses  nur  in   Verhältnissen  des  Willens  liegt,  und  daß  an  solche 
Verhältnisse   bei   dem  Wollen    des   neugeborenen  Kindes   noch  nicht  aufs 
entfernteste  zu  denken  ist?  Der  Gegenstand  ist   anderwärts  deutlich  genug 
vorgetragen;    hier    ist    nicht    der    Ort    dazu.      Andere   werden    sagen',    die 
Vernunft    des   Kindes    sei    noch    nicht    entwickelt,    die    Zurechnung    könne 
noch  nicht  stattfinden;   und  auch  dies  ist  richtig,   obgleich  nicht  allgemein 
genug.     Wir    würden   uns  näher  erklären,    wenn  das  vorliegende  —  ohne 
Zweifel    gut   gemeinte,    und    nicht   geistlose   Buch,    worin   wir    hier  und   da 
manches  Beifallswerte  finden,   —   und  gründliches  Studium  auch  nur  irgend 
eines  einzigen  philosophischen  Systems  an  den  Tag  legte. 

Eines    Philosophen    Geist,    Mut,    Kraft,    Kenntnisse,    Übungen,    Hilfs- 
mittel   haben    wir    nun    beim    Verf.    keineswegs    gefunden.      Aber    es   gibt 


L.  J.    Rükkert:   Christliclie  Philosophie  usw.  ci 

manche,  die  in  ihrem  Siaunefi  und  Nichfbegreifen,  welches  nur  dazu  dient, 
anzuzeigen,  daß  sie  der  Philosophie  bedürfen,  schon  die  Berechtigung 
finden,  sich  selbst  für  Philosophen  auszugeben.  Es  gibt  auch  deren,  die, 
iveil  Erlösung  bedingt  ist  durch  Besserting^  den  Menschen  auf 
dem  kürzesten  Wege  dadurch  bessern  wollen,  daß  sie  ihm  die  Hölle  recht 
heiß^  den  Teufel  recht  schivarz  schildern.  Dadurch  meinen  sie,  die  Ver- 
mittler der  göttlichen  Wohltat  zu  werden,  und  zur  Erlösung  ihrerseits  mit- 
zuwirken. Sie  kennen  den  Menschen  nicht,  sie  unterscheiden  die  Übel  nicht .^ 
an  welchen  dieser  und  jener  leidet;  sie  gleichen  den  Ärzten,  die  nur 
einerlei  Krankheit  allenthalben  erblicken,  und  überall  mit  einem  Universal- 
mittel zu  Diensten  stehen.  Das  Böse  und  die  Freiheit  und  die  Wieder- 
herstellung ursprünglicher  Herrlichkeit.  —  Diese  allgemeinen  Begriffe  füllen 
ihren  Geist;  und  während  sie  dafür  und  dawider  schwärmen,  kommen  sie 
weder  zum  Beobachten,  noch  zum  Nachdenken.  Wir  unsererseits  beobachten 
nun  zwar  den  Verf,  sofern  er  sich  in  seinem  Buche  zeigt;  allein  wir 
sind  weit  entfernt,  einen  bestimmten  Ausspruch  darüber  zu  tun,  inwieweit 
seine  Ansichten  noch  einer  Veränderung  zugänglich  sein  mögen.  Einen 
geringen  Versuch  wollen  wir  machen,  ihn  auf  andere  Gedanken  zu  leiten. 
Zuvörderst  müssen  wir  zu  diesem  Zwecke  noch  ein  Zeichen  seines  Staunens 
und  Nichtbegreifens,  das  in  seinen  eigenen  Augen  gleichwohl  schon  eine 
gediegene  Lehre  ist,  anführen.  „Wie  es  möglich  gewesen  sei,  daß  der, 
vermöge  seiner  ursprünglichen  Natur  gute  und  heilige,  Mensch  diesen 
Zustand  verlassen  und  unheilig  werden  konnte;  wie  das  Umkehren  des 
menschlichen  Willens  zur  Unsittlichkeit  mit  dem  Einflüsse  des  götdichen 
Geistes,  seine  Freiheit  zu  erhalten,  verträglich  sei:  das  sind  Fragen,  deren 
Beantwortung  hier  auf  Erden  unmögHch  ist;  über  die  wir  denken  können 
Tag  für  Tag,  Jahr  für  Jahr,  und  niemals  Licht  erblicken;  ich  wenigstens 
kann  versichern,  daß  ich  seit  einer  Reihe  von  Jahren  hierüber  zu  forschen 
niemals  aufgehört,  aber  bis  diese  Stunde  nicht  gefunden  habe."  Nun 
muß  natürlich  dem  Wunder  des  Verderbnisses  auch  das  Wunder  der  Wieder- 
herstellung entsprechen.  ,,Der  Wille  muß  wieder  anfangen,  sich  den  ewigen 
Endzweck  seines  Daseins  zum  eigenen  Zwecke  zu  setzen;  wieder  zu 
wollen,  was  er  soll.  Dies  Erwachen  miß  ein  Werk  der  Freiheit  sein.'''' 
Den  Schlaf  vor  dem  Erwachen  schildert  der  Verf.  recht  rhetorisch  als 
einen  wahren  Totenschlaf;  veimutlich,  damit  es  recht  hervorspringe,  daß 
eben  im  Schlafe,  welcher  nichts  anderes  ist,  als  Untätigkeit  des  Geistes, 
Unfähigkeit  zum  Tun,  —  oder  allenfalls  im  Traume,  worin  das  Tun  des 
Vorstellens  und  Begehrens  sich  zwar  regt,  aber  ohne  Vernunft  und  ohne 
Freiheit  —  eben  in  diesem,  vom  Verf.  angenommenen  und  behaupteten 
Zustande  der  völligen  Unmöglichkeit  freier  Wirksamkeit,  das  Erwachen 
durch  einen  Entschluß  erfolge,  und  die  Freiheit  ein  Werk,  ja  sogar  das 
größte  ihrer  Werke,  die  Besserung  nämlich,  vollbringen  soll.  Nicht  im 
mindesten  zweifelnd  an  seiner  Weisheit,  setzt  er  hinzu:  „Dies  Erwachen 
hat  aber  des  Unbegreiflichen  soviel,  daß  wohl  kein  Wunder  ist,  wenn, 
wer  es  erfährt,  ohiie  auf  dem  Boden  loissenschaftlicher  Forschung  auf  genährt 
(sie!)  zu  sein,  es  einzig  für  Gottes  Werk  ansieht''  (was  allerdings  viel  ver- 
nünftiger wäre),  „ja  wir  wollen  gern  zugeben,  daß  es,  menschlich  zu  be- 
trachten" (das  vorige  war  ohne  Zweifel  eine  übermenschliche  Betrachtung?), 

4* 


^2  J-  F'  Herbarts  Rezensionen. 


„auch    wohl   vorzugsweise   als  Gottes  Werk,    als    eine  neue  Schöpfung  der 
geistigen  Natur,    betrachtet    werden    mag.     So    wenig   unser  Verstand  be- 
greifen mag,  wie  der  menschliche  Geist  aus  dem  ursprünglichen  Zustande 
der  Sittlichkeit  in  den  entgegengesetzten  übergehen  könne:  so  wenig  können 
wir   die   umgekehrte  Veränderung   nach    ihrem  Wesen  fassen;    aber  wenn 
wir   aus   dieser  Unbegreifiichkeit  den  Schluß  ziehen  wollten,    daß  sie  kein 
Werk  der  Freiheit  sei,    sondern  schlechthin  Gottes  Werk,   so  würden  wir 
der   Veränderung    den    sittlichen  Gehalt  entziehen,    und  auch  die  vorher- 
gehende   Verschlechterung    nicht    als    ein    Werk    der   Freiheit    betrachten." 
Ehe  wir  uns  verabschieden,  wollen  wir  nun  einen  Wink  geben,  bloß  damit 
der  Verf.  nicht  klagen  könne,  daß  wir  ihm  einige  Hilfe  auch  nicht  einmal 
angeboten  hätten.     Er  gehe  von  dem    Punkte,  wo  er  soeben  stand,  noch 
einen  Schritt  weiter  rückwärts  —  wie  wir  ihm  denn  die  rückwärts  gehenden 
Bewegungen    (von    offenbar    ungereimten    Folgen    zur    Kritik    der  Gründe, 
aus    denen    sie    entstanden)    nicht   genug    empfehlen    können.      Also  rück- 
wärts gehend,  wird  er  sich  erinnern,  daß  er  den  Menschen  als  ursprünglich 
gut,    heilig,    selig    betrachtete.       War  denn    diese    Güte   muh   ein    Werk   der 
menschlichen  Freiheit?  —   Ferner,   der  Verfasser  endigt  so:   „Wir  erkennen 
das    Leben    nicht    allein    als    Strafe    für    die    ursprüngliche    Verschuldung, 
sondern  auch  als  Züchtigungsanstalt  Gottes  für  die  Wiederherstellung  des 
Menschen    zur   ursprünglichen   Herrlichkeit."       Wird  denn    die  zirspi  angliche 
Herrlichkeit  Jetzt,    nachdem    das  Erwachen    dazu    ein    Werk    der  Freiheit  toar^ 
etwa  noch  übertroffen  werden^  oder  nicht?  Und  wird  dies  Werk  der  Freiheit 
ein   für   allemal   feststehen,    oder   gibt   es   vielleicht  Perioden   des  Abfalles 
und    der    Wiederherstellung?    Wir   beabsichtigen    unsererseits   keinesweges, 
irgend    jemandem    eine  Beantwortung    dieser    Fragen    aufzudringen.      Weil 
aber  der  Verf.  doch  einmal  philosophiert,  und  zwar  nicht  für  Glaubende, 
sondern    für   Zweifler:    so    überlegen    wir   in    seinem   Namen,    was  er  wohl 
bei  Gelegenheit  der  ersten  Frage  weiter  zu  bedenken  hätte.    Er  behauptete 
oben    recht     deutlich:     Die    Geisterwelt    ist    unbedingt    unterworfen    dem 
Prinzipe    der    sittlichen  Weltordnung.     Es    ist    ihm    also   wenigstens   nicht 
so   übel   ergangen,    daß   er   die  Freiheit    selbst  für  ein  Werk  der  mensch- 
lichen Freiheit  erklärt  hätte;   sondern  nach  ihm   hat  der  Mensch  ursprüng- 
lich   eine   Güte,    die  nicht  sein   eigenes  Werk  ist.     Also  gibt  es  eine   Güte, 
ohne   daß  sie  ihr  eigenes  freies    Werk  ist?    —    Hier  öffnen  sich   drei  Wege. 
Entweder    die   Frage    ivird   verneint.      Alsdann    war    eine    Übereilung    vor- 
gefallen,    indem    die    sittHche    Weltordnung,    mit    ursprünglichen    heiligen 
menschlichen  Geistern,  so  schlechthin  gesetzt  wurde,  und  der  Verf.  über- 
legt   weiter,    ob    es    nicht  besser  sei,    erst  eine  Möglichkeit  für  Werke  der 
Freiheit    zu    eröffnen,    ehe    man  die   sittliche  Weltordnung  eintreten   lasse? 
Auf   diesem  Wege   möchte    er   denn  vielleicht  finden,    daß  jene  Fichtesche 
Ansicht.^    nach   welcher    die    Weltordnung  geradezu   Gott  selbst  sein  sollte.,  ihn 
verleitet   habe;   und   daß   allemal    das  absolute  Sein,    wie  stark  man  auch 
berechtigt   ist,    demselben    sittliche    Prädikate    beizulegen,    doch    wenigstens 
in  Begriffen    sorgfältig   von    diesen  Prädikaten  muß  unterschieden  werden. 
—   Oder   zweitens:    die  Frage   loird  bejaht.     Alsdann    steckt   irgendwo    ein 
Fehler    in    der    Verbindung    zwischen    Güte    und    Freiheit;    und    falls    die 
letztere    einen  wesentlichen  Wert  hat,    so  mag  sie  wohl  einen  Zusatz  zur 


E.  Reinhold :  K.  L.  Reinholds  Leben  und  literarisches  Wirken.  e^ 


Güte  geben;  es  gibt  dann  nicht  bloß  einerlei  Gutes  und  einerlei  Böses, 
sondern  verschiedenes  auf  verschiedenen  Standpunkten;  einiges  vor  der 
freien  Tätigkeit,  anderes  nach  derselben,  und  vermöge  ihrer;  auch  ist  das 
Leben  alsdann  nicht  Strafe  und  nicht  Züchtigungsanstalt,  sondern  es  ist 
Spielraum  für  freie  Tätigkeit,  durch  welche  noch  etwas  mehr,  als  bloße 
Wiederherstellung,  beabsichtigt  wird.  —  Oder  endlich  drittens:  die  Frage 
wird  in  getvisser  Hinsicht  verneiiit,  in  anderer  bejaht.  Dann  mag  auf  beiden 
Seiten,  welche  wir  soeben  nacheinander  andeuteten,  etwas  Wahres  liegen. 
Die  Philosophie  des  Verfs.  aber  ist  alsdann  doppelt  verkehrt,  und  ein  so 
verworrener  Knäuel,  daß  kein  Wunder  ist,  wenn  sie  ihn  in  Unruhe  versetzt 
(laut  der  ersten  Zeilen  der  Vorrede).  Da  er  jedoch,  wie  wir  nach- 
gewiesen haben,  kein  originaler  Denker  ist,  so  liegt  dann  die  Schuld  an 
der  Zeitphilosophie  überhaupt,  die  sich  in  ihm  spiegelt,  und  die  wir  nur 
unbescheiden  nennen  können,  we7t?i  sie  sich  dem  Christeniume  aufdringt,  ja 
wohl  gar  christliche  Philosophie  heißen  will,  anstatt  höchstens  den  Namen 
einer  philosophischen  Ansicht  des  Christentums  anzunehmen.  Soviel  ist 
offenbar,  daß,  wenn  erst  falsche  Philosophie  für  orthodox  imd  für  legitim 
ausgegeben  ivird,  man  alsdann  von  der  Hoffnung,  sie  werde  dereinst  ihres 
Irrtums  inne  werdeii,  noch  sehr  viel  weiter  entfernt  zvird,  als  solange  ihre 
Versuche  im  eigenen  Kreise  bleiben.,  wo  sich  die  Schulen  aneinander  messen, 
und  keift  Irrtum  gefährlich  ivitd,  weil  sich  sogleich  ei?i  entgegengesetzter  findet, 
mit  welchem  er  sich  in  der  Wirkung  aufhebt.  Gleichwohl  war  es  nicht 
Sache  des  Rez.,  das  vorliegende  Werk  von  der  Seite  zu  betrachten,  da 
es  christliche  Lehre  zu  sein  behauptet;  sondern  nur,  sofern  es  Philo- 
sophie zu  sein  vorgibt.  Was  die  theologische  Gelehrsamkeit  des  Verfs. 
anlangt:  so  mag  diese  vielleicht  sehr  rühmenswert  sein;  sie  wird  dann 
ihre  Anerkennung  in  irgend  welchen  anderen  kritischen  Blättern  finden,  an 
welchen  ja  kein  Mangel  ist.  Da  der  Verf.  die  Nennung  seiner  Beurteiler 
in  der  Vorrede  verlangt:  so  wird  hier  noch  bemerkt,  daß  der  Name  des 
Rez.  kein  Geheimnis  ist,  sondern  bei  der  Redaktion  kann  erfragt  werden. 


Reinhold,  E.,  ord.  Prof.  der  Logik  und  Metaph.  an  der  Univ.  zu  Jena, 

K.  L.   Reinhold's     Leben    und    literarisches    Wirken,    nebst 

einer  Auswahl  von  Briefen  Kant's,    Fichte's,  Jacobi's  und 

anderer     philosophirender    Zeitgenossen     an    ihn.    —    Jena, 

1825. 

Gedruckt  in:  Jenaer  Literatur-Zeitung  1827,  Nr.  165,    166.     Kl.  Seh.  III,  S.  662. 

sw.  xn,  S.  588. 

Dieses  interessante  Buch  versetzt  uns  in  die  Blütezeit  der  neuen 
deutschen  Philosophie,  die  vermutlich  unseren  jüngeren  Zeitgenossen  nicht 
ganz  so  bekannt  ist,  als  sie  zu  sein  verdient,  während  andere,  denen  sie 
noch  als  gegenwärtig  vorschwebt,  eher  Mühe  haben  mögen,  die  Ent- 
fernung,   in    welche    sie    schon    entwichen    ist,    groß    genug    zu    schätzen. 


54  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


Wiederkehren  wird  sie  nicht;  aber  kennen  muß  sie  jeder,  der  die  Kantische 
Umänderung  der  Meinungen  gehörig  im  Zusammenhange  überschauen, 
und  den  Ursprung  dessen,  was  jetzt  die  Köpfe  beschäftigt,  richtig  be- 
urteilen will.  Unstreitig  spiegelt  sich  in  ihr  die  Eigentümlichkeit  des 
deutschen  Geistes;  dennoch  ist  sie  nicht  aus  der  Mitte  des  gelehrten 
Deutschlands  hervorgegangen.  Beinahe  an  der  Grenze  des  deutschen 
Sprachgebietes  war  Kant  aus  einem  sehr  geistreichen  geselligen  Kreise 
(von  welchem  Rez.  den  verstorbenen  Kriegsrat  Scheffner  noch  persönlich 
zu  kennen  das  Glück  hattej  hervorgetreten,  und  hatte  ein  weitläufiges 
spekulatives  Werk  herausgegeben,  auf  die  Gefahr  hin,  daß  es  vergessen 
werde.  Um  es  lebhaft  aufzufassen,  und  ihm  eine  große  Wirksamkeit  zu 
schaffen,  mußte  am  entgegengesetzten  Ende  des  deutschen  Bodens,  mitten 
unter  Jesuiten  und  Barnabiten^  ein  anderer  Kreis  von  trefflichen  Köpfen 
heranwachsen,  aus  welchem  fliehend  und  entführt  Reinhold  sich  von 
seinen  Gönnern  an  Wieland  nach  Weimar  gewiesen  sah;  und  hier  nicht 
bloß  häusliches  Glück,  sondern  auch  die  günstigsten  Verhältnisse  für  lite- 
rarisches Wirken  fand,  sich  zueignete  und  benutzte.  Jedermann  weiß,  daß 
er  der  neuen  Lehre  vornehmster  Apostel  wurde;  die  näheren  Umstände 
lernt  man  aus  dem  vorliegenden  Buche  kennen.  Ungefähr  der  vierte  Teil 
desselben  ist  ein  Denkmal,  vom  Sohne  dem  Vater  gesetzt;  darauf  folgen 
Briefe  an  Reinhold,  welche  nur  zu  oft  Reinholds  Briefe  vermissen 
lassen.  Auch  so  noch  erblickt  man  Reinhold  im  Mittelpunkte  des  red- 
lichsten, des  seltensten  Bemühens,  Eintracht  nnter  den  Philosophen  zu  stiften, 
wodurch  die  Philosophie  eine  bis  dahin  ungekannte  Wirksamkeit  würde 
gewonnen  haben.  Wirklich  gewann  sie  öffentliches  Vertrauen,  ja  Be- 
geisterung, in  einem  größeren  Kreise,  als  wohl  jemals  zuvor  und  anderswo. 
Aber  wie  in  den  ersten  beiden  Akten  eines  Trauerspiels,  sieht  man  auch 
mitten  im  Glücke,  aus  überspannten  Hoffnungen  und  Ansprüchen,  aus 
den  abweichenden  Richtungen  des  Strebens  und  Meinens  solche  Übel 
entstehen,  die  einen  notwendigen  Verfall  schon  ahnen  lassen  würden, 
wenn  man  auch  die  Entwicklung  noch  nicht  wüßte.  Die  Spekulation, 
welche  stets  vom  Selbstbewußtsein  und  vom  Ich  redete,  kannte  gleich- 
wohl sich  selbst  nicht.  Sie  war  in  jeder  Hinsicht  viel  zu  unreif,  um  auf 
die  Länge  einem  größeren  Publikum  genießbar  zu  bleiben;  und  die  besten 
Köpfe  strebten  zu  früh  nach  außen,  lebten  zu  wenig  in  sich  selbst,  um 
sie  zur  Reife  zu  bringen.  Man  glitt  allmählich  zurück  in  einen  alten 
Dogmatismus;  Spinoza  wurde  mächtig;  vom  kritischen  Geiste  Kants  blieb 
nicht  viel  mehr  als  der  Buchstabe. 

Die  Lebensbeschreibung  Reinholds  gereicht  der  Darstellungsgabe 
des  Verfs.  zur  Ehre.  Dem  Werte  derselben  scheint  uns  jedoch  ein  Um- 
stand, der  an  sich  natürlich  genug  ist,  Eintrag  getan  zu  haben.  Der 
Sohn  hatte  nicht  die  glänzende  Periode  der  Wirksamkeit  seines  Vaters 
aus  eigenem  Anschauen  kennen  gelernt;  er  sah  das  Hauptwerk,  die  Theorie 
des  Vorstellungsvermögens,  schon  veraltet,  als  er  sie  lesen  konnte;  dagegen 
wirkte  auf  ihn  der  Vater,  als  dessen  spätere  Schriften  schon  keinen  Ein- 
gang in  der  gelehrten  Welt  mehr  fanden.  Hieraus  glauben  wir  uns  er- 
klären zu  müssen,  daß  die  Lebensbeschreibung  (S.  57)  an  jenem  Haupt- 
werke beinahe  scheu  vorübergeht,  anstatt  daß  historisch  die  große  Wichtig- 


E.  Reinhold:  K.  L.  Reinholds  Leben  und  literarisches  Wirken.  515 


keit    desselben    für    die    Zeit    seiner    Erscheinung    eine    ausführliche   Dar- 
stellung   verdient    hätte.      Die    kurze,    nachholende   Übersicht,    S.  87   usw., 
gewährt   dafür   keinen   Ersatz;    ebensowenig,    als  Reinholu  durch   spätere 
Berichtigung   den    Einfluß,    welchen   sein  Buch   einmal  erlangt  hatte,    auf- 
heben  konnte;   dazu   wäre   wenigstens    eine   ungleich  größere  Energie  des 
spekulativen  Aufschwunges  nötig  gewesen,  als  man  von  einem  Philosophen, 
der   sein  System    ändert,    hintennach    erwarten   darf,    nachdem  die  besten 
Kräfte  erschöpft  sind.    Zwar  bezeichnet  der  Verf.  die  im  Jahre   18 12   er- 
schienene Synonymik  für  den  allgemeinen  Sprachgebrauch  in  den  philosophischen 
Wissenschaften  als  das  Hauptwerk;  allein  nach  den  davon  gegebenen  Proben 
können    wir    der    dadurch    ausgedrückten  Meinung   nicht   beitreten.     Und 
auch    hiervon    abgesehen,    so    führt    schon   die    Auswahl    der   mitgeteilten 
Briefe  zu  dem  Wunsche,  der  Verf.  möchte  die  Periode  der  größten  öffent- 
lichen Wirksamkeit  Reinholds  in  ein  helleres  Licht  gestellt  haben.     Die 
Briefe  fallen  nämlich  meistenteils  in  diese  Periode.    Die  von  Kant  gehen 
von   1787  — 1795.    Die  weit  interessanteren  von  Fichte,    15  an  der  Zahl, 
sind  von  den  Jahren    1793  — 1800.    Von  Jacobi  sind  deren  22;  sie  um- 
fassen einen  etwas  größeren  Zeitraum    1789 — 1804.    Von  Bardili  finden 
wir    18   Briefe;    sie    fallen    zwischen    1802    und    1806.     Von  Thorild   7; 
zwischen     1800     und     1802.      Die    Briefe    von    verschiedenen    (Abicht, 
Heydenreich,    Garve,    Fülleborn,    Nicolai,    Platner,    B arthold y, 
Salomo   Maimon,    Feder,    Fernow,    Lavater    und    Villers)   versetzen 
uns    meistens    wieder    ans   Ende    des    vorigen  Jahrhunderts.     Warum   von 
1806  — 1823    keine  Briefe    mitteilbar    gefunden    worden,    dürfen    wir    nun 
zwar   nicht   fragen.     Aber   den  vorhandenen,    die  offenbar  der  glänzenden 
Periode    R.s    angehören,    fehlt    der    eigentliche  Beziehungspunkt,    weil    die 
Theorie   des  Vorstellungs Vermögens,    und    was   ihr    zunächst   in   der  philo- 
sophischen Welt   folgte,    dem  Leser  bekannt  sein  muß,   um  die  Briefe  zu 
verstehen  ;  und  doch  jetzt  gewiß  selbst  denen,  die  noch  Reinholds  lite- 
rarische Blüte  gekannt  haben,  die  Erinnerung  daran  dunkel  geworden  ist. 
Rez.    behält    sich    vor,    anderwärts    über    Metaphysik    als    historische 
Tatsache,    und    bei    der   Gelegenheit    auch    über    Reinholds   Theorie   des 
Vorstellungsvermögens,  zu  sprechen.    Hier  können  wir  uns  begnügen,  einem 
•    Fingerzeige   Fichtes    nachzugehen.      Fichte   nennt   nämlich   (S.  167)    die 
Schrift    über    das   Fundament    des   philosophischen    Wissens    das    Meisterstück 
unter   Reinholds    Meisterstücken.      Schlagen    wir   nun    das   Buch    auf,    so 
finden    wir   im  Vordergrunde   nicht   sowohl   das   spekulative  Interesse,    als 
das    moralische,    in    edler    Aufregung    begriffen.      ,,Der    menschliche    Geist 
.     (sagt  Reinhold)    kann    sich    nach    seinen    eigenen  Gesetzen   nur    insofern 
regieren,    als   er   über  diese  Gesetze  mit  sich  selbst  einig  ist.     Wie  lange 
nun   die   sehr   kleine  Zahl   der  Selbstdenker   noch  unter  sich  uneinig  sein 
wird    über    die   letzten    Gründe   unserer  Pflichten   und  Rechte    in    diesem, 
und  unserer  Erwartung  vom  zukünftigen  Leben,  solange  muß  der  Mensch 
unmündig   bleiben   unter    der  Vormundschaft  der  Naturnotwendigkeit,    die 
ihm  in  dem  Verhältnisse  drückender  wird,  als   er  seine  Kräfte  mehr  fühlen 
lernt."    Schon  diese  wenigen  Worte  charakterisieren  nicht  bloß  Reinholds 
sondern    auch  Fichtes   nachmaliges  Streben,    wie  es  besonders  in  dessen 
System  der  Sittenlehre  hervortritt.    Aber  nicht  bloß  im  Sittlichen,  sondern 


e()  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


auch  in  Ansehung  der  wissenschaftlichen  Form,  erhielt  Fichte  seine 
Richtung  zunächst  durch  Reinhold,  Dieser  war  es,  der  zuerst  behauptete, 
„es  fehlt  der  Logik,  der  Metaphysik,  der  Moral,  dem  Naturrechte,  der 
natürlichen  Theologie,  selbst  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  und  allen 
empirisch -philosophischen  Wissenschaften  an  feststehenden,  anerkannten, 
allgemeingeltenden  Fundamenten,  und  mu/J  und  7vtr(/  ihnen  so  lange  daran 
fehlen,  als  es  an  einer  Elementarphilosophie,  d.  h.  an  einer  Wissenschaft 
der  gemeinschaftlichen  Prinzipien  aller  besonderen  philosophischen  Wissen- 
schaften fehlt;  —  an  einer  solchen  Wissenschaft,  worin  das,  was  die 
übrigen  bei  ihrer  Grundlegung  voraussetzen,  durchgängig  bestimmt  auf- 
gestellt wird.  Die  Entdeckung  und  Anerkennung  dieses  Fundaments, 
geschehe  sie  über  kurz  oder  lang,  ist  Revolution  im  eigentlichsten  Ver- 
stände ;  denn  durch  sie  wird  das  kurz  vorher  Unbedeutendste,  Streitigste, 
Verkannteste  unter  den  Philosophen  —  zum  Unentbehrlichsten,  Aus- 
gemachtesten, Bekanntesten  in  der  Philosophie  werden  müssen.''  So  fort- 
redend entzündete  Reinhold  einen  Enthusiasmus,  den  er  späterhin,  als 
derselbe  in  Fichte  und  Schelling  neu  aufflammte,  nicht  mehr  lenken 
konnte.  Die  Zügel  der  Revolutionen  bleiben  niemals  in  den  Händen  der 
Stifter.  —  Aber  wo  blieb  denn  die  alte  Einteilung  der  Philosophie  in 
Logik,  Physik,  Ethik,  welche  noch  Kant,  in  den  ersten  Worten  der 
Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten,  als  vollkommen  der  Sache  an- 
gemessen anerkannt  hatte  (wie  es  wirklich  zu  allen  Zeiten  sein  und  bleiben 
wird)?  Die  Antwort  ist:  Kant  selbst,  mit  seiner  idealistischen  Geistesrichtung, 
hatte  dazu  Anlaß  gegeben,  daß  sie  hintangesetzt  wurde.  Nach  ihm  sollte 
die  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  und  die  Kritik  der  theoretischen,  in 
einem  gemeinschaftlichen  Prinzipe  Einheit  besitzen,  „weil  es  doch  am 
Ende  nur  eine  imd  dieselbe  Vernunft  sein  könne,  die  sich  nur  in  ihren 
Anwendungen  unterscheide."  Nichts  Neues  also  war  es,  als  späterhin 
Reinhold  von  Fichte  gelobt  wurde,  er  habe  sich  das  unsterbliche  Ver- 
dienst erworben,  aufmerksam  zu  machen  auf  die  Notwendigkeit,  daß  die 
gesamte  Philosophie  auf  einen  einzigen  Grundsatz  zurückgeführt  werden 
müsse,  und  daß  man  das  System  der  dauernden  Handlungsweisen  des 
menschlichen  Geistes  nicht  eher  auffinden  werde,  bis  man  den  Schluß- 
stein desselben  aufgefunden  habe  (S.  i66  des  angezeigten  Briefes).  Freilich 
suchte  man  seitdem  nach  dem  eingebildeten  Schlußsteine,  wie  nach  dem 
Steine  der  Weisen;  und  die  Philosophie  ist  in  der  Tat  sattsam  zuriick- 
geführt  worden,  indem  man  sie  nach  dem  falschen  Ideal  einer  unmöglichen 
Einheit  bearbeitete.  Der  Ursprung  des  Übels  war  das  eingebildete  Seelen- 
vermögen, Vernunft  genannt,  welches  zugleich  theoretisch  und  praktisch 
sein  sollte;  die  Folgen  des  Irrtums  zeigten  sich  in  Fichtes  Sittenlehre, 
welches  Buch  zwar  von  Schleiermacher  (man  sehe  dessen  Kritik  der 
Sittenlehre  S.  '^'j')  mit  dem  vollständigsten  Rechte,  der  Verzvechsehu/o  des 
Seins  mit  dem  Sollen  ist  beschuldigt  worden;  aber  so,  daß  der  Beschuldiger 
gerade  denselben  Fehler,  den  er  an  anderen  rügt,  an  seiner  davon 
gänzlich  durchdrungenen  Arbeit  nicht  sehen  kann.  Das,  und  weit  mehr 
noch,  waren  die  bedauernswerten  Folgen  der  Übereilung,  womit  Reinhold, 
voll  der  edelsten  Absichten,  den  einen,  einzigen  Grundsatz  der  Philo- 
sophie   als    das    Heil    der   Wissenschaften    und   der  Welt   anpries,    in   der 


E.  Reinhold:  K.  L.  Reinholds  Leben  und  literarisches  Wirken.  cy 

Voraussetzung,  die  Wahrheit  der  Kantischen  Lehre  sei  schon  so  rein  und 
so  vollständig,  daß  man  nur  noch  nötig  habe,  sie  zu  ordnen,  um  sie  all- 
gemein begreiflich  und  geltend  zu  machen.  „Die  philosophierende  Ver- 
nunft (sagt  Reinhold  in  der  genannten  Abhandlung  S.  55)  schien  in 
einem  gänzlichen  Stillstande  begriffen,  als  sie  durch  einen  Mann,  der 
Leibnizs  systematischen  mit  Humes  skeptischem  Geiste,  Lockes  gesunde 
Urteilskraft  mit  Newtons  schöpferischem  Genie  in  sich  vereinigt,  Fort- 
schritte tat,  dergleichen  sie  bisher  noch  durch  keinen  einzelnen  Denker  getan 
hat.  Kant  entdeckte  ein  neues  Fundament  des  philosophischen  Wissens. 
Den  Charakter  desselben,  die  Utiveränderlichkeit,  leitete  er  weder  mit  Locke 
aus  dem  unmittelbar  aus  der  Erfahrung  Geschöpften,  dem  Einfachen,  noch 
mit  Leibniz  aus  den  angeboreiien  Vorstellungen  ab,  sondern  aus  der  im 
Gemüte  vor  aller  Erfahrung  bestimmten  Möglichkeit  der  Erfahning.  Die 
Vernunftkritik  untergräbt  Skeptizismus,  Empirismus,  Rationalismus;  dennoch 
vi'ürden  Hume,  Locke,  Leibniz  ihr  Wahres  im  kritischen  Systeme  wieder- 
finden. —  Allein  es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  Kants  Fundament  nur 
einen  Teil  des  philosophischen  Wissens,  nämlich  die  Metaphysik,  be- 
gründet." (In  der  Tat  ein  rühmliches  Zeugnis;  daß  nämlich  Kant  noch 
entfernt  davon  war,  das  Sein  mit  dem  Sollen  aus  einerlei  Elementar- 
philosophie zu  deduzieren,  welches  schlechthin  unmöglich  ist,  so  oft  auch 
Reinholds  Nachfolger  es  versuchten.)  „Der  Grundsatz  der  Metaphysik 
heißt:  jedem  erkennbaren  Gegenstande  kommen  die  formalen,  im  Erkenntnis- 
vermögen bestimmten,  und  die  maierialen,  in  dem  durch  Eindruck  ge- 
gebenen Stoffe  bestehenden  Bedingungen  der  Erfahrung  zu."  (Welcher 
Grundsatz  doppelt  falsch  ist ,  denn  es  gibt  ebensowenig  vorbestimmte 
Formen  im  Erkenntnisvermögen,  als  eigentliche  Eindrücke  und  wahrhaft 
von  außen  kommenden  Stoff.)  „Dieser,  an  der  Spitze  der  Metaphysik 
stehende,  alle  Erweislichkeit  derselben  begründende  Satz  nun  ist  in  der- 
selbefi  und  durch  sie,  wie  es  bei  jedem  ersten  Grundsatze  sein  muß,  un- 
enveislich.  Die  Vernunftkritik,  als  Propädeutik,  hat  den  Sinn  desselben 
begründet;  aber  sie  selbst,  diese  Propädeutik,  muß  zur  Wissenschaft  des 
Erkenntnisvermögens  erhoben  werden;  und  vorhergehen  muß  ihr  die 
Wissenschaft  der  im  Gemüte  bestimmten  Form  des  Vorstellens,  von  der 
•sowohl  die  Form  des  Erkennens,  als  des  Begehrens  abhängt."  So  klebte 
Reinhold  an  Kants  Notbehelfen ,  und  glaubte  dennoch  den  letzten 
Schritt  zum  eigentlichen  Fundamente  der  Philosophie  zu  tun.  Die  Formen 
der  Erfahrung  hatte  Kant  gegen  Hume  verteidigen  wollen;  er  hatte  ge- 
sehen, daß  sie  in  der  Empfindung  nicht  liegen,  daß  sie  sich  gleichwohl 
in  der  Erfahrung,  als  deren  notwendige  Bestimmungen,  erzeugen;  aber 
den  Prozeß  dieser  Erzeugung  kannte  damals  keine  Psychologie;  daher 
schrieb  Kant  diese  Formen  dem  Erkenntnisvermögen  als  dessen  ur- 
sprüngliche Einrichtung  zu.  Statt  nun  zu  bemerken,  daß  die  bestimmten 
Gestaltungen  der  einzelnen  Dinge,  welche  eigentlich  das  Problem  aus- 
machen, hierbei  völlig  unerklärbar  werden,  legte  Reinhold  den  Notbehelf 
angenommener  Einrichtungen,  die  ein  für  allemal  im  Erkenntnisvermögen 
sein  und  liegen  sollten  (während  vielmehr  jede  einzelne  Wahrnehmung 
in  einen  besonders  für  sie  sich  erzeugende^i  Mechanismus  eingeht),  einer 
logischen  Abstraktion  zum  Grunde.     Vorstellen  überhaupt  ist  ein  höherer 


5 8  J-  F-  Herharts  Rezensionen. 


Gattungsbegriff  als  Erkennen  und  Begehren;  darum,  meinte  Reinhold, 
müßte  es  auch  erst  ein  Vermögen  des  Vorstellens  und  eine  Theorie  des- 
selben geben,  ehe  man  zu  den  Theorien  des  Erkennens  und  Begehrens 
gelangen  könne. 

Hier  kann  das  eintreten,  was  Hr.  Prof.  Reinhold  der  Jüngere  von 
jener  Lehre  seines  Vaters  anführt.  „Das  Erkennen,  nahm  er  an,  sei  mit 
dem  Wollen  gemeinschaftlich  unter  dem  allgemeineren  Begriff  des  Vor- 
stellens als  Art  unter  der  Gattung  enthalten.  Die  Gattungsmerkmale 
müßten  aber  zuvor  mit  Deutlichkeit  von  uns  gedacht  sein,  ehe  die  Merk- 
male der  Art,  nämlich  des  Erkenntnisvermögens  in  seinen  drei  Richtungen, 
als  Sinnlichkeit,  Verstand,  Vernunft,  mit  hinlänglicher  Sicherheit  und  Ge- 
nauigkeit von  uns  festgestellt  werden  könnten.  —  Nun  kündige  sich  die 
Beschaffenheit  der  bloßen  Vorstellung  in  dem  Bewußtsein  an,  wie  das- 
selbe in  einem  jeden  Menschen,  als  die  allgemeinste  Tatsache  des  inneren 
Lebens,  vorhanden  sei.  Sie  werde  daher  durch  den  einfachen  Akt  des 
Reflektierens ,  den  jeder  stets  in  sich  anstellen  könne,  gefunden;  und 
Reinhold  hatte  sie  in  folgenden  Worten  ausgedrückt :  es  wird  im  Beivußl- 
sein  die  Vorstellung  durch  das  ^ubjekt  voin  Subjekte  und  Objekte  unterschieden 
und  auf  beide  bezogen.  Aus  diesem  Satze,  der  so  ganz  durch  sich  selbst 
verständlich  (?)  und  so  leicht  verständlich  (?)  ist,  hatte  Reinhold  mit 
«iner  überraschenden  Konsequenz  und  Klarheit  eine  Reihe  für  seinen 
Zweck  wichtiger  und  reichhaltiger  Bestimmungen  entwickelt.  Er  hatte 
aus  ihm  die  drei  höchsten  Begriffe,  der  Vorstellung,  des  Subjektes  und 
des  Objektes,  zu  erörtern ;  ferner  die  Charaktere  des  Stoffes  und  der 
Form  der  Vorstellung,  der  Spontaneität  und  der  Rezeptivität  des  Vor- 
stellungsvermögens zu  definieren,  kurz  (ja  leider  viel  zu  kurz!)  alle,  die 
Natur  und  Wirksamkeit  dieses  Vermögens  betreffenden  Lehrsätze  her- 
zuleiten gewußt,  durch  welche  er  die  Richtigkeit  der  Kantischen  Distinktion 
zwischen  dem  Vonaußen  -  Gegebensein  des  Stoffes  und  dem  Im- Gemüt- 
Vorhandensein  der  Form  des  Erkennens  erklärt,  und  hiermit  die  wissen- 
schaftliche Basis  der  Philosophie  olme  Beinamen  aufgeführt  zu  haben  ver- 
meinte." 

So  kurz  können  wir  nicht  einmal  hier,  in  dieser  Rezension,  uns  aus 
der  Sache  ziehen;  denn  es  soll  ja  von  Reinholds  literarischem  Wirken 
die  Rede  sein!  Erinnern  müssen  wir  daran,  daß  Reinhold  seinen  Grund- 
satz durch  Vergleichung  dessen,  was  im  Bewußtsein  vorgehe,  wollte  ge- 
funden haben;  oder  durch  bloße  Reflexion  über  die  Tatsache  des  Be- 
wußtseins. Dies  achtete  Reinhold  für  zugänglich,  indem  der  erste 
Grundsatz  keiner  Beweise  durch  Vernunft  Schlüsse  bedürfen,  sondern  etwas 
an  sich  Gewisses  aufstellen  sollte;  hingegen  Fichte  wollte  sich  mit  Tat- 
sachen nicht  begnügen,  vielmehr  stellte  er  denselben  eine  Tathandlung 
entgegen;  und  durch  die  abstrahierende  Reflexion  sollte  nur  das  erkannt 
werden,  daß  man  jene  als  Grundlage  alles  Bewußtseins  notwendig  denken 
müsse.  Nun  wäre  es  das  Amt  des  Verfs.  gewesen,  erstlich  zu  zeigen, 
wie  Reinhold  zu  Fichtes  Verfahren  Anlaß  durch  die  Weise  gegeben 
hatte,  seinen  Grundsatz  anzuwenden;  zweitens  aber  hätte  er  seinem  Vater 
einen  großen  Vorzug  darin  vindizieren  können,  daß  dieser  wenigstens  bei 
der    ersten  Aufstellung   seines  Satzes    den  Begriff   eines  wissenschaftlichen 


E.  Reinhold:  K.  L.  Reinholds  Leben  und  literarisches  Wirken.  ^g 


Erkenntnisprinzips  nicht  verletzte,  während  Fichte,  gleich  anfangs  ungestüm 
hinter  den  Vorhang  schauend,   unmittelbar  ein  Reales  setzen  wollte,   und 
auf    schlechthin    unwissenschaftliche    Weise    das    Erkenntnisprinzip    durch 
Anspruch  an   eine  Bedeutung,   die   einem  solchen  durchaus  nicht  zukommt, 
so  gänzlich  verdarb,   daß  er  in  seinem  nachherigen  Leben  aus  dem  einmal 
zugelassenen     Irrtum     nicht     hat     wieder     auftauchen     können;     vielmehr 
ScHELLiNG    und    wer    weiß,    wie    viele    andere,    in    denselben   Strudel    mit 
hineingezogen  wurden.    Erinnern  müssen   wir  ferner,  daß  Reinhold  seinen 
Grundsatz    einen    durch    sich   selbst   bestimmten  Satz   nannte.     „Die  Tat- 
sache  des  Bewußtseins    läßt   sich    nicht  weiter  zergliedern,    und  auf  keine 
einfacheren  Merkmale  zurückführen,   als  welche  durch  ihn  selbst  bezeichnet 
werden."    Hierin  zeigt  sich  Reinholds  logische  Sorgfalt  zu  seinem  Ruhme; 
aber    dahinter    verbarg    sich    ihm    die  Frage:    wie    denn   nun    aus  seinem 
Grundsatze    etwas    weiteres    folgen    möge.      Er    dachte    sich    das    Folgern 
lediglich  unter  der  Form  logischer  Syllogismen,   und  achtete  wenig  auf  die 
Schwierio-keit,    welche    dann    entstehen    würde,    wann    nun    die    Untersätze 
zum  Obersatze  würden  gesucht  werden  ;  diese,  meinte  er,  wären  schon  da, 
nämlich    in   Kants    Lehre.     Noch    weniger   fiel   ihm    ein,    daß   ganz   neue 
Formen    der    Untersuchung    entstehen    mußten,    wenn    nun    die  Probleme 
des    Selbstbewußtseins    zum   Vorschein    kamen,    auf   welche  Fichte   stieß, 
wie   auf  harten  Stein,    den  man  in  dem  fruchtbaren  Boden  gar  nicht  er- 
wartet, und  auf  dessen  Behandlung  man  nicht  gefaßt  ist.    Reinhold  meinte, 
daß  der  Satz  des  Bewußtseins  nichts  als  eine  Tatsache  ausdrücke,  soweit 
sie    durch    bloße  Reflexion    einleuchte:    so   könne   er   durch   kein   falsches 
Räsonnement  verkannt  werden.    So  ungefähr  wollen  die  neueren  Physiker 
nur  die  reinen  Tatsachen  in  ihren  Naturlehren  angeben ;  sie  merken  nicht, 
daß    sie    diese    Tatsachen    gar    nicht    aussprechen    können,    ohne    sogleich 
metaphysische    Begriffe    zu    bilden,    die    entweder    wahr    oder    falsch    sind. 
Jener  meinte  ferner,  ja  er  sagte  ausdrücklich  (S.  iio  der  Schrift  über  das 
Fundament    des    philosophischen    Wissens):    ,,Die   Form    der    Wissenschaft 
iiherhaupt  ist  in  der  Philosophie  etwas  längst  Bekanntes.     Man  wußte  längst, 
daß    sie    im   Systematischen    bestehe,    und   folglich    durch    Grundsätze,    die 
'alle  einem   ersten   untergeordnet  sein   müssen,   bestimmt  werden  müsse."     Daß 
nun  eine  so  höchst  dürftige  Form  gar  nicht  darauf  eingerichtet  ist,  neuen 
Entdeckungen   Raum    zu    geben,    viel    weniger  selbst  dahin  zu  leiten ;    daß 
vielmehr    für    diese   Form    des    bloßen    logischen   Registrierens    alles  schon 
vorrätig    liegen    muß,    um    hineingetragen   zu  werden;    daß  von  einem  Be- 
dürfnisse der  Spekulation  nun  gar  nicht  die  Rede  sein  kann:  auch  dieses 
kann  Reinholden    wohl    nicht   ganz    entgangen   sein;    er    sagt  wenigstens 
(a.  a.  O.  S.  94):   „die  Richtigkeit  der  untergeordneten  Merkmale  wird  zwar 
nicht    durch    die   Richtigkeit  der  obersten   allein  bestimmt,    aber  durch  die 
Unrichtigkeit  der   obersten   wird  jene   unmöglich.'^    Also  jene  systematische 
Form  des  logischen  Registrierens  sollte  einen  negativen  Nutzen  haben,  den 
Nutzen     aller     klaren     Darstellung,     wodurch     Mißverständnisse     verhütet 
werden;   einen  didaktischen  Vorteil   sollte  sie  schaffen,   aber  zum  Erfinden, 
zum   Erweitern  der   Erkenntnis,   konnte  sie  nicht  taugen.     Wenn  demnach 
eine  Erkenntnis    des  Realen   gesucht   wird   in   der  Wissenschaft:    so  wird 
vermutlich  das  allgemeinste  Reale  (falls  nur  wirklich  Sinn  in  diesen  Worten 


5o  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


wäre!)  schon  in  dem  ersten  Grundsatze  liegen  müssen?  Wirklich  scheinen 
sich  manche  das  einzubilden,  weil  sie  von  Schlüssen  aus  der  Erscheinung 
auf  das  zum  Grunde  liegende  Reale  keinen  Begriff  haben,  indem  aller- 
dings kein  logisches  Herabsteigen  von  einem  Prinzip,  welches  eine  Er- 
scheinung darstellt,  zu  einem  Realen,  als  ob  dasselbe  ihm  untergeordnet 
wäre,  wie   Art  der  Gattung,  möglich  ist. 

Hierher  passen  die  Worte,  womit  Hr.  Prof.  R.  d.  J.  die  Meinungs- 
änderung seines  Vaters,  als  derselbe  sich  zu  Fichte  wendete,  bezeichnet. 
„Nunmehr  aber  gelangte  er  zu  der,  in  der  Tat  das  uQunov  xfjevdog  seiner 
Theorie  berichtigenden  Ansicht,  daß  er  die  bloß  empirisch  gegebene  Ta/- 
sache  des  Bewußtseins  nicht  als  letzten  Erklärunosgrimd  der  transcenden- 
talen  Gesetze  des  Erkennens  gebrauchen  dürfe."  Hatte  er  sie  denn 
anfangs  auch  wirklich  mit  der  Absicht  eines  solchen  Gebrauchs  aufgestellt? 
Nichts  weniger!  Er  wollte  nur  die  Kantische  Lehre  ordnen,  nicht  er- 
weitern. Und  die  Kantische  Lehre  enthält  keine  Erklärungsgründe,  — 
das  heißt,  sie  unternimmt  gar  nicht,  aus  Rea/grimden  die  Gesetze  des 
Erkennens  zu  erklären;  sie  will  nichts  wissen  von  der  Substanz  und  von 
der  Kraft  der  Seele;  sie  will  sich  begnügen  mit  inneren  Erscheinungen, 
zu  welchen  sie  Seelenvermögen  nach  alter  Weise  hinzudenkt,  ohne  zu 
fragen,  ob  in  diesem  Hinzudenken  irgend  ein  Sinn  zu  finden  sei,  oder  nicht. 

—  Aber  hätte  denn  nicht  Reixhold  nach  letzten  Erklärungsgründen  der 
Gesetze  des  Erkennens  suchen  sollen?  Unstreitig;  und  wirklich  hat  er  in 
der  Amvendung  seinen,  darauf  nicht  eingerichteten,  zu  solchem  Gebrauche 
nicht  aufgestellten  Satz  des  Bewußtseins  späterhin  so  gemißbraucht,  als 
ob  derselbe  den  verborgenen  Mechanismus  des  Bewußtseins  unmittelbar 
anzeige.  Noch  später  jedoch  schien  es  ihm,  daß  ihn  Fichte  hier  über- 
troffen habe,  und  tiefer  sehe,  als  er  selbst.  —  Hatte  denn  Fichte  diesen 
Vorzug  durch  einen  Satz  gewonnen,  der  einen  besseren  realen  Erklärungs- 
grund der  Gesetze  des  Erkennens  enthielt,  als  der  Reinholdische  Satz  des 
Bewußtseins?  Nichts  weniger!  Das  Fichtesche  Ich  ist  von  der  Wahrheit  des 
Realen  womöglich  noch  weiter  entfernt!  und  wir  müssen  sehr  zweifeln,  ob 
Reinhold  bei  der  Art,  ivie  er  von  Fcihte  zu  lernen,  wie  er  sich  ihm  an- 
zuschließen suchte,  auch  nur  das  geringste  gewonnen  habe.  Der  große 
Hauptirrtum  blieb;  dieser  nämlich,  daß,  der  systematischen  Form  zu  gefallen, 

—  oder  vielmehr  aus  völliger  Befangenheit  in  den  Ansichten  des  damals 
herrschenden  Idealismus,  —  die  ganze  Philosophie  ein  einziges  Fundament 
haben,  und  daß  dieses  Fundament  ein  Grundsatz  sein  müsse.  Das  wirkliche 
Fundament  der  Philosophie  ist  aber  alles,  was  zur  Untersuchung  vorliegt: 
es  ist  mannigfaltig,  wo  immer  dieses  Vorliegende  sich  als  ein  gegenseitig 
unabhängiges  Mancherlei  darstellt;  es  ist  eine  Summe  von  Erkenntnis- 
prinzipien, und  diese  Summe  ist  so  groß,  als  wievielmal  die  Notwendig- 
keit eintritt,  zu  den  Erscheinungen,  die  sich  nicht  für  sich  allein  denken 
lassen,  das  Reale,  das  ihnen  zum  Grunde  liegen  muß,  hinzuzudenken.  Hin- 
gegen die  Einbildung  von  einem  Grundsatze,  und  von  der  Aufgabe,  ver- 
mittelst seiner  das  Universum  zu  umspannen,  hat  unsäglich  geschadet; 
denn  aus  ihr  sind  die  Künsteleien  hervorgegangen,  wodurch  die  Philo- 
sophie widerlich  wurde;  und  die  wahren  Untersuchungen  konnten  um 
desto  leichter  von  diesem  Unkraute  erstickt  werden,  weil  weder  Reinhold, 


E.  Reinliold :  K.  L.  Reinholds  Leben  und  literarisches  Wirken.  6l 


noch  Fichte  Mathematiker  waren,  und  durch  ihr  übles  Beispiel  Mathe- 
matik und  Philosophie,  welche  schon  Kant  nicht  genug  verband,  vollends 
durch  Mangel  an  Übung  und  durch  ganz  falsche  Ansichten  getrennt 
wurden. 

Von    den    Umwandelungen,    welche   Reinholds   Ansichten   im  Laufe 
der  Zeit  erfuhren,  haben  wir  nach  Anleitung  des  Verfs.  nun  noch  folgendes 
zu    berichten.      Er    fand,    das    reine    Ich    der  Wissen  Schaftslehre    sei    nicht 
das    auf   ein   Objekt    sich    beziehende    bloße  Subjekt    des    natürlichen   Be- 
wußtseins,   sondern   die  ursprüngliche,    allem  anderen  in  uns  zum  Grunde 
liegende  Tätigkeit,    welche    die  Vernunftkritik    für   das  Wesen   der  reinen 
Vernunft    fordere;    und    eben    darum    sei    die  Idee  dieses  Ich  die  einzige, 
welche    den    Grund    ihrer    Verständlichkeit    und   Gültigkeit    in    sich    selbst 
enthalte.      Aber   jetzt,    nachdem    die    von    ihm    lange    gesuchte    Grundlage 
des  transcendentalen  Idealismus  durch  Fichte  zu  stände  gebracht  schien, 
gewann   er  Muße,   um   die  wichtigsten  philosophischen  Fragen   mit  den   er- 
haltenen  Antworten  zu  vergleichen;    er  empfand   die   Unzulänglichkeit  des 
Fichteschen  Systems   in  Ansehung   der  Religion.     Noch  eine  Zeitlang  be- 
fangen   in    Kants    Lehre,    nahm    er    einen    unvermeidlichen  Gegensatz    an 
zwischen  Spekulation  und  Gewissen;  so  jedoch,  daß  beides  nebeneinander 
bestehe.       Er     stellte    sich    demnach    vermittelnd    zwischen    Fichle    und 
Jacobi,    und    betrachtete    deren    Lehren    als    sich    gegenseitig    ergänzend. 
Allein    es    bedurfte    nur    der  Aussicht   auf   die   Möglichkeit,    die   Vernunft- 
forschung über  die  Subjektivität  des  menschlichen   Erkennens  zu  erheben, 
und    durch    sie    ein    objektives   Wissen  von   Gott  hervorzubringen,    um  ihn 
zum  Zweifel  an  der  Gültigkeit  der  Kantischen  Bestimmungen  zu  bewegen. 
„Hier    sehen    wir    den    einzigen    eigentlichen    Wendepunkt    in    dem   Gange 
seines  Forschens,   da  er  von   der  Vorstellung,  daß  nur  die   Beschaffenheit 
und    Gesetzmäßigkeit    der  Funktionen   unserer  Intelligenz   Gegenstand    der 
Erkenntnis    sei,    überging    zu    der    entgegengesetzten:    die    Charaktere    des 
objektiven    Seins    alles    dessen,     was    unabhängig    von    der    menschlichen 
Intelligenz    wirklich    ist,    seien    die    Gegenstände    dieser    Erkenntnis."      Die 
ersten   Andeutungen  hiervon   fand   er  in  Bardilis  Logik.     Nun   entstanden 
ihm    folgende   Hauptgedanken:    die  Vernunft,    wie    sie    an    sich    selbst   ist, 
muß  von  der  im  menschlichen  Bewußtsein  hervortretenden  Vernunft  unter- 
schieden   werden.       Die    Vernunft    an    sich    selbst    ist    die    Manifestation 
Gottes,   das  Prinzip  alles  Seins  und  Erkennens.    Sie  äußert  sich  in  unserem 
Bewußtsein,   wo  ihre  Äußerung  durch  das  sinnliche  Vorstellen   bedingt  ist, 
und     mit     demselben     unzertrennUch    verbunden    den    Charakter    unseres 
menschlichen    Denkens    annimmt,    zunächst    durch    unsere    Zurückführung 
des  Vielen  auf  die   quantitative   Einheit,    der  Folgen  auf  die  Gründe,    der 
Wirkungen    auf  die   Ursachen,   der   Handlungen  auf  die  Absichten;    durch 
Anerkennung    des    Gedachtseins,    des    Berechneten,    der    Zweckmäßigkeit 
im    Weltall;    ferner    aber    durch    Zurückführung    der   quantitativen    Einheit 
auf   die    absolute    Einheit,    der    Gründe    auf  den   Urgrund,    der  Ursachen 
auf   das    Urwesen,    der   Zwecke    auf   den   Endzweck,    kurz,    durch  Zurück- 
führung   des    Weltalls     auf    das    Eine,    in     welchem    und    durch    welches 
alles  berechnet,  begründet,  beabsichtigt  und  bewirkt  ist.    Indem  der  Philo- 
soph   sich    der  Vernunfttätigkeit,    ungeachtet   sie    im   Menschen    nur    in   der 


62  J.  F-  Herbarts  Rezensionen. 


Verbindung  mit  dem  sinnlichen  Vorstellen  hervortritt,  dennoch  als  der  ab- 
soluten, als  des  göttlichen  Denkens,  bewußt  wird:  so  wird  er  in  ihr  sich 
auch  des,  durch  dieses  Denken  bestimmten  Seins  alles  Realen  bewußt. 
So  ergibt  sich  denn  für  ihn  die  Aufgabe,  die  Charaktere  des  Seins  in 
ihrem  Unterschiede  und  Zusammenhange  in  der  philosophischen  Analysis 
der  Vernunftideen  zu  entwickeln.  —  Die  Vernunftideen  stellen  ein  ab- 
solutes, teils  Allgemeines,  teils  Einziges  dar,  welches  ein  Reales,  unab- 
hängig von  unserem  Erkennen  Wirkliches,  aber  für  unsere  Vernunft,  eben 
weil  sie  Vernunft  ist,  schlechterdings  Erkennbares,  mithin  Real-Ideales  ist. 
Nun  aber  ist  das  deutliche  Vernehmen  des  beharrlichen  Seins  in  den  Ver- 
nunftideen nicht  eigen  dem  bloßen  gemeinen  gesunden  Verstände,  oder 
dem  entfalteten  natürlichen  Bewußtsein,  solange  dasselbe  noch  nicht  zum 
Philosophieren  —  (?  oder  zum  Schwärmen?)  sich  erhoben  hat.  Von 
diesem  Bewußtsein  werden  die  Charaktere  und  Verhältnisse  des  schlechthin 
Allgemeinen  und  Einzigen  ;///;-  in  Gefühlen  und  Ahnungen  vernommen. 
Sie  stellen  sich,  auf  diese  Weise  vernommen,  nu?-  in  negativen  Begriffen 
dar,  nämlich  in  bloßen  Negationen  des  Endlichen  und  Beschränkten, 
welches  den  Objekten  des  empirischen  Erkennens  als  positiver  Charakter 
(Beschränktheit  als  positiver  Charakter^)  zukommt. 

Wenn  nun  Reinholds  Gegner  fragen,  wie  weit  er  wohl  noch  davon 
entfernt  gewesen  sei,  in  den  neueren  Spinozismus  zu  verfallen  —  (der 
bekanntlich  vom  Real-Idealen  viel  zu  reden  hatj:  so  werden  wir  uns  über 
die  Frage  nicht  wundern;  allein  wir  bedauern  aufrichtig,  daß  sich  hier 
eine  Verwirrung  der  Begriffe  ankündigt,  welche  um  nichts  besser  zu  sein 
scheint,  als  in  Fichtes  späteren  Schriften.  Die  Philosophen  waren  müde 
geworden,  und  die  Müdigkeit  zeigt  sich  bei  mehreren  in  ähnlichen  Sym- 
ptomen. Das  ist  menschliches  Schicksal.  Aber  man  muß  nur  nicht  glauben, 
daß  die  Philosophie  selbst  müde  werde.  Sie  behält  offene  Augen  für 
alles,  was  zu  sehen  ist,  während  der  einzelne  Mann  in  späteren  Jahren 
sein  Interesse,  und  hiermit  seinen  Gesichtskreis,  auf  dasjenige  beschränkt, 
was  ihm  lieb  ist  zu  sehen,  und  was  mit  den  früheren  Jugendeindrücken 
am  besten  zusammenstimmt.  —  Die  Unzulänglichkeit  des  Fichteschen 
Systems  in  Ansehung  der  Religion  leugnet  heutigestages  niemand;  aber 
darin  liegt  nichts  Besonderes,  denn  die  nämliche  Lehre  war  ebenso  un- 
zulänglich in  Ansehung  der  Natur,  und  zwar  ganz  begreiflich  deswegen, 
weil  sie  ein  neuer,  noch  unreifer  Versuch  war,  dessen  Wert  und  Ver- 
dienst nicht  in  neuen  Aufschlüssen,  sondern  im  Aufstellen  der  bis  dahin 
wenig  gekannten  Probleme  der  inneren  Erfahrung  besteht.  Fichte  ist 
für  unsere  Zeit^  was  Heraldit  für  das  Altertum  rrar.  —  Daß  Reinhold 
sich  zwischen  Jacobi  und  Fichte  in  der  Mitte  befand,  und  von  beiden 
zugleich  starke  Eindrücke  empfing,  war  ein  Schicksal  seines  Lebens,  wie 
seines  Zeitalters;  aber  nicht  ein  Schicksal  für  die  Wissenschaft,  die  wohl 
niemals  wird  anzeigen  können,  daß  ihr  Jacobi  irgend  einen  wesentlichen 
Dienst  geleistet  hätte.  Jacobis  Verdienst  liegt  anderwärts.  Er  hat  das 
Gefühl  geschützt  und  geheilt,  als  es  verletzt  zu  werden  Gefahr  lief,  und 
zum  Teil  wirklich  verletzt  wurde  durch  die  gymnastischen  Übungen  einer 
noch  jugendlichen  und  deshalb  unbehutsamen  Spekulation,  die  allerdings 
weit  vorsichtiger  in  ihren  Äußerungen  hätte  sein  sollen.    Wenn  Reinhold 


E.  Reinhold:  K.  L.  Reinholds  Leben  und  literarisches  Wirken.  63 


sich  von  Kant  losriß,  so  war  damit  noch  nicht  nötig,  daß  er  zu  Bardili 
überging;   und   da  dies  gleichwohl  geschah,  so  werden  wir  immer  das  Er- 
löschen   des    kritischen    Geistes,    den  Kant    in   ihm    angefacht   hatte,    be- 
dauern müssen.    Es  ist  nicht  einerlei,  wie,  auf  welche  Weise,  aus  welchen 
Gründen,    man    sich    von    dem    großen    Kritiker    trennt,    dessen    schwache 
Seite    erst    da   anfing,    wo   seine  Kritik   aufhörte.     Was  Reinhold   redete 
von    einer  Vernunft,    wie    sie    an    sich    selbst  ist,    verschieden  von  der  im 
menschlichen  Bewußtsein    hervortretenden,    das  mußte  ihn  sogleich  zu  der 
Frage    veranlassen:    luie   fange    ich    es    an,    von    dieser     Vernunft   etwas    zu 
wissen?    Mit   welcher  Notwendigkeit  denke  ich  sie,    die  nicht  im  Bewußt- 
sein   erscheint,    zu    den   Tatsachen    des    Bewußtseins    hinzu?    Ist    es    eine 
subjektive,    aus    den  Bedürfnissen    meiner  jetzigen  Gefühle    entspringende, 
von   irgend    einer   unbefriedigten  Sehnsucht  vorgespiegelte  Notwendigkeit? 
Oder   hat   sie    objektive  Gründe?    Und   können    diese  Gründe   vor   einem 
Kritiker,    wie    Kant,    bestehen?    —    Diese  Fragen    bekamen    desto   mehr 
Gewicht,    als  Reinhold  bemerkte,  daß  jene   Vernunft,  wie  sie  an  sich  ist, 
denn    doch    sich    äußern,    demnach    allerdings  im   Bewußtsein  hervortreten 
sollte;    ja    gar    in    einer    seltsamen    und    zu    ihr    wenig    passenden    Ver- 
bindung mit  einem  Mancherlei,   das  ihr,  als  ein  gemeiner  Stoff  ihrer  Tätig- 
keit,   viel    reiner  oreo-enüberstehen,   sich  von  ihr  viel  bestimmter  absondern 
lassen   sollte,    als    dies    in    irgend  eines  Menschen   Bewußtsein  möglich  ist. 
Daß    Reinhold,    ungeachtet    des    Hervortretens    in   Verbindung    mit    dem 
sinnlichen  Vorstellen,    dennoch  den   Philosophen  sich   der   Vernunft,  als  des 
göttlichen  Denkens,    bewußt   werden    ließ,    zeigt    ein  absichtliches  Nicht -Be- 
achten der  Gegengründe,  die  seine  Ansicht  widerlegten;  eine  Nicht- Achtung, 
die    er    in    früheren    kräftigeren    Jahren    sicherlich    keinem    seiner    Gegner 
ungerügt    hätte    hingehen    lassen.       Offenbar    war    diese    eingebildete    Ver- 
nunft nichts  als  eine  psychologische  Erschleichung.    Sie  wurde  hinzugedacht 
zu  den  Meinungen,  welche  Reinhold  eben  jetzt  für  vernünftig  hielt,  weil 
er  sich  auf  seinem  früheren  Standpunkte  nicht  länger  halten  konnte.    Man 
sagt    von    den  Ärzten,    daß    sie    die  Speisen    für   gesund    erklären,    die  sie 
gern  essen.    So  machen  es  die  verschiedenen  Schulen  mit  dem,  was  jede 
vernünftig  nennt,    und  darnach   richten  sich  die  eingebildeten  Erkenntnisse, 
deren  Gegenstand   die  Vernunft  sein  soll.     Eine  Vernunftidee  nun  vollends, 
die    ein  Absolutes   teils  als  ein  Allgemeines  und  teils  als   ein  Einziges  dar- 
stellen   sollte,    hätte  Reinhold    füglich    den    spinozistisch-platonisierenden 
Schulen  überlassen  können. 

Ungeachtet  dieser  Bemerkungen  wird  uns  Reinholds  Andenken  stets 
teuer  und  ehrenwert  bleiben.  Über  die  angehängten  Briefe  glaubt  Rez. 
nichts  sagen  zu  dürfen,  denn  sie  waren  nicht  zur  öffentlichen  Ausstellung 
bestimmt;  es  sei  genug,  sie  dem  stillen  Nachdenken  zu  empfehlen,  und 
die  Mitteilung  derselben  dem  Hrn.  Prof.  R.  zu  verdanken.  Solche  Doku- 
mente bleiben  immer  schätzbar,  gesetzt  auch,  daß  die  heutige  Zeit  wenig 
Wert  darauf  legte.  Eine  andere  Zeit  wird  kommen,  zu  ernten,  wo  früher 
gesät  wurde. 


^4  !•  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Fichte,  J.  H.,    Sätze    zur   Vorschule    der  Theologie.     -    Stuttgart 
und    Tübingen    in    der    Cotta'schen    Buchhandlung,     1826.     LV    und 
239  S.    8.     (I    Thlr.) 
Gedruckt  in:  Jenaer  Literatur-Zeitung   1828,  Nr.    185.     SW.  XIII,  S.  534. 

Der  Verf.   beginnt  mit  Besorgnissen,    denen   wir  nicht  widersprechen 
können.     Seine    Ansicht    möge    vielfach    dem    Gewohnten    und    Geltenden 
entgegenstehen;   daher  werde  man  ihm  die  Hingebung  versagen,   die  jeder 
Schriftsteller   sich   wenigstens   vorläufig   wünschen    müsse.     Solches    Müssen 
bezweifeln  wir  für  alle  die  Fälle,  wo  der  Bedingung  nicht  Genüge  geleistet 
wird,  welche  der  Schriftsteller  erfüllen  muß,  um   sich  jenen  Wunsch   auch 
nur  erlauben  zu  dürfen ;   nämlich  Hingebung  an  Bekanntes  und  Zugestandenes, 
von   wo  man  gemeinschaftlich  ausgelien  kö?ine.      Dieser  Bedingung  sucht  der 
Verf.    schon    in    den    ersten  Zeilen   zu   entschlüpfen,    indem   er  versichert, 
der  Inhalt    seiner   Blätter    sei    wesentlich    nur    das,    worüber  die  wahrhafte 
Spekulation  zu  allen  Zeiten  mit  sich  einig  geivesen ;  welche  Behauptung  verrät, 
daß    er   selbst  sich  die  Entscheidung  vorbehalte,    wie  und  wodurch  wahre 
von   falscher  Spekulation    solle    unterschieden    werden.     Wir    vcisagen    ihm 
nun  sogleich  die  verlangte  Hingebung,  indem  wir  lesen:  „die  vi^hxe produktive 
Methode  abstrahiere   ursprÜ7iglich  von  allem  Gegebenen  und  Gegenständlichen; 
sie    suche    vielmehr   aus   sich   selbst,    durch   i-eines  Denken  ihren    Gegenstand 
zu    crzeuoe?i,    und    aus    innerer    Notrve7idis:keit    weiter   zu    bestimmen,    indem 
Widersprüche    auf    Ergänzungen    führen,    solange,    bis    die    weitertreibejiden 
Widersprüche    in    sich   versöhnt  seien.      Hierin   zeige  sie  sich  als  erschöpfte 
Analyse   der  ursprünglichen   Synithesis,    die  im  Begriffe   liege,  und   es  komme 
in  ihr  die  Notwendigkeit  des  Betrachteten  zum  Bewußtsein,  während  alles 
andere   Wissen,    vom  Faktum    und    von  der  Gelegenheit  ausgehend,    auch 
nur   in    dieser  Weise    der  Betrachtung   stehen   bleibe.     Das  Denken    aber 
setze  voraus,    daß  die  Notwendigkeit  desselben  unmittelbar  die  des  Seins 
oder   der  Realität   sei;    oder,    daß  Sein   und  Denken    in  der  Wurzel  Eins 
sei.     Was   nun   sonst   überall  Voraussetzung   bleibe   (z.  B.   in   der  Mathe- 
matik   und    in    der    Kunst),    davon    müsse    dennoch    die  Philosophie    den 
Beweis    führen;    sie   müsse  jene    ursprüngliche  Einheit,    worauf  das   Wissen 
beruhe,    selbst    wiederum    auflösen    und    denkend    entstehen    lassen;    und 
zwar  durch  eine  erschöpfende  Theorie  des  Bewußtseins.     Die  gegenwärtige 
Abhandlung    aber    solle    keineswegs    die    theoretische    Philosophie    im    all- 
gemeinen,  sondern  nur  einen   bestimmten  Teil   derselben  darstellen;   daher 
behalte    alles,   was    sich   auf  ihren  Anfang  beziehe,    den  Charakter  bloßer 
Voraussetzung!"  Ein  schlimmer  Umstand  für  das  Buch,  das  vor  uns  liegt! 
Indessen    will    der    Verf.    statt    des    fehlenden    positiven    Beweises    einen 
negativen  versuchen,  indem  er  zeige,   daß  Reflexion^  konsequejit  durchgeführt, 
sich    selbst    vernichte.^    und   in    ihr  eignes    Gegenteil  "oenvandle.      Darin   finden 
wir  nun  keinen  Ersatz;   vielmehr  zeigen   uns   die  obigen  Äußerungen  über 
Methode    soviel  Nachgeahmtes   und    nicht    Verbessertes,    worin    der  Sohn  dem 
Vater  folgte,  daß  wir,  überhaupt  wenig  begierig  auf  des  Verfs.  vermeintlich 
methodisches   Verfahren,    uns   sogleich    in    dem    Buche   etwas   weiter   um- 
sehen,   um    die   Gesinnungen    und    den   Gedankenkreis    kennen  zu  lernen, 


J.  H.  Fichte:  Sätze  zur  Vorschule  der  Theologie.  65 


dem  es  weit  mehr,  als  irgend  einer  Methode,  das  Dasein  verdankt.  In 
den  jetzigen  polemischen  Zeiten  ?iun  pflegt  sich  ein  Schriftsteller  selbst  am 
kürzesten  durch  die  Vorwürfe  zu  bezeichnen,  die  er  andern  tnacht.  So  auch 
unser  Verf.  Er  sieht  im  Geiste  gewisse  Kritiker  auf  sich  eindringen  mit 
dem  Vorwurfe:  daß  Gott  ihm  offenbar  nur  die  Weltseele  sei;  und  was 
sie  dann  noch  für  leidige  Konsequenzen  daraus  zu  ziehen  wissen.  Diese 
fragt  er,  ob  denn  nicht  auch  ihnen  Gott  die  Urseele  der  Welt  sei?  Ja,  er 
schöpft  Verdacht,  sie  hätten  weniger  Gottes  Ruhm  und  Ehre,  als  das 
Ansehen  ihrer  eigenen  toten  und  abstrakten  Begriffe  im  Auge;  wenigstens 
(fährt  er  fort)  wissen  sie  wenig  Besseres  darüber  vorzutragen,  vielmehr 
halten  sie  dergleichen  Fragen  und  Untersuchungen  soviel  als  möglich  von 
sich  ab,  indem  sie  wohl  ahnen,  wie  gerade  hieran  die  ganze  wissenschaft- 
liche Ansicht  sich  entscheide.  ,,Ist  der  Glaube  ein  wahrhafter  und  lebendig 
überwältigender,  meint  ihr  dann,  daß  er  von  so  geringfügiger  Bedeutung 
sei,  gleichsam  mit  einem  so  engen  Platze  in  euerem  Geiste  sich  begnügen 
werde,  um  nicht,  wenn  ihr  wissenschaftlich  zu  erkennen  strebt,  diese  Er- 
kenntnis selbst  belebend  durchdringen  und  nach  sich  umgestalten  zu 
müssen?"  Wo  nun  Rez.  eine  solche  starke  Rede  vernimmt,  da  verlangt 
er  nicht  viel  mehr  von  der  Methode  der  Untersuchung  zu  hören.  Für 
methodisches  Denken  muß  der  Geist  still  tind  ruhig  sein;  das  Feuer  einer 
theologischen   Polemik  pflegt  sich  schlecht  damit  zu  vertragen. 

Die  Lehre,  welche  der  Verf.  vorträgt,  ist  so  wenig  neu,  daß  wir,  um 
darüber  zu  berichten,  keinen  weitläufigen  Auszug  davon  zu  geben  nötig 
haben;  einige  Proben  von  dem,  worin  der  Verf.  seine  eigene  und  besondere 
Meinung  darzustellen  sucht,  können  genügen.  „Was  wir  als  die  einzige 
Realität  nachgewiesen  haben,  ist  die  Einheit  der  Mannigfaltigkeit,  samt  der 
ganzen  Synthesis ,  die  daraus  entwickelt  worden.  Wissen  und  Erkennen 
ist  das  Schauen  der  Realität:  daher  vermag  es  auch  die  von  allen  end- 
lichen Relationen  befreite  unbedingte  Realität  zu  denken.  Gott  aber 
kann  sich  nicht  als  leidendes  Objekt  zum  Erkennen  verhalten,  sondern 
nur  insofern  ist  ein  Bewußtsein  desselben  möglich,  als  er  selbst  sich  dem- 
selben offenbart.  Weil  Gott  den  Menschen  theojnorphisierte,  darum  muß  der 
Mensch  im  Erkennen  ihn  anthropomorphisieren.  Die  Idee  des  Geschöpfes 
in  Gott  ist  eine  bestimmte;  so  ist  auch  das  Geschöpf  ein  durchaus 
individuelles;  weit  entfernt  daher,  daß  die  Individualität  das  Nichtige, 
Vergängliche  der  Kreatur  sein  sollte,  wie  dies  eine  im  Tode  mechanischer 
Vorstellungen  erstarrte  Philosophie  wähnt,  ist  gerade  die  Individualität  das 
von  Gott,  dem  Schöpfer  und  Liebhaber  eigentümlichen  Lebens,  Bejahte 
und  Bestätigte.  Das  Geschöpf  ist  ein  Ansich;  sonst  wäre  es  konkretes 
Dasein;  aber  an  dieser  Bestimmtheit  hat  es  ebensosehr  seine  Schranke, 
seine  Relation  gegen  das  unendlich  Andere.  —  Frei  ist  dasjenige  zu  nennen, 
welches,  was  es  ist,  aus  sich  selbst  ist ;  dessen  Bestimmungen  schlechthin 
nur  aus  dem  eigenen  Wesen  stammen.  Daher  ist  das  Geschöpf  nur  in- 
sofern als  wirkliches  Geschöpf,  oder  als  objektives  Dasein  außer  dem 
göttlichen  Wesen  begriffen,  wiefern  es  zugleich  als  freies  gedacht  werden 
kann.  Nur  in  freien  Geschöpfen  vermag  Gott  eigentlich  objektiv  zu 
werden.  Die  einzige  Schwierigkeit  könnte  liegen  in  der  Frage,  wie  die 
Freiheit  zum  Bösen  damit  auszugleichen  sei,    und  ob  wir  behaupten  wollen, 

Herbarts  Werke.     XIII.  5 


66  J-  ^-  Herbarts  Rezensionen. 

daß  auch  im  Bösen  Gottes  Kraft  wirksam  werde,  wie  allerdings  aus  der 
Konsequenz  der  Theorie  zu  folgen  scheint.  Es  ist  das  ursprüngliche 
Verhältnis  der  Kreatur  zu  Gott,  daß  sie  selbständig  und  mit  Eigenheit 
begabt,  dennoch  Eins  bleibe  mit  ihm.  Dieser  formale  Widerspruch  ist 
im  Sein  schon  dadurch  gelöst,  daß  diese  Eigenheit  aus  Gott  stammt,  und 
von  ihm  verliehen  ist.  Im  Bewußtsein  der  Kreatur  aber  könnte  er  nur 
dadurch  gelöst  werden,  daß  sie  als  freie  und  selbständige  sich  dennoch 
nur  durch  Gott  und  in  Gott  wüßte,  d.  h.  nur  in  hingebender  Liebe  wäre 
er  gelöst.  Indem  aber  die  Kreatur  ihre  Freiheit  begreifen  soll,  als 
schlechthin  Eins  mit  Gott,  damit  er,  gleichsam  ungehemmt  von  ihr,  in 
ihr  sich  offenbaren  könne,  so  zerfällt  dadurch  notwendig  das  Bewußtsein 
dieser  Einheit  in  zwei  entgegengesetzte  Momente:  die  Kreatur  wird  sich 
zunächst  ihrer  Eigenheit,  als  einer  schlechthin  freien,  bewußt;  dann  bricht 
die  Anschauung  hindurch,  die  Freiheit  sei  nur  dadurch  vollendet,  daß  sie 
sich  als  Eins  ergreife  mit  Gott;  was  nur  als  ein  von  der  Freiheit  Ge- 
tragenes, und  darum  gleichsam  (wieder  gleichsam !)  immer  wieder  von  ihr 
Zurückzunehmendes  erscheinen  kann.  Was  sonach  in  Gott  ursprünglich 
Eins  ist,  das  unterliegt  in  der  Kreatur  einer  Zertrennung  in  geschiedene 
Momente.  Im  Bewußtsein  der  Kreatur  trennt  sich  ihr  Ansich  von  ihrem 
ganzen  Sein,  eben  weil  dies  Ansich  kein  wahrhaftes,  sondern  ein  ent- 
lehntes ist.  (Wieviel  Wahres  bleibt  denn  nun  an  dem  Satze:  in  freien 
Geschöpfen  werde  Gott  eigentlich  objektiv?)  Indem  die  Kreatur  sich  in 
ihrer  Selbstheit  ergreift,  ist  sie  noch  nicht  die  vollendete,  sie  ist  nicht, 
was  sie  sein  soll:  ihre  Freiheit  ist  zunächst  nur  noch  die  formale,  leere; 
nur  Schranke,  die  zunächst  die  Kreatur  von  Gott  nur  scheiden  kann, 
(Wir  fragen  nochmals:  wieviel  Wahrheit  ist  denn  nun  in  diesem  Scheiden 
und  Geschiedensein?  Der  Verf.  weiß  ohne  Zweifel,  daß  dies  der  Punkt 
ist,  auf  welchen  es  im  Streite  der  heutigen  Parteien  vorzüglich  ankommt.) 
Hier  ergreift  sich  die  Freiheit  noch  als  sich -hingeben -könnend  dem 
Guten  oder  dem  Gegenteil,  während  sie  in  ihrer  Vollendung  sich  gerade 
darin  frei  fühlen  oder  das  Eigenste  und  Innerste  zu  offenbaren  sich  be- 
wußt sein  wird,  wenn  sie  dem  Göttlichen  in  ihr  Genüge  tut.  (Was  ist 
denn  wohl  das  Minder- Eigene,  das  Nicht-Innere  oder  Nicht-Innerste,  mit 
welchem  jene  Superlative  im  Gegensatze  stehen?)  V/ir  werden  auch  an 
dem,  was  man  gewöhnlich  bewußtlose  Natur  zu  nennen  pflegt,  dieselbe 
Grundform,  wie  im  Kreatürlichen,  nachweisen  können;  überall  eine  Wurzel 
der  Selbstheit,  woraus  das  Naturwesen  sich  organisch  entfaltet,  und  seinen 
Lebenskreis  (wenn  es  nämlich  lebt!)  erfüllt.  (Freilich,  wenn  man  sich 
erlaubt,  hier  an  der  Natur,  dort  am  Sittlichen,  zu  drehen  und  zu  deuteln, 
dann  gibt's  eine  Menge  spielender  Analogien.)  Die  Kreatur  ist  wegen 
der  Zertrennung  ihrer  Lebensmomente  einer  Krisis  unterworfen,  die  sie 
selbst  entscheidet;  es  kommt  darauf  an,  wie  sie  ursprünglich  ihre  Freiheit 
ergreift.  (Dabei  ist  also  die  Freiheit  ein  Ding  geworden,  das  sich  greifen 
läßt!)  In  der  Vorkehrung  der  Freiheit  liegt  der  Ursprung  des  Bösen. 
Dies  bleibt  für  die  reine  Spekulation  ein  bloß  M()gliches;  keineswegs  als 
wirklich  Abzuleitendes.  Bei  der  Frage  nach  der  Wirklichkeit  des  Bösen 
werden  wir  auf  ein  anderes  Gebiet  der  Untersuchung  gewiesen;  den 
Verlauf    spekulativer    Entwicklung    unterbrechend,     wenden    wir    uns     zu 


Fr.  V.  Schlegel:    Die   drei  ersten  Vorlesungen  über  die  Philosophie  des  Lebens.         6? 

Reflexionen  über  das  Gegebene."  Also  wenn  die  reine  Spekulation  aus 
ihren  Träumen  nicht  früher  erwacht:  so  weckt  sie  doch  endlich  das 
Böse! 

Das  ist's,  was  von  Anfang  an  vorauszusehen  war.  Nicht  immer  läßt 
sich  das  Gegebene  ignorieren.  So  löst  sich  nun  für  den  unbefangenen 
Zuschauer  das  Tun  des  Verfs.  von  hintenher,  —  oder  eigentlich  schon 
von  der  Mitte  her,  nach  vorn  hin  wieder  auf;  um  das  Sträuben  wider  die 
Erfahrung  (welches  sogar  S.  41.  mit  Schelling^  in  den  lebenden  Organis- 
mus die  Bestimmung,  ein  perpetuum  mobile  zu  sein,  hineindichten  will), 
hatte  nichts  geholfen.  Übrigens  ist  ohne  Zweifel  der  Sohn  eines  berühmten 
Vaters  leicht  zu  entschuldigen,  wenn  er  sich  bemüht,  in  dessen  Bahn  zu 
bleiben;  und  Rez.  bemerkt  mit  Vergnügen  die  bekannten  Züge  einer  sehr 
ausgezeichneten  Individualität,  die  auf  immer  einer  großen  Hochachtung 
wert  bleibt,  obgleich  sie  nur  durch  Selbsttäuschung  sich  für  Allgemeinheit 
hielt.  Talent,  Gelehrsamkeit  und  Darstellungsgabe  wird  im  angezeigten 
Buche  niemand  verkennen. 


1.  Schlegel,  Friedrich  von,   K.  K.  Legationsrath  und  Ritter  des  Christus- 

Ordens,  Mitglied  der  K.  K.  Akademie  der  bildenden  Künste,  Die 
drei  ersten  Vorlesungen  über  die  Philosophie  des  Lebens. 
—   Wien,  bei  Schaumburg  &  Comp.,    1827.     92   S.     (20  Gr.) 

2.  Schlegel,  Friedrich  von,  Philosophie  des  Lebens.     In  fünfzehn 

Vorlesungen,  gehalten  zu  Wien  im  Jahre  1827.  —  Wien,  bei  dem- 
selben,   1828.     482   S.     (2   Thlr.) 

Gedruckt    in:    Leipziger    Literatur  -  Zeitung    1828,    Nr.   255,    256.      SW.    XIII,    S.   520. 

Die  drei  ersten  von  diesen  fünfzehn  Vorlesungen  wurden,  laut  der 
Vorrede  zu  Nr.  i,  für  später  eingetretene  Zuhörer  gedruckt;  sie  finden 
sich,  soviel  wir  bemerkt  haben,  durchaus  unverändert  in  Nr.  2  wieder; 
und  jetzt  möchte  daher  Nr.  i  völlig  überflüssig  sein,  wenn  nicht  etwa  als 
Probe  des   Ganzen. 

Hr.  VON  Schlegel  scheint  auf  seinen  berühmten  Namen  gerechnet 
zu  haben;  denn  dieser  muß  die  Vieldeutigkeit  des  Titels  wieder  gut 
machen.  Wer  die  Worte  genau  nimmt,  der  denkt  beim  Leben  an  die 
ganze  Tierwelt  und  Pflanzenwelt  und  könnte  hier  etwa  eine  philosophische 
Ergänzung  zu  Treviranus  Biologie  erwarten.  Vom  Verf.  dieses  Buches 
aber  erwartet  man  freilich  das,  was  im  Kreise  seiner  Gelehrsamkeit  und 
seiner  Meinungen  liegt;  und  darin  wird  nun  allerdings  der  Leser  nicht 
getäuscht,  wenn  er  Hrn.  von  Schlegel  schon  kennt;  er  findet  ihn  als- 
dann auch  als  denselben  wieder,  wie  man  ihn  schon  kennt;  nicht  obetflächlich 
genug  für  das,  zvas  im  gerneinen  Sinne  das  Leben  im  Gegensatze  der  Schule 
heißt;  nicht  gründlich  genug  für  die  Schule,  aber  sehr  geneigt,  in  den  an- 
ständigsten Formen  heftig  gegen  sie  zu  polemisieren.  Wer  mit  Ansichten  zu- 
frieden   ist,    wo    Untersuchungen    nötig   sind,    und    wer  auf  geistreiche  Dar- 

-  * 

3 


68  J'  ^'  Herbarts  Rezensionen. 


Stellungen  großen  Wert  legt,  der  wird  hier  ein  für  ihn  interessantes  Werk 
finden.  Um  es  genauer  zu  bezeichnen,  könnte  man  in  Versuchung  geraten, 
es  eine  poetische  Psychologie  zu  nennen;  allein  dazu  hat  es,  wie  uns  dünkt, 
doch  nicht  Leben  genug.  Bunt  gemischte  Vorlesungen,  deren  jede  ein- 
zeln genommen  ein  buntes  Auditorium  unterhalten  soll,  berühren  natürlich 
gar  manche  poetische  Elemente,  aber  ohne  sie  zu  verarbeiten ;  man  hört 
immer  Vorlesungen,  und  deren  schwerfällige,  unpoetische  Natur  gönnt 
dem  Dichter  keine  freie  Bewegung.  Er  bleibt  in  der  Schule,  während  er 
lieber  außer  der  Schule  sein  möchte,  wohl  fühlend,  daß  er  in  ihr  keinen 
rechten  Platz  hat. 

Daher  läßt  er  sich  gleich  anfangs  in  Klagen  und  Vorwürfen  ver- 
nehmen. Die  Philosophie  träumt;  sie  ahnt  gar  nichts  von  dem,  was  sie 
eigentlich  wissen  sollte.  Ihre  eigentliche  Region  ist  die  des  geistigen 
inneren  Lebens  zwischen  Himmel  und  Erde:  aber  sie  verirrt  sich  bald 
in  den  Himmel,  bald  in  die  Erde.  Schon  die  Alten  fehlten  auf  beiden 
Seiten;  Platons  Republik  erregt  nur  Bedauern;  den  andern  Alten  mag 
man  ihre  Elemente  und  Atomen  verzeihen:  aber  die  Menschheit  ist  jetzt 
um  drittehalbtausend  Jahre  älter  geworden;  sie  soll  jetzt  nicht  mehr  ge- 
fährliche Experimente  machen;  während  freilich  jugendliche  Gemüter,  von 
großen  Ideen  überwältigt,  sich  auch  heute  noch  eine  neue  Religion  bilden 
und  alles  Bestehende  heute  noch  ändern  möchten.  Der  Verf.  will  hiermit 
nur  aufmerksam  darauf  machen,  wie  nachteilig  dies  für  die  Philosophie 
selbst  sei.  Sie  bringt  sich  in  üblen  Ruf.  Enthielte  sie  sich  jeder  Einmischung 
in  das  Positive  und  Wirkliche,  so  könnte  sie  indirekt  sehr  heilsam  wirken, 
indem  sie  die  Gegenstände  in  einem  aligemeineren  und  freieren  Lichte 
betrachten  lehrte;  so  würde  sie  von  selbst  manchen  Nebel  zerstreuen, 
manchen  Stein  des  Anstoßes  wegräumen.  —  Recht  wohl!  aber  wozu  das 
alles  hier?  —  Damit  man  begreife:  Gegenstand  der  Philosophie  sei  das 
innere  geistige  Leben,  und  zwar  in  seiner  ganzen  Fülle;  nicht  bloß  diese 
oder  jene  einzelne  Kraft  desselben,  in  irgend  einer  einseitigen  Richtung. 
—  Aber  die  zuvor  gepredigte  Enthaltsamkeit  kann  wohl  die  Fülle  des 
äußeren  Lebens  vermindern:  dagegen  vermissen  wir  hier  jeden  Gedanken 
sowohl  an  die  Tiefe  der  geistigen,  als  an  den  Umfang  der  äußeren  Natur; 
wir  sehen  vielmehr  einen  Gelehrten,  der\  im  Kreise  seiner  Bücher  nrid  Streitig- 
keiten beschäftigt,  seine  Einseitigkeit  nicht  gewahr  zuird,  indem  er  spricht  von 
dem,  was  ihn  beschäftigt,  als  ob  die  Philosophie  selbst  auch  nichts  anderes 
zu  bedenken  hätte,  und  als  ob  seit  jener  Zeit,  der  jene  Predigten  gebührten, 
gar  keine  Zeit  mehr  verlaufen  sei.  Wie  er  noch  heute  gegen  Einmischung 
in  Politik  warnt,  so  warnt  er  auch  noch  gegen  Nachahmung  mathematischer 
Methode.  Und  worin  besteht  denn  nach  Hrn.  von  Schlegel  die  mathe- 
matische Methode?  In  einem  „algebraischen  Formelwesen,  worin  sich  alles, 
auch  das  Entgegengesetzte,  leicht  hineinbringen  und  zusammengießen  läßt." 
Gerade  umgekehrt  würden  wir  einem  Schriftsteller,  in  dessen  Formeln  sich 
alles  gar  zu  leicht  hineinbringen  läßt,  raten,  Algebra  zu  studieren,  damit  er 
sich  das  leichtfertige  Zusammengießen  abgewöhne.  Die  Philosophie  leidet 
heutigestages  nicht  an  zu  viel,  sondern  an  zu  wenig  Mathematik;  und 
wir  mögen  nicht  verhehlen,  daß  gerade  Hr.  von  Schlegel  uns  durch 
sein   vorliegendes  Buch   sehr   lebhaft    das  Gefühl    dieses  Leidens  erneuert 


Fr.  V.  Schlegel:   Die   drei  ersten  Vorlesungen  über  die  Philosophie  des  Lebens.         6q 

hat.  Er  entschlüpft  den  Forderungen  der  Methode  mit  der  vornehmsten 
Miene  von  der  Welt.  Erstlich  spottet  er  (mit  Recht)  über  die  Künstelei 
die  nur  Unverständlichkeit  bewirkt;  dann  über  d\Q  populäreii  Darstellungen 
welche  dennoch  unverständlich  bleiben,  weil  das  Dargestellte  falsch  ist 
nun  glaubt  er  sein  Spiel  gewonnen :  Er  will  es  anders,  also  besser  machen 
In  der  Philosophie  des  Lebens  muß  auch  die  Methode  eine  lebendige  sein 
sie  darf  keineswegs  vernachlässigt,  aber  auch  nicht  mehr,  als  der  Zweck 
fordert,  hervorgestellt  werden.  Und  nun  folgen  Gleichnisse,  welche  den 
Schein  erregen  sollen,  die  gründlichsten  Untersuchungen  lägen  still- 
schweigend da,  und  würden  jetzt  nur  in  Anwendung  gebracht.  Welches 
ist  denn  das  System,  dem  Hr.  von  Schlegel  folgt?  Ist  es  noch  das 
Schellingsche?  Oder  welche  neuere  Forschungen  hat  er  benutzt?  —  Un- 
mittelbar nach  der  Äußerung:  es  sei  fast  gleichgültig,  von  welchem  Punkte 
der  Peripherie  man  in  den  Mittelpunkt  gelange  (als  ob  dem  Philosophen 
die  Wege  und  Steige  der  Untersuchung  so  offen  vorlägen  wie  die  Radien 
eines  Kreises),  also  unmittelbar  nach  einem  sehr  offenen  Geständnis  der 
Unwissenheit  in  Ansehung  der  Bedingungen,  welche  erfüllt  sein  wollen, 
ehe  von  gründlicher  Untersuchung  die  Rede  sein  kann,  —  erlaubt  sich 
der  Verf.  herbe  Ausfälle  auf  andere.  Da  ist  zuerst  von  auslöndisclier 
Philosophie  die  Rede,  auf  eine  Weise,  als  ob  er  niemals  einen  Blick  in 
LocKES  Werke  getan  hätte,  auch  nicht  wüßte,  welche  hohe  Achtung  die 
Gesinnung  des  Mannes  jedem  einflößt,  der  es  aufmerksam  liest;  sondern 
als  ob  er  nur  französische  Schriftsteller  kennte.  Dann  ergießt  sich  seine 
Polemik  über  Kant,  Fichte,  Schelling  und  Hegel;  oder  haben  wir, 
was  den  letzten  anlangt,  etwa  die  Stelle  nicht  recht  gedeutet,  wo  es  heißt: 
,  Jn  der  letzten  Zeit  ist  die  deutsche  Philosophie  teilweise  auch  wieder 
ganz  (?)  zurückgekehrt  in  den  leeren  Raum  des  absoluten  Denkens.  Ob- 
gleich nun  hier  dieses  und  der  darin  erfaßte  absolute  Vernunft- Abgott 
nicht  mehr  bloß  innerlich  verstanden,  sondern  objektiv  genommen,  und 
als  Grundprinzip  alles  Seins  aufgestellt  wird,  so  scheint  doch  dabei,  wenn 
wir  erwägen,  wie  das  Wesen  des  Geistes  ausdrücklich  in  die  Verneinung 
gesetzt  wird  und  wie  auch  der  Geist  der  Verneinung  in  dem  ganzen 
Systeme  der  herrschende  ist,  fast  eine  noch  ärgere  Verwechselung  statt- 
zufinden, indem  vielmehr,  anstatt  des  lebendigen  Gottes,  dieser  ihm 
entgegenstehende  Geist  der  Verneinung  in  abstrakter  Verwirrung  auf- 
gestellt und  vergöttert  wird;  so  daß  also  auch  hier  wieder  nur  eine  meta- 
physische Lüge  an  die  Stelle  der  göttlichen  Wirklichkeit  tritt."  Wie  eine 
solche  Sprache  pflegt  vergolten  zu  werden,  das  muß  Hr.  von  Schlegel 
ohne  Zweifel  wissen;  was  er  damit  auszurichten  hoffe,  ist  schwer  zu  be- 
greifen. Als  ob  er  nicht  eilig  genug  seinen  Gegnern  Blößen  darbieten 
könnte,  erhebt  er  sich  sogleich,  indem  er  seinen  „rechten  und  sicheren 
Weg  einer  vollständigen  Nachforschung"  bezeichnen  will,  ins  Gebiet  dessen, 
was  niemand  weiß  und  7iie7nand  erforschen  kanfi.  Um  das  Eigene  des 
menschlichen  Bewußtseins  zu  charakterisieren,  genügt  ihm  nicht  die  be- 
kannte Vergleichung  zwischen  Mensch  und  Tier;  er  sucht  sich  andere 
erschaffene  Geister,  z.  B.  den  Genius  des  Sokrates;  er  weiß  zwar,  ja  er 
gesteht  ausdrücklich,  die  Sache  sei  nur  Voraussetzung  infolge  einer  Über- 
lieferung: dennoch  bedient  er  sich  dieser  Wendung,  um  den  Spruch  her- 


70  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


beizurufen:   Dein  Wissen  teilest  du  mit  vorgezognen  Geistern;  die  Kunst,, 
o  Mensch,  hast  du  allein.     So  sind   wir  beim  Zentruvi  der  poetischen  Psycho- 
logie,   bei    der    leicht    beweglichen,    vielgestaltigen,    immer    erfinderischen 
Phantasie:   und   wenn   das   vorliegende  Werk  ein   wirklich  poetisches  Werk 
wäre,  wenn  nicht  der  bittere  Ernst  der  Prosa  es  von  vorn  bis  hinten  ganz 
durchdränge,    so    möchten    wir    uns    das    vielleicht   gefallen   lassen.      Wie 
aber    nun  die  Sache  vor  uns  liegt,  so  hält  es  Rez.,    der  bei  der  Psycho- 
logie des  Verfs.  schwerlich  würde  ernsthaft  bleiben  können,  und  der  doch 
Hrn.   VON  Schlegel    alle    schuldige  Achtung    zu    bezeugen    wünscht,    fürs 
geratenste,    dasselbe  Biich^    dessen   erste  Vorlesung   bisher  den  Gegenstand 
dieses   Berichtes    ausmachte,   jetzt    einmal    von    hinten    anzufangen,    und   es 
dergestalt    umzuwenden,    daß    die   eigentliche    Absicht   des  Ganzen   gleich 
zu  Tage   komme.     Es   mag  unterhaltend  genug  gewesen  sein  für  die  Zu- 
hörer,   daß   in    der    ersten  Vorlesung   von  der  denkenden  Seele,    und  der 
falschen  Vernunft,   —   in  der  zweiten  Vorlesung  von  der  liebenden  Seele, 
und  von  der  Ehe,    —    in  der  dritten  vom  Anteile  der  Seele  am  Wissen 
und   von    der  Offenbarung   gehandelt   wurde:    aber  um  den  Lesern  dieser 
unserer    Rezension    einen    Begriff   von    dem   Buche    zu    schaffen,    ist's    am 
besten,  ihnen  sogleich  zu  berichten,  das  letzte  Kapitel  desselben  handle  von 
der    Theokratie,   indem    es   streitet  wider   diejenigen,    „welche   die   religiöse 
Grundlage,  die  höhere  Sanktion  und  göttliche  Autorität  des  Staates  öffent- 
lich  bekämpfen  und   heimlich  anfeinden."    Und  damit  man  deutlich  wisse, 
wovon  gesprochen  wird,  so  versichert  der  Verf.  wörtlich  folgendes:  Eigent- 
lich  läßt  sich  die  Theokratie  des  Staates  nur  an  dem  Beispiele  des  hebräischen 
Volkes,  und  aus  der  Geschichte  desselben,  als  eine  wirklich  historisch  vor- 
handene und  historisch  gegebene  Staatsform,  vollständig  entwickeln ;  geradeso 
wie  sich   der  Übergang  aus  Revolution,   Bürgerkrieg  und  Anarchie  in   eine 
absolute  Staatsform,  genetisch  am  lehrreichsten  in  der  römischen  Geschichte 
nachweisen    läßt;    und    wie    die  Natur    des    dynamischen  Staats  besser  aus 
dessen  wirklicher  Beschaffenheit  in  England,  als  aus  bloßer  Theorie  erkannt 
wird.     Moses,    von    dem   jene  Theokratie   ausging,    kann  auch  nach  dem 
strengsten  juristischen   Begriffe  gewiß  nicht  für  einen  Usurpator  im   dema- 
gogischen Sinne  des  Wortes  gehalten  werden.    (Diese  Rechtfertigung  scheint 
auf  irgend  eine,  uns  unbekannt  gebliebene,  Anklage  zu  deuten.)    Ein  ge- 
wöhnlicher historischer  Beurteiler  möchte  sagen,  Moses  gehöre  einer  uns  sehr 
fremden  Welt   an,    und    es  gehe  aus  allem  nur  sein  heroischer  Charakter 
hervor;    wenn    nun    eine    solche    falsche,    der    göttlichen    Erklärung    aus- 
weichende, Ansicht   sich  auf  den  Moses  scheinbar  genug  anwenden  ließe, 
so  paßt  sie  doch  nicht  auf  dessen  Nachfolger.    Auch  diese  herrschten  nicht 
durch  Erbrecht,   nicht  durch   förmliche  Wahl,   sie  waren  auch  nicht  Priester, 
so    wenig    wie    Moses;    unmittelbar    von    Gott    berufen,    standen    sie    da. 
Anders  war  es  in   der  christlichen  Welt.    Die  ersten  Begründer  der  neuen 
Gnadenlehre     brauchten     ihre     unmittelbare    Wunderkraft     nur    zur    Ver- 
herrlichung   der    Religion,    nie    gegen    den    Staat.      Auch    in    allen    nach- 
folgenden   Epochen    des    Christentums    hat    eine    solche,    von   Zeit    zu   Zeit 
hervortretende    und  persönhch   verliehene,    außerordentliche  Gewalt  immer 
nur  zur   Verbreitung  und  zur  inneren   Entfaltung  desselben  gedient;  nicht 
zu  irgend  einer  äußeren  Machtbegründung  oder  gar  politischen  Herrschaft. 


Fr.  V.  Schlegel:    Die   drei  ersten  Vorlesungen  über  die  Philosophie  des  Lebens.         71 

Jedoch    läßt    sich    das   Wunder    der  Theokratie    überhaupt    nur    historisch 
nehmen;  in  gewöhnlichen  Zeiten  ist  der  Lauf  der  Weltgeschichte  ein  natür- 
lich menschlicher;    höchstens  kann  man   dazwischen   einzelne  theokratische 
Augenblicke    bemerken.      Das    allgemeine    Gefühl    erkennt    sie    im    ersten 
Augenblicke  des  Erfolges  nur  pflegt  die  Begeisterung  der  Dankbarkeit  gegen 
Gott  noch  schneller  zu   verrauschen,  als  jede  andere  Begeisterung;   wovon 
unsere    Zeitgeschichte    ein    merkwürdiges    Beispiel   dargeboten    hat.     (Rez. 
bezeugt   gern,    daß    er    hier    einen   Punkt    der    lebhaften   Übereinstimmung 
mit   dem  Verf.    findet.     Es    ist   wahrhaft   niederschlagend,    zu   sehen,    wie 
schwach    das  Geschlecht   ist,   was    sich  jetzt  wieder  von   Bewunderung  für 
einen  Mann  hinreißen  läßt,  der  noch   weit   mehr  durch  äußere  Umstände, 
als   durch  eigene  Kraft  dahin  gelangte,    die  Geißel   von  Europa,    und  be- 
sonders der  Schrecken  Deutschlands  zu  werden.    Daß  er  es  verstand,  für 
sich  einzunehmen,   wenn  er  wollte;   daß  sein  Sturz  Mitleid  erregte;   daß  sein 
Bild   sich   recht  füglich  von  der  Phantasie  ausschmücken   läßt,  und   daß  er 
Personen   hinterließ,  die  aus   Dankbarkeit  seine  Lobredner  bleiben,   wissen 
•wir  alle ;   aber  die  große   Wohltat,   welche  der  Welt  widerfuhr,  als  es   ver- 
gönnt war,  ihm   Einhalt  zu  tun,    scheint  man  kaum  noch  zu  fühlen.)      Es 
gibt    aber    auch    eine    Theokratie    der   Wissenschaft,    oder    eine    göttliche 
Macht  der   Wahrheit  in  derselben.     Diese  kann  nicht  auf  einer  einzelnen, 
noch    so    genialen   Kraft    beruhen,    sondern    nur    auf   einem    gemeinsamen 
Zusammenwirken.    ,,Der  einzelne  Lichtstrahl,  wenn   er  an   sich  genommen 
noch  so  rein   und  hell  und  wahrhaft  göttlich  zu  nennen  wäre,   der  einzelne 
Schwertstreich,   wenn   er  auch  noch  so  scharf  und  durchschneidend  geführt, 
die    einzelne   hemmende  Schranke,    wenn  auch   mit    noch   so   umfassendem 
Verstände,   was   weit   mehr   sagen   will,    als   bloße  Klugheit,    gezogen    und 
bewahrt;    diese   alle   können    nicht    helfen   gegen  diese  neue  Sündflut  von 
Irrtum  und  Unglauben'";   usw.   Wir  kürzen  ab;   denn  wir  müssen  notwendig 
den  Verf.  noch  reden  lassen   von  der  Theokratie  in  der  Natur.    ,,Sie  selbst, 
die   Natur,   als  die  seufzende   Kreatur,   harrt  auch  ihrer  göttlichen  Wieder- 
herstellung   und  Vollendung    entgegen;    und    dies    ist    die    einzige    in    der 
Wahrheit   gegründete  und  christliche  Ansicht  von  derselben,    welche  nicht 
zusammenstimmt  mit  der  bloß  dynamischen  Naturwissenschaft,   da  in  dieser 
letzten   die  Natur   als    etwas   Absolutes  und  in  sich  Fertiges  vorausgesetzt 
wird,  was  sie  doch  so  ganz  off^enbar  (!)  nicht  ist.    Ja  auch  die  Betrachtung 
über    die    Zweckmäßigkeit    der   Natur    ist    von    der  Seite    mangelhaft,    daß 
man   voraussetzt,    unsere    Natur   sei   noch    ebendieselbe,    wie  Gott   sie   ur- 
sprünglich   erschaffen    hat."     Hier   möchte    man  doch  ernstlich  fragen,   ob 
der   Verf.    sich    erlauben    wolle,    an    der   Natur    zu   meistern,    anstatt   sie 
dankbar   zu    nehmen,    wie  sie  ist?    Indessen  wollen  wir  ihn  reden  lassen. 
„Dagegen    (fährt    er    fort)    spricht    die    ausdrücklich   gegebene   Verheißung 
eines    neuen  Himmels   und   einer   neuen  Erde   für  die  letzte  Zeit;    womit 
also    schon  ausgesprochen  ist,    daß  auch  die   Natur   einer  großen  Wieder- 
herstellung   bedarf,    die    über    den    gewöhnlichen   Lauf  hinausgeht  und  nur 
durch  unmittelbare  Einwirkung  der  himmlischen  Theokratie  denkbar  wäre." 
Und    nun    ruft  der  Verf.   manche  medizinische  Erfahrungen,    Krankheiten, 
Insekten,    ja    die    Tatsache    (sie!)    der    Mondsucht,    als    Zerrüttung    durch 
siderischen  Einfluß,   —  und  endlich  gar  die  Kometen  zu  Hilfe,  denn  diese 


72  J-  F«  Herbarts  Rezensionen. 


sollen  doch  wohl  die  excentrischen  Revolutions- Gestirne  sein,  die  das 
Element  der  Erde  bald  flüssig,  bald  feurig  aufregen,  deren  Bahn  die 
Astronomie  wohl  berechnet  hat,  aber  ohne  daß  dieselben  immer  Folge 
leisteten.  (Von  solchen  Dingen  sollte  Hr.  von  Schlegel  doch  schweigen! 
Er  weiß  offenbar  nichts  davon,  inwieweit  die  Astronomen  ihre  Rechnungen 
mit  mehr  oder  minder  Bestimmtheit  abschließen,  und  mit  welcher  Sorg- 
falt sie  damit  die  Beobachtungen  zu  vergleichen  gewohnt  sind.)  Unser 
ganzes  übriges  Wissen  von  der  Natur  geht  nur  auf  die  Oberfläche  der 
Erde,  mithin  nur  auf  die  eine  Seite  derselben ;  vielleicht  ist  die  andere, 
uns  verschlossene,  innere,  mehr  dem  Ewigen  verwandt.  Auf  jener  gilt 
das  Gesetz  des  Todes:  aber  wenn  es  wahr  ist,  daß  durch  jenen  Geist, 
oder  jene  Macht  des  Bösen,  die.  sich  zuerst  von  Gott  losriß,  der  Tod 
in  die  Welt,  und  also  auch  in  die  Natur  gekommen  ist,  so  muß  auch 
der  jetzt  natürliche  Tod  vom  Urheber  des  ewigen  Todes  hergeleitet 
werden.  Sehr  zu  bezweifeln  dürfte  es  demnach  sein,  ob  die  ersten  und 
ursprünglichen  Natur- Geschöpfe  andere  als  unsterbliche  gewesen  seien." 
An  dieser  Stelle  ist  der  Verf.  noch  in  bescheidenem  Zweifel  stehen  ge- 
blieben; anderwärts  spricht  er  mit  prophetischer  Bestimmtheit:  Das 
Menschengeschlecht,  wie  es  einen  Anfang  hatte,  wird  auch  ein  Ende 
nehmen.  Wie  diese  Sterblichkeit  und  jene  ursprüngliche  Unsterblichkeit 
sich  zusammen  reimen,  und  was  man  bei  einer  so  gebrechlichen  Un- 
sterblichkeit, welche  verloren  gehen  kann,  eigentlich  denken  solle,  mag 
Hr.  VON  Schlegel  wissen.  Er  tut  wohl,  oder  es  gewährt  wenigstens 
eine  Art  von  Erholung,  in  einem  Buche,  welches  der  schroffen  und  ab- 
stoßenden Behauptungen  viele  enthält,  wenigstens  hier  und  da  auf  Stellen 
zu  stoßen,  die  einen  bescheidenen  Geist  atmen  und  eine  redliche  Wahr- 
heitsliebe spüren  lassen.  Dahin  gehört  die  Äußerung  über  die  Theodicee, 
soweit  diese  nach  menschlichen  Kräften  (das  ist  der  Hauptpunkt!)  zu  er- 
reichen steht.  Meinesteils  (spricht  der  Verf.)  würde  ich  lieber  eine  Theo- 
dicee für  das  Gefühl,  in  einem  durchaus  liebevollen  Sinne  vor  Augen 
haben,  als  eine  künstliche  Hypothese,  wobei  eine  Menge  von  Absichten 
Gottes  scharfsinnig  in  die  Natur  hineingelegt  werden,  von  denen  man 
weder  recht  wissen,  noch  auch  bestimmt  nachweisen  kann,  weder,  ob  es 
wahrhaft  Absichten  Gottes  sind,  noch  auch,  ob  sie  wirklich  so  in  der  Natur 
liegen.  Man  muß  in  dieser  ganzen  Angelegenheit  und  Sphäre  des  Nach- 
denkens nicht  alles  zu  genau,  und  besonders  nicht  zu  systematisch  bestimmen 
wollen;  vorzüglich  muß  man  sich  hüten,  die  logische  Notwendigkeit,  die  uns 
angeboren,  und  für  uns  ein  unentbehrlicher  Behelf  unserer  Beschränktheit 
geworden  ist,  nun  noch  weiter,  selbst  auf  Gott,  wie  es  so  viele  Denker  tun, 
übertragen  zu  wollen:  was  dann  nur  auf  ein  Phantom  von  einem  Schick- 
sale, auf  die  irrige  Idee  von  einem  blinden  Fatum  hinführen  kann.  Dagegen 
gibt  es  (viele)  gewisse  fragende  Gefühle  in  der  menschlichen  Brust,  die  oft 
beim  Anblicke  der  Natur  rege  werden,  welche  bei  weitem  noch  keine 
Zweifel  oder  Einwürfe  sind,  wenigstens  keine  wissenschaftlich  anmaßenden 
oder  bestimmt  ausgesprochenen,  die  aber  eine  Antwort  zu  erfordern 
scheinen.  Das  klagende  Geschrei  eines  wehrlosen,  gutartigen  Tieres,  wie 
es  der  Mensch  tötet,  oder  auf  der  andern  Seite  das  giftige  Zischen  einer 
bösartigen  (?)  Schlange,  der  Anblick  eines  scheußlichen  Würmerhaufens  in 


Fr.  V.  Schlegel:    Die   drei  ersten  Vorlesungen  über  die  Philosophie  des  Lebens.         73 

dem  Leichname  der  Verwesung;  das  sind  solche  stumme  Ausrufungen,  die 
gleichsam  die  Frage  nur  eben  zurückhalten:  Sind  denn  das  die  Hervor- 
bringungen, die  Geschöpfe  des  vollkommensten  Wesens,  des  höchsten 
Geistes?  —  Dürfte  man  nicht  die  Tatsache  von  krankhaften  Erzeugnissen 
eines  falchen  Lebens  noch  weiter  ausdehnen?  Könnte  man  nicht  die 
Schlangen  z.  B.  als  die  Eingeweidewürmer  der  Erde  betrachten?  Daß  auch 
die  feindlichen  Geister  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Natur  sind,  ist  wohl 
unleugbar.  Auch  die  AfTen  sind  von  manchen  schon  nicht  sowohl  für 
ein  ursprüngliches  Geschöpf  gehalten  worden,  als  für  einen  satanischen 
Einfall  zur  boshaften  Parodie  auf  den  Menschen,  als  den  beneideten  Lieb- 
ling Gottes.  Daß  der  Fürst  dieser  Welt  auch  auf  die  Produktionskraft 
dieser  entarteten  und  verderbten  Natur  hier  und  da,  bis  auf  einen  ge- 
wissen (?)  Grad,  einen  giftigen  Einfluß  haben  kann,  daß  es  also  auch  eine 
Produktionskraft  des  Bösen  in  der  Natur  gibt,  läßt  sich  wohl  nicht  leugnen. 
Nur  aber  muß  jene  vergiftende  Einwirkung  als  in  bestimmte  Grenzen 
eingeschlossen  gedacht  werden.  —  Sah  denn  der  Verf.  nicht,  daß  sein 
eigenes  Denken  hier  schon  längst  alle  Grenzen  überschritten  hat?  Kein 
Leben  ist  falsch,  denn  es  ist  wirklich;  keine  Schlange  ist  böse;  sie  kann 
nicht  überlegen  und  wählen.  Aber  diejenige  ästhetische  Ansicht,  welche 
nur  das  Äußere  wahrnimmt,  und  den  Dichtern  geläufig  ist,  maßt  sich  hier 
Beurteilungen  an,  die  ihr  nicht  zukommen.  Wir  kennen  längst  diese 
poetischen  Übereilungen;  Hr.  von  Schlegel  wird  sich  wohl  erinnern,  wo 
er  sie  zuerst  gefunden  hat;  denn  seine  Erfindung  sind  sie  nicht;  er  aber 
scheint  überhaupt  sehr  vieles  auf  seine  Rechnung  zu  nehmen,  wovon  wir 
vielmehr  erwarten  konnten,  er  würde  es  mit  seiner  Polemik  verfolgen  und 
zurückweisen.  Religiös  sind  dergleichen  fragende  Gefühle,  wie  er  sie  nennt, 
gewiß  nicht;  sondern  es  sind  Versuche,  die  Vorsehung  zu  meistern.  Und 
diese  Versuche  sind  offenbar  gefährlich;  es  gibt  für  sie  keine  Grenze.  W^er 
einmal  den  Affen  tadelt,  der  kann  sehr  gut  auch  bis  zu  den  Hottentotten 
und  zu  den  Kannibalen  fortschreiten;  und  am  Ende  wird  nichts  übrig 
bleiben,  welches  nicht  als  gemein  oder  als  unvollkommen  könnte  bezeichnet 
und  in  jene  fragenden  Gefühle  hineingezogen  werden.  Jede  Tragödie  kann 
sie  erregen,  die  auf  der  Weltbühne  sich  unseren  Augen  darstellt.  Wer 
ein  philosophisches  Buch  zu  schreiben  unternimmt,  muß  das  voraussehen 
und  sich  vor  dem  unbescheidenen  Dogmatismus,  welcher  schon  von  Kant 
so  sorgfältig  vermieden  wurde,  zeitig  genug  hüten.  Sonst  wird  man  von 
dem  Gespenste  des  Fürsten  dieser  Welt,  oder  vielmehr  des  Fiirsten  der 
Finsternis,  bald  überall  am  hellen  Tage  verfolgt  werden.  Also  wollen  wir 
es  lieber  mit  dem  Verf.  dabei  lassen:  man  muß  in  dieser  Sphäre  nichts 
systematisch  bestimmen. 

Eine  andere  Sphäre,  worin  der  Verf.  dies  sein  eignes  Wort  eben- 
falls hätte  festhalten  "sollen,  ist  die  der  historisch  dunkeln  alten  Philo- 
sophen. Bei  den  Freunden  der  Mystik  mid  Symbolik  sind  besonders  die 
Pythagoräer  beliebt ;  Hr.  von  Schl.  läßt  sich  darüber  also  vernehmen :  Am 
höchsten  unter  allem  standen  unstreitig  (bei  einem  so  bestrittenen  Gegen- 
stande?) die  Pythagoräer,  deren  Sinn  und  Streben  durchaus  auf  das  Gött- 
liche gerichtet  war.  Auch  in  der  Naturwissenschaft  haben  sie  das  Wesent- 
lichste  und  Beste  (was  ist  denn  in  der  Naturwissenschaft  das  Beste,    die 


'1 A  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Kenntnis  der  Planeten    oder  die  der  Doppelsterne   und  Nebelflecke?    die 
der    Saitenschwingungen    oder    die    der    Voltaischen    Säule  ?     die    höchst 
mangelhafte  Kenntnis    einiger  Tatsachen    oder    die  Berechnung   derselben 
nach   allgemeinen  Gesetzen  ?)   von   dem  gekannt  und  gewußt,   worauf  unsere 
Geschichte  der  Entdeckungen  seit  drei  Jahrhunderten  stolz  ist;  und  vielleicht 
hier  und  da  noch  etwas  mehr.  —  Wir  könnten  den  Vorschlag  tun,  man 
möge  einmal    einem   heutigen   tüchtigen  Physiker,    Astronomen,   Chemiker, 
jenes  eingebildete  Beste  und  noch  etwas  mehr,    das  den  Pythagoräern  in 
der  allerglänzendsten  Darstellung  ihres  Wissens  kann  zugeschrieben  werden, 
vor  Augen  legen,  um  zu  hören,  ob  er   darin    etwas  anderes   als    die  ent- 
ferntesten   Elemente   einer    dem  früheren    Altertum    allerdings    rühmlichen 
Einsicht  erkennen  werde?   Ferner  wären  alsdann  noch  die  Philologen,  und 
unter    diesen    die    Antisymboliker  zu    fragen,    wegen    der  historischen   Ge- 
nauigkeit  des    abgestatteten    Berichts.     Rez.    hat   seine   Meinung,  daß  die 
Pythagoräer  die  griechische  Philosophie  durch  ihre  Anmaßungen   mehr  ver- 
dorben,   als  durch   ihre    wirklichen  mathematischen    Kenntnisse  erleuchtet 
haben,    anderwärts    ausgesprochen.      Sie    hätten    viel    sein    können,    wenn 
sie  nicht  alles  hätten  sein  wollen,    wie  es    auch   heute   so    manchen    geht. 
Es  gehört  wesentlich  zur  Charakteristik  des  vorliegenden  Buches,  daß 
wir  der  Symbolik  erwähnen.    ,,Die  Theorie  der  Kunst,  oder  die  sogenannte 
Ästhetik,    könnte    viel    richtiger    Symbolik    genannt     werden.       Denn    die 
Schönheit,   —  jene  nämlich,  welche  die  Kunst  im  Auge  und  zum  Gegen- 
stande hat,   —   bildet  die    bildliche    Seite    der    ewigen    Wahrheit,    und    ist 
nicht  von  ihr  geschieden;    vorausgesetzt,    daß  die   Kunst  sich   wirklich  auf 
jener  Höhe  hält,  und  auch  den  sinnlichen  Reiz   nur  als  Bild,    und  wegen 
dieser  höhern  Bedeutung,  welche  sie  ihm  leihet  und  hineinlegt,  aufnimmt, 
und   ihn  nicht  seiner  selbst  wegen  sucht."      Das  klingt  nun  zwar  vortreff- 
lich;   es    enthält    aber    zugleich    das    Geständnis   daß    es  sehr    einseitig  ist. 
Der    Schönheit,    —    jener    nämlich,     welche    nicht    die     Kunst,    sondern 
die  Natur  darbietet,  geschieht  unrecht,   indem  sie,   abgesehen    von  Bild- 
lichen,   als    bloßer   Reiz^   und    gar    noch    als    Sinnenreiz    bezeichnet    wird. 
Der    Ästhetik,    die    alles    Schöne,    wie   mannigfaltig    verschieden    es  auch 
ist,    auf    seine    einfachsten    Formen     zurückführen    soll,    geschieht    aber- 
mals   unrecht,    indem    sie    bloß  als   Anleitu7ig  fiir  den    Künstler   betrachtet 
wird.     Der  ewigen  Wahrheit   endlich  geschieht  auch  unrecht,    indem  der 
Mensch,   der  sie  so    unvollkommen    erkennt,    ihr    eine   bildliche    Seite  zu- 
schreibt,   als    ob   er    (jenen,  vorhin    erwähnten    und   für    so    anstößig    ge- 
haltenen, Schlangen  und  Affen   zum  Trotze!)   sie  wirklich  in   einem   Bilde, 
welches    er  mit  ihr  selbst  vergleichen  dürfte,    geschaut  hätte.      Der  Kunst 
aber  geschieht  kein  Dienst,  indem  man  sie  auf  ein    absichtliches  Wirken, 
auf  ein  Leihen  und  Hineinlegen  beschränkt.    Man  merkt  die  Absicht  und 
ist  verstimmt.     Der  Künstler  verstimmt   sich    selbst  zuerst,    wenn  er,    der 
geradezu  auf  Produktion  des  Schönen,   —   welches  an  sich  schön  sei,  — 
hinarbeiten  soll,  sich  fragt,   was  man  dabei  denken  werde?   und   wenn  er 
meint,   etwas    geleistet  zu    haben,   weil  er   etwas  ausgedrückt  habe.      Hier 
ist  ein  ganzer  Knäuel  7'o?i  Irrtümern  aus   einer  Zeit,   die  wir    kennen,   und 
von  der  es  uns  einigermaßen  befremdet,  daß  sie  für  Hrn.  von  Schlegel 
noch   nicht   vorbei   ist.      Aber    weit   entfernt,    sich    herauszureißen,  hat  er 


Fr.  V.  Schlegel:    Die    drei  ersten  Vorlesungen  über  die  Philosophie  des  Lebens.        ye. 

sich  mehr  hineingearbeitet.  Jetzt,  und  in  diesem  Buche  noch,  erzählt  er 
uns,  die  Musik  sei  eine  Darstellung  der  Seelengefühle,  und  die  Skulptur  eine 
'  Darstellung  der  organischen  Entwicklung  des  Körpers.  Wir  nehmen  uns 
die  Freiheit,  ihm  zu  sagen,  daß  das  erste  ebenso  unwahr  ist  als  das 
zweite;  obgleich  es  nur  bei  dem  zweiten  offenbar  in  die  Augen  springt, 
daß  die  Verhältnisse  der  Reproduktion,  Irritabilität  und  Sensibilität,  worauf 
das  organische  Leben  beruht,  dem  Bildhauer  unbekannt  sind;  und  dem 
Zuschauer  seiner  Werke  unbekannt  bleiben;  auch  überhaupt  sich  jeder 
sinnlichen  Darstellung,  jeder  Andeutung  durchaus  entziehen;  und  selbst 
durch  das  anatomische  Messer  nicht  können  aufgefunden,  viel  weniger 
durch  den  Meißel  nachgeahmt  werden.  Wußte  das  Hr.  von  Schlegel 
nicht?  Er  wußte  es  wohl,  aber  er  wollte  es  nicht  wissen.  Statt  zu  fragen, 
was  die  Kunst  in  Wahrheit  sei  ?  will  er  ihr  Gesetze  geben ,  und  sie  zu 
etwas  Höherem  machen ,  als  was  sie  wirklich  ist.  Dies  Hinwegspringen 
über  die  Wahrheit,  die  ihm  zu  niedrig  liegt,  charakterisiert  ihn,  so  wie  es 
dasjenige  Zeitalter  charakterisiert,  aus  dem  er  stammt.  Dadurch  hat  er  sich 
seine  Aussichten  verdüstert  und  verkümmert.  Nun  klagt  er:  ,, Während 
in  dem  allgemein  herrschenden  politischen  Unglauben,  der  eine  natürliche 
Folge  des  religiösen  Unglaubens  ist,  das  ganze  Leben,  besonders  auch 
das  öffentliche,  nach  seiner  symbolischen  Bedeutung  und  Würde  nicht 
mehr  (?)  erkannt  und  nicht  mehr  verstanden  wird"  (wann  und  wo  ist  denn 
das  Leben  selbst,  das  ganze,  das  öffentliche,  als  ein  Symbol  von  irgend 
etwas  anderem  verstanden  worden,  anstatt  den  Gegenstand  symbolischer 
Darstellungen  auszumachen?)  ,,und  dadurch  auch  der  Staat  und  alles 
Große  desselben,  viel  von  seinem  alten  (?)  ehrwürdigen  Glänze  und  seiner 
ehemaligen  (?)  Heiligkeit  verloren  hat  (wovon  soll  denn  der  Staat  ein 
Symbol  sein?  etwa  von  der  Kirche?);  während  selbst  das  religiöse  Gefühl, 
was  wirklich  noch  vorhanden  ist,  mehr  oder  minder  in  den  Parteienkampf 
hinabgerissen  wurde  und  kaum  eine  reine  Freistätte  des  einfachen  frommen 
Glaubens,  die  unverletzt  und  unangefochten  wäre,  mehr  zu  finden  weiß; 
ist  für  eine  sehr  große  Anzahl  von  Menschen  aus  der  gebildeten  Klasse 
die  Kunst  und  das  Schöne  das  letzte  ihnen  übrig  gebliebene  Kleinod 
des  Göttlichen,  und  wird  auch  als  ein  solches  und  als  das  eigentliche 
l'alladium  des  höheren  und  inneren  Lebens  von  ihnen  betrachtet,  was  es, 
so  isoliert  genommen,  doch  in  keiner  Weise  sein  kann.  Unser  Zeitalter 
ist  in  dieser  Hinsicht  einem  ehemals  reichbegüterten,  nun  aber  herab- 
gekommenen edlen  Hause  zu  vergleichen."  Man  erwartet  vielleicht,  hier 
werde  nun  das  Lob  des  Mittelalters  angestimmt  werden;  allein  der  Verf. 
scheint  wenigstens  soviel  von  der  heutigen  Zeit  zu  wissen,  daß  es  dazu 
nicht  mehr  Zeit  ist,  so  manches  auch  in  ihm  aus  Gewohnheit  fortlebt, 
was  heute  nicht  mehr  recht  passen  will. 

Doch  wir  irren  uns!  Es  folgt  allerdings  noch  das  symbolische  Zeichen 
des  nach  allen  vier  Winden  oder  Weltgegenden  hinaus  bewegten  Schwertes, 
als  der  Insignie  des  ehemaligen  Kaisertums  im  Mittelalter.  Nach  dieser 
war  es  nicht  bloß  eine  Verschiedenheit  der  Macht,  des  Ranges  oder  im 
Titel,  zwischen  der  einen  und  der  andern,  der  kaiserlichen  oder  der  könig- 
lichen Würde;  sondern  es  fand  eine  totale  Verschiedenheit  statt  in  dem 
Begriffe  und  dem   Zwecke  des    einen  und  des   andern    geheiligten  Amtes, 


76  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


zwischen  dem  gewählten  Kaiser  und  dem  erblichen  Könige.  Jener  war 
der  mit  dem  Schwerte  der  ganzen  Christenheit  bewaffnete  Verteidiger  für 
das  ganze  System  der  abendländischen  Staaten.  War  es  ivirklich?  oder 
sollte  es  sein?  Die  Dinge  passen  so  oftmals  nicht  zu  den  Begriffen,  daß 
man  sich  nicht  wundern,  und  eben  nicht  betrüben  darf,  wenn  sie  auch 
nicht  immer  zu  den  glänzenden  Symbolen  passen,  die  zu  den  Begriffen 
erfunden  werden,  noch  ehe  man  gefragt  hat,  wieviel  wahrer  und  fester 
Grund  und  Boden  für  diese  letzteren  vorhanden  ist.  Wir  können  es  un- 
möglich bedauern,  wenn  das,  was  man  heutigestages  gesunde  Politik  zu 
nennen  pflegt,  von  der  genauen  Erwägung  der  wirklichen  Verhältnisse 
ausgeht,  und  diesen  alsdann  keinen  übertriebenen,  sondern  einen  ange- 
messenen, und  —  was  nicht  zu  allen  Zeiten  die  Tugend  der  Politik  war, 
—  einen  aufrichtigen  Ausdruck  beifügt.  Hr.  von  Schlegel  scheint 
Hallers  Lehre  vermeiden  zu  wollen,  indem  er  sich  ebensowohl  gegen 
den  absoluten  Zustand  faktischer  Präponderanz,  als  gegen  den  dynamischen 
des  sogenannten  Gleichgewichts  erklärt;  allein  durch  seine  sogenannte 
symbolische  Bedeutung  des  Lebens  wird  in  der  Sache  nichts  geändert.  Auf 
die  Gesvmtmgen  kommt  es  an ;  sind  diese  im  richtigen  Einverständnisse,  so 
versteht  sich  ganz  von  selbst,  daß  der  Monarch  und  der  Priester  als  Ver- 
treter einer  höheren  göttlichen  Macht  erscheinen ;  und  das  braucht  als- 
dann nicht  gelehrt  noch  gelernt  zu  werden;  jeder  sieht  es  von  selbst. 
Sind  aber  die  Gesinmingen  herrisch  inid  sklavisch  oder  streit  süchtig,  so  helfen 
die  Symbole  nicht  mehr,  als  die  papiernen  Konstitiitiojien ;  ja  die  Anmaßung^ 
daß  ei7i  Mensch  das  höchste  Wesen  repräsentieren  wolle  oder  solle,  ist  alsdann 
noch  ärgerlicher  und  anstößiger,  als  jene  vom  Verj.  sogena7i7iten  ,,  Volks-Re- 
präsentanten schrecklichen  Ajidenkens".  Man  möchte  faßt  glauben,  Hr.  von 
Schlegel  habe  noch  immer  nicht  Zeit  gefunden,  seines  Schreckens  Meister 
zu  werden;  obgleich  wir  in  Deutschland  nun  schon  so  lange  die  große 
Wohltat  wahrhaft  friedliebender  Regierungen  genießen  und  im  Besitze 
einer  glückUchen  Wirklichkeit  recht  füglich  die  bloßen  Zeichen  entbehren, 
und  vergangene  Dinge  als  vergangen  betrachten  können.  Es  ist  indessen 
kein  Wunder,  wenn  in  den  Büchern  der  Nachklang  des  früheren  Donners 
noch  forttönt;  nur  mi'isseii  die  Bücher  nicht  eine  Ängstlichkeit  vor  eingebildeten 
Gefahren  unterhalten ;  und  die  Schriftsteller  möchten  wohl  Ursache  haben, 
sich  vor  dem  Verdachte  zu  hüten,  als  gingen  sie  darauf  aus,  sich  wichtig 
zu  machen;  während  doch  die  Staatsmänner  sehr  gut  wissen,  daß  sie 
selbst,  und  nicht  die  Schriftsteller  es  sind,  welche  die  Macht  in  -den 
Händen  haben. 

Aber  Hr.  von  ScHL.  glaubt  eine  andere  Macht ^  die  der  Wissenschaft, 
zum  Teil  in  seiner  Hand  zu  besitzen  und  in  Ausübung  zu  bringen. 
Solche  Männer  sollten  wissen,  daß  ein  sehr  wesentlicher  Teil  von  dieser 
geistigen  Macht  auf  der  Ordnung  der  Gedanken  beruht.  Welcher  Grund 
aber  hat  Hrn.  von  Schlegel  bewogen,  seine  Philosophie  des  Lebens  so 
einzurichten,  daß  (nach  seinem  eigenen  Geständnisse  in  der  letzten  Vor- 
lesung) zuerst  der  Psychologie  —  und  zwar  nicht  etwa,  wie  manche  be- 
liebt haben,  bloß  propädeutisch,  sondern  nach  dem  ursprünglichen  Um- 
fange ihrer  großen  Verhältnisse  im  Leben,  und  auch  zur  Natur  und  zu 
Gott,    —    dann    der    natürlichen   Theologie,    welche    entweder   ganz   vorn 


W.  T.  Krug:  A'lgeraeines  Handwörterbuch  der  philosophischen  Wissenschaften.         77 

oder  ganz  am  Ende  stehen  mußte,  —  dann  einer  sogenannten  höheren 
Logik,  die  man  nach  Belieben  auch  Ontologie  soll  nennen  dürfen,  oder, 
wenn  man  lieber  will,  angewandte  Theologie;  —  und  endlich  der  Meta- 
physik des  Lebens,  welches,  wiederum  nach  Belieben,  auch  Kosmologie 
in  geistiger,  ja  sogar  sittlicher  Hinsicht  heißen  kann,  der  Platz  angewiesen 
werde?  Hr.  von  Schlegel  ist  oftmals  schon  als  Freund  und  als  Ver- 
teidiger des  Alten  aufgetreten;  er  hat  darin  mehr  richtigen  Sinn,  mehr 
reife  Überlegung  gefunden,  als  in  dem  Neueren.  Daß  er  aber  irgend 
ein  älteres  Kompendium  der  Logik  und  Metaphysik  aus  der  Periode  der 
Leibnizisch-Wolftischen  Schule  solange  studiere,  bis  er  den  Grund  und 
den  Sinn  der  alten  Ordnung  begreift,  dies  wäre  ohne  Zweifel  zu  viel  ver- 
langt; daher  wird  es  am  besten  sein,  keine  weiteren  Ansprüche  an  das 
vorliegende  Buch  zu  machen. 


Krug,  Wilh.  Traug.,  Prof.  d.  Philos.  zu  Leipzig,  Allgemeines  Hand- 
wörterbuch der  philosophischen  Wissenschaften,  nebst  ihrer 
Literatur  und  Geschichte.  Nach  dem  heutigen  Standpunkt 
der  Wissenschaft  bearbeitet  und  herausgegeben.  —  Leipzig, 
bei  Brockhaus,  1827.  i.  Bd.  A— E.  X  u.  755  S.  2.  Bd.  F— M. 
831  8.  Oct.  (2  Rthlr.  16  Gr.) 
Gedruckt  in:  Leipziger  Literatur-Zeitung   1828,  Nr.   225.     SW.  XIII,  S.   538. 

Herr  Professor  Krug  gehört  bekanntlich  zu  denjenigen  philosophischen 
Schriftstellern,  die  sich  einen  großen  Kreis  von  Lesern  gebildet  haben. 
In  diesem  Kreise  herrscht  nicht  sowohl  das  Bemühen,  neues  Licht  an- 
zuzünden, als  vielmehr  das  Bedürfnis,  bei  dem  einmal  vorhandenen  Lichte 
in  praktisch  wichtigen  Dingen  hell  zu  sehen.  So  allgemein  das  Bedürfnis, 
soviel  Achtung  verdient  der  Mann,  der  es  zu  befriedigen  weiß.  Daher 
wäre  zu  wünschen,  daß  uns  das  vorliegende  Werk  in  den  Stand  setzen 
möchte,  es  ganz  unumwunden  für  angemessen  dem  ehrenvollen  und  wohl- 
erworbenen Rufe  zu  erklären,  welchen  sein  Verf.  bereits  besitzt.  Es  finden 
jedoch  in  dieser  Hinsicht  einige  Bedenklichkeiten  statt,  welche,  dem  sehr 
freimütigen  Manne  gegenüber,  auch  freimütig  ausgesprochen  werden  müssen ; 
zumal  da  der  Titel  die  nicht  geringe  Forderung  anregt,  das  Werk  solle 
nach  dem  heutigen  Standpunkte  der  Wissenschaft  bearbeitet  sein.  Welcher 
ist  dieser  Standpunkt?  Ist  er  der  des  Hrn.  Prof.  Krug?  Soll  ein  all- 
gemeines Handwörterbuch  sich  nach  seinem  individuellen  Urteile  richten.-' 
—  Wenn  hier  die  einseitigen  Entscheidungen  bestrittener  Gegenstände 
sollten  vermieden  werden,  so  mußte  sich  der  Verf.  ein  sehr  gründliches 
Studium  der  verschiedenen  heutigen  Systeme  angelegen  sein  lassen,  um 
dieselben  historisch  treu  und  genau  in  den  Hauptartikeln  des  Werkes  dar- 
legen zu  können,  auf  welche  alsdann  in  anderen  kürzeren  Artikeln  zu 
verweisen  war.  Eine  solche  Arbeit  ist  unstreitig  sehr  schwierig,  und 
würde  lange  Zeit  gekostet  haben;  aber  es  scheint  uns,  die  bekanntlich 
sehr  beschäftigte  Feder  des  Hrn.  K.  habe  sich  diesmal  gar  zu  wenig 
Zeit  genommen,  um  die  zwei  starken  Bände,  welche  vor  uns  liegen,  nieder- 


yg  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 

zuschreiben.  Vielleicht  hängt  es  damit  zusammen,  daß  die  Vorrede  unsere 
Erwartungen  selbst  herabstimmt.  „Wer  eine  Wissenschaft  ex  professo 
studieren  will  (sagt  Hr.  K.),  wird  vernünftigerweise  nicht  nach  einem 
solchen  Werke  greifen.  Denn  da  würde  er  nur  Bruchstücke  finden." 
Warum  das?  Er  kann  ja  hoflfen,  eine  Sammlung  gründlicher  Abhandlungen 
zu  finden,  die  vollständig  genug  sei,  um  die  verschiedensten  Seiten  und 
bekannten  Versuche  in  der  Wissenschaft  auf  einmal  vorzulegen,  und  den 
Leser  zu  mannigfaltiger  und  beliebiger  Verknüpfung  derselben  einzuladen. 
Aber  Hr.  K.  fährt  fort:  „Wer  ein  Wörterbuch  zur  Hand  nimmt,  sucht 
nur  augenblickliche  Belehrung'''' ;  wobei  sich  die  Frage  aufdrängt,  ob  solche 
in  der  Philosophie  überall  möglich  sei!  —  Die  notwendigen  Eigenschaften 
eines  solchen  Werks  sollen  nun  sein:  möglichste  Vollständigkeit,  Deut- 
lichkeit, Kürze  und  Bequemlichkeit.  Kürze  bei  einem  Werke  von  vier 
Bänden,  zu  45 — 50  Bogen,  bei  ziemlich  engem  Druck?  Ein  solcher 
Raum  scheint  doch  wirklich  groß  genug,  um  bei  präziser  Schreibart  und 
Weslassung  des  Unbedeutenden,  recht  viel  Wesentliches  in  sich  auf- 
zunehmen;  zumal  wenn  der  heutige  Standpunkt  festgehalten,  und  nicht  zu 
viel  von  älteren  Dingen  aufgenommen  wird,  die  sich  besser  für  ausführ- 
liche Werke  über  die  Geschichte  der  Philosophie  eignen  möchten.  Was 
die  jetzt  lebenden  Philosophen  betrifft,  so  war  Hr.  K.  anfangs  zweifelhaft, 
ob  er  auch  sie  in  dies  Wörterbuch  aufnehmen  sollte.  „Sie  können,"  sagt 
er,  ,,ihre  Ansichten  ändern ;  manche  sind  überdies  so  kitzlich,  daß  sie  jedes 
nicht  beifällige  Urteil  übel  nehmen,  und  bitter  rügen.''  Er  nennt  nun  einige, 
deren  Namen  er  dennoch  aufnehme,  weil  mancher  Leser  nach  ihren 
Namen  suchen  werde;  und  fügt  hinzu,  des  Urteils  über  Zeitgenossen  habe 
er  sich  meist  enthalten.  Hier  ist  uns  der  Zweifel  und  dessen  Gründe 
nicht  recht  klar;  und  die  Enthaltsamkeit  könnte  leicht  auf  ein  Zuviel  und 
Zuwenig  zugleich  führen.  Nach  dem  heutigen  Standpunkte  der  Wissen- 
schaft konnte  das  Wörterbuch  unmöglich  bearbeitet  werden,  wenn  es 
nicht  die  Unterschiede  der  philosophischen  Schulen  dieser  Zeit  vor  Augen 
legte;  daher  war  die  Nennung  einiger  Häupter  der  Schulen  ganz  unvermeid- 
lich, und  niemand  hatte  ein  Recht,  beifällige  Urteile  von  Hrn.  K.  zu 
verlangen,  sondern  nur  faktisch  richtige  und  nicht  gehässige  Darstellungen 
der  einmal  bekannt  gemachten  Lehren.  Jetzt  aber,  da  Hr.  K.  sich  auf 
die  Sorge  wegen  des  Übelnehmens  und  bitteren  Rügens  einmal  eingelassen, 
und  hiermit  sich  in  Ansehung  der  Zeitgenossen  auf  ein  Minimum  der 
Berichte  und  Urteile  eingeschränkt  hat,  läuft  er  Gefahr,  daß  alle  Schulen 
gegen  ihn  zugleich  mit  der  Beschuldigung  auftreten,  sein  Werk  gebe  kein 
Bild  des  heutigen  Zustandes  der  Wissenschaft,  sondern  enthalte  bloß  seine 
individuellen  Ansichten,  so  daß  er  sich  selbst  an  die  Stelle  des  Zeitalters 
gesetzt  habe.  Daß  wir  es  nun  nicht  übernehmen  können,  ihn  gegen  eine 
solche  Klage  vollständig  zu  verteidigen,  wird  sich  leicht  zeigen,  wenn 
wir  die  Wahl  der  Artikel,  welche  aufgenommen  sind,  und  deren  Bearbeitung, 
durch  einige  Proben  kenntlich  machen. 

Gleich  der  erste  Artikel  liefert  eine  Probe  derjenigen  Bequemlichkeit, 
welche  das  Werk  darbietet.  Irgend  ein  Leser  könnte  möglicherweise 
irgendwo  den  Buchstaben  A  als  Zeichen  des  Ersten  in  irgend  einer  Hin- 
sicht gebraucht  finden;  darum  belehrt  ihn  der  Verf.  in  den  ersten  Zeilen : 


W.  T.  Krug:  Allgemeines  Handwörterbuch  der  philosophischen  Wissenschaften.         -iq 

„A  ohne  weiteren  Beisatz  bedeutet  in  der  Philosophie  das  Erste,  was 
schlechthin  und  ohne  irgend  eine  anderweite  Bedingung  gesetzt  ist,  und 
daher  auch  das  Absolute  heißt!  Ob  es  ein  solches  A  in  und  für  die 
menschliche  Erkenntnis  gebe,  ist  streitig:  daher  sollte  man  nicht  die  Philo- 
sophie geradezu  für  eine  Wissenschaft  vom  Absoluten  erklären."  — 
Ferner:  ,,Dem  Leser  kann  oft  genug  die  Formel:  A  =  A  aufstoßen ;  wenn 
nun  dieser  Leser  nicht  weiß,  daß  man  dieselbe  Formel  auch  B  =  B,  oder 
C  =  C,  oder  mit  jedem  andern  Buchstaben  gerade  ebenso  passend 
schreiben  kann,  dann  wird  allerdings  ein  so  unwissender  Leser  die  Er- 
klärung im  Wörterbuche  unter  dem  Artikel  A  aufschlagen,  statt  des 
andern  etwa  den  Artikel:  Einstimmung,  oder  Satz  der  Einstimmung^  oder 
Gleichheit  zu  Rate  ziehen  möchten."  Für  jenen  ersten  Leser  nun  Sorge 
tragend,  spricht  Hr.  K.  wirklich  bei  den  Buchstaben  A  auch  von  der 
Formel  A  =  A,  und  lehrt  nebenbei,  es  sei  ein  großer  Mißgriff  einiger 
neueren  Philosophen  gewesen  (insonderheit  Fichtes),  daß  sie  die  erwähnte 
Formel  an  die  Spitze  ihres  Systems  stellten,  imi  daraus  die  ganze  Philo- 
sophie abzuleiten:  —  wobei  zu  bemerken,  daß  Fichte  die  Philosophie 
nicht  aus  dem  A,  sondern  aus  dem  Ich  oder  dem  Selbstbewußtsein  ab- 
leiten wollte,  und  sich  hierbei  nui  zur  Einkleidung  den  Mißgriff  gestattete, 
welchen  Hr.  K.  nicht  ganz  ohne  Grund,  aber  viel  zu  hart,  tadelt.  Endlich 
fällt  ihm  noch  ein,  daß  zuweilen  das  Subjekt  eines  Urteils  mit  A,  und 
das  Prädikat  mit  B,  —  zuweilen  auch  mit  A  A  A  der  erste  Modus  der 
ersten  Schlußfigur  (barbara)  bezeichnet  wird.  Aus  allen  diesen  heterogenen 
Elementen  nun  bildet  der  Verf.  seinen  ersten  Artikel,  für  den  Buch- 
staben A.  Es  fehlt,  wie  man  sieht,  hier  nicht  an  Polemik,  die  Gelegen- 
heit aber,  wobei  sie  angebracht  ist,  hätte  unserer  Meinung  nach  füglich 
unbenutzt  bleiben,  und  der  ganze  Artikel  wegbleiben  können,  wenn  alles 
einzelne  an  seine  gehörigen  Orte  wäre  gestellt  worden.  Ob  nun  Hr.  K. 
anderwärts  den  Raum  seines  Wörterbuchs  besser  gespart,  und  zweckmäßiger 
benutzt  habe,   dies  ist  uns  oftmals  zweifelhaft  geworden. 

Es  ist  nötig,  daß  wir  jetzt  zuerst  die  Auswahl  der  Artikel  andeuten, 
worin  uns  manches  überflüssig  erscheint.  Unter  Ab  steht  die  Formel : 
ab  esse  ad  posse  valet  consequentia;  desgleichen:  ab  universali  ad  particu- 
lare  valet  consequentia ;  bei  der  ersten  steht  sogar  ein  Paar  konzentrischer 
Kreise,  welches  Wirkliches,  als  enthalten  im  Gebiete  des  Möglichen  ver- 
sinnlichen soll.  Darauf  Abälard,  Abä7tderung,  Abaris,  Abart,  Abbild^  Ab- 
bitte^ Abbrei'ieii,  Abt,  Abhiißung  und  Abbüßungsvertrag^  mit  Polemik  gegen 
Fichtes  Naturrecht,  wobei  dennoch  die  Rückweisung  auf  den  Artikel 
Strafe  (wohin  der  Gegenstand  gehört)  nicht  vermieden  werden  konnte; 
wozu  also  der  ausführliche  Artikel,  der  doch  ein  Bruchstück  bleibt?  Ab- 
druck, Abel.  Abenteuer  (wer  sucht  Abenteuer  im  philosophischen  Wörter- 
buche?), Aberglaube  (mit  dem  unnützen  Beweise,  daß  er  schädlich  sei, 
und  dennoch  oft  aus  Politik  begünstigt  werde),  Aberration  (gehört  den 
Astronomen),  Aberwitz^  Abfall  (hierbei  wenige,  aber  sehr  treffende  Worte, 
gegen  Schelling,  in  Hrn.  Ks.  bester  ^Manier.  Wäre  das  Buch  durch- 
gehends  so  gearbeitet,  so  würde  es  bedeutende  Wirkung  tun;  es  wäre 
dann  die  reine  Opposition  des  geraden,  gesunden  Verstandes  gegen  ver- 
irrte Spekulation),  Abgaben^  Abgebrochen,  Abgekürzt  (hierbei  ein   Bruchstück 


8o  J-   F.  Herbarts  Rezensionen. 


aus  der  Syllogistik,  worauf  lediglich  hätte  verwiesen  werden  sollen),  Ab- 
geleitel  (wo  nur  auf  Folgenmg  oder  auf  Deduktion  zu  verweisen  war),  Ab- 
gemessen, Abgeschmackt  (entbehrlich!),  Abgesondert  oder  abgezogen  (ein 
logisches  Bruchstück,  das  sehr  leicht  durch  Rückweisung  auf  irgend  einen 
größeren  Artikel  konnte  vermieden  werden),  Abgott  (wo  man  unter  anderem 
erfährt,  daß  auch  der  Bauch  und  das  Geld  Abgötter  sein  können  für 
den  Schlemmer  und  den  Geizigen),  Abgrund  und  Abgnnst.  Wir  stehen 
hier  am  Ende  des  Bogens,  aber  natürlich  noch  lange  nicht  am  Ende 
der  Vorsilbe  Ab.  Kaum  haben  wir  sie  im  Rücken,  so  stoßen  wir  auf 
den  Artikel  wie:  Accreditierung .,  Ackerbau.,  Ackergesetze^  Adam  usw.,  die 
schwerlich  jemand  von  diesem  Buche  gefordert  hätte.  Auch  selbst  Be- 
rauschung und  Bestialität  sind  nicht  übergangen;  und  S.  327  findet  sich 
gar  ein  Artikel,  den  wir  nicht  nennen  mögen.  Auch  im  zweiten  Bande 
bleibt  die  Neigung  zum  Überflüssigen  sich  gleich ;  so  hat  der  Satz :  mundus 
vult  decipi  etc.  seinen  eigenen  Artikel,  der  ihn  zwar  zurückweist,  aber 
doch  nicht  aus  dem   Buche  verbannt. 

Man  wird  nun  verlangen,  daß  wir  die  Hauptartikel  anzeigen;  wenn 
diese  nur  zu  finden  wären!  Rez.  hat  vergeblich  nach  ausführlicheren  Ab- 
handlungen gesucht;  der  Verf.  bleibt  seinem  Vorsatz  treu,  für  augenblick- 
liche Belehrung  zu  sorgen;  nur  für  wenige  Minuten  traut  er  der  Auf- 
merksamkeit seiner  Leser.  Doch  müssen  wir  einiges  zur  Probe  aus- 
heben. Der  Artikel  Metaphysik  beginnt  mit  übertriebenen  Klagen  über 
die  Unbestimmtheit  dieses  Wortes;  welche  Unbestimmtheit  sich  bald 
heben  ließe,  wenn  man,  wie  sich's  gebührt,  dem  Sinne  des  Aus- 
drucks gemäß  denjenigen  Sprachgebrauch  festhielte,  welcher  in  der  Blüte- 
zeit der  Leibnizisch- Wolffischen  Philosophie  vorhanden  war.  Hiermit 
würde  man  auch  in  dem  Kreise  von  Begriffen  bleiben,  worin  Aristoteles 
in  seinen,  unter  diesem  Namen  gesammelten  Büchern  sich  bewegt. 
Hr.  K.  hat  den  Hauptgrund  der  heutigen  Sprachverwirrung  zwar  be- 
rührt, da  er  die  Kantische  Abteilung  der  Metaphysik,  nämlich  in  Meta- 
physik der  Natur  und  der  Sitten,  für  völlig  unstatthaft  erklärt,  indem  die 
Metaphysik  an  die  Stelle  der  alten  Physik  trat,  und  daher  stets  als  eine 
theoretische  oder  spekulative  Wissenschaft  betrachtet  wurde.  Aber  so  wahr 
dieses  ist,  so  verdirbt  doch  der  Verf  die  Sache  wieder  dadurch,  daß  er 
viel  zu  unbestimmt  die  Metaphysik  für  eine  philosophische  Erkenntnis- 
lehre erklärt.  Darin  soll  die  Erkenntnis  durch  Analyse  der  Tatsachen  des 
Bewußtseins  in  ihre  letzten  Elemente  zerlegt  werden;  und  man  soll  an- 
ftehmen,  daß  der  Stoff  gegeben,  aber  die  Form  der  Erkenntnis  durchs 
Subjekt  bestimmt  sei!  Sind  wir  noch  soweit  zurück?  Und  haben  dreißig 
Jahre  nichts  vermocht,  um  diese  Kantisch-Reinholdischen  Meinungen  in 
ihrer  Unzulänglichkeit  vor  Augen  zu  stellen?  Man  sollte  doch  jetzt 
wenigstens  aus  Erfahrung  gelernt  haben,  wenn  man  es  nicht  aus  Gründen 
begreift,  daß  eine  solche  vorgebliche  Analyse  weder  einen  festen  Gegen- 
stand hat,  noch  im  stände  ist,  der  metaphysischen  Fragen  und  Zweifel 
mächtig  zu  werden.  Man  solle  wissen,  daß  es  bei  Kant  noch  einen 
anderen  Keim  wahrer  Metaphysik  gibt,  der  mit  der  vorgeblichen  Analyse 
des  Erkenntnisvermögens  nichts  zu  tun  hat.  Allein  hier  ist  nicht  Anlaß 
zu  weiterer  Auseinandersetzung;    denn   der  Verf.   belehrt  die,  welche   ihm 


W.  T.  Krug:  Allgemeines  Handwörterbuch  der  philosophischen  Wissenschaften.        8l 

aufs  Wort  glauben  wollen,  nach  seiner  Weise,  ohne  ihnen  zu  sagen,  daß 
schon     längst    andere    Schulen    sich    gänzlich    außer   diesem    Kreise    von 
psychologischen  Analysen  bewegen,  und  daß  die  Unmöglichkeit,  auf  solche 
Art  von  der  Stelle  zu  kommen,    dargetan  worden    ist.      Darüber  Auskunft 
zu  geben,  hat  er  nicht  Platz  genug  in  dem  von  überflüssigen  Dingen  an- 
gefüllten Buche;   und  dennoch  soll  es  die  Philosophie  nach  ihrem  heutigen 
Standpunkte  darstellen !  —  Wir  suchen  jetzt,  wie  billig,  nach  einer  anderen 
Probe,  die  mehr  genügen,   und   zugleich   das  Werk  charakterisieren  könne. 
Dazu   mag   in   der    Nähe    des   vorigen  ^der   Artikel    Erde    dienen.      Nach 
wenigen  Worten  über    die   unvollkommenen    Kenntnisse  des   Altertums  in 
diesem    Punkte    heißt   es   weiter:    ,,Es   dauerte   überhaupt   sehr  lange,   bis 
sich  der   menschliche    Geist   zu    dem   Gedanken  erheben  konnte,  daß  die 
Erde,   wie  groß  und  unermeßlich  sie  auch  unseren  Augen  erscheint,   doch 
nur  ein    Punkt    im   Weltall,    und    daß    es    daher   ganz  ungereimt  sei,   alles 
auf  diesen  Punkt,    als    den   bedeutendsten    in    der    Welt,    zu   beziehe?i]    —    eine 
Vorstellungsart,  die,  trotz  ihrer  handgreiflichen  Falschheit,  doch  der  mensch- 
lichen  Eitelkeit  so  sehr  schmeichelt,    daß  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag 
viele   Theologen,   und  selbst  sogenannte  Natiirphilosophen ^  nicht  davon   lassen 
wollen.    Wer  da  meint,  daß  die  Götter  vom  Himmel  auf  die  Erde  herab- 
gestiegen  seien,    um    wie    Menschen    zu    leben    und    zu    sterben,   befindet 
sich  in   einem  nicht  geringeren    Irrtume,   als  der,   welcher    den  Menschen, 
das  gebrechliche  Erdengewächs,  für  das  Meisterstück  der  gesamten  Schöpfung 
erklärt;    —    wer    so    etwas    behaupten    kann,    vergißt    die    Beobachtungen 
Herschels  usw.    —   Da    wir   nur    den    kleinsten    Teil    der    Erdoberfläche 
kennen,    so  wäre  es    wohl  am   ratsamsten,    erst  die  Erde    selbst  noch  ge- 
nauer zu  erforschen,  bevor  man  in  sogenannten   Geogonien  über  den   Ur- 
sprung derselben  haltungslos    philosophierte."      Sehr    wahr,    doch    möchten 
wir,  wenn  Newtons  Name  genannt  wird,  um  mehr  Respekt  bitten,  als  die 
Worte  verraten ;  etwas  vernünftiger  ist  die  Hypothese  Newtons,  daß  die  Erdmasse 
ursprünglich  flüssig  gewesen  sei.    In  diesem  Tone  spricht  von   dem  großen,  ja 
unvergleichlichen  New^ton  niemand,  der  ihn  nur  einigermaßen  kennt.    Auch 
braucht  für   Newtons  Lehre   von  der  Erhebung  des    Äquators    und    von 
der    Verkürzung   der    Polar -Axe    durch    die    Axendrehung,    nicht    gerade 
Flüssigkeit,  sondern  nur  Weichheit  der  Erdmasse,  oder  überhaupt  Nachgiebig- 
keit der  Teile  gegen  die  Wirkung  des  Schwunges,  angenommen  zu  werden. 
Am  meisten  Sorgfalt  scheint  der  Verf.  auf  die  naturrechtlichen  Artikel  ver- 
wandt zu  haben;   sein  Interesse  dafür  und  seine  x\nsichten,  sind  zu  bekannt, 
als  daß  davon  noch  Proben  nötig  wären.    Seine  sehr  ausgebreitete  Bücher- 
kenntnis kam   den  historischen  Artikeln  zu  statten ;  gewöhnlich  aber  ist  bei 
ihm   die   Literatur    mehr  hingestellt,    als    verarbeitet    und    zur   Darstellung 
benutzt.      Will  jemand  andere  Wörterbücher,    z.  B.   das   physikalische   von 
Gehler   (sowohl   das    ältere,    als    das  neue,   welches  jetzt   herauskommt), 
oder  auch  das  physiologische  von  Pierer,  oder  vollends  das  mathematische 
von    KlüGEL,   mit  dem   vorliegenden  philosophischen   vergleichen,   so    wird 
leicht  die  Frage  entstehen,  ob  denn  die    Philosophie    etwa  nicht  geeignet 
sei,  so  interessanten  Darstellungen,   wie  man   dort    findet,   Stoff"  zu  geben. 
Freilich    wird    sich    daran    die    Frage    knüpfen,    ob    es    denn  auch    einem 
einzelnen  Manne  zuzumuten   sei,  daß  er  allein  ein  philosophisches  Wörter- 

Herbarts  Werke.     XIII.  6 


82  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


buch  ausarbeite.  Unseres  Erachtens  hätte  Hr.  K.  weit  besser  für  die 
Wissenschaft  gesorgt,  wenn  er  Mitarbeiter  angenommen,  und  sich  an  die 
Spitze  eines  Unternehmens  gestellt  hätte,  welches  ihm  ohne  alle  Gehilfen 
notwendig  sehr  schwer  fallen  mußte.  Die  Ungleichheit  der  Ansichten, 
welche  alsdann  in  den  verschiedenen  Artikeln  hervorgetreten  wäre,  ist 
kein  großes  Übel,  wofern  nur  für  alles,  was  aus  Einer  Feder  kommt, 
die  nötige  Bezeichnung  nicht  fehlt.  Aber  den  heutigen  Philosophen  scheint 
leider  kein  anderer  Gedanke  so  fremd  zu  sein,  als  der,  daß  sie  ihre 
Kräfte  vereinigen  müßten;  höchstens  sieht  man  noch  einen  Meister,  um- 
geben von  einer  Schule,  die  ihm  zu  sehr  ergeben  ist,  um  Andersdenkende 
zu  interessieren.  Unter  denen,  welche  die  Wissenschaft  selbständig  be- 
arbeiten, fehlt  durchgehends  das  Bemühen,  einer  den  anderen  genau  und 
gründlich  zu  studieren.  Daher  Klagen  über  Dunkelheit;  daher  ein  be- 
ständiges Mißverstehen  und  Nicht- Verstehen ;  daher  Äußerungen  von  gegen- 
seitiger Geringschätzung,  als  ob  jeder  Hoffnung  hätte,  die  anderen  würden 
wohl  irgend  einmal  durch  ihre  eigenen  Fehler  scheitern  und  zu  Grunde 
gehen.  Die  leichte  Art  von  Polemik,  womit  Hr.  K.  freigebig  ist,  liegt 
zwar  zum  Teil  in  kurzen  und  treffenden  Bemerkungen,  zum  Teil  aber 
auch  in  Machtsprüchen,  wie  folgender:  Gefühlsphilosophie  taugt  nichts^  weil 
sie  der  Ei?ibildtmg  Tür  und  Tor  öffnet!'-'  Ist  es  denn  wahr,  daß  diejenigen 
Lehren,  welche  unter  diesem  Namen  bekannt  sind,  so  geradezu  nichts 
taugen?  Und  wenn  dieselben  allerdings  sehr  mangelhaft  sind,  liegt  der 
Grund  des  Mangels  gerade  vorzugsweise  an  besonderer  Fülle  von  Ein- 
bildungen? Wir  kennen  ganz  andere,  weit  mehr  phantastische  Schulen, 
die  keinesweges  durch  jene  Benennung  sich  charakterisieren  lassen.  Ferner, 
es  ist  sehr  leicht,  eine  solche  Polemik  nachzuahmen;  wir  könnten  z.  B. 
sagen,  Hrn.  Krugs  angenommenes  Bestrebuugsvermögen  tauge  nichts,  weil 
es  einer  eingebildeten  tianseuuten  Tätigkeit  Tür  und  Tor  öffne.  Schwer- 
lich wird  er  hiermit  seine  Lehre  von  zwei  Hauptvermögen  der  Seele  für 
widerlegt  halten;  und  wir  können  es  ihm  auch  nicht  eher  anmuten,  als 
bis  eine  ausführliche  Nachweisung  hinzukommt,  daß  aus  der  Seele  nichts 
hinaus  streben  kann,  und  daß  nur  durch  große  Mißdeutung  bei  den  Be- 
gehrungen an  ein  transire  gedacht  wird.  Was  hilft  nun  eine  solche 
Polemik,  die  durch  spitzig  klingende  Reden  oder  gar  durch  harte  Worte 
etwas  ausrichten  will?  Was  hilft  die  Klage  über  Dunkelheit,  welche  bei 
Hrn.  K.  nicht  selten  wiederkehrt?  Diese  Klage —  sollte  man  es  glauben? 
—  erhebt  Hr.  K.  sogar  über  Fries,  indem  er  bei  Anführung  der  Schriften 
des  letzten  hinzufügt:  sie  seien  oft  wegen  Mangels  einer  klai-en  und  bestimmten 
Darstellung  schwer  zu  verstehen!  Nun  fehlt  nur  noch,  daß  rückwärts  ge- 
klagt werde,  Hr.  K.  sei  schwer  zu  verstehen!  Gebe  man  sich  doch  nur 
die  Mühe,  einer  den  andern  zu  verstehen;  nehme  man  sich  nur  Zeit, 
einer  den  anderen  zu  lesen ,  so  wird  sich  schon  finden,  daß  Zeitgenossen, 
die  aus  denselben  Quellen  schöpften,  —  daß  Gelehrte,  denen  dieselben 
Hilfsmittel  zu  Gebote  stehen,  einander  nicht  unerreichar  sind.  —  Mit  Hegeln 
macht  es  Hr.  K.  noch  schlimmer;  ja  es  ist  sogar  irgendwo  von  .,Ho/- 
philosophen'"''  die  Rede,  welche  lehren,  was  wirklich  sei,  das  sei  auch  vernünftig. 
Was  ist  nun  schlimmer,  eine  solche  Lehre,  oder  eine  solche  Art,  sie  anzu- 
greifen?   Mag    immerhin    eine    auffallende  politische   Orthodoxie    in   jenem 


Dr.  Troxler:  Naturlehre  des  menschlichen  Erkennens,  oder  Metaphysik.  8^ 

Satze  liegen:  er  ist  dennoch  nicht  aus  der  Orthodoxie,  sondern  aus  dem 
Geiste  eines  Systems  entsprungen,  das  sich  dem  Spinozismus  nähert;  und 
Hr.  K.  würde  Dank  verdient  haben,  wenn  er  diese  historische  Beziehung 
kaltblütig  entwickelt  hätte.  —  Allein  wir  verweilen  schon  zu  lange  bei 
den  Mängeln  eines  Werkes,  das  so,  wie  es  nun  einmal  ist,  immer  noch 
einer  zahlreichen  Klasse  von  Lesern  recht  willkommen  und  nützlich  werden 
kann.  Dem  geehrten  Verf.  wünschen  wir  Ausdauer  seiner  Kraft  und  Lust, 
uns  in  der  Folge  noch  mit  anderen,  mehr  gefeilten  Werken  seiner  Feder, 
dergleichen   wir  von  ihm  wohl  kennen  und  aufrichtig  schätzen,   zu  erfreuen. 


Troxler,    Dr.,    Naturlehre    des    menschlichen    Erkennens,    oder 
Metaphysik.  —   Aarau,    1828. 

Gedruckt  in:  Hall.  Literatur-Zeitung   1829,  Nr.  10  — 12.     Kl.  Seh.  III,  S.  675. 

SW.  XII,  S.  600. 

Der  Verf.  dieses  Buches  ist  zu  bekannt,  seine  Schreibart  zu  geist- 
reich, und  er  besitzt  zuviel  Kenntnis  und  Belesenheit,  als  daß  wir  seine 
Arbeit  so  leicht  abfertigen  dürften,  wie  er  selbst  dasjenige  abzufertigen 
pflegt,  was  seinen  Ansichten  nicht  entspricht.  Da  wir  ihm  nun  nicht  zu- 
geben können,  Metaphysik  sei  Naturlehre  des  menschlichen  Erkennens, 
auch  den  Lesern  dieser  Blätter  nicht  versprechen  dürfen,  sie  würden  in 
dem  Buche  e?itweder  eine  Metaphysik,  oder  eine  Naturlehre  der  mensch- 
lichen Erkenntnis  finden:  so  sind  wir  genötigt,  uns  tiefer  einzulassen. 
Dies  geschieht  mit  dem  aufrichtigen  Bedauern,  daß  ein  Mann,  der  vor 
einem  Vierteljahrhundert  jung  war,  noch  jetzt  eine  Art  zu  philosophieren 
forttreibt,  welcher  das  Zeitalter  mehr  und  mehr  müde  wird.  Li  dieser 
Art  ist  längst  gewirkt  worden,  was  gewirkt  werden  konnte;  weitere  Er- 
folge sind  kaum  zu  erwarten.  Eher  möchte  Kants  Philosophie  sich  ver- 
jüngen, oder  ist  zu  erwarten,  daß  ältere  Formen  wiederkehren;  denn  das 
Zeitalter  sucht  Ordnung  und  Bestimmtheit,  der  Enthusiasmus  aber  ist  er- 
kaltet. Wer  jetzt  noch  in  alten  Ordnungen  das  Gute  verkennt,  was  sie 
hatten,  der  ist  im  Begriff,  zu  veralten.  Hiermit  soll  nun  zwar  nicht  gesagt 
sein,  daß  ein  Philosoph  Gewicht  legen  dürfe  auf  die  Frage:  was  dem  Zeit- 
alter beliebe  günstig  aufzunehmen?  Aber  jedes  Individuum  läuft  in  späteren 
Lebensjahren  Gefahr,  hinter  neueren  Fortschritten  zurückzubleiben.  Der 
Verf.  mag  immerhin  in  dieser  Rezension  Veranlassung  finden,  sich  zu 
fragen,  ob  ihm  etwa  so  etwas  begegnet  sei? 

Der  Tadler  der  alten  gute7t  Ordnung  läßt  sich  in  seinem  Vorworte 
also  vernehmen:  „Nach  der  alten  Einteilung  der  Philosophie,  welche 
eigentlich  nur  Teile  und  kein  Ganzes  hatte,  hätte  diese  Schrift  ins  Gebiet 
der  theoretischen  Philosophie  fallen  müssen,  welche  Logik  und  Metaphysik 
begriff.  Beide  wurden  wieder  voneinander  getrennt,  wobei  sich  das  sonder- 
bare (?)  Verhältnis  ergab,  daß  die  Logik,  als  die  allgemeine  Wissenschaft 
vom  reinen  und  angewandten  Denken,  eine  alle  Gegenstände  des  mensch- 
lichen Erkennens  in  sich  enthaltende  Wissenschaft,  die  Metaphysik,  als 
Lehre  von  Gott,  von  der  Seele,  von  der  Welt,  sich  gegenüber  hatte;  ab- 

6* 


8^  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

gesehen  von  der  als  Hauptteil  bereits  ausgeschlossenen  sogenannten  prak- 
tischen Philosophie,  welche  denn  doch  wohl  auch  wieder,  als  die  aufs 
Gewissen,  auf  die  Sittlichkeit,  und  auf  das  Handeln  gerichtete,  Gott, 
Seele  und  Welt  zum  Gegenstande  haben  mußte."  Wenn  nun  Einer  fort- 
führe, es  sonderbar  zu  finden,  daß  Geschichte,  Geographie,  Astronomie  usw., 
noch  neben  der  weltumfassenden  Metaphysik  ihre  eigene  Existenz  als  be- 
sondere Wissenschaften  behaupten :  so  würde  der  Verf.  selbst  ohne  Zweifel 
sogleich  einen  solchen  Tadler  mit  der  Erinnerung,  an  die  Arl  des  Forschens 
zurückweisen,  welche  in  den  genannten  Wissenschaften  notwendig  eine 
ganz  andere  sei,  als  in  der  Metaphysik.  Eben  dasselbe  haben  wir  ihm 
zu  sagen,  und  lediglich  die  Bemerkung  wegen  der  attgetvandtefi  Logik 
beizufügen,  daß  diese  allerdings  auch  in  unseren  Augen  nur  eine  proble- 
matische Existenz  haben  kann,  da  sie  sich  nicht  in  eine  Summe  von 
Methodcnlehren  der  andern  Wissenschaften  verwandeln,  noch  viel  weniger 
aber  deren  Stelle  vertreten  kann.  Übrigens  aber  fügt  sich  ein  Ganzes 
aus  Teilen  sehr  wohl  zusammen,  sobald  nur  die  einzelnen  Teile  nicht  so 
ungeschickt  gearbeitet  sind,  als  ob  jeder  seine  rechte  Grenze  überschreiten, 
und  wohl  gar  selbst  das  Ganze  vorstellen  wollte.  Das  ist  eben  der  Irrtum, 
welchen  der  Verf.  aus  der  Schule  seiner  Jugendjahre  mitgebracht  und 
festgehalten  hat,  daß  er  eine  Totalität  will,  wo  keine  ist.  Zwar  im  Geiste 
des  ausgebildeten  Denkers  durchdringt  sich  alles,  was  ihm  die  verschiedenen 
Wissenschaften  darbieten;  aber  die  Einheit  dieser  innigen  Durchdringung 
in  einem  Buche,  oder  auch  nur  in  einem  Kathedervortrage  darlegen  zu 
wollen,  heißt  nicht  wissen,  was  man  will.  Und  hier  ist  der  Anfangspunkt 
einer  Schwärmerei,  in  deren  Schöße  gar  mancher  Irrtum  verzärtelt  und 
verzogen  wird,  der  sich  späterhin  in  die  Welt  nicht  zu  finden  und  zu 
schicken  weiß.  Darüber  gehen  Fleiß  und  Pünktlichkeit,  die  allein  etwas 
ausrichten  können,  verloren,  und  ein  spielender  Witz-  tritt  an  deren  Stelle. 
Es  lassen  sich  Reden  vernehmen  wie  folgende:  „Es  ist  nun  weltbekannt, 
daß  die  Metaphysik  seit  jener  unglücklichen  Teilung,  bei  welcher  sie, 
wohl  kaum  mehr  ihrer  Sinne  mächtig  (!),  der  einen  ihrer  zwei  Töchter, 
der  Ontologie^  die  formlosen  Wesen,  und  der  andern,  der  Logik,  die  wesen- 
losen Formen  vermacht  hat,  keine  Schiffe  weder  für  Wasser  noch  für 
Luft  mehr  hat  ausrüsteti,  und  folglich  auch  keine  weiteren  Entdeckungs- 
reisen im  Weltraum  hat  vornehmen  können."  Da  der  Verf.  einmal  von 
Schiffen  redet,  so  wollen  wir  ihn  zuvörderst  erinnern,  daß  zur  x\usrüstung 
solcher  Schiffe,  die  zu  Entdeckungsreisen  bestimmt  sind,  vor  allen  Dingen 
auch  mathematische  Werkzeuge  gehören,  und  Steuermänner,  welche  Mathe- 
matik verstehen  und  zu  brauchen  wissen.  Was  aber  dachte  der  Verf., 
als  er  die  Ontologie  eine  Tochter  der  Metaphysik  nannte?  Jedermann 
weiß,  daß  Ontologie  eben  allgemeine  Metaphysik  selbst  ist.  Was  dachte 
er  ferner,  als  er  die  Logik  eine  Tochter  der  Metaphysik  nannte?  Eine 
sonderbare  Tochter,  die  früher  groß  wird,  wie  die  Mutter!  Eine  ungeratene 
Tochter,  die  sich  überall  der  Mutter  in  den  Weg  stellt;  denn  jeder  weiß, 
daß  tüchtige,  metaphysische  Köpfe  unwillkürlich  auf  solche  Begriffe  kommen, 
welche  dem  logischen  Denken  widerstreben!  Übrigens  war  die  Logik  bei 
den  i\lten  ohne  Zweifel  großenteils  ein  Erzeugnis  der  Rhetorik,  deren 
öffentlicher  Gebrauch  ihnen  noch  wichtiger  war  als  uns. 


Dr.  Troxler:  Naturlehre  des  menschlichen  Erkennens,  oder  Metaphysik.  ge 

Man    wird    nun    fragen,    was    der   Tadler    des  Alten   denn   eigentlich 
wolle?    Nichts  Geringes,  und  doch  in  unsern  hochfahrenden  Zeiten  etwas 
ganz  Gemeines.      Er    will    nicht   etwa   bloß  jene    alte  Metaphysik,    die   er 
tief  unter   sich   sieht,   sondern  Schelling   und  Hegel  verbessern.     Dazu 
wären    nun    zwei    vorläufige    Bedingungen    nötig:    erstlich    müßte    er    nicht 
mehr    in  Schellings  Schule    befangen    sein;    zweitens   müßte    er  uns  die 
nicht    eben    leichte   Frage    beantworten   können:    welches    der   eigentliche, 
historisch  bedeutende  Fortschritt  sei,   den  die  Philosophie  von  Schelling 
zu  Hegel   getan   habe?    Alsdann   erst  möchte  man  weiter  überlegen,   ob, 
und  wie  nun   fortzuschreiten,    —    oder  seitwärts   oder  rückwärts  zu  gehen 
sei?   —   Vor  aller  weiter  ins  Einzelne  gehenden  Angabe  und   Beurteilung 
wollen  wir  hier  eine  Probe  der  Art,  wie  der  Verf.  an  Hegel  seinen  Witz 
übt,    hersetzen.      „Die    sich    von    der    Philosophie    ablösende    Spekulation 
wirkt  ebenso   feindlich  und  schädlich  auf  sie  zurück,    als  jede  andere  von 
der  Außenwelt    oder   aus   dem  Altertume  herstammende  Dogmatik.     Dies 
zeigt    sich    zunächst   und    am   auffallendsten  bei   Hegel,    welcher   den   An- 
fang der  Philosophie  in  dem  reinen  Sein,   das  nichts  voraussetze,  gefunden 
zu    haben   wähnte.      Wie   einst   der   in  seiner  Kunst  große  Zeuxis,   hinter 
der,   einen  Korb  mit  Früchten  vorstellenden  Tafel  stehend,  die  schmeichel- 
hafte Freude    erlebt   haben   soll,  daß  Vögel,    durch  den  täuschenden  An- 
blick gelockt,  zum  Naschen  herbeiflogen,  so  geschah  es  auch,  daß  Hegel 
sein    als   reines  Sein  gemaltes  reines  Nichts  von  vielen  der  Zeitgenossen  als 
Anfang    der    Philosophie    geglaubt    und    verehrt    sehen    konnte.     Das   eitle 
Wesen    der  Spekulation    hat    steh  aber  noch   niemals  so  klar  offenbart,    wie  in 
der   Ironie,    ivelche    hier   die   Philosophie    mit   der    Sophistik  getrieben,    da    sie 
diese  ihr   reines  Sein  wieder  für  ein  reines  Nichts  zn  erklären  nötigte;  und 
das   Ende  der  Philosophie,   statt  des  Anfangs,  ihr  hinhaltend,  sie  verführte, 
das    abgerittene  Schulpferd  bei?n   Schweife  aufzuzäumen."      Rez.   ist  kein  An- 
hänger Hegels;    aber  dennoch   ehrt  er  Hegels  Scharfsinn;  und  findet  es 
wahrhaft  unleidlich,   daß  mit  bloßer  Witzelei  gegen  den   Denker  gestritten 
wird.      Darum    soll   hier   zuvörderst   die  Stelle  von  Hegel,   worauf  gezielt 
worden,  —  schroff  und  hart  wie  sie   ist,  aber  auch  im  nötigen  Zusammen- 
hange, —  hergesetzt    werden.     ,,Das  reine  Sein  ist  die  reine  Abstraktion; 
hiermit    das    absolut   Negative,    welches,    gleichfalls    unmittelbar   genommen, 
das  Nichts   ist.     Das   Nichts  ist  umgekehrt  dasselbe,  was  das  Sein  ist.     Die 
Wahrheit    des    Seins^    sowie    des  Nichts,    ist   daher    die  Einheit   beider;    diese 
Einheit   ist    das    Werden.     Jedermann  hat  eine    Vorstellung  vom    Werden,    und 
wird  ebenso  zugeben,   daß  sie  Eine  Vorstellung  ist;  ferner  daß,   wenn   man  sie 
analysiert,    die  Bestimmung   vom   Sein,   aber  auch   von   dem  schlechthin   andern 
desselben^    dem    Nichts,    darin    enthalten    ist;   ferner    daß    diese    beiden    Be- 
stimmungen   ungetrennt   in   dieser  Einen    Vorstellung  sind;    so   daß    Werden  so- 
mit Ei7iheit  des  Seins  und  Nichts  ist.    Ein  gleichfalls  nahe  liegendes  Beispiel 
(von    der  Einheit   des  Seins    und    des   Nichts)   ist  der  Anfang;    die  Sache 
ist    noch    nicht    in    ihrem    Anfange,    aber    er    ist    nicht    bloß    ihr   Nichts, 
sondern    es   ist   auch   schon    ihr  Sein    darin.'-'-     Nichts    kann    deutlicher  sein 
als  diese  Aussage.     Hegel  setzt  eigentlich  das  Werden,   welches  ein   Ge- 
gebenes  ist,    sowohl  durch  innere  als  durch  äußere  Erfahrung;    daher  nie- 
mand   es  verschmähen    darf,    vielmehr   jeder   es   muß  wenigstens  vorläufig 


86  J-  F-  Herbarts  Rezensionen, 


gelten  lassen,  wenn  er  es  auch  weiterhin  etwa  als  einen  bloßen  Stoff  für 
höhere  Betrachtungen  behandelt  und  verarbeitet.  Anstatt  aber  das  Werden 
geradezu  auftreten  zu  lassen,  findet  Hegel  für  gut,  zwei  abstrakte  Be- 
griffe, vom  Sein  und  vom  Nichts,  voranzuschicken,  und  die  Vereinigung 
beider  zu  fordern;  natürlich  in  der  Voraussetzung,  wer  ihm  die  Forderung 
abschlage,  müsse  erst  das  Werden  leugnen;  und  daJwi,  meint  er,  iverde 
es  so  leicht  nicht  kommen.  Vielleicht  meint  er  das  mit  Unrecht;  aber 
meint  etwa  Hr.  Dr.  Troxler  es  anders?  Wir  haben  in  seinem  Buche 
keine  Spur  gefunden,  daß  er  mit  dem  Werden  besser  umzugehen  ver- 
stände. Fürs  erste  nun,  und  bis  wir  etwa  eines  Besseren  belehrt  werden, 
wollen  wir  einmal  die  Frage,  ivas  die  Philosophie  durch  Hegel  ge- 
womien  habe,  dahin  beantworten:  Hegel  spricht  die  Probleme  der  Meta- 
physik härter,  und  darum  deutlicher  aus,  als  seine  Vorgänger ;  hiermit  sind 
sie  Z7var  nicht  gelöst,  aber  der  Auflösung  näher  gerückt.  Was  wir  vom 
Werden  gesagt  haben,  gilt  auch  von  andern  Problemen;  Hegel  führt 
mit  Recht  das  Werden  nur  als  Beispiel  an;  die  ähnliche  Schwierigkeit 
wie  dort,  findet  sich  im  Ich,  in  der  Substanz,  in  der  Materie  und  ander- 
wärts. Wer  in  Dingen  dieser  Art  nicht  vollkommen  orientiert  ist,  dem 
darf  man  sagen,  er  kenne  die  Metaphysik  nicht;  selbst  wenn  er  ein  Buch 
unter  diesem  Titel  geschrieben  hätte. 

Seines  unvergeßlichen  Lehrers  Schelling  erwähnt  zwar  der  Verf. 
als  dessen,  durch  den  ihm  zuerst  der  hohe  Geist  echter  Philosophie  er- 
schienen sei.  Das  hindert  ihn  aber  nicht,  zu  sagen:  auch  Schelling  habe 
über  de7i  Gegensatz  V07i  subjektiver  und  objektiver  Welt  nicht  hinajiskonimeji 
können.  Er  habe  eine  JNIenge  von  Verheißungen,  die  sein  totes  Absolutes 
niemals  hätte  halten  können,  aus  seinem  reichen,  lebendigen  Innern  erfüllt; 
aber  statt  des  versprochenen  Einheitssystems  nur  eine  Geistesphilosophie 
und  eine  Naturphilosophie  zu  geben  vermocht;  bei  einem  bloßen  Parallelis- 
mus von  Geist  und  Natur  sei  es  geblieben.  Und  was  wollte  denn  Hr.  Tr. 
mehr?  Doch  wohl  nicht  dies,  daß  Schelling  durch  seine  Katheder- 
vorträge die  Welt  vom  Gemeinen  und  vom  Bösen  befreien,  oder  daß  er 
der  allmählichen,  wirklichen  Entwicklung  des  jMenschengeschlechts  durch 
bloße  Worte  vorgreifen  sollte?  Hätte  Schelling  Geist  und  Natur  beide, 
wie  sie  gegeben  sind,  begreiflich  machen,  hätte  er  das  Gesetz  und  die 
Schranken  ihrer  Entwicklung  bestimmen  können,  so  wäre  sogar  der 
Parallelismus  eine  vielleicht  willkommene,  aber  unnötige  Zugabe  gewesen. 
Ist  aber  der  Parallelismus  nur  Schein  gewesen,  der  durch  künstliche  Deute- 
leien ohne  Genauigkeit  erregt  wurde;  ist  die  ganze  Bemühung  um  ihn 
durch  Leibniz,  der  das  Kausalverhältnis  zwischen  Leib  und  Seele  nicht 
zu  erklären  wußte,  veranlaßt,  und  durch  den  mehr  kecken  als  scharf- 
sinnigen Spinoza,  der  sein  törichtes  quatenus  gleich  gemächlich  an  beiden 
Attributen  der  Gottheit  anbringen  zu  können  vermeinte,  beinahe  zur  fixen 
Idee  geworden:  so  hätte  Hr.  Tr.  nicht  klagen  sollen,  beim  Parallelismus 
sei  es  gebliebeti,  sondern  vielmehr  darüber,  daß  es  dahifi  kam^  sich  zu  be- 
schweren Ursache  finden  können.  Eben  deswegen,  weil  man  im  Paralleli- 
sieren  sich  gefiel,  stockten  die  Untersuchungen  über  den  wahren  Zu- 
sammenhang der  Dinge.  Eben  darum,  weil  man  mit  Bildern,  mit  so- 
genannten Bedeutungen  tändelte,   kam  man  nicht  zur  Sache,   und   erkannte 


Dr.  Troxler:  Naturlehre  des  menschlichen  Erkennens,  oder  Metaphysik.  87 

weder  die  Natur  im  Geiste,  noch  das  Analogen  des  Geistigen  in  der 
Materie.  Allerdings  gibt  es  Untersuchungen,  welche  zeigen,  wie  das 
Äußere  mit  dem  Innern  zusammenstimmt,  aber  nicht,  weil  eins  das  andere 
abbildet^  sondern  weil  eins  vom  andern  abhängt.  Diese  Untersuchungen 
sind  aber  nicht  bei  Leibniz  und  Spinoza,  nicht  bei  Schelling  und 
Troxler  zu  suchen ;  sie  liegen  nicht  hinter  uns ,  sondern  sie  eröffnen 
sich  vor  uns  zu  einer  unabsehlichen  Weite.  Sie  leiden  kein  deutelndes 
Parallelisieren,  sondern  sie  fordern  Rechnungen,  und  solche  metaphysische 
Arbeiten,  welche  Schritt  für  Schritt  mit  ähnlicher  Pünktlichkeit  vollführt 
sein  wollen,  als  ob  es  Rechnungen  wären.  Davon  hat  Hr.  Tr.  keine 
Ahnung.  Nach  ihm  hätte  Schelling  in  der  falschen  Richtung,  die  er 
von  seinen  Vorgängern  angenommen  hatte,  noch  einen  Schritt  weiter 
gehen  sollen.  Über  die  Triade,  bestehend  aus  Geist,  Seele  und  Leib, 
hätte  er  sich  erheben  sollen  zu  einer  ,, heiligen  Tetrakfys",  der  höchsten 
Naturentwicklung  im  Gegensatze  und  in  der  Wechselwirkung  von  Geist 
und  Körper,  als  Urverhältnis,  und  von  Seele  und  Leib,  als  ihrer  Be- 
ziehung. Diese  Ansicht  ist  „der  alleingültige  und  ganz  vollendete  Schematis- 
mus"; wobei  wir  zunächst  zu  erinnern  haben,  daß  Schemata  nach  der 
Vierzahl  geordnet,  uns  längst  in  Menge  zu  Gesichte  gekommen  sind;  aber 
noch  keins,  das  mit  Untersuchungen  auch  nur  die  entfernteste  Ähnlichkeit 
gehabt  hätte. 

Ehe  wir  nun  von  dieser  heiligen  Tetraktys  das  Weitere  berichten, 
muß  eine  Übersicht  gegeben  werden,  welche  bei  der  fast  gänzlichen  Plan- 
losigkeit des  mehr  deklamierenden  als  lehrenden,  und  in  den  verschiedenen 
philosophischen  Lehrgebäuden  zwar  vielfach  herumspukenden,  aber  nirgends 
einheimischen  Buches,  recht  füglich  durch  bloßes  Abschreiben  der  Inhalts- 
anzeige geschehen  kann.  Sie  lautet  wie  folgt:  i.  Vorworte  über  die 
Wissenschaft.  2.  Phantasien  des  Metaphysikers.  3.  Philosophie,  wahre 
und  falsche.  4.  Orientierung  nach  dem  Urbewußtsein.  5.  Seelenlehre 
mit  zwei  Psychen.  6.  Eitelkeit  der  Spekulation.  7.  Sinnlichkeit,  oder 
Sein  im  Schein.  8.  Reflexion,  oder  des  Geistes  Rückkehr.  9.  Raum 
und  Ewigkeit,  Ort  und  Zeit.  10.  Metaphysik  von  Schlaf  und  Wachen. 
II.  Des  Erkennens  Urordnung  und  Grundgesetze.  12.  Religion,  oder  der 
Mensch  in  Gott.  13.  Mysterium,  oder  Gott  im  Menschen.  —  Unter 
diesen  Rubriken  wird  dem  Leser,  dem  eine  Naturlehre  des  Erkennens 
versprochen  war,  zuerst  und  vorzugsweise  die  Seelenlehre  mit  zivei  Psychen 
aufgefallen  sein.  Nur  zwei  ?  Wir  würden  lieber  zwanzig  vorschlagen. 
Denn  an  jenen  beiden,  die  schon  aus  Xenophons  Cyropädie  bekannt 
sind  (der  Verf  .  erinnert  an  die  Rede  des  Araspes,  welchen  die  Liebe 
eine  neue  Philosophie  gelehrt  hatte,  und  welcher  nun  bekennt:  besäße 
ich  nur  eine  Seele,  so  könnte  diese  nicht  zugleich  das  Gute  und  auch 
das  Böse  lieben,  nicht  in  demselben  Augenblicke  etwas  tun  und  nicht 
tun  wollen),  an  diesen  zwei  Seelen  ist's  noch  lange  nicht  genug.  Viel- 
mehr, in  jeder  Masse  von  Vorstellungen,  welche  durch  längeres  Verweilen 
im  Bewußtsein,  oder  durch  häufige  Rückkehr  in  dasselbe,  Zeit  gewinnt, 
um  psychische  Prozesse  in  sich  zu  einiger  Ausbildung  gelangen  zu  lassen, 
erzeugt  sich  beinahe  das  ganze  System  von  sogenannten  Seelenvermögen, 
woran  die  empirische  Psychologie  zu  kleben  pflegt.    Kommen  nun  mehrere 


gg  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


dergleichen  Massen  zusammen,  so  gibt  es  Gegenwirkungen  unter  ihnen, 
die  oftmals  stürmisch  werden;  und  wovon  die  inneren  moralischen  Kämpfe 
des  Menschen  nur  die  bekannteren  Beispiele  sind.  Wer  aber  soweit 
kommt,  sich  diesen  Stürmen  zu  widersetzen,  der  sucht  in  sich  zur  Einheit 
zu  gelangen;  diese  Einheit  sucht  er  stets,  aber  stets  auch  fehlt  etwas 
daran;  sie  erscheint  nun  als  unerreichbares  Ideal.  Vieles  aber  wissen 
diejenigen  von  sich  zu  erzählen,  die  solchergestalt  wider  die  Innern  Stürme 
gekämpft  haben;  besonders  weil  sie  dabei  sich  selber  suchten  und  nicht 
fanden.  Als  ein  Beispiel  von  solchen  Erzählungen  kann  diejenige  dienen, 
womit  unser  Verf.  seinen  Vortrag  über  die  zwei  Psychen  beginnt.  „Lange 
bin  ich  dem  Verstände  und  der  Vernunft  nachgegangen  und  nachgehangen, 
denn  ich  glaubte,  sie  zusammen  zeugten  die  Weisheit;  und  habe  die 
Weisheit  auch  gesucht  am  hellen  Tage  und  in  dunkler  Nacht;  in  der 
Welt,  im  Leben,  in  heiligen  wie  in  unheiligen  Büchern,  bei  den  Tieren 
und  Pflanzen,  wie  unter  den  Menschen;  ich  habe  nach  ihr  gefragt  bei 
den  Sternen  und  bei  den  Steinen,  die  Natur,  und  mich  selbst,  Himmel 
und  Erde;  und  habe  wohl  Verstand  gefunden  in  allem,  aber  keine  Weis- 
heit, die  vor  Gott  und  der  Welt  bestände,  und  mich  lehren  könnte, 
woher  ich  gekommen,  was  ich  jetzt  hier  sei  und  solle,  und  was  zu  werden 
ich  bestimmt?  —  Denn  dies  war  es,  was  mir  immer  am  tiefsten  im 
Sinn,  und  überall  zunächst  am  Herzen  lag.  Und  wenn  ich  so  sann  und 
forschend  mich  vertiefte,  fühlte  ich  innig  und  heiß  in  mir  jene  Angstqual 
der  Seele  sieden,  und  jenes  Angstrad  der  Natur  rollen  und  rasseln,  wie 
Böhme  und  andre,  bald  wie  Schreck  in  dem  Zweifel,  bald  wie  Blitz  in  dem 
Meinen,  bald  wie  Glast  in  dem  Glauben;  aber  es  lief  in  dem  Rade  alles 
um-  und  durcheinander,  und  die  Angst  gebar  die  unaussprechlichste  Bangig- 
keit in  mir,  mit  geistigen  Fieberschauern,  bis  zur  furchtbarsten  Gemütsnot. 
Ich  ward  lebendig  inne,  daß  jedes  menschliche  Herz  und  aller  mensch- 
liche Geist  da  hindurch  muß,  wenn  sie  ins  lichtere  Dasein  und  zu  ihrem 
besseren  Selbst  gelangen  sollen.  Um  aber  aus  seiner  dunklern  Natur 
und  ihrem  niedern  Zustande  herauszukommen,  darf  der  Mensch  ebenso- 
wenig in  vermessenem  Stolz  und  Übermut  eine  fremde,  unmenschliche 
Kraft  in  sich  aufrufen,  als  er  nach  der  gewöhnlichen  Armensündertheorie, 
Erlösung,  Licht  und  Heil  nur  in  äußern  menschlichen  Satzungen  und 
Werken  suchen  soll.  Ich  ward  inne,  daß  das,  was  man  Wiedergeburt 
und  Auferstehung,  oder  Umwandlung  des  INIenschen,  Einkehr  in  sich,  das 
Zusichkommen,  die  Erweckung,  oder  den  Durchbruch  genannt  hat,  das 
ganze  menschliche  Wesen  durchlaufe,  und  im  Grunde  nichts  anderes  sei, 
als  des  Lebens  eigner  höchster  Lichtblick;  sowie  die  Angstqual,  und  all' 
das  innere  Kreuz  und  Leiden  eben  nur  den  Zwist  und  Streit,  den  Seelen- 
kampf der  Natur  darstelle  vor  der  Erleuchtung,  Gnadenwahl,  Heiligung 
und  Erlösung  aus  dem  Zustande  der  Verdunkelung  und  Versenkung,  der 
als  Sündenfall,  Verlust  der  Unschuld,  Erbsünde  des  Geschlechts,  den  Aus- 
gang der  Natur  aus  Gott,  und  den  Übergang  von  dieser  zur  Sinnlichkeit 
und  zur  Welt  bezeichnet.  Ich  ward  inne,  daß  der  Mensch  wohl  durch 
Lehre  und  Hilfe,  durch  Beispiel  und  Vorbild,  durch  Führung  in  sich  und 
zu  sich  selbst  gebracht  werden  könne,  aber  nicht,  ohne  daß  er  zuvörderst 
seinen  psychischen  Arzt,  seinen  Seelenarzt,  Erlöser,  Erzieher  und  Vollender 


Dr.  Troxler:  Naturlehre  des  menschlichen  Erkennens,  oder  Metaphysik.  8q 

in  sich  selbst  auffinde  und  befolge,  so  wie  niemand  den  physisch  Er- 
krankten oder  Erschöpften  heilen,  stärken  und  aufrichten  kann,  anders, 
als  durch  Anregung,  Betätigung  und  Leitung  der  göttlichen  Heilkraft  seiner 
eignen  Natur." 

Aus  vielfacher  Unruhe  sich  emporgearbeitet,  manches  innere  Schicksal 
durchlebt  und  in  sich  beobachtet  zu  haben,  dies  ist  unstreitig  eine  der 
ersten  Bedingungen,  ohne  welche  keiner  ein  Psychologe  werden  kann. 
Wir  wollen  es  der  angeführten  Stelle  glauben,  daß  der  Verf.  vieles  von 
dem  innern  Vorrate  in  sich  finde,  welcher  zum  Behuf  der  Seelenlehre 
bereit  liegen  muß.  Hat  er  denn  auch  die  Selbstbeherrschung,  die  Kunst, 
die  spekulativen  Übungen  und  Hilfsmittel,  um  den  Stoff  zu  formen?  Wo 
bleiben,  um  nur  beim  Nächsten  stehen  zu  bleiben,  die  angekündigten 
zwei  Psychen?  Sollen  wir  erraten,  was  er  damit  meint,  indem  er  stets 
bilderreich,  von  überirdischer  und  unterirdischer  Geburt  des  Geistes,  von 
wunderbaren  geistigen  Meteoren  an  den  beiden  Grenzen,  wo  die  Mitter- 
nacht dem  Morgen  zudämmert,  und  wo  der  Abend  sich  dem  neuen  Tage 
zuwendet  usw.,  zu  reden  nicht  müde  wird?  Was  soll  hier  das  Zeitalter 
mit  seiner  Unruhe  mitten  im  Frieden?  Was  soll  der  Hafen  bei  Navarin? 
Wozu  dient  an  dieser  Stelle  die  von  Messmer  ausgegangene  Wieder- 
auffindung ,,der  uralte??  Vorwelt  i??  der  menschlichen  Natur?"  Wozu  hier 
die  Erwähnung  der  Mystiker,  welche  das  Verhältnis  der  menschlichen 
Natur  von  sich  auf  Gott  übertragen?  Wozu  der  Vorwurf  gegen  die  Theo- 
sophie, sie  habe  versäumt,  sich  anthroposophisch  zu  begründen?  Selbst 
von  den  bekannten  drei  Hypothesen  über  das  Band  zwischen  Leib  und 
Seele  verlangen  wir  hier  nichts  zu  hören.  Auch  die  Namen  Schelling, 
Leibniz,  Xenophon,  Ovid,  Rousseau,  Salaville,  Pascal,  Reimarus, 
Platner,  Tetens,  Basedow.  Hume,  Kant,  Descartes,  welche  hier  an 
unsern  Ohren  vorüberrauschen,  können  uns  für  dasmal  nur  in  dem  Ver- 
dachte bestärken,  der  Verf.  zögere  bloß  darum,  sein  Geheimnis  von  der 
Seelenlehre  mit  zwei  Psychen  zu  verraten,  weil  er  nichts  Deutliches  davon 
zu  sagen  weiß,  und  überall  kein  Geheimnis  besitzt.  Jedoch  wollen  wir 
dem  Leser  folgende  Stelle,  die  noch  am  ersten  einer  bestimmten  Aussage 
ähnlich  lautet,  nicht  vorenthalten.  „Die  eine  dieser  Psychen  ist  die  Seele 
vor  und  gleichsam  unter  der  körperlichen  Natur,  die  dieser  Natur  zu 
Gnmde  liegende  und  sie  hervorbringende ;  die  andere  aber  ist  die  Seele  nach 
und  über  dieser  körperlichen  Natur,  sie  wieder  aziflösend  ?md  in  Geist  zu- 
rückbildend. Nur  sofer??  sie  außer  dem  Körper  sind,  sind  sie  Seele;  so 
wie  die  Seele  aber  in  ihrer  Durchdringung  sich  als  des  Körpers  selb- 
ständige Einheit  gesetzt  hat,  ist  sie  Lebenskraft.  Das  Prinzip  der  körper- 
lichen Natur,  das  durch  seine  Periodizität  und  sein  Organisieren  seine 
geistige  Abkunft  kund  gibt,  läuft  auch  wieder  als  Produkt  in  die  geistige 
Natur  zurück,  so  wie  es  als  Prinzip  von  ihr  ausgegangen;  ist  also  nicht 
aus  der  irdischen  Welt,  die  ja  vielmehr  seine  Schöpfung,  und  nicht  aus 
ihren  Kräften  und  Elementen  hervorgegangen."  —  In  dieser  Stelle  er- 
kennen wir  nun  sehr  deutlich  das  alte  q?iatenus  des  Spinoza,  und  die 
Einbildungen  und  Rückbildungen  Schellings.  Man  könnte  daher  wohl 
dem  Hrn.  Tr.  den  Rat  geben,  sich  ja  recht  dicht  an  seinen  Meister 
Schelling    anzuschließen,    und    an    kein  Überbieten   desselben   weiter   zu 


QO  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

denken.  Er  mag  sehr  zufrieden  sein,  durch  jenen  gehalten  zu  werden; 
fällt  einmal  Schelling,  so  ist  Troxler  ganz  dahin,  falls  er  nämlich  in 
seinen  zivei  Psychen  fortzuleben  hoflft. 

Kaum    geboren,    sind    diese  jungen  Psychen   auch   schon    anmaßend 
genug,  ziüei  Psvchologien  für  sich   zu  fordern,    eine,    welche  sich  mehr  der 
Pneumatologie,  und  eine  zweite,  die  sich  mehr  der  Somatologie  annähert. 
Unser   kritisches  Gewissen   aber   zwingt    uns,   dieser  Anmaßung,   als   einer 
durchaus    grundlosen   und   falschen,    geradehin   zu   widersprechen.      Nicht 
ganz    zum  Scherz    haben    wir    vorhin    zwanzig   Psychen   an    die  Stelle    von 
zweien  gesetzt;  jetzt  behaupten  wir  im  vollen  Ernste,  daß  nicht  bloß  diese 
alle    sich    vollkommen    mit    einer    einzigen    Psychologie    behelfen,    welche 
ihnen  allen  genügt  und  sie  alle  umfaßt,  sondern  daß  auch  diese  Eine  die 
hinreichende   Fähigkeit    besitzt,    der  Somatologie   (welcher   mit    einem    un- 
bestimmten Mehr   der  Annäherung   schlecht    gedient  sein   würde)    sich   mit 
wissenschaftlicher    Genauigkeit    anzuschließen;    geradeso    genau,    als    nötig 
ist,    um    das  Verhältnis    zwischen  Seele    und  Lebenskraft   gehörig    zu   be- 
stimmen.    Nur    muß    freilich    zu    diesem   Vereine    die   Somatologie    selbst 
das  Ihrige   beitragen.     Das   heißt,   man   muß   erst   durch   wissenschaftliche 
Untersuchung    nachgewiesen    haben,    was  Materie   überhaupt   ist,    und    wie 
sie    in    den    Raum    kommt,    ehe    man    mit    irgend    einigem    Erfolge    das 
Band  und  das  Verhältnis  zwischen  dem  Räumlichen  und  dem  Innern  der 
Dinge    in  Betracht   ziehen   kann.      Deklamationen    gegen  die  Eitelkeit  der 
Spekulation,  wie  man  sie  in  dem  nun  folgenden  sechsten  Abschnitte  beim 
Verf.    findet,    würden    dazu    die    schlechteste    Vorbereitung   sein.      Freilich 
von    einer  Philosophie,    die    sich   über  alles   Gegebene  erhebt,    wie  der  Verf. 
im  Vordersatze  seiner  ersten  Periode  rühmend  vermeldet,  gilt  sehr  richtig 
der  Nachsatz  eben   dieser  Periode:   dieses  Leben  der  Philosophie  habe  seine 
Todesart,    die    aus   seiner   eieenen    Un^ebunde?iheit    tmd    Überbildung    zunächst 
hervorgehe.     Denn   daß  die  praktische  Philosophie  sich  zu  Idealen  erhebt, 
ja  von  Ideen  ausgeht,  ist  ein  Vorrecht,  welches  jene  Wissenschaft,  welche 
Erfahrungsbegriffe   zu  läutern   hat,   sich   nicht  aneignen  darf.     Aber  wenn 
man  mit  dem  Verf.  im  Anfange  die  Teilung  der  Philosophie  in  theoretische 
und  praktische  verschmäht,  dann  hinkt  die  Reue  nach;    und  doch  ist  sie 
noch   schnell   genug,    um    die  Lehre    von  zwei  Psychen  zu  ereilen,    gleich 
nachdem    dieselbe    soeben    ausgesprochen    war.      Allein    der    Verf.    merkt 
nicht,    er  habe  sich  selbst  den  Stab  gebrochen.     Vielmehr,  jetzt  eben  er- 
hebt   sich    sein  Stolz.      Hier   ist    die  vorhin  schon  angeführte  Stelle  wider 
Hegel;    hier    donnert    er   wider   eine    ;,trostlose   und   törichte    Schar   von 
Menschen,    die    sich    teilt   in   solche,    welche   ihre  Selbstheit   dem   ganzen 
großen  Äußern  hingebend  sich  selbst  aufheben,  und  solche,  die  ihr  eignes 
dünnes  Ich  zum  Quellpunkt  aller  Welt  machen".    Und  witzelnd  von  einer 
K?iäuel  -  Seele    beim    System -Winden,    fährt    er    fort:    „es   würde    uns    nun, 
wenn    es   hierher   gehörte,   nicht   schwer   sein,  zu  zeigen,  wie  Spinoza  auf 
seine  Substanzseele  besonders  links,  Leibniz  auf  seine  Monadenseele  vor- 
züglich   rechts,    wie  Kant   in    der  Kritik   durcheinander,    Fichte  auf  sein 
Ich  wieder  rechts,  Hegel  auf  sein  Sein  wieder  links,  Schelling  in  seiner 
Naturphilosophie    und    seiner   Geistesphilosophie    nebeneinander,    und    am 
meisten    noch   links   und   rechts    zugleich  gewunden,   JxVCOBi  endlich,    der 


Dr.  Troxler:  Naturlehre  des  mensclilichen  Erkennens,  oder  Metaphysik.  gi 


immer    nur    nach    dem    Seelenheil    großartig   jammerte,    aus    Verdruß    den 
lange  hin-   und  hergedrehten  argen  Knäuel  der  Philosophie  auf  den  Boden 
geworfen."      Daß    es  Spaßmacher   gibt,    die    in    solchem  Tone   von  großen 
Denkern  reden,  war  uns  freilich  bekannt.      Hrn.   Dr.  Troxler  aber,   den 
wirklich   ein   redlicher  Ernst,    ein  edles  Interesse  für  die  Wissenschaft  be- 
seelt,   wird    nun    jedermann    fragen,    ob    er    denn    etwa  mit  seiner   Gernüts- 
philosophie    (denn    darauf    läuft    seine    Rede    hinaus)    etwas    Besseres    tue, 
als    den    Knäuel,    den    ihm    jene  Männer    in    die   Hand  gaben,    ein   wenig 
in   seinen   Händen    hin-    und   herdrehen?    Vom  Anders -Winden  kann  bei 
ihm  nicht  einmal  die  Rede  sein.    Seine  ,, innige  Versetzung  in  eine  lebendige 
Mitte    der    unmittelbaren    Erkenntnisquelle"    ist    nichts    als    Übermut.      An 
tmmittelbareni    Wissen    kann    niemand    hoffen     reicher    zu    sein,     als    jene 
großen  Männer  es  waren;  es  ist  törichter  Stolz,  wenn  einer  sich  einbildet, 
er    stehe    ursprünglich    höher   als   jene.      Nur    mittelbar,    nur    durch  weiter 
fortgeführte,    mit   größeren  Hilfsmitteln,    und    mit   eisernem  Fleiße  durch- 
gesetzte Arbeit   kann    man    heutigestages    hoffen,    Früchte    zu    ernten,    die 
früher    noch    nicht    reif   waren.      Wenn    aber   wirklich    dem    Hrn.  Tr.    die 
Geschichte   der  Wissenschaft   in   so   verworrenen  Zügen  erscheint,    daß  er 
von  Leibniz  und  Spinoza  bis  auf  Schelling  und  Hegel  nichts  Besseres 
erblickt   als   ein   leidiges   und   vergebliches  Wechseln   zwischen  rechts  und 
links:    so   liegt   die  Schuld    an  seiner  mangelhaften  Kenntnis  der  Wissen- 
schaft,  deren   Namen    er   für   sein  Buch   mißbraucht.     Wir   haben    ander- 
wärts durch  vier  Namen:   Methodologie^    Ontologie,   Synechologie  und  Eidolo- 
logie^  die  vier  integrierenden,  voneinander  nicht  loszureißenden,  aber  nach 
Form    und   Art   der  Forschung   sehr    verschiedenen   Teile    der  allgemeinen 
Metaphysik   bezeichnet.     Jeder  von  diesen  Teilen  zeigt  in  der  Geschichte 
der    letzteren    eine    eigene  Bewegung;    und  es  läßt  sich  kaum   ein  Denker 
nachweisen,   der  nicht  einseitig  von   der  einen  oder  von  der  andern  dieser 
Bewegungen  mehr  ergriffen  worden  wäre.     Das  ist  der  Hauptgrund,  wes- 
halb die  Geschichte  der  Metaphysik  hin  und  her  zu  wanken  scheint,  und 
weshalb    es    dem   oberflächlichen   Beobachter  leicht  bedünken  kann,    es   sei 
in  ihr  kein  gerades  Fortschreiten  zu  bemerken.    Sie  ist  aber  wirklich  vor- 
wärts gegangen;   und  ihr  Gang  wird  gar  sehr  beschleunigt  werden,  sobald 
man  nur  erst  die  angeführte  Ursache  ihres  Wankens,  und  die  Notwendig- 
keit einer  Gesamtbeivegung  aller  jener  vier  Teile  gehörig  begreifen  wird.     Für 
jetzt   aber   sollte  jeder  Schriftsteller   wenigstens   soviel  begreifen,    daß  eine 
maßlose    ungebändigte  Polemik,    wodurch  das  Tun  der  Vorgänger  als  ein 
vergebliches    Hin-    und    Herfahren    dargestellt   wird,    das    Publikum    tötet, 
welches  für  die  schwerste  der  Wissenschaften  ohnehin  klein  und   schwach 
genug   ist.      Man    kann    sehr    ernstlich    streiten;   ja    dies  ist  unvermeidlich, 
um    den   Irrtum    fortzuschaffen;    aber   wer    sich    die  Miene    gibt,    jetzt    erst 
die  Erkenntnisquellen    für   eine  Wissenschaft   eröffnen    zu    wollen,   die   ein 
paar  Jahrtausende  alt  ist,  der  überlegt  weder  den  Sinn  noch  das  Wirken 
seiner  Rede. 

Es  wäre  uns  nun  sehr  willkommen,  wenn  wir  in  dem  vorliegenden 
Buche  Proben  fänden,  von  dem,  was  man  Spekulation  nennt,  nämlich 
von  dem  fortschreitenden  Denken,  welches  einen  Gedanken  nach  und  aus 
dem   andern    erzeugt.     Allein   die  Meinung   von   der  Eitelkeit  der  Speku- 


Q2  J»  F-  Herbarts  Rezensionen. 


lation  scheint  wirklich  ihren  Grund  in  der  Natur  des  Verfs.  zu  haben. 
Gar  mancherlei  hat  er  gelesen;  nichts  von  dem  allen  bringt  ihn  von  der 
Stelle;  die  einzige  Bewegung,  die  er  empfängt,  ist  rotatorisch;  er  dreht 
sich  um  seine  Achse.  Sein  Einfall  von  den  zwei  Psychen  ist  immer  noch 
das  Beste;  alles  Übrige  kehrt  zurück  in  die  Aristotelische  Tugend  der 
Mitte  zwischen  den  Extremen.  Wie  jener  Maler  den  andern  zu  über- 
treffen suchte,  indem  er  in  einen  schon  sehr  feinen  Pinselstrich  einen  noch 
feinern  hineinbrachte,  so  scheint  Hr.  Tr.  in  dem  Zentrum  Schellings 
einen  Zirkel  gesehen  zu  haben,  der  ein  spitzigeres  Werkzeug  erfordere, 
um  noch  schärfer  den  eigentlichen  Zentralpunkt  anzudeuten.  Die  natür- 
liche Folge  hiervon  ist  Eintönigkeit,  die  sich  immer  gleich  bleibt,  von 
welchem  Gegenstande  auch  die  Rede  sein  möge.  Ohne  lange  zu  wählen, 
setzen  wir  aus  den  folgenden  Abschnitten  noch  einiges  her.  Zuerst  aus 
dem  siebenten,  überschrieben:  Sinnlichkeit,  oder  Sein  im  Schein.  „Sinn- 
lichkeit ist  uns  die  der  Welt  zugekehrte  Einheit  von  Geist  und  Körper, 
von  Seel'  und  Leib  des  Menschen;  aber  eben  deswegen  nicht  das  Äußerste 
und  Unterste,  wofür  sie  bisher  galt,  das  dem  Obersten  und  Innersten  im 
Menschen,  wofür  die  Vernunft  angesehen  ward,  entgegensieht,  sondern 
die  Mitte^  —  doch  nur  die  auswendige  und  oberflächliche  Mitte  der 
menschlichen  Natur."  (Also  von  einer  Kugel  nicht  das  innere  Zentrum, 
sondern  ein  Punkt  auf  der  krummen  Oberfläche.  Aber  welcher  Punkt 
ist  denn  da  mitten?)  „Alles  Sein  und  Tun  der  Sinnlichkeit  ist  nach 
dieser  Ansicht  bedingt  durch  ein  iint ersinnliches  und  übei sinnliches  Prinzip, 
welche  in  der  Sinnlichkeit  sich  begegnen  und  durchdringen.  Die  über- 
sinnliche Erkenntnis  ist  allgemein  anerkannt;  die  untersinnliche,  welche 
aller  sinnlichen  Erkenntnis  vorgeht,  und  weit  entfernt,  in  ihr  anzuheben, 
vielmehr  in  der  entwickelten  Sinnlichkeit  untergeht,  ward  allgemein  ver- 
kannt. Die  auffallendsten  Erscheinungen  wurden  mißdeutet.  Inzwischen 
war  der  SomnavibuUsmtis  aufgetreten  und  hatte  zu  magnetisieren  an- 
gefangen, daß  die  Menschen  hellsehender  wurden  im  Dunkeln.  —  Je 
weniger  Sinnesentwicklung,  desto  mehr  Urbewußtsein;  je  mehr  Sinnlich- 
keit, desto  weniger  Urkenntnis.  Alle  Menschenkinder  kommen  somnambul 
zur  Welt,  und  sind  bei  noch  verschlossenen  Sinnen  hellsehend  in  sich, 
und  kennen  alles  zum  voraus,  was  sie  zu  sein  und  zu  tun  haben.  Der 
Mensch  hat  diese  untersinnliche  Intelligenz,  so  gewiß  als  im  Tiere  auch 
die  übersinnliche  der  Anlage  nach  vorhanden  ist."  (Wir  räumen  gern 
ein,  daß  der  Verf.  eins  oerade  so  gewiß  wisse  wie  das  andere.)  „Dunkle 
Gefühle,  blinde  Antriebe,  Vorahnungen,  Einsichten  vor  der  Besinnung, 
weissagende  Träume,  die  von  uns  unabhängige  Verkettung  der  Vor- 
stellungen" (wüßte  nur  der  Verf.  den  Sinn  dieses  Uns!).^  „still  auf- 
keimende Neigungen,  plötzliche  Affekte,  Dur-  und  Molltöne  des  Humors, 
die  ersten  Spuren  des  Temperaments,  die  tiefsten  Anlagen  des  Talents, 
die  Urzüge  des  Charakters,  die  ganze  geheimnisvolle  MiHernacht  im 
menschlichen  Gemüte"  (lauter  teils  verwerfliche,  teils  mißverstandene 
Zeugen!)  „zeugen  samt  und  sonders  von  dieser  untergegangenen,  über- 
schütteten und  begrabenen  Ur-  und  Vorwelt,  vo7i  diesem  unter  Bergen  und 
Tälern,  Straßen  und  Dörfern,  Sumpf  und  Moor  liegenden.,  mit  Erdfällen, 
Dunsthöhlen    und  Lavaströme7i    überdeckten,    zum    Teil   in    Staub    und  Asche 


Dr.  Troxler:  Naturlehre  des  menschlichen  Erkennens,  oder  Metaphysik.  qi 

verwandelten  Pompeji  und  Hei-kulayium^  von  den  cyklopischen  Mauern  und 
unterirdischen  Gängen  und  Schachten  der  menschlichen  Natur."  (Eine  Rednerei, 
die  ihre  eigene  Leerheit  deutlich  zur  Schau  stellt.)  —  Aus  dem  achten 
Abschnitte,  überschrieben:  Reflexion.^  oder  des  Geistes  Rückkehr.  ,,Der 
Mensch  kommt  nicht  unmittelbar,  sondern  nur  im  Gegensatze  seines  Nicht- 
Ichs zum  Bewußtsein  seines  erscheinenden  Ichs,  was  er  in  der  unter- 
sinnlichen  Psyche  beim  Herrschen  des  Nicht -Ichs  über  das  Ich,  Selbst- 
gefühl., in  der  übersinnlichen  Psyche,  beim  Vonvalten  des  Ichs  über  das 
Nicht- Ich,  Selbstberuußtsein  nennt.  Selbstgefühl  und  Bewußtsein  beruhen 
also  auf  Unterscheidung  und  Wechselwirkung  von  zwei  Wesen  und  Leben 
im  Menschen,  und  die  Doppelnatur,  die  sich  in  ihrem  Gegensatz  selbst 
offenbart,  ist  begründet  in  der  Beziehung  des  Menschen  auf  seinen  Ur- 
sprung und  auf  seine  Vollendung."  (Das  Also  beruht,  wie  man  sieht,  auf 
einer  Art  von  chirurgischer  Operation,  wodurch  das  Selbstgefühl  vom 
Selbstbewußtsein  abgeschnitten  wird,  damit  zwei  Psychen  herauskommen. 
Wir  erinnern  hier  nochmals,  und  nicht  scherzend,  an  unsere  zwanzig 
Psychen;  denn  der  Gegenstand  ist  ohne  Vergleich  verwickelter,  als  der 
Verf.  ahnet.  Das  eingebildete  Vonvalten  aber,  dessen  wir  längst  müde 
sind,  ist  durch  seine  Unbestimmtheit  ein  Bekenntnis  von  Unwissenheit.) 
„Auch  selbst  noch  in  der  Sinnesempfindung  ist  unmittelbar  die  Einheit 
von  diesem  Ich-  und  Nicht-Ich,  von  welchen  letzteres  ebensowohl  ein  Ich, 
als  jenes  erstere  ein  Nicht -Ich  ist;  denn  der  Mensch  steht  hier  in  der 
Inversion  seiner  selbst."  (Bei  so  gewaltsamer  Umkehrung  bleibt  sicher  kein 
Grund,  gegen  Hegels  Einheit  des  Sein  und  des  Nichts  zu  eifern.)  —  Aus 
dem  neunten  Abschnitte,  überschrieben :  Urphänomene,  Raum  und  Ewigkeit^ 
Ort  und  Zeit:  ..Raum  an  sich  ist  Anwesenheit,  und  Ewigkeit  Gegenwart 
Gottes  in  der  Natur  der  Dinge.  Ort  oder  Weltraum,  und  Zeit  oder  Zeit- 
raum sind  hingegen  nur  die  Erscheinung  von  dem  endlosen  Wesen  des 
Göttlichen  in  der  Welt,  oder  im  Dasein  und  Wandel  der  Dinge.  Das 
Voraüssetzungslose  und  Unmittelbare  in  aller  Natur  lebt  in  sich  selbst" 
(wirklich  In  sich!),  „indem  es  von  sich  aus  und  in  sich  zurück  (!)  geht, 
daher  entspringt  eine  evolutive  und  eine  revolutive  Richtung  und  Bewegung, 
welche  in  ihrer  Gottesferne  oder  Weltnähe  sich  kreuzen  und  umwenden''. 
Es  ist  doch  eine  bedenkliche  Sache  um  diese  Gottesferfie,  welche  mit  dem 
In  sich  sehr  schlimm  kontrastiert.  Hr.  Tr.  besinne  sich  an  jenes  .„als 
reines  Sein  gemaltes  reines  Nichts ;"  an  jenes  „eitle  Wesen  der  Spekulation'''' ; 
an  jene  ,^Ironie,  welche  die  Philosophie  mit  der  Sophistik  getrieben'"''.  Er  hüte 
sich  vor  seiner  eigenen  Behauptung:  leerer  Raum  und  tote  Zeit  seien  an 
sich  schon  Widerspruch,  denn  nur  Erfüllung  mache  den  Raum,  und  bloß 
Bewegung  die  Zeit  wahrnehmbar.  Was  den  Raum  erfüllen  soll,  wird  in 
ihm  als  beweglich,  was  in  der  Zeit  geschehen  soll,  wird  als  verschiedener 
Geschwindigkeiten  fähig  gedacht;  was  vollends  in  Raum  und  Zeit  wahr- 
genommen  werden  kann,  zeigt  deutlich  diese  Beweglichkeit  und  diese  ver- 
änderliche Geschwindigkeit.  Aber  die  Voraussetzung  des  Beweglichen  und 
des  Langsameren  oder  Trägeren  ist  der  ruhende  Raum  und  die  bloße 
Zeit;  und  so  liegen  die  Widersprüche  verborgen  in  der  Voraussetzung! 
Und  von  evolutiver  und  revolutiver  Bewegung  kann  ohne  diese  Voraus- 
setzung nichts  verstanden  werden;  der  Sinn  der  Worte  geht  ohne  sie  rein 


QA  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


verloren.  Alle  Rednerei  hilft  nichts,  um  solche  Fehler  zu  bemänteln. 
Den  zehnten  Abschnitt,  überschrieben:  Metaphysik  vo7i  Schlaf  und  Wachen 
(eine  sehr  sonderbare  Metaphysik!)  überschlagen  wir  der  Kürze  wegen, 
und  um  nicht  nochmals  von  den  zwei  Psychen  zu  reden;  es  sei  genug, 
noch  etwas  aus  dem  elften  anzuführen,  der  nun  endlich  auf  wenigen 
Blättern  von  den  Grundgesetzen  des  Erkennens  handelt.  Hier  ist  es,  wie 
sich  gebührt,  Kant,  dessen  der  Verf.  zuerst,  und  teilweise  mit  richtigem, 
andernteils  aber  mit  getrübtem  Blicke  erwähnt.  Daß  in  der  Vernunft- 
kritik die  menschliche  Erkenntnis  viel  zu  eng  beschränkt  wird,  hat  seine 
Richtigkeit;  aber  zvarmn  denn  blieb  Kant  in  den  Schranken  des  Selbst- 
bewußtseins, wie  der  Verf.  sich  ausdrückt,  befangen?  Was  ist  es,  das  ihn 
hätte  darüber  hinausführen  können  und  sollen?  ^,Die  zivei  von  uns  ins 
Licht  gesetzten,  unmittelbaren  Erkenntnisquellen  im  Mejischcn  blieben  un- 
begiiffeny  So  redet  der  Verf.!  Daß  es  Übermut  ist,  wenn  einer  sich 
immittelbar  für  weiser  hält  als  Kant,  das  hätte  er  doch  fühlen,  und 
wenigstens  davon  schweigen  sollen,  denn  wir  andern,  die  wir  ebensowenig 
als  Kant  das  Glück  haben,  umittelbare  Quellen  eines  höheren  Wissens 
in  uns  zu  finden,  versagen  eben  deshalb  seiner  Rede  schlechthin  alles 
Vertrauen;  wir  leugnen  unmittelbar,  weil  Er  unmittelbar  behauptet.  Aber 
noch  mehr!  Der  Grund,  weshalb  Kant  sich  zu  sehr  beschränkte,  ist 
längst  nachgewiesen  worden;  es  ist  der  natürlichste  von  der  Welt.  Die 
alte  empirische  Psychologie,  mit  ihren  Seelenvermögen,  durchdringt  Kants 
sämtliche  Darstellungen;  hierher  war  seine  Kritik  nicht  gerichtet;  hier 
meinte  er  Ruhepunkte  der  Untersuchung  zu  finden,  indem  er  die  Formen 
der  Erfahrung  auf  Formen  der  Sinnlichkeit,  des  Verstandes  und  der  Ver- 
nunft zurückführte.  Dies  Stehenbleiben  war  die  natürliche  Folge  von  Er- 
müdung nach  langer  Anstrengung.  Darüber  blieben  die  Probleme  der 
Metaphysik,  welche  in  den  Formen  der  Erfahrung  liegen,  unentwickelt; 
und  von  der  Gemächlichkeit  des  damaligen  Zeitalters  waren  sie  ohnehin 
vergessen;  selbst  jetzt  noch,  nach  so  langer  Arbeit,  ringen  sie  gleichsam 
mit  den  Wellen  der  Vorurteile,  um  aufzutauchen.  Will  Hr.  Tr.  sie  er- 
blicken, so  muß  er  zuerst  allen  Rednerschmuck  von  sich  tun;  und  von 
unmittelbarer  Erkenntnis  darf  nicht  zuviel  gerühmt  werden;  desto  fester 
aber  müssen  die  Streitigkeiten  der  Schulen,  als  eine  zwar  unerfreuliche, 
jedoch  unleugbare  und  sich  stets  erneuernde  Tatsache  ins  Auge  gefaßt 
werden.  Die  Art  von  Politik  des  Verfs.,  alle  Systeme  soweit  auseinander 
als  m.öglich,  und  die  eigene  Meinung  als  die  sicherste  Mitte  zwischen 
alle  zu  stellen,  muß  wegbleiben;  denn  dadurch  werden  die  Berührungen 
der  Systeme  zerrissen,  auf  welche  mehr  ankommt,  als  auf  ihren  Streit; 
und  wer  noch  Schutz  in  der  Mitte  sucht,  der  lehnt  sich  an,  während  er 
aufrecht  stehen  sollte.  Es  ist  zwar  sehr  gut  gesagt:  ,,der  menschliche 
Geist  verwickelt  sich  in  unauflösliche  Schwierigkeiten  und  Widersprüche, 
wenn  er  bloß  in  der  Mannigfalticrkeit  und  Unwandelbarkeit  der  Er- 
scheinungen  und  Begebenheiten  sich  umhertreibt ;"  aber  mit  bloßem  ,^An- 
fiehmefi"'  von  Substanz  und  Ursache,  wird  nicht  das  Allermindeste  ge- 
wonnen; vielmehr  wird  die  Untersuchung,  welche  in  jenen  Widersprüchen 
ihr  Motiv  finden  mußte,  dadurch  gestört,  und  eine  faule  Vernunft  tritt 
an   die  Stelle  des  Nachdenkens.    Gerade  dies  ist  in  des  Verfs.  sogenanntem 


Dr.  Troxler:  Naturlehre  des  menschlichen  Erkennens,  oder  Metaphysik.  qz 

natürlichen  System  der  Erkenntnis  geschehen;  und  er  schmäht  die  künst- 
lichen Systeme,  weil  er  die  Kunst  nicht  versteht.  Wie  wenig  bei  ihm 
von  der  Kunst  des  Forschens  die  Rede  sein  kann,  mag  man  aus  folgenden 
Zeilen  schließen,  die  gegen  das  Ende  dieses  Abschnittes  Platz  gefunden 
haben;  „Das  Räsonnement,  dieses  Denkspiel  mittelst  Reflex  und  Diskurs, 
ist  selbst  nur  eine  Resonanz  aus  der  echten  Erkenntniswelt,  nur  das 
Spektrum  von  dem  eigentlichen  Sonnenbild  des  Geistes;  in  ihm  sind  die 
Lichttöne  und  die  Schallstrahlen  alle  zerstreut  und  verzogen.  Da  stehen 
die  Sinnlichkeit  und  die  Vernunft  einander  gegenüber,  wie  die  zwei  eifer- 
süchtigen Propheten  Micheas  und  Zedekias.  —  zwischen  ihnen  steht  der 
Verstand,  das  Tier  Bileams;  so  wahr  ist,  was  Paracelsus  sagte:  der 
Spiritus  macht  einzig  und  allein  das  Spirituale  in  allem.'-'-  Wieviel  lernt  man 
durch  solche  Sprache  von  den  verheißenen  Grundgesetzen  des  Erkennens? 
Und  wenn  Metaphysik  wirklich  einerlei  wäre  mit  der  Naturlehre  des  Er- 
kennens: wieviel   Metaphysik  ist  nun  in   diesem  Buche  zu  finden? 

Um  jetzt  zu  einem  Urteile  über  das  Ganze  zu  gelangen,  müssen  wir 
zuvörderst  den  Verf.  von  seinem  Werke  unterscheiden.  Jener  zeigt  uns 
bei  aller  Anmaßung  einen  redlichen  Sinn,  und  ungeachtet  der  offenbaren 
Nachahmung  eines  andern  dennoch  viel  eigenes  Talent;  ja  bei  aller  Ver- 
nachlässigung des  gründlichen  Forschens  doch  eine  weit  umfassende 
Kenntnis  der  philosophischen  Schriftsteller,  samt  der  Fähigkeit,  sich  in 
den  Geist  derselben  zu  versetzen.  Unstreitig  sind  hier  solche  Elemente 
beisammen,  aus  denen  etwas  ungleich  Besseres  hätte  hervorgehen  können. 
Wohl  möglich,  daß  man  die  Schicksale  des  Verfs.  mit  in  Anschlag  bringen 
muß,  um  zu  begreifen,  wie  es  zugehe,  daß  er  etwas  so  höchst  Dürftiges, 
wie  dies  Buch,  dem  Publikum  als  eine  Metaphysik  glaubte  anbieten  zu 
können.  Er  sagt  uns,  er  habe  einer  Stadt  und  Republik  seines  Vater- 
landes mehrere  Jahre  als  öffentlicher  Lehrer  der  Philosophie  gedient;  und 
daselbst  hätte  er  in  einem  gewissen  Ei  folge  seines  Philosophierens  es  bald  soweit 
gebrächt,  als  Sokrates  in  Athen!  Eine  traurige  Nachricht,  die  Rez.  mit  dem 
aufrichtigsten  Bedauern  gelesen  hat.  Ein  denkender  Geist  bedarf  Ruhe, 
wenn  er  sich  entwickeln  soll;  harte  Schicksale  pflegen  selbst  in  ihren 
Nachwirkungen  der  Heiterkeit  und  Beweglichkeit  des  Forschens  zu  schaden, 
nachdem  sie  schon  überwunden  und  in  Beziehung  auf  das  äußeie  Leben 
verschmerzt  sind.  In  die  angenommenen  Meinungen  bringen  sie  eine  ge- 
wisse Unbeugsamkeit,  welche  unzugänglich  macht  für  alles,  was  zur  Be- 
richtigung auffordern  könnte.  Der  Verf  sagt  selbst:  Für  das,  was  man 
liebt,  leidet  man  willig;  und  das^  wofür  man  gelitten  hat,  wird  einem  noch 
teurer  und  ivei'ter.  So  ist's;  und  hier  gibt  es  leider  kein  bestimmtes  Ver- 
hältnis zwischen  der  Liebe  und  zwischen  der  Wahrheit  oder  dem  Irrtum 
in  den  Meinungen,  worauf  einmal  in  früheren  Jahren  die  Zuneigung  war 
gerichtet  worden.  —  Unter  dem  Namen :  intellektuale  Aftschauung  ist  das 
unmittelbare  Erkennen  längst  gepredigt  worden.  Streit  genug  entstand, 
indem  andere,  die  nicht  weniger  Anspruch  auf  ein  Licht  in  ihrem  Innern 
zu  haben  glaubten,  ihre  Anschauungen  auch  geltend  machen  wollten. 
Unsere  Zeit  ist  über  diesen  Punkt  reich  an  Erfahrungen;  und  hier,  wie 
überall,  wird  irgend  einmal  der  Enthusiasmus  vor  der  Erfahrung  weichen 
müssen.    Eigentliche  strenge  Wissenschaft  wird  niemand  auf  Orakelsprüche 


q5  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


gründen  können,  welche  ungleich  lauten  und  noch  weit  verschiedener  ge- 
deutet werden.  Man  muß  endlich  auf  solche  Fundamente  zurückkommen, 
welche  allgemein  fest  liegen,  und  deren  erste  Auffassungen  wenigstens 
sich  als  unzweideutig  ankündigen.  Zum  Behuf  der  Wissenschaft  wird  man 
ferner  Bestimmtheit  der  Begriffe,  folglich  auch  genaue  Unterscheidung  ver- 
wandter Begriffe,  —  das  Werk  des  sogenannten  philosophischen  Scharf- 
sinns, —  zurückfordern.  Es  wird  z.  B.  nicht  immer  erlaubt  sein,  den 
Begriff  einer  Naturlehre-  des  Erkennens  zu  verwechseln  mit  dem  Begriffe 
der  Metaphysik:  denn  diese  letztere  soll  das  Erkannte  aufzeigen;  und  mit 
diesem  ist  das  Erkennen  hier  ebensowenig  einerlei  als  in  der  Mathematik, 
wo  es  sich  sehr  sonderbar-  ausnehmen  würde,  wenn  man  sich  statt  der 
Figuren  und  Gleichungen  die  Frage  vorlegen  wollte,  wie  doch  der  Geist 
des  Mathematikers  beschaffen  sein  müsse,  um  solche  Figuren  und 
Gleichungen  ersinnen  zu  können?  Hiermit  leugnen  wir  nicht  etwa,  daß 
Psychologie  der  Metaphysik  eine  sehr  nützliche  Hilfe  leisten  könne,  und 
ihr  zur  Seite  stehen  solle;  aber  das  kann  nicht  eingeräumt  werden,  daß 
ein  Buch,  welches  Naturlehre  des  Erkennens  oder  Metaphysik  heißen  will, 
durch  seinen  Titel  einen  richtigen  Plan  ankündige.  Im  Gegenteil;  unser 
Verf.  war  von   Anfang  an  auf  einem   Irrwege. 

Aber  das  herrschende  Streben  nach   Einheit,   —  nach  jener  Identität, 
ivelche    ihn   selbst  unbefriedigt  ließ,    —    ist  schuld,    daß  sich   ihm   die  ganze 
Philosophie   in    ein  Knäuel    zusammengezogen    hat,    welches   er  schwerlich 
jemals   selbst   wird   auflösen   können,    oder   einem   andern  aufzulösen  wird 
gestatten    wollen.      Ihm    erscheint    alle   Spekulation    eitel,    weil    bei    jedem 
Faden,   den    man  möchte  herausziehen  wollen,   sich  ihm  unwillkürlich  das 
ganze  Knäuel  vergegenwärtigt  und  aufdringt;    und  er  noch  obendrein  das 
Vorurteil  hegt,  das  Ganze  müsse  den  Teilen  vorangehen,  als  ob  nicht  da, 
wo  die  Arbeit  gehörig  geteilt  ist,  alsdann  erst  aus  den  einzeln  bearbeiteten 
Teilen   solche  Ganze    zu   erwachsen  pflegten,    die  keine  menschliche   Pro- 
duktionskraft   auf    einmal   hätte   hervorzaubern   können.     Jeder    Bearbeiter 
irgend  einer  andern  Wissenschaft  betrachtet  sich  als  mitwirkend  zu  einem 
Erfolge,  den  keiner  sich  allein  würde  zuschreiben  können ;  daraus  entsteht 
ein  Gefühl  von  Erhebung  über  die  individuelle  Beschränktheit,  von  Sicher- 
heit   des  Fortlebens   in  Werken,   die   von    vielen   geschätzt   werden.     Das 
traurige  Los    aber,    immer   von   neuem    an  den  Anfängen  ändern,    rücken, 
meistern,  verwerfen  zu  müssen,  ist  es  den  Philosophen  gefallen,  oder  haben 
sie  es  erwählt?  Gewiß  könnten  sie  sich  ihm  entziehen,  wenn  sie  die  An- 
fänge  genau  so  nehmen,   wie  jeder  gleich  andern  sie  vorfindet.     Alsdann 
könnte    von    einem    Joten    Absoluten"-    eben    nicht    mehr,    als    von    einer 
Jeberidigen  Mitte''    gesprochen    werden;    denn  die   Frage,    ob  einer  sich  in 
diese  Mitte    „recht    in7tig'',    und    ob    ein  anderer  sich  ?ioch  inniger  hinein- 
versetze,   wäre    abgeschnitten,    sobald    man   sich    ein  für  allemal  versagte, 
zu   besonderen  Gemütszuständen   sich  anzustrengen,   deren  Spannung  nun 
doch    nimmermehr   gleichförmig    fortdauern    kann,    vielmehr    stets  bei  ver- 
schiedenen   nicht   bloß,    sondern  auch  bei  einer  und  derselben   Person  zu 
verschiedenen  Zeiten   verschieden  ausfallen  muß.    Durch  Philosophie  sucht 
man    dem  Wechsel    zu    entfliehen;    aber   wer   auf  das  Gemüt  bauet,    der 
gibt  sich  und  seine  Überzeugung  dem  Wechsel  der  G^mxiX^stimmung  preis. 


Georg  V.  Biiquoy:    Anregung  für  philosophisch  -  wissenschafllidie  Forschung  usw.        nj 

Der  Denker  hofft  zu  denken  für  alle;  aber  die  Enthusiasten,  weit  entfernt 
einer  allgemeinen  Wissenschaft  zu  huldigen,  entziehen  sich  ihr  in  dem 
nämlichen  Augenblicke,  in  welchem  sie  fordern,  daß  andere  so  denken 
und  fühlen  sollen  wie  sie,  während  sie  doch  nicht  denken  und  fühlen 
wollen  wie  andere.  Betrachtungen  dieser  Art  sind  bekannt  genug;  der 
längst  getadelten  Gefühlsphilosophie  haben  sie  jedoch  keinen  Abbruch 
getan.  Und  so  wird  leicht  auch  diese  Gemütsphilosophie,  welche  im  an- 
gezeigten Buche  herrscht,  ihren  Kreis  finden  und  behalten.  Dann  aber 
können  wir  wenigstens  den  Namen  zurückfordern,  welchen  sie  sich  zu- 
eignet. Jahrhunderte  lang  ist  Metaphysik  in  größeren  und  kleineren 
Werken  bearbeitet  worden;  die  Gegenstände,  die  Hauptfragen,  welche  ihr 
angehören,  sind  längst  bestimmt ;  wer  nun  etwas  anderes  in  ihr  sucht, 
fragt,  behauptet,  der  wähle  andere  Namen ;  und  mische  sich  nicht  störend 
in  die  Rede  derer,  welche  in  demselben  Sinne,  wie  die  älteren  Meta- 
physiker,  wenn  schon  mit  andern  Hilfsmitteln,  nach  Wahrheit  streben  und 
forschen.  —  Sollte  der  Verf.  sich  hier  zu  streng  beurteilt  glauben,  so  sei 
ihm  gesagt:  daß  niemand  geneigter  sein  kann,  die  nachgewiesenen  Fehler 
zu  entschuldigen,  als  der  Unterzeichnete,  der  sich  vermöge  eigner  Er- 
fahrung sehr  genau  in  die  Zeit  jener  Begeisterung,  wovon  sowohl  Schelling 
als  Troxler  sind  ergriffen  worden,  zurückversetzen  kann.  Er  hat  deren 
Vorteile  genossen,  aber  auch  deren  Nachteile  in  sich  selbst  lange  genug 
empfinden  müssen.  Den  gut  gemeinten,  aber  ungestümen  Eifer  jener 
Spekulationen,  die  schon  am  Ziele  zu  sein  glaubten,  wo  sie  kaum  An- 
fänge gewonnen  hatten,  innerlich  zu  bändigen,  und  ihn  in  abgemessenes 
Fortschreiten  eines  besonnenen  Forschens  zu  verwandeln,  ist  nicht  leicht 
aber  notwendig.  Ob  die  Erscheinungen  der  Zeit  hieran  mahnen,  das  mag 
der  Verf.  selbst  bei  sich  reiflich  überlegen! 


Buquoy,  Graf  Georg  v.,  Doktor  der  Philosophie  und  mehrerer  gelehrten 
Gesellschaften  Mitglied,  Anregungen  für  philosophisch-wissen- 
schaftliche Forschung  und  dichterische  Begeisterung,  in 
einer  Reihe  von  Aufsätzen  eigentümlich  der  Erfindung  nach, 
und  der  Ausführung.  —  Leipzig,  1827.  XVI  und  792  S.  gr.  8. 
Zweite  Auflage.  (3  Rthlr.  8  Gr.) 
Gedruckt  in:  Leipziger  Literatxu--Zeitung  1829,  Nr.  17.     SW.  XIII,  S.  547. 

Wenn  Männer  von  hohem  Stande  sich  ernstlich  und  öffentlich  mit 
den  Wissenschaften  beschäftigen,  so  machen  sie  sich  schon  dadurch  ver- 
dient, daß  sie  durch  die  Tat  ein  Zeugnis  ablegen,  man  brauche  nicht 
durch  äußere  Vorteile  gelockt  zu  werden,  um  sich  den  Musen  zu  widmen, 
sondern  der  Ruhm  der  Wissenschaft  gründe  sich  ursprünglich  auf  ihren 
inneren  Wert  und  eigenen  Reiz.  Betrachtet  man  aber  näher  den  Erfolg 
ihrer  Bemühungen,  so  pflegt  sich  in  der  Art,  wie  sie  sich  um  die  Studien 
verdient  machen,  einige  Verschiedenheit  zu  zeigen  von  dem,  was  Gelehrte 

Herbarts  Werke.     XIII.  7 


q8  J.  f.  Herbarts  Rezensionen. 


in  gewöhnlichen  Verhältnissen  leisten.  Sie  segeln  nie  mit  halbem  Winde; 
die  Gunst  äußerer  Umstände  gestattet  ihnen,  nur  diejenigen  Stunden  zur 
Arbeit  zu  wählen,  in  welchen  sich  die  Laune  zur  Muse  fügt;  ein  lebens- 
kräftiger Ausdruck  ihrer  Gedanken  ist  davon  die  natürliche  Folge.  Andrer- 
seits darf  man  hier  weniger,  als  sonst,  die  Früchte  eines  lange  ausharrenden 
Fleißes  erwarten,  auch  ist  die  Scheu  vor  der  Kritik  geringer,  daher  äußert 
sich  das  Eigentümliche  ungebundener,  und  will  entweder  so  wie  es  ist 
oder  gär  nicht  aufgenommen  sein.  Solche  Männer  loirken  demnach  stark 
zurück  auf  die  Wissenschaft  in  dem  Zustande,  wie  sich  dieselbe  ihnen 
gerade  darbot;  sie  ziehen  an  und  stoßen  ab,  wie  der  Genius  sie  treibt; 
sie  entsprechen  dem  Augenblicke,  aber  sie  entziehen  sich  allem,  loas  lang- 
iveilig  ist  oder  scheint.  So  wird  der  Wissenschaft  ein  Spiegel  Dorgehalteti, 
worin  sie  sehen  katm,  zvas  afi  ihr  gefällt  und  mißfällt ;  sie  mag  alsdann  die 
gegebenen  Winke  benutzen  wie  sie  kann;  den  ersten  Ursachen  ihrer  Fehler 
nachzuspüren  und  die  rechten  Wege  zur  Verbesserung  einzuschlagen,  ist 
ihre   eigene  Sorge. 

Zu  versuchen,  wie  die  Wissenschaft  es  verschuldet  habe,  daß  sie 
dem  hellen  und  reichen  Geiste,  der  uns  in  dem  angezeigten  Buche  be- 
gegnet, nicht  genügte,  wäre  weitläufig  und  ist  hier  weniger  nötig,  als  die 
Nachweisung  der  Tatsache  selbst.  „Ich  suchte  (sagt  der  Verf  in  der 
Vorrede)  die  Evidenz,  die  mich  von  Jugend  auf  an  der  Mathematik  ent- 
zückte, in  allem,  fand  sie  aber  nirgend."  Mit  dieser  Erklärung  läßt  es 
sich  leicht  vereinigen,  daß  derselbe  es  vorzog,  sich  mehr  fragmentarisch, 
als  systematisch  mitzuteilen.  Er  nennt  es  ein  eitles  Unternehmen,  ent- 
scheiden zu  wollen,  wem  die  Philosophie  mehr  zu  danken  habe,  dem- 
jenigen, der  einen  einzelnen  Zweig  derselben  systematisch  durchführe  und 
ihm  einen  hohen  Grad  der  Vollendung  mitteile,  oder  dem,  welcher  das 
ganze  Gebiet  des  Forschens  spähend  durchstreife,  demselben  vielseitige 
Andeutungen  abgewinne,  nach  den  verschiedensten  Zielpunkten  hinweise, 
und  so  den  Keim  lege  zu  unendlichen  Entdeckungen  und  Reformen.  So 
z.  B.  bleibe  unentschieden,  wem  die  Krone  seines  Jahrhunderts  gebühre, 
ob  dem  tiefen  Newton  oder  dem  allseitigen  Leibniz?  Das  Universum 
sei  ein  harmonisches  Ganzes;  der  Mikrokosmus,  an  welchem  es  sich 
reflektiere,  ebenfalls  das  Verhältnis  desselben  zum  Universum  eine  stete 
Oscillation,  zwischen  der  Bestrebung  nach  Ineinswerdung  mit  dem  Universum 
und  zwischen  der  Bestrebung  nach  Konzentration  in  sich,  zum  ent- 
schiedensten Kontraste  jenes  Universums.  (Schon  hier  erkennt  man  un- 
zweideutig die  Schule,  durch  welche  dem  Hrn.  Grafen  die  Philosophie 
repräsentiert  wurde.)  Vermöge  dieser  Oscillation  nun  sollen  die  mannig- 
fachen Aufregungen  eines  und  desselben  Geistes  unter  sich  zusammen- 
hängen, und  deren  fragmentarische  Darstellungen  sollen  im  Innern  des 
Darstellenden  ein  System  bilden,  welches  von  ihm  dennoch  nicht  als 
System  ausgesprochen  wird.  Ja,  die  Fragmente  sollen  ihren  Wert  leichter 
teilweise  behaupten,  als  ein  System,  welches,  wenn  es  einmal  stürzt,  ganz 
zusammenfällt.  (Freilich  liegt  es  in  der  systematischen  Form,  daß  sie 
ebensowohl  Fehler  als  Wahrheiten  enger  verknüpft  und  in  ihren  Folgen 
vervielfältigt.  Aber  die  fehlerhafte  Harmonie  des  sogenannten  Mikro- 
kosmus, woraus   die  Mängel   der  Systeme   entspringen,    wird   auf  jede  Art 


Georg  V.   Buquoy:   Anregung  für  philosophisch  -  wissenschaftliche  Forschung  usw.         gg 

der  Darstellung  Einfluß  haben.)  Die  Gaben,  welche  wir  hier  empfangen, 
zerfallen  nun  in  drei  Klassen;  größere  Aufsätze,  kleinere  Aufsätze  und 
poetische  Anklänge  kontemplativer  Begeisterung.  An  der  Spitze  des 
Werkes  steht  eine  Abhandlung  betitelt :  Meine  philosophische  Grundansicht, 
„Ich  philosophiere  nicht  um  einen  außerhalb  des  Philosophierens  ge- 
legenen Zweckes  willen;  sondern  einem  autonomen  Bildungstriebe  gemäß; 
ich  strebe  nicht  nach  dem  Begreifen  und  Erklären  des  Sein,  des  Seienden, 
des  Wie  am  Seienden,  da  es  mir  überhaupt  als  etwas  Unmögliches  er- 
scheint, den  Kausalnexus  zu  ergründen.  Ist  dieser  Nexus  nicht  vielleicht 
aus  dem  Formalen  meines  Anschauens  ins  Objektive  transponiert?  (Ein 
Kantianer  würde  hier  nicht  fragen,  sondern  geradezu  behaupten.)  Ich 
strebe  eigentlich  nach  dem  Totalbilde  des  Seienden  in  und  außer  mir, 
samt  allen  an  jenem  Totalbilde  stattfindenden  Wechselbeziehungen;  hierbei 
berücksichtige  ich  die  Gesetze  an  dem  universellen  Leibe  und  Geiste  der 
Natur.  Weiter  strebe  ich,  den  Charakter  des  Naturwaltens  überhaupt 
in  den  einzelnen  Zügen  der  Natur-Physiognomie  wiederzufinden  und  so 
gleichsam  an  der  einzelnen  Erscheinung  den  Nachhalt  der  All-Erscheinung 
zu  erforschen.  Aber  weder  jenes  Gesetzes -Ganze,  noch  eine  vollendete 
Interpretation  desselben  können  mir,  meiner  Überzeugung  nach,  je  zu  teil 
werden,  mein  Ringen  darnach  ist  ein  immerwährendes  Streben,  das  ein 
Vollendetes  nie  erreicht;  es  ist  ein  mir  wesentliches  Bedürfnis,  eine  actio 
actionis  causa,  die  unmittelbar  in  ihrem  Ausgeübt-Werden  ihre  Befriedigung 
findet.  Ich  befriedige  dem  Umfange  nach  mein  Streben,  indem  ich  mit 
allen  mir  zu  Gebote  stehenden  Vermögen  des  Perzipierens,  Abstrahierens, 
Vergleichens  und  Interpretierens  zugleich  in  das  Erscheinungsganze,  in 
dessen  Gesetz  und  in  des  Gesetzes  Bedeutung  hineindringe.  Wer  sehen 
will,  was  ich  sehe,  fühlen  will,  was  ich  fühle,  der  führe  ein  in  sich  zu- 
rückgezogenes, ein  beschauendes,  koi:itemplatives,  gegen  Lob  und  Tadel 
vollkommen  gleichgültiges  Leben,  wie  ich.  Wer  mich  fassen  kann  und 
fassen  will,  der  folge  mir  nach;  mancherlei  Impulse  findet  er  dazu  in 
meinen  Schriften,  aber  auch  nur  Impulse;  ein  fertiges  Resultat  vermag 
ich  ihm  nicht  zu  geben.''  —  Rez.  widersteht  mit  Mühe  der  Versuchung, 
diese  vortrefflichen  Äußerungen  reiner  Wahrheitsliebe  und  echt  philo- 
sophischer Sinnesart  vollständiger  hierher  zu  setzen.  Wie  die  angeführte 
Stelle,  so  ist  das  ganze  Buch;  ein  oflfenes  Gemüt  teilt  zwanglos  mit,  was 
der  kräftige  vom  Reichtum  gelehrter  Hilfsmittel  unterstützte  Geist,  nach 
Wahrheit  forschend,  gedacht  hätte. 

Vorherrschend  zwar  ist  in  diesem  Geiste  die  Richtung  des  theoretischen 
Denkens;  aber  sie  steht  dennoch  von  Anfang  an  unter  dem  Einflüsse 
ästhetischer  Urteile.  Das  bemerkt  man  sogleich  im  folgenden:  Einerseits 
fühle  ich  das  Streben,  sowohl  in  als  außer  mir  durchgehends  nur  Wahres, 
Schönes  und  Gutes  zu  erschauen,  andrerseits  fühle  ich  das  Streben,  zu 
sehen,  was  und  wie  es  da  ist;  und  zugleich  bemerke  ich  durchgehends, 
daß  der  Wahrheit  der  Trug,  daß  der  Schönheit  das  Häßliche,  daß  dem 
Guten  das  Böse  zur  Seite  gehen;  daß  dem  Aufschwingen  nach  dem 
Besseren  folge  ein  Herniedersinken  und  diesem  wieder  ein  Aufrichten  und 
Emporschwingen,  im  unaufhörlichen  Auf-  und  Nieder- Wogen,  mit  einem 
Charakter    von    Bedingtheit    und    Beschränktheit.      Dies    läßt    mich    eine 


lOO  J-  !'•   Herbarts  Rezensionen. 

zwischen  zweien  entgegengesetzten  Polen  unaufhörlich  vor  sich  gehende 
Oscillation  erschauen.  Die  zwei  entgegengesetzten  für  sich  betrachtet, 
müssen  essentiell  verschieden  sein  von  dem  Erscheinungsganzen  selbst; 
da  ja  sonst  jene  mit  ins  Oscillierende  hineinfallen  würden.  Die  Ent- 
gegengesetzten sind :  einerseits  das  in  Bezug  auf  Raum  und  Zeit  unbedingt 
sich  Behauptende,  Unendliche,  das  Höchst -Universalisierte,  das  Urwahre, 
Urschöne,  Urgute,  das  Phis-Absoiut/mi;  andrerseits  das  nach  dem  Zero 
von  Raum  und  Zeit  Urgeschleuderte,  das  Höchst -Spezifizierte,  der  Super- 
lativ der  Vergänglichkeit,  das  Urfalsche,  Urhäßliche,  Urböse,  das  Miniis- 
Absolutiim.  Jenes,  das  Plus-Absolutum,  muß  alles  in  sich  fassen,  denn 
von  etwas  ausgeschlosseii  sein,  ist  Beschränkung ;  also  auch  das  Selbst- 
bewußtsein der  eigenen  Absolutheit;  es  muß  ferner  das  Plus-Absolutum 
solches  Selbstbewußtsein  fortwährend  behaupten,  wozu  das  Plus-Absolutum 
sich  das  Minus-Absolutum  gegenüber  setzt  und  als  Kontrast  fortwährend 
gegenüber  erhält  (hierin  scheint  eine  Reminiszenz  zu  liegen ,  die  vom 
Fichteschen  Ich,  welches  sich  ein  Nicht -Ich  zum  Behufe  des  Selbst- 
bewußtseins entgegensetzte,  ursprünglich  herstammt);  das  Minus-Absolutum 
seinerseits,  als  vom  Plus-Absolutum  selbst  und  aus  ihm  herausgesetzt,  hat 
das  Urstreben,  nach  dem  Plus-Absolutum  beständig  zurückzufließen;  wird 
aber  immerwährend  vom  Plus-Absolutum  zurückgedrängt,  da  das  Plus- 
Absolutum  das  Selbstbewußtsein  durch  Kontrast  fortan  unterhält.  (Also  das 
Selbstbewußtsein  wäre  der  eigentliche  Grund  des  Bösen!  Andere  machen 
bekanntlich  aus  der  Persönlichkeit  das  erste  Prinzip  der  Moral.)  Das  solcher- 
maßen ewig  vor  sich  gehende  Oscillieren  ist  eben  das,  welches  mir  erscheint 
als  Naturganzes.  Alle  hier  ausgesprochenen  Behauptungen  sind  von  der 
Art,  daß  ich  sie  nicht  rein  a  priori  beweisen  kann;  sie  sind  mir  zur  innig 
gefühlten  Wahrheit  geworden  und  gewähren  mir  genügende  Harmonie. 
(Andere  möchten  doch  die  Harmonie  vermissen.  Denn  was  ist  nun  besser, 
das  Minus-Absolutum,  welches  zum  Bessern  strebt  oder  das  Plus-Absolutum, 
welches  jene  Besserung  hindert,  um  sich  nicht  seines  Wissens  von  sich  beraubt 
zu  sehen?)  Die  Oscillation  selbst  ist,  bis  auf  ihre  kleinsten  Modifikationen 
herab,  als  etwas  ewig  Notwendiges  bestimmt.  Dies  bezieht  sich  auf  Völker 
und  Individuen,  auf  Newton  und  Homer,  wie  auf  Pflanzen  und  Tiere. 
Es  besteht  ein  Fatum.  Mein  Kritisieren  des  Gewordenen  kann  keinen 
andern  Sinn  haben,  als  den:  das  ist  falsch,  häßlich,  böse;  niemals  aber 
den:  das  ist  naturwidrig.  Die  Kräfte  des  Menschen  sind  nichts  weiter, 
als  ein  integrierender  Teil  der  Naturkräfte.  Die  moralische  Freiheit  be- 
zieht sich  auf  den  Akt  der  Wahl.  Auf  das  Resultat  dieses  Akts  kann 
ich  unmittelbar  einwirken,  indem  ich  mit  mehr  oder  weniger  Aufmerksam- 
keit alle  Motive  abwäge  (die  Aufmerksamkeit  ist  in  der  Tat  der  Haupt- 
punkt der  Frage),  ferner,  indem  ich  mein  Gefühl  für  Gutes  nach  Kräften  (?) 
in  mir  steigere;  dies  Steigern  geschieht  durch  Gebet  und  durch  Erinnerung 
an  Beispiele;  doch  vermindert  der  Nachahmungstrieb,  wo  er  sich  ein- 
mischt, den  Wert  der  Handlung.  Je  höher  die  Stufe,  worauf  ein  Ver- 
nunftwesen in  Hinsicht  seiner  moralischen  Würde  steht,  desto  unfreier 
erscheint  es  mir;  das  Absolutum  ist  gänzlich  unfrei.  Mein  Leib  und 
Geist  sind  Teile  des  Weltleibes  und  der  Weltseele.  Diese  beiden  wieder- 
holen an  der  Oscillation  selbst,  den  Urgegensatz,  welcher  über  der  Oscillation 


Georg  V.  Buquoy:  Anregung  für  philosophisch -wissenschaftliche  Forschung  usw.      iqi 

zwischen  dem  Plus-  und  Minus-Absolutum  statfindet.  Der  Pantheismus 
verwechseh  Weltseele  und  Plus-Absolutum.  Tod  ist  nur  Veränderung  des 
Schwunges  in  der  Total  -  Oscillation ,  worin  das  Ich  dennoch  begriffen 
bleibt.  Selbstbewußtsein  könnte  nur  vernichtet  werden  durch  eine  ent- 
gegengesetzte Kraft;  aber  die  Vorstellung  des  Selbstbewußtseins  leidet 
nicht,  daß  man  ihr  einen  negativen  Wert  beilege,  daher  ist  der  Begriff 
jener  entgegengesetzten  Kraft  absurd.  Als  befangen  in  der  Oscillation 
kann  ich  mir  das  über  derselben  stehende  Plus-Absolutum  nicht  vor- 
stellen. Hingegen  das  Plus-Absolutum  vermag  die  Oscillation  zu  durch- 
schauen und  sich  der  Welt  zu  offenbaren.  Mir  ist  Offenbarung  ein  not- 
wendiges Faktum;  ich  vermag  sie  aber  nur  zu  fassen  durch  gläubiges 
Hingeben.  AU  unser  Denken  ist  unbefangenes  Kräftespiel;  ist  oscillatorischer 
Schwindel  und  Taumel.   —    Mit  diesen  Worten  endet  der  Aufsatz. 

Die  Ausdrücke  Plus-  und  Minus-Absolutum  erinnern  unmittelbar  zu- 
gleich an  die  Schule,  welche  vom  Absoluten  ausgeht,  und  an  Mathematik. 
Es  war  längst  eine  interessante  Frage,  was  wohl  daraus  werden  möge, 
wenn  einmal  Schellings  Lehre  versuchen  werde,  sich  mit  der  Mathe- 
matik in  einem  ausgezeichneten  Denker  zu  vertragen?  Das  vorliegende 
Werk  liefert  einen  Beitrag  zur  Beantwortung  dieser  Frage,  wenn  man  nicht 
lieber  geradezu  sagen  will,  es  beantwortet  sie.  Schon  der  eben  ausgezogene 
Aufsatz  endet  skeptisch ;  die  Vorrede  bekennt  vollends  deutlich  „den  steten 
Zug  eines  entschiedenen  Skeptizismus;"  und  in  einer  beigefügten  Note  heißt 
es  gar:  ,,ich  verbinde  mich  hier  öffentlich  dazu,  jedes  der  bisher  er- 
schienenen oder  noch  zu  erscheinenden  Systeme,  außerhalb  des  Gebiets 
der  reinen  Mathematik  (wohl  verstanden  der  reinen  bloß),  auf  Nullität  zu 
reduzieren,  nämlich  in  Rücksicht  seines  System-Charakters  und  der  not- 
wendigen Gültigkeit  seiner  ersten  Grundprinzipien,  mit  welchen,  wenn  sie 
fallen,  das  Ganze  fällt."  Daß  ein  soweit  ausgedehnter  Skeptizismus  sich 
eben  durch  seine  Ausdehnung  schwächt,  bedarf  kaum  einer  Erinnerung; 
aber  als  ein  Faktum  und  als  Resultat  der  Studien,  die  ihn  veranlaßten, 
ist  er  vorhanden. 

Dies  ist  jedoch  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  der  Skeptizismus  hier 
seine  eigentliche,  beschränkende,  niederdrückende  Kraft  bewiesen  hätte. 
Vielmehr  die  adelige  Natur  der  ScheUingschen  Lehre,  welche  nach  dem 
Höchsten  nicht  strebt^  sonderii  es  immittelbar  setzt^  um  in  ihrem  Vortrage  steh 
darauf  zu  stützen^  bleibt  sichtbar ;  sie  lebt  ihr  eigentümliches  Leben  in  vollem 
Glänze ;  und  die  Mathematik,  welche  oft  herbeigerufen  ivird,  erhöht  nur  diesen 
Glanz,  olme  eigentliche  Dienste  zu  vernchte?i.  Der  Skeptizismus  soll  nur 
Systemfesseln  abhalten,  damit  die  Ansicht  frei  bleibe.  Man  hat  schon 
oft  bemerkt,  daß  jene  Lehre  sogar  ein  Bestreben  erzeugt,  sie  selbst  wo- 
möglich noch  zu  überbieten;  auch  daran  fehlt  es  hier  nicht;  es  wird  der 
Identitätslehre  schuld  gegeben,  daß  aus  ihr  ein  Materialismus,  wiewohl 
nur  ein  poetischer,  schalkhaft  hervorschiele.  ,,Nur  jenes  Philosophieren, 
dessen  Grundbestrebungen  sich  auf  Dualität  und  zugleich  auf  den,  der 
Identität  entsprechenden,  Parallelismus  beziehen,  genügt  vollkommen  der 
Forderungen  meines  Denkens  und  Fühlens.  Parallelismus  besteht  unter 
Manifestationen  des  empirisch  zu  Erfassenden.  (Jeder  Kenner  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  wird  sich  hier  an  Spinoza  und  die  von  ihm  be- 


I02  J-  t-  Herbarts  Rezensionen. 


hauptete,  aber  nicht  durchgeführte,  parallele  Sonderung  im  Ausgedehnten 
und  Denkenden  erinnern.)  Das  Unbedingte  wird  sich  seiner  Unbedingt- 
heit  unausgesetzt  bewußt,  indem  es  sich  selbst  die  Schranke  setzt,  und 
hiermit  seinen  Gegensatz  hervorruft;  ebenso  erhält  sich  das  Bedingte 
mit  dem  Unbedingten  unausgesetzt  in  Rapport,  indem  es  nach  Ver- 
unendlichung  ringt.  Tugendhaft  (heißt  es  ein  wenig  weiterhin)  ist  jene 
Äußerung,  in  der  das  Streben  vorherrschend  von  der  Schranke  ab,  nach 
dem  Unendlichen  zielt.  Lasterhaft  ist  die,  in  der  das  Streben  vorherrschend 
nach  der  Schranke  hin  zielt.  (Wie  kommt  doch  der  bedingte,  endliche 
Mensch  nach  dieser  Erklärung  dazu,  lasterhaft  zu  sein?  Was  aber  sollen 
wir  vom  Plus-Absolutum  sagen,  dessen  Richtung  stets  zur  Schranke  hin  geht?) 
Nach  dem  Vorstehenden  wird  von  selbst  einleuchten,  daß  eigentlich 
die  Behauptung  eines  allgemeinen  Naturlebens  den  wesentlichen  Inhalt 
des  ganzen  Buchs  ausmacht.  Vielleicht  ist  es  nicht  überflüssig,  zu  sagen, 
daß  wir  viele  Bemerkungen  hierüber  nicht  bloß  einräumen,  sondern  gerade 
ebenso  fest  behaupten,  —  wiewohl  aus  anderen  Gründen  und  mit  anderen 
Bestimmungen.  Ohne  hier  zu  streiten,  führen  wir  von  vielen  treff'lichen 
Stellen  eine  zur  Probe  an.  „Wenn  ihr  ein  oscillierendes  Pendel  sich  nach 
und  nach  auf  kleinere  und  immer  kleinere  Bögen  beschränken,  es  endlich 
ganz  stille  stehen  seht :  so  möchte  auch  des  Geometers  Behauptung,  daß 
das  Pendel  in  der  Tat  noch  lange  nicht  still  stehen  könne,  sich  in  der 
Tat  immer  noch  bewegen  müsse,  beinahe  unsinnig  scheinen;  doch  werdet 
ihr  es  bald  selbst  behaupten,  seid  ihr  im  stände,  lesend  in  die  Hieroglyphe 
der  Formeln  zu  blicken.  Weil  nun  der  Kristall  seine  Oscillation  für  ein 
blödes  Auge,  blind  für  die  Myriaden  euch  unaufhörlich  umschwebender 
Geschöpfe,  vollendet  hat,  ist  sie  darum  auch  vollendet  für  das  Auge  der 
tiefer  forschenden  Theorie?  Weil  ihr  Schlaftrunkenen  nichts  von  den  leisen 
Pulsen  seines  fortrollenden  Daseins  wahrzunehmen  vermögt,  berechtigt 
euch  dies,  das  Todesurteil  über  ihn  zu  verhängen?"  —  Wir  haben  uns 
doch  beim  Abschreiben  dieser  Stelle  ein  paar  kleine  Abänderungen  er- 
lauben müssen,  um  damit  übereinstimmen  zu  können.  Der  Verf.  ge- 
braucht nämlich  hier,  wie  oftmals  das  Wort  Leben  für  die  Oscillation  im 
Kristall,  welches  edle  Wort  wir  für  höhere  Gegenstände  glauben  aufsparen  zu 
müssen.  Nicht  allemal  ist  eigentliches  Leben  da  vorhanden,  wo  Oscillation 
stattfindet;  es  gibt  eine  äußere  bloß  mechanische,  —  es  gibt  auch  eine 
innere  völlig  unräumliche  Oscillation;  die  letztere  sieht  zwar  nicht  der 
Sinn,  wohl  aber  das  Auge  der  Theorie ;  allein  weder  diese  noch  jene  für 
sich  allein  ist  Leben  in  bestimmter  Bedeutung  des  Worts.  Auch  so  be- 
schränkt, umfaßt  die  Sphäre  des  Lebens  noch  immer  des  Ungleichartigen 
genug,  um  den  Gegenstand  nicht  bloß  leicht  zu  ergreifender  Ansichten, 
sondern  schwer  einzuleitender  und  noch  schwerer  durchzuführender  Unter- 
suchungen auszumachen.  Einstweilen  aber,  und  bis  die  angestellten  Unter- 
suchungen bekannt  sein  werden,  können  wir  es  niemanden  verdenken, 
wenn  er,  wie  der  Verf.,  sich  begnügt,  den  Beweis  zu  versuchen,  „daß 
die  Annahme  eines  All-Lebens  nichts  Absurdes  in  sich  fasse."  Sinnreich 
genug  ist  es,  mit  dem  Hrn.  Grafen  zu  sagen:  „wären  die  Bienen  so 
kleine  Tierchen,  daß  sie  sich  durch  die  Sinne  nicht  wahrnehmen  ließen, 
so  hätte  es  gewiß  nicht  an  Rechnern  gefehlt,  welche  die  Gestalt,  die  Zieh- 


Georg  V.  Buquoy:  Anregung  für  philosophisch -wissenschaftliche  Forschung  usw.      103 

und  Abstoßungskraft  der  Wachsmolekulen  berechnet  hätten,  wonach  jene 
Molekülen  sich  geradeso  und  nicht  anders  aneinander  reihen  müßten, 
um  Bienenzellen  darzustellen."  Aber  auch  sehr  rasch  ist  der  Schluß: 
.,An  dem  Kristallinischen  baut  der  tellurische  Bildungstrieb,  wenn  wir  gleich 
denselben  nicht  in  Form  eines  arbeitenden  Tieres  wahrzunehmen  ver- 
mögen." Umgekehrt:  Abstoßend  genug  mag  dem  an  die  Vorstellungsart 
vom  All -Leben  einmal  gewöhnten  Naturphilosophen  die  Meinung '  vor- 
kommen, daß  bestimmte  Gestaltung  von  fingierten  Molekülen  abhänge, 
die  sich  nach  diesem  oder  jenem  Gesetze  anziehen  und  abstoßen.  Allein 
das  Abstoßende  hegt  alsdann  in  der  Willkür  einer  Fiktion,  welche  die 
Stelle  einer  regelmäßigen  Untersuchung  bisher  ausfüllte ;  und  wenn  vollends 
dabei  von  „plmnp  materieller  Corpuscullartheorie'-'-  im  Tone  des  Vorwurfs 
gesprochen  wird;  so  ist  eben  dies  das  sicherste  Zeichen,  daß  der  wahre 
Anfang  und  Keim  der  hierher  gehörigen  Untersuchung  noch  völlig  un- 
bekannt ist. 

Der    Unterzeichnete    findet    sich    hier    bei    einem    derjenigen    Punkte, 
wo    er    leicht    in   Versuchung   geraten    könnte,    in  Ansehung    der  Art    und 
Weise,  wie  seiner  in  dem  vorliegenden  Buche  erwähnt  wird,   einige  Gegen- 
bemerkungen zu  machen.     Allein  da  dieses  an  verschiedenen  Orten  des, 
an  mannigfaltigen  kleineren  iVufsätzen  sehr  reichen  Werkes  in  verschiedenem 
Tone   geschieht    so    möchte    es    einige  Schwierigkeit  haben,   die  rechte  Art 
der  Antwort   zu   treffen.     Hätte    indessen   Hr.  Graf  von  Buquoy   an    der 
Stelle  S.  446,    wo    er   sich  mit  dem  Unterzeichneten  förmlich  in  ein  Ge- 
spräch   einläßt,    sich    auf    das    größere    unter    dem    Titel:    Psychologie    als 
Wissenschaft,    herausgegebene   Werk    bezogen;    so    würde  schon  aus   Hoch- 
achtung für  die  großen  mathematischen  Kenntnisse  des  Verfs.  die  Gelegen- 
heit,   jenem    Gespräche    einige    Zusätze    zu    geben,    hier    nicht    unbenutzt 
bleiben.     iVUein    es    wird   dort  nur  eines  sehr  unbedeutenden  Schriftchens 
erwähnt,    welches   jetzt    recht  füglich  kann  vergessen   werden.      Und  über- 
dies genügt  es,  an   eine  Rezension  zu  erinnern,   die  man  in  diesen  Blättern 
erst  kürzlich   (Leipz.   Lit.-Zeitung  am    10.  und    11.  November    1828)  unter 
der    Überschrift    mathematische  Tsychologie    gelesen    hat.      Schon    die   bloße 
Pflicht  der  Dankbarkeit  würde  fordern,  ebenso  laut  als  gemäß  der  Wahr- 
heit,   bei    erster    Gelegenheit   anzuerkennen,    daß    dem    Wunsche,    welche 
jene   Rezension   des   Hrn.  Professor  Drobisch   veranlaßte,  über  alle   Hoff- 
nung hinaus  jetzt  entsprochen  worden.    Kein  Mißverständnis   entstellt  den 
Bericht;   vielmehr  ist  er  für  seine  Kürze  sehr  vollständig;  kein  bedeutender 
Anstoß    ist    genommen    an    dem    vorgelegten    Versuche    zur    Statistik    und 
Mechanik  des  Geistes;  wenigstens  macht  die  Rezension  davon  keine  An- 
zeige;   die  kritischen   Bemerkungen   aber,    durch   welche   die  etwaigen  An- 
sprüche  jenes  Versuchs    sollen   beschränkt  werden,    halten  ein  so  genaues 
Maß,    daß   sie   in  der  Stellung  und  Verbindung,    wie  sie  dort  vorgetragen 
sind,    hiermit    ohne    Widerrede,    und    mit    vollem    Respekt    für   die   Behut- 
samkeit des  mathematischen  Physikers  können  angenommen  werden.    Fragt 
nun    jemand,    was    mathematische   Psychologie    sei?    so    dient    vorläufig    zur 
Antwort:   es  ist  ein    Gegenstand,   worüber  ei?ier*   den   andern   versteht. 

*  Die  Redaktion  bemerkt  hierzu :  soll  wohl  heißen :   Keiner  — ! 


jQ^  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Droz,  Joseph,    INIitglied  der  französischen  Akademie,  Die  Anwendung 
der  Moral  auf  die  Politik.    Aus  dem   Französischen  übersetzt  und 
mit  einer  Einleitung  versehen  von  Aug.  v.  Blumröder,  —  Ilmenau, 
1827.     VIII  u.   228  S.    8.     (I    Thlr.) 
Gedruckt  in:  Jenaer  Literatur-Zeitung   1829,  Nr.  24,   25.     SW.  XII,  S.  616. 

Über  ein  großes  Thema  ein  kleines  Büchlein!  Jedoch  verdient  es 
recht  ernstlich  empfohlen  zu  werden;  ganz  besonders  für  den  weiten  Kreis 
solcher  Leser,  die  sich  über  populäre  Betrachtungen  nicht  erheben.  Denn 
die  Gesinnungen  des  Verfs.  haben  eine  seltene  Reinheit;  und  die  politischen 
Ansichten  eines  erfahrenen  Mannes,  der  Mitglied  der  französischen 
Akademie  ist,  dürfen  wohl  Aufmerksamkeit  erwarten.  Echte  Popularität, 
welche  frei  ist  von  der  Sucht,  zu  glänzen  und  zu  blenden,  findet  sich 
nicht  häufig;   aber  sie  findet  sich  hier  wirklich. 

Die  Schrift  zerfällt  in   vierzehn  Kapitel,  worin  nach   einigen  vorläufigen 
Gedanken   gesprochen   wird    von   der  Verschiedenheit   politischer   Lehren, 
von    der  Wirksamkeit   der  Regierungsform,    von  Revolutionen  zu  Gunsten 
der  Freiheit,  von   Mitteln   gegen   die  Revolutionen,  von  der  Religion,  vom 
Unterricht,   von   der   Freiheit,   die  unter  allen  Regierungsformen  vorhanden 
sein   soll,    von  Frankreichs  Zukunft,    vom   falschen  Ruhm,    von   der  neuen 
Richtung,    welche   die  Geister   erhalten   müssen;    den  Schluß   machen  Be- 
merkungen  über  Menschenbeurteilung  und  Winke  für  jüngere  Leser.     Zu 
den    wichtigsten    dieser    Kapitel    gehört   das   vom    falschen  Ruhme;    worin 
natürlich    Napoleon    den    Hauptgegenstand    der    Betrachtung    ausmacht. 
„Wenn    einst  (spricht  der  Verf.)  unsere  philosophische  Nachkommenschaft 
ihr  Urteil  über  ihn  fällen  soll,   so  wird  ein  edler  Zorn  ihre  Gemüter  be- 
wegen.    Er   hatte   eine    bewundernswürdige   Stärke   des   Willens   und   eine 
unvergleichliche   Tätigkeit;    aber   ihm   fehlte  Erhabenheit   der  Seele.     Fast 
alle    seine   Gefühle    gingen    aus   der  Selbstsucht    hervor,    wenige    aus   dem 
Sinne   für   Gerechtigkeit,   und    das   allgemeine  Glück   der  Menschheit   war 
ihm   ein  fremder  Gedanke.     Wie  es  geborene  Virtuosen  gibt,   war  er  ein 
geborener    Krieger.      Fortgerissen    von    einem    konvulsivischen    Vergnügen 
auf   dem   Schlachtfelde    wie    am  Spieltische,    wagte    er    heute   das   gestern 
Gewonnene,    er  verschlang  Soldaten,    und  forderte  andere,  um  sie  wieder 
zu    verschlingen;    so    ging    es    fort,    bis    er    zum    letzten    Male   nach   Paris 
kam.     Nur   in    der  Vergötterung   seiner  Person   wollte   er   die  JNIeinungen 
vereinigen.     Er   beschränkte    die    Moral   auf  Gehorsam,    und   seine  Politik 
bestand    in   der    Kunst,    die   Seelen    verkäuflich  zu   machen.     Seine  Pläne 
waren    bald   zwergartig,    bald   riesenhaft;    er   brauchte  Kammerherren  und 
das  Scepter  der  Welt.    Er  war  hinter  seinem  Zeitalter  zurück,  und  suchte 
es  zurückzuziehen."    So  urteilt  ein  Franzose;  und  wir  haben  dieses  Urteil 
darum   gleich   anfangs   ausgehoben,   weil  wir  mit  Bedauern  sehen,    daß  es 
sogar  Deutsche  gibt,  welche  anders  urteilen,  indem  ihre  Augen  vom  Lichte 
des  falschen  Ruhmes  geblendet  sind.     Mit  vollem   Rechte  sagt  der  Verf.: 
„Die    einzigen  Personen,    welche   dies  Urteil    bestreiten   mögen,    sind   die, 
welche    Buonaparte    mit    Wohltaten    überhäufte.      Sie    haben    hier    keine 
Stimme;    wenn   sie   über   den  Eroberer   schweigen,    so  lobe  ich  es;    wenn 


Joseph  Droz:  Die  Anwendung  der  Äloral  auf  die  Politik.  lOä; 

sie  versuchen  ihn  zu  rechtfertigen,  so  entschuldige  ich  ihre  Befangenheit." 
Aber   was    soll   man  sagen  zu  solcher  Befangenheit  ohne  solche  Gründe? 

Indem  der  Verf.  deutlich  zeigt,  daß  er  nicht  zu  den  Befangenen 
gehört,  erfüllt  er  die  erste  Bedingung,  unter  welcher  ein  Franzose  ver- 
dienen kann,  über  die  Verbindung  zwischen  Moral  und  Politik  gehört  zu 
werden.  Wir  wollen  ihn  weiter  hören,  und  zwar  zunächst  in  Ansehung 
eines  Gegenstandes,  der  an  sich  schon  das  höchste  Interesse,  und  außer- 
dem noch  eine  besondere  augenblickliche  Wichtigkeit  in  Frankreich  hat; 
—  wir  meinen  die  Religion.  „Dem  Christentume  war  es  vorbehalten, 
die  alte  Ordnung  der  Gesellschaft  zu  verändern,  indem  es  die  Sklaverei 
zerstörte.  Die  Welt  hat  ein  heiliges  Buch  empfangen,  worin  unsere 
Pflichten  auf  die  bestimmteste,  einfachste  und  rührendste  Weise  ver- 
zeichnet sind.  Aber  nach  meiner  Meinung  sollte  das  Nene  Testament  ganz 
allein  ausgeteilt  iverdeii.  Gegen  die  Ansicht  der  Bibelgesellschaften,  deren 
Eifer  ich  ehre,  glaube  ich,  daß  das  Alte  Testament  bloß  für  solche  Personen 
aufbehalten  werden  muß,  deren  heller  Verstand  sie  fähig  macht,  mit  Be- 
urteilung zu  lesen.  Man  muß  sehr  unterrichtet  sein,  um  sich  in  das  ent- 
fernte Zeitalter  zurück  zu  versetzen,  worin  dieser  Teil  der  heil.  Schrift 
aufgezeichnet  wurde."  Und  nachdem  der  Verf.  das  Christentum  aufs  leb- 
hafteste empfohlen  hat,  fügt  er  in  einer  Note  folgende  Bemerkung  hinzu: 
„Ich  bin  der  Meinung,  daß  eine  Überladung  religiöser  Gebräuche  und 
Handlungen  stets  nachteilig  sei.  Durch  Teilung  der  Aufmerksamkeit 
rückt  sie  uns  den  sittlichen  Zweck  des  Lebens  aus  den  Augen;  sie  täuscht 
uns  über  die  Mittel,  unsere  Bestimmung  zu  erfüllen.  —  Nichts  ist  nieder- 
schlagender, als  jene  törichte  Anmaßung  der  Menschen,  welche  sich  heraus- 
nimmt, gewisse  Wahrheiten  im  Namen  der  Religion,  deren  Sphäre  höher 
liegt,  als  unsere  Wissenschaft,  zu  verdammen.  Das  Evangelium  lehrt  uns 
kein  System  der  Metaphysik ;  es  enthält  nicht  die  nötigefi  Data,  um  zivischen 
den  Schiden  LoCKES  und  Kants,  welche  vielleicht  beide  gleichweit  von  de? 
Wahrheit  entfernt  sind,   zu  entscheiden." 

Vorstehendes  mag  zureichen,  um  die  Ansichten  des  Verfs.  einstweilen 
im  allgemeinen  zu  bezeichnen;  es  sind  Ansichten  weiser  Mäßigung  und 
reifer  Erfahrung;  er  nennt  mit  Recht  sein  Buch  ein  Vermächtnis  eines 
Mannes,  der  Revolutionen  gesehen  hat,  und  der,  im  Begriff  stehend,  allen 
irdischen  Dingen  den  Rücken  zu  kehren,  kein  persönliches  Interesse  mehr 
daran  nehmen  kann.  —  Jetzt  aber  müssen  wir  dem,  auf  dem  Titel  an- 
gekündigten, Hauptzwecke  des  Buches  näher  treten,  und  zuerst  den 
Mangel  an  Genauigkeit  bemerken,  welcher  in  den  Worten  des  Titels  liegt. 
Moral  soll  angewendet  werden  auf  Politik?  So  müßte  also  die  Politik 
schon  da  sein;  und  zwar  als  ein  gegebener  Stoff,  der  sich  gefallen  lasse, 
von  der  Moral  hintennach  umgeformt  zu  werden.  Nun  ist  freilich  die 
Politik  der  Salons  und  der  Klubs  wirklich  schon  längst  vorhanden,  ehe  die 
Moral  dazu  kommt;  aber  die  Kabinette  bekennen  durch  die  heilige  Allianz, 
daß  es  nicht  so  sein  solle;  und  die  Wissenschaft,  welche  wir  Politik  nennen, 
betrachtet  man  als  eine  besondere  Wissenschaft,  welche  unter  der  allgemeinen 
praktischen  Philosophie  steht.  Vielleicht  möchte  es  scheinen ,  als  ob 
solche  wissenschaftliche  Anordnung  der  Begriffe  hier  am  unrechten  Orte 
sei;    allein   gerade   umgekehrt   nötigt   uns  das  vorliegende  Buch,    tiefer  in 


Io6  J.  F,  Herbarts  Rezensionen. 


die   wissenschaftlichen   Verhältnisse   einzugehen,    da   es    zu    interessant   ist, 
um   kurz  abgefertigt  zu  werden.     Der  Übersetzer  nämlich,  obgleich  er  in 
der  Vorrede    sagt:    ,,in    den    Doktrmen    der  praklisclien  Philosophie   sind  uns 
unsere  französischen  Nachharn  vielfältig  überlegen,"    hat  dennoch  seinerseits 
den  Verf.  eine  Art  von  deutscher  Überlegenheit  fühlen  lassen  wollen,  indem 
er,    als    Einleitung,    einen    kritischen    Versuch    der    vom   Verf.    aufgestellten 
Pflichtenlehre  voranschickt,  sofern  dieselbe  als  Grundlage  der  Staatswissen- 
schaft   brauchbar    sein    solle.      Wo    nun    Verf.    und    Übersetzer    sich    als 
streitende  Parteien    darstellen,    da    bleibt   dem  Leser  das  Urteil  und  dem 
Rez.  sein  Gutachten  vorbehalten.     Wir  lassen  jetzt  zuerst  den  Übersetzer 
reden;    er  erklärt  sich  in   seiner   Einleitung  folgendermaßen:    „Die   Grund- 
idee,   von    welcher    unser   Verf.    ausgeht,    ist    diese,    daß  das   Recht  immer 
aus    dem  Standpunkte   der  Pflicht   zu   betrachten   sei;    und  daß  demnach 
das  Volk,  um   es  vor  politischen  Unruhen  zu  bewahren,  angehalten  werden 
müsse,  nicht  sowohl  seine  Rechte  zu  behaupten,  als  vielmehr  seine  Pflichten 
zu   erfüllen.      Dieser  Grundsatz  ist  gewiß  so  wenig  revolutionär,    so   wenig 
den    leidigen   demagogischen  Umtrieben   zusagend,   daß    selbst  die  Schild- 
halter   des    Despotismus    kein    Bedenken    tragen    werden,    demselben    bei- 
zustimmen.    Der  entgegengesetzten  Partei,  welche  sich  nicht  entschließen 
kann,    die    Menschen-    und   Volksrechte    aufzugeben,    möchte   die  Maxime 
des  Verfs.    um    desto    mehr    zuwider    sein,    wenn    sie    nicht  eine   Deutung 
zuließe,    nach    welcher  auch   die   Liberalen  sich  mit  ihr  versöhnen  werden. 
Wenn    der  Verf.    will,    daß    die   Menschen    nicht  soviel   von  ihren   Rechten 
reden  möchten:  so  ist  dies  nicht  so  gemeint,   daß  sie  ihre  Rechte  gänzlich 
aufgeben,   sondern   daß  sie  sich  gewöhnen   sollen,  dieselben,  oder  vielmehr 
die  Behauptung  derselben,   aus  dem  Standpunkte   der  Pflicht  zu  betrachten. 
Zwei  Maximen  haben  sich  bisher  abwechselnd  geltend  gemacht,  und  gegen- 
seitig   angefeindet,    die    Lehrmeinung    der  Unterdrückung    (la    doctrine    de 
l'opression)  und   die  Lehre  der  Rechte  (la  doctrine  des  droits).    Die  erste 
dieser    Lehren    führte    durch    ihre,    bis    zur    handgreiflichen   Absurdität  ge- 
triebene,   Konsequenz    endlich    die    zweite    Ansicht    herbei,    nach    welcher 
die  Volksmenge    durch   bestimmte  Rechte   vor  ■  der  Willkür  der  Herrscher 
geschützt   sein   sollte.     Indes    hat  die  Erfahrung  gelehrt,    daß  die  Rechts- 
doktrin  nicht   das   erwünschte  Resultat   herbeiführe;    und  den  Grund  von 
dieser    traurigen   Erscheinung   glaubt    der  Verf.    darin    zu    finden,    daß    mit 
dieser  Lehre  für  die  Völker  keine  Nötigung  verbunden  sei,  den  angefangenen 
Kampf  mit  der  unterdrückenden   Willkür  auszufechten."     Hier  wollen  wir 
zur  Erläuterung    den  Bericht   des  Übersetzers    unterbrechen    durch  eigene 
Worte    des    Verfs.:    „Man    werfe    einen    prüfenden    Blick    auf  die  Schüler 
der  Rechtstheorie,    um    zu    sehen,    wie    sie    sich  in  schwierigen  Fällen   be- 
nahmen.     Fünfhundert    derselben    waren    zu    St.   Cloud    versammelt;    eine 
Kompagnie  Grenadiere  und  das  Geräusch  der  Trommel  schlug  sie  in  die 
Flucht.    Hätten  diese  Männer  eine  Erziehung  genossen,  welche  die  Heilig- 
keit   der  Pflicht    einschärfte:    so    möchten    wenigstens    einige    derselben    es 
vorgezogen  haben,   die  Gefahr  zu  wählen  statt  der  Schande,    eine  so  ver- 
ächtliche Rolle   bei    dieser  politischen  Wachtparade  zu  spielen.     In  einer 
weit  gefährlicheren  Periode,  als  räuberisches  Gesindel  wütend  in  den  Saal 
des    National  -  Konvents    eindrang,    saß    ein    Mann    auf    dem    Stuhle    des 


Joseph  Droz:  Die  Anwendung  der  Moral  auf  die  Politik.  107 

Präsidenten,   der  sich  nicht  durch  das   entgegengeworfene  Haupt  seines  er- 
mordeten   Kollegen    aus    seiner   Fassung    bringen    Heß.      Boissy    d' Anglas, 
dachtest    du    in    diesem    kritischen   Motnettte,    unter  dem   Dolche  der  Meicchler, 
an    deine  Rechte  oder  an  deine  Pflichten'-'?    —    Nach  dieser  Unterl>rechung 
lassen    wir    den    Übersetzer    fortfahren.     „Da    unser  Verf.    von    einer    An- 
wendung   der  Moral    auf  die  Politik   handelt,    so   kann    die   von  ihm  ge- 
forderte Substitution  der  Lehre  von  den  Pflichten  an  die  Stelle  der  Lehre 
von  den  Rechten  nicht  anders  gemeint  sein, .  als  so,   daß  das  ganze  Rechts- 
gesetz   dem    Sittengesetze    untergeordnet    sein    soll,    und    diese    Forderung 
ist  allerdings  möglich.    Das  Sittengesetz  wird  abgeleitet  aus  den  ursprüng- 
lichen Zwecken    der  Vernunft."      (Hätte    der  Übersetzer  umgekehrt  gesagt, 
die   Vernunft    samt    ihren    Zwecken    wird    zu    den    sittlichen    Forderungen 
hinzugedacht,    und    als   psychologischer  Erklärungsgrund    untergeschoben    und 
erschlichen:    so    wäre    er   der  Wahrheit   näher   gekommen.)     „Die   mensch- 
liche Vernunft  ist  aber  mit  Sinnlichkeit  verbunden  (nach  der  alten   Lehre 
von  den  Seelenvermögen  freilich).      Ihre  Zwecke  müssen   zum  Teil  in   der 
Sinnenwelt    realisiert   werden;    und    dazu   wird    ein   friedliches    Zusammen- 
leben   mehrerer   Vernunftwesen    erfordert."      (Schlimm    genug,    wenn    dies 
friedliche   Zusammenleben    als  Mittel  zu  irgend  welchen  anderen  Zwecken 
gedacht  wird,   statt  daß  es  zu  den  unbedingten  und  schlechthin  ursprüng- 
lichen   Forderungen    der    vernünftigen  Überlegung    gehört.)      „Da    also    zu 
einer    vollständigen    sittlichen  Handlung    nicht    bloß    ein    innerer,    sondern 
auch  ein  äußerer  Freiheitskreis  gehört  (also  gibt  es  wohl  kein  vollständiges 
inneres  sittliches  Handeln.^),   so  muß  die  Vernunft,   ivcnn  sie  zur  Realisierung 
ihrer  Ziuecke  die  Möglichkeit  einer  Gesellschaft  verlangt  (da  würde  sie  etwas 
als    möglich    verlangen,    was    überall    in    die    Wirklichkeit   längst    eingetreten 
ist,   bevor  sich  Menschen  zu  dem  Grade  von  Ausbildung  erheben  konnten, 
den    man    Vernunft   nennt),    auch    unter    dieser    Bedingung    die  Aufstellung 
dieses  äußeren  Wirkungskreises  fordern." 

Hiermit  hat  uns  der  Übersetzer  schon  genug  gezeigt,  in  welchem 
Kreise  von  Lehren  und  Meinungen  er  stehen  geblieben  ist.  Alle  seine 
Redensarten  versetzen  uns  zurück  in  jene  Periode  des  Kantischen  und 
Fichteschen  Naturrechts;  in  welcher  man  die  Staaten  aufstellen  und  kon- 
struieren wollte,  anstatt  sich  die  Mühe  zu  geben,  erst  einmal  vor  allen 
Dingen  diejenigen  wirklichen  Gesellschaften  zu  begreifen,  und  sich  ihre 
inneren  Bewegungen  richtig  zu  erklären,  die  man  unter  dem  Namen  der 
Staaten  in  der  Welt  vorfindet.  Dazu  hätten  freilich  psychologische  Unter- 
suchungen gehört.  Denn  der  Staat  besteht  aus  Menschen,  und  die  Ver- 
bindung der  Menschen  liegt  noch  weit  mehr  in  den  Gesinnungen  und 
Gewöhnungen,  in  den  Motiven  und  Maximen  derselben,  als  in  der  äußeren 
Gemeinschaft  durch  die  Natur  des  Grundes  und  Bodens.  Die  alte  Fabel 
von  den  Seelenvermögen,  mit  der  Vernunft  an  der  Spitze,  konnte  nun 
ebensowenig  den  Bürger,  als  den  Menschen  begreiflich  machen;  daher 
schwärmte  man  im  Felde  der  bloßen  Konstruktionen  a  priori.  Und  hätte 
man  nun  wenigstens  diese  Konstruktionen  in  der  Idee  richtig  vollzogen! 
Aber  während  auf  der  einen  Seite  die  psychologischen  Erschleichungen 
soweit  getrieben  wurden,  daß  ein  sehr  berühmter  Schriftsteller  sich  sogar 
eine  eigene  und  besondere  juridische  Vernunft  aussann,  um  sie  der  aller- 


Io8  J.  F.  Herbarts  Rezensionen.. 

dings  völlig  selbständigen  Idee  des  Rechts  als  unnützen  Erklärungsgrund 
unterzuschieben,  meinte  man  andrerseits  den  Staat  als  eine  bloß  und 
lediglich  zum  Behuf  des  Rechts  vorhandene  Gesellschaft  beschreiben  zu 
dürfen,  welches  ebensowenig  erlaubt  als  ausführbar  ist.  Da  kam  selbst 
in  Kants  Naturrecht  der  unglückliche  Satz  zum  Vorschein:  quilibet  prae- 
sumitur  malus,  donec  securitatem  dederit  oppositi;  nun  sollten  sich  Menschen, 
die  gegeneinander  ein  solches  Vorurteil  hegten,  in  Staaten  zusammentun, 
die  nicht  etwa  Staaten  der  Not,  sondern  der  Vernunft  darzustellen  be- 
stimmt waren.  Und  während  Kant  die  sogenannte  gemäßigte  Staatsver- 
fassung, als  Konstitution  des  inneren  Rechts  des  Staats,  ein  Unding  nannte, 
wodurch  Willkür-Herrschaft  nur  bemäntelt  werde,  träumte  dagegen  Fichte 
sogar  von  Ephoren  und  Interdikt ;  und  die  politischen  Theorien,  welche 
die  Untersuchung  der  wirklichen  Natur  des  Staats  vernachlässigt  hatten, 
fanden  nicht  eher  ein  Ende  der  Schwärmerei,  als  bis  durch  eine  natür- 
liche Reaktion  der  Satz  erscholl:  ivas  ivirklich  ist,  das  ist  vennmftig. 
Hiermit  haben  wir  in  der  Kürze  an  den  Gang  jener  deutschen  Rechts- 
theorie erinnert,  welche  der  Übersetzer  dem   Verf.  entgegenstellen  will! 

Wir  sind  weit  entfernt,  Hrn.  v.  Blumröder  zu  beschuldigen,  daß 
er  sich  in  den  Gesinnungen  von  dem  Verf.  wesentlich  unterscheide.  Im 
Gegenteil:  er  sagt  deutlich,  daß  alle  gesellschajtlichen  Verhältnisse  und  Ein- 
iichttingcn  erst  von  der  Sittlichkeit  ihre  sichere  Grujidlage  nnd  die  Garantie 
ihrer  Dauer  erwarten.  Er  bekennt,  daß  keine  Rechtsschranke  so  fest  ist, 
welche  von  der  verderblichen  Selbstsucht  nicht  entweder  schlau  untergraben, 
oder  gewaltsam  übersprungen  werden  könnte.  Aber  er  meint,  wenn  das 
moralische  Element  sich  mit  der  äußeren  Rechtsform  vermischen  müsse,  um 
eine  wohltätige  Wirkung  hervorzubringen,  so  folge  noch  nicht,  daß  es  die 
Moral  allein  tue.  Die  Moral  allein?  Was  für  eine  Moral  ist  denn  die,  welche 
das  Recht  losgelassen,  und  ihm  einen  äußeren  Wirkungskreis  angewiesen 
hat?  Nichts  anderes  kann  diese  Moral  sein,  als  das  leidige  Residuum, 
welches  von  der  ganzen  und  unteilbaren  praktischen  Philosophie  übrig 
blieb,  indem  man  aus  Mißverstand  darum,  weil  die  Idee  des  Rechts 
wirklich  selbständig  und  von  anderen  praktischen  Ideen  unabhängig  be- 
steht, hieraus  den  falschen  Schluß  zog,  man  müsse  auch  die  Amveridungen 
trennen ;  man  müsse  dem  bloßen  Recht  einen  Wirkungskreis  anweisen, 
worin  es  allein  regiere;  man  müsse  in  den  Naturrechten  eine  Lehre  vom 
Staate  vortragen,  die  nur  allein  von  Rechtsbegriffen  ausgehe.  Nun  kam 
es  bald  dahin,  daß  man  nicht  bloß  die  Rechtstheorie,  sondern  sogar 
die  Politik  wissenschaftlich  von  der  Moral  Josriß.  Ausdrücklich  sagt  Hr. 
V.  Bl.,  es  sei  nicht  die  Sache  der  Politik,  die  lebendigen  Kräfte  hervor- 
zubringen, welche  sich  in  ihrer  Sphäre  bewegen  sollen.  Wenig  konsequent 
fügt  er  hinzu:  aber  die  Forderung  wird  ihr  gestellt,  diesen  Kräften  einen 
freien  Spielraum  zu  schaffen;  sie  muß  also  jede  Gelegenheit  ergreifen, 
diese  dynamischen  Momente  zu  üben,  zu  beleben  und  zu  stärken.  Wenn 
dies  letzte  wahr  ist,  so  ist  das  vorige  falsch.  Soll  die  Politik  die 
moralische  Volkskraft  (von  dieser  ist  hier  überall  die  Rede)  üben,  be- 
leben, stärken :  so  ist  es  allerdings  ihre  Sache,  diese  Kraft  hervorzubringen,- 
sofern  das  Wort  Hervorbringen  hier  überall  einen  Sinn  haben  kann. 
Hr.    V.  Bl.    schwankt    also    zwischen    seinen    besseren    Gesinnungen    und 


Joseph  Droz:   Die  Anwendung  der  Äloral  auf  die  Politik.  lOQ 


seinen  angenommenen  Lehrmeinungen.  Wäre  er  jenen  gefolgt,  so  würde 
er  an  keine  gültige  Politik  mehr  gedacht  haben,  außer  nur  an  eine  solche, 
deren  erster  und  herrschender  Gedanke  es  ist,  daß  allein  in  der  Sittlichkeit 
der  Nationen  die  Garantie  ihrer  gesellschaftlichen  Verhältnisse  liegen  kann ; 
und  deshalb  die  Auflösung  politischer  Probleme  ohne  Rücksicht  auf  das 
Sittliche,  ebensowohl  in  der  Theorie  eine  bare  Torheit,  als  in  der  Praxis 
ein  Vergehen  ist.  Hätte  Hr.  v.  Bl.  dieses  deutlich  eingesehen,  so  würde 
er  sich  ein  ganz  anderes  Geschäft  gemacht  haben,  als  dies,  dem  Verf. 
im  Namen  der  unter  uns  gangbaren  Naturrechte  zu  widersprechen.  Gerade 
umgekehrt,  kam  es  darauf  an,  zu  zeigen,  daß  der  Mann,  welcher  Revo- 
lutionen gesehen  hat,  und  welcher  ebensowenig  dem  Kriegshelden  Frank- 
reichs, als  der  geistlichen  Herrschsucht  das  Wort  redet,  einen  weit 
richtigeren  Blick  verrät,  als  den  unsere  einseitigen  Naturrechte  gewähren 
können.  Droz  sagt:  „Ich  behaupte,  daß  wir  uns  nur  einer  halben  Civili- 
sation  rühmen  können.  Wie  jetzt  die  gesellschaftlichen  Verhältnisse 
stehen,  kann  man  uns  nach  zwei  ganz  entgegengesetzten  Ansichten  be- 
trachten. Zahlreiche  Tatsachen  machen  uns  auf  merkliche  Verbesserungen 
in  dem  Verstände  und  den  Sitten  der  Menschen  aufmerksam.  So  hat 
man  mit  Verwunderung  gesehen,  wie  die  französische  Tätigkeit  nach  zwei 
feindlichen  Einfällen  ihre  ungeheueren  Verluste  verbesserte.  Diesem 
Wunder  ging  ein  anderes,  vielleicht  noch  auffallenderes  vorher:  man  sah 
furchtbare  Truppenmassen  sich  ohne  Geräusch  zerstreuen  und  nach  ihren 
heimischen  Herden  zurückkehren,  um  daselbst  die  Übung  friedlicher  Ge- 
werbe wieder  vorzunehmen;  während  ehemals  die  Verabschiedung  einer 
Armee  Schrecken  verbreitete  und  das  Land  mit  Räubern  bevölkerte. 
Bei  Beobachtung  dieser  merkwürdigen  Tatsachen  bewundere  ich  die  Fort- 
schritte der  Civilisation;  aber  wendet  sich  mein  Blick  auf  unsere  lärm- 
vollen Debatten,  auf  unsere,  am  Tage  liegende,  Unfähigkeit,  nützliche 
Einrichtungen  zu  schaffen,  auf  unsere  Sorglosigkeit,  die  bestehenden  zu 
erhalten;  erinnere  ich  mich  an  die  blutigen  Auftritte  unserer  Revolutionen, 
an  die  so  langwierige  Verheerung  Europas,  und  an  jenes  Kriegsgeschrei, 
womit  ein  erobernder  Despot  begrüßt  wurde,  so  muß  ich  mir  sagen: 
welche  mühevolle  Anstrengungen  sind  noch  nötig,  um  den  letzten  Rest 
der  Wildheit  in  uns  zu  vertilgen!" 

Das  ist  die  Sprache  eines  Mannes,  der  erstlich  beobachtet,  um  das 
Wirkliche  zu  erkennen,  wie  es  ist,  damit  er  dasjenige,  u'ora?// die  Theorie 
soll  ano-ewendet  werden,  nicht  verfehle;  zweitens  das  Beobachtete  nicht 
nach  einseitigen  Rechtsprinzipien,  sondern  in  sittlicher  Hinsicht  beurteilt, 
um  den  vorhandenen  Unterschied  des  Wirklichen  und  des  Vernünftigen 
vor  Augen  zu  stellen.  Hier  ist  keine  Politik  vor  der  Moral :  wohl  aber 
geht  der  Anwendung  sittlicher  Grundsätze  die  Menschenkenntnis  voraus, 
welche,  wenn  sie  auf  den  wissenschaftlichen  Standpunkt  erhoben  wird, 
nichts  anderes  ist  als  Psychologie  verbunden  mit  der  Geschichte;  denn 
aus  dieser  Verbindung  muß  zuvörderst  die  Statik  und  Mechanik  der 
roheren  Kräfte  im  Staate,  dann  die  allmähliche  Annäherung  an  einen 
organischen  Zusammenhang  derselben,  endlich  die  Lenksamkeit  des  Or- 
ganismus im  Staate  nach  mancherlei  Maximen  und  Gesetzen  begreiflich 
werden,    ehe  man  daran  denken  kann,    von  den  praktischen  Ideen  einen 


1 1 0  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

wahrhaft  praktischen  Gebrauch  zu  machen.  Die  angeführte  Stelle  des 
Verfs.  aber  ist  noch  in  anderer  Hinsicht  merkwürdig.  Wo  findet  er  die 
auffallendsten  Beweise  der  vorgeschrittenen  Civilisation  ?  Bei  den  Truppen- 
massen, die  sich  ruhig  nach  Hause  begeben ;  —  also  im  Volke.  Und  wo 
findet  er  den  Rest  der  Barbarei?  In  den  lärmvollen  Debatten;  natürlich 
der  Deputiertenkammer  und  der  Zeitungen;  also  in  demjenigen  Teile  der 
Nation,  welcher  für  den  gebildeten  gilt.  So  ist's;  der  Fehler  liegt  nicht 
so  sehr  oben  und  unten,  als  in  der  IMitte. 

Über  die  Pflichtenlehre,  welche  Droz  an  den  Platz  der  Rechtslehre 
setzen  will,  haben  wir  vorhin  den  Übersetzer  sprechen  lassen;  es  ist  aber 
zweckmäßig,  jetzt  die  eigenen  Worte  des  Verfs.  anzuführen,  damit  man 
weder  zuviel  noch  zu  wenig  davon  erwarte.  „Der  Mensch  hat  ohne 
Zweifel  seine  bestimmten  Rechte,  aber  wenn  die  Behauptung  deiner 
Rechte  ausschließend  deine  Gedanken  beschäftigt,  so  wirst  du  zur  flachen 
Gemeinheit  herabsinken,  und  vielleicht  wechselsweise  als  unruhiger  Kopf 
und  als  feiger  Schwächling  erscheinen.  Die  Pflichtenlehre  hingegen  würde 
den  Rechten  eines  jeden  die  gründlichste  und  vollständigste  Garantie  ge- 
währen. Sie  nimmt  zu  ihrem  Ziele  keineswegs  jene  eingebildete  Gleich- 
heit, welche  von  der  Theorie  der  Rechte  so  vielen  verirrten  Geistern  vor- 
gespiegelt wird;  sie  achtet  vielmehr  die  natürliche  und  gesellschaftliche  Un- 
gleichheit; aber  sie  arbeitet  unaufhörlich  daran,  daß  daraus  kein  Moment 
der  Unterdrückung  hervorgehe;  denn  sie  stellt  den  Grundsatz  auf,  daß 
unsere  Verbindlichkeiten  gegen  unsere  Mitmenschen  in  dem  Maße  wachsen, 
wie  die  Mittel  zu  einem  wirksamen  Einflüsse  auf  sie  sich  vermehren.  — 
Man  kann  sein  Recht  unbedenklich  aufgeben;  aber  die  Verbindlichkeit 
der  Pflicht  bleibt  immer  unerläßlich. 

Wie,  wird  man  nun  einwenden,  gibt  es  keine  unveräußerlichen  Rechte? 
Ich  kenne  keine^  welche  es  an  7ind  für  sich  wären;  die  Pflicht  erst  gibt 
ihnen  diesen  Charakter."  (Hierbei  ist  wiedenim  der  Übersetzer  geschäftig. 
in  einer  Note  den  falschen  Satz  anzubringen;  die  natürlichen  Rechte  des 
Menschen  gehen  aus  dem  Begriff  seiner  Würde  hervor;  diese  aber  erhält 
ihren  eigenen  Glanz  erst  von  der  Sittlichkeit ;  —  -folglich,  setzen  wir  hinzu, 
können  wir  mit  einem  solchen  Begriff  der  Menschenwürde,  wobei  dieser 
eigentliche  Glanz  Jehlt.  nichts  anfangen;  und  bitten  deshalb  den  Hrn.  v.  Bl. 
einmal  zu  überlegen,  was  für  eine  Verminderung  oder  Vermehrung  wohl 
nach  seiner  Ansicht  die  natürlichen  Rechte  des  Menschen  erleiden  müßten, 
wenn  man  von  rohen  und  wilden  Menschen  aufstiege  zu  Gebildeten,  oder 
umgekehrt  herab  von  edeln  Männern  zu  verworfenen  Verbrechern.  Ist 
es  wirklich  die  Meinung,  daß  demgemäß  die  Menschenrechte  sich  ändern 
sollen,  oder  mit  welchen  Fiktionen  denkt  man  hier  der  Theorie  nach- 
zuhelfen?) ,,Das  Recht,  in  seinem  ganzen  Umfange,  kann  voti  demjenigen, 
der  es  besitzt,  verieidigt^i  verändert  und  veiiooifen  voerden."  (Hier  können 
wir  auch  mit  dem  Verf.  nicht  ganz  übereinstimmen;  allein  der  Gegen- 
stand hat  eben  deswegen,  weil  es  keine  an  sich  unveräußerlichen  Rechte, 
im  strengsten  wissenschaftlichen  Sinne,  gibt,  sondern  der  ganze  Gedanke 
nur  näherungsweise  richtig  ist,  —  eine  Dunkelheit,  die  sich  nicht  mit 
wenigen  Worten  aufklären  läßt.)  ,.,Der  Charakter  der  Unveräußerlichkeit, 
ivelche    einige  miserer  Rechte  so   ivichtig  zu   machen  scheint,    verritigert  in  der 


Joseph  Droz:  Die  Anwendung  der  Moral  auf  die  Politik.  I  j  I 

Tat  unsere  Macht  über  dieselben.  Die  Einschränkung,  weiche  unsere  Willkür 
dadurch  erfährt,  würde  uns  unangenehm  sein,  wenn  wir  nicht  durch  ein 
Gefühl  entschädigt  würden,  welches  zu  den  edelsten  gehört,  die  der  Mensch 
haben  kann;  das  Gefühl  der  frehvilligen  Uiiterruerfiing  unter  die  Heiligkeit 
des  Gesetzes.  Ein  reines  und  einfaches,  d.  i.  ohne  Beimischung  von  Pflicht 
gegebenes  Recht  ist  weiter  nichts,  als  eine  Befugnis,  von  der  man  Ge- 
brauch machen  kann  oder  nicht.  Wenn  mein  Recht  nichts  weiter  als 
ein  Recht  ist,  so  kann  ich  es  aufheben."  (Hier  hat  wohl  der  Verf.  nicht 
daran  gedacht,  daß  es  auch  Naturbedürfnisse  gibt,  die  man  nicht  zum 
Schweigen  bringen  kann;  und  daß  ursprünglich  der  Begriff  derjenigen 
Rechte,  deren  geschehene  Veräußerung  als  ungültig  angesehen  wird,  sich 
vielmehr  auf  das  Unerträgliche  solcher  Rechte,  als  auf  das  Pflichtwidrige 
derselben  bezieht.  Es  ist  zwar  richtig,  daß  sittliche  Gründe  hinzukommen ; 
aber  sie  sind  nicht  die  erste  und  einzige  Quelle,  woraus  die  Behauptung 
des  Unveräußerlichen  fließt,  und  man  gewinnt  in  Dingen  dieser  Art  nichts 
durch  Übertreibung.)  „Selbst  dann,  wenn  andere  Menschen  nicht  un- 
mittelbar bei  unserer  Entschließung  interessiert  sind,  fühlen  wir  uns  ver- 
bunden, solche  Befugnisse  geltend  zu  machen,  welche  mit  unserer  Würde, 
als  freie  und  vernünftige  Wesen,  im  wesentlichen  Zusammenhange  stehen. 
Die  Pflicht  gibt  mir  die  Vorschrift,  mich  nicht  in  meinen  eigenen  Augen 
verächtlich  zu  machen;  die  Pflicht  gebietet  dem  Menschen,  in  seiner 
Person  nicht  ein  aus  der  Hand  des  Schöpfers  hervorgegangenes  Wesen 
herabsetzen  zu  lassen.  Man  setze  das  Wort  Recht  an  die  Stelle  des 
Wortes  Pflicht.^  und  versuche  dann  diese  Ideen  auszudrücken;  es  wird 
nicht  gelingen,  man  wird  eine  unverständliche  Sprache  reden.'' 

Die  ganze  Streitfrage,  welche  hier  behandelt  wird,  erinnert  uns  an 
den  Spruch  des  Dichters:  Du  mußt  entweder  Amboß  oder  Hammer  sein. 
Mit  anderen  Worten:  du  hast  nur  die  Wahl,  entweder  andere  zu  drücken 
durch  deine  Rechte,  oder  dich  selbst  zu  drücken  durch  deine  Pflicht. 
Besser  wäre  es,  anzuerkennen,  daß  beides  zugleich  und  nebeneinander 
stattfindet.  Aber  diejenigen,  welche  Recht  und  Pflicht  aus  dem  höheren 
Prinzip  von  der  Würde  der  menschlichen  Natur  ableiten  wollen,  empfinden 
insofern  richtig,  als  es  wahr  ist,  daß  überall  nicht  in  irgend  einem 
drückenden  Verhältnisse  der  erste  Ursprung  dieser  Begriffe  zu  suchen  ist, 
sondern  in  einem  ästhetischen  Prinzip.  Jedoch  irren  sie  sich  abermals, 
indem  sie  dies  Prinzip  für  ein  einziges  halten.  Darum  können  sie  nie- 
mals den  eigentlichen  Sinn  derjenigen  Beurteilung  menschlicher  Angelegen- 
heiten erreichen,  die  sich  im  Laufe  des  Lebens,  sowohl  bei  Staatsmännern 
als  bei  dem  Volke,  stets  von  neuem  erzeugt.  Unserem  Verf.  werden 
andere  sagen:  setze  nun  umgekehrt  das  Wort  Pflicht  an  die  Stelle  des 
Wortes  Recht^  und  versuche  deine  Gedanken  auszudrücken;  es  wird  nicht 
überall  gelingen;  du  wirst  eine  unverständliche  Sprache  reden.  Und  wir 
fügen  hinzu,  geradeso  wird  es  denen  gehen,  die  überall  bis  zur  Würde 
des  Menschen  aufsteigen  wollen,  um  jedes  vorhandene  Recht  daraus  ab- 
zuleiten. Der  erste  Fehler  liegt  immer  darin,  daß  man  überall  Einheit 
sucht;  auch  da,  wo  in  den  Gegenständen  nicht  Einheit,  sondern  ursprüng- 
liche Vielheit  ist;  welches  falsche  Streben  man  alsdann  ebenso  fälschlich 
legalisieren    will    durch    das    Vorgeben    der   sogenannten     Vernunft,    deren 


112  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


Charakter  darin  bestehe,  alles  auf  Einheit  zurückzuführen.  Diese  Ver- 
nunft ist  das  Hirngespinst  der  Psychologen,  so  wie  die  Einheit  der  Natur 
das  Hirngespinst  der  Naturphilosophen.  Zu  dem  ersten  Fehler,  welcher 
die  synthetische  Untersuchung  verdirbt,  kommen  andere  und  neue  Fehler, 
indem  man  die  Analysis,  die  stets  der  Synthesis  zur  Seite  gehen  muß, 
entweder  vernachlässigt  oder  einseitig  betreibt.  Die  praktische  Philo- 
sophie ist  einmal  zerrissen  in  das  vermeinte  Zwangsrecht  und  in  die  Moral; 
jenes  Bruchstück  behandeln  die  Juristen,  dieses  die  Theologen ;  aber  ver- 
gebens sieht  man  sich  um  nach  einem  solchen  Kreise  von  unbefangenen 
Denkern,  denen  die  Kenntnis  der  Rechte  und  der  Pflichten  gleichmäßig 
geläufig,  und  die  zur  Analyse  der  einen  wie  der  anderen  gleich  geschickt 
wären.  Findet  sich  nun  auch  hier  und  da  ein  dialektischer  Kopf,  der 
einzudringen  vermag  entweder  in  das  Gewebe  der  mannigfaltigen  Rechts- 
begrifie  oder  in  das  Gewebe  der  Begriffe  von  Pflichten,  Tugenden  und 
Gütern;  so  fehlt  es  doch  an  solchen  Augen,  die  für  beides  zugleich  offen 
wären  und  jedes  an  seine  rechte  Stelle  zu  setzen  vermöchten.  Wir  reden 
hier  nicht  bloß  von  Droz  und  Blumröder;  es  gibt  andere,  weit  geübtere 
Denker,  bei  denen  sich  dieselben  Fehler  nach  einem  größeren  Maßstabe 
wiederholen. 

Die  Anwendung,  welche  Droz  von  seiner  Pflichtenlehre  machen  will, 
offenbart  sich  im  Anfange  des  dritten  Kapitels.  ,, Nachdem  die  wahre 
Grundlage  der  Staatskunst  gefunden  ist,  fühlt  man  das  Bedürfnis  einer 
sicheren  Basis  der  gesellschaftlichen  Verbesserungen;  man  findet,  daß  es 
nötig  ist,  einen  gewissen  Einfluß  auf  die  Seele  des  INIenschen  auszuüben, 
um  ihn  in  den  Stand  zu  setzen,  seine  Pflichten  zu  erfüllen.  Geht  man 
von  der  Lehrmeinung  der  Rechte  aus,  so  vergreift  man  sich  gar  sehr  in 
den  Mitteln.  Man  bediente  sich  der  Gewalt  für  das  System  der  Unter- 
drückung, —  der  Verbesserer  mm  glaubt  genug  zu  tun,  wenn  er  der  Gewalt 
eine  andere  Stelle  aniveist.  —  Es  war  einmal  eine  Zeit,  da  man  die  ge- 
setzgebende Gewalt  zweien  Räten,  die  vollziehende  fünf  Direktoren  übertrug. 
Ein  Deputierter  verlangte  noch  eine  vierte  Autorität,  ein  Senat  sollte  auf- 
gestellt werden,  um  über  Räte  und  Direktorium  die  Aufsicht  zu  führen. 
Würden  nicht  wiederum  Oberaufseher  über  die  Aufseher  nötig  gewesen 
sein?  Den  Geist  muß  man  erfassen;  auf  die  Seelen  muß  man  wirken. 
Die  materialen  Mittel  gehören  in  die  zweite,  geringere  Klasse.  —  Die 
Gesetze  .sprechen  nicht  von  selbst,  sie  brauchen  zu  ihrer  Auslegung  ge- 
wisse Organe.  Sind  die  Gemüter  nicht  durch  die  Schule  der  Pflicht  ge- 
gangen, so  wird  die  Auslegung  immer  fehlerhaft  sein.  Finden  die  Gesetze 
nicht  in  den  Gemütern  eine  mächtige  Stütze,  so  werden  die  weisesten 
Gesetze  wie  ein  drückendes  Joch  abgeschüttelt.  Die  Gemeinheit  beiuegt 
sich  am  liebsten  im  Kreise  politischer  Mittelmäßigkeif ,  und  die  schönsten  In- 
stitutio7ien  finden  ihren  Tod  in  ihrer  Schönheit.  —  Habt  ihr  zuviel  von 
politischer  Freiheit,  ohne  gehörige  Vorbereitung:  so  werde  ich  euere 
Vorrechte  auf  dem  Papiere  finden,  und  die  Sklaverei  wird  in  eueren 
Häusern  wohnen.  Dennoch  sind  die  gemischten  Regierungsfonnen  die 
besten.  Zwar  im  Zustande  der  Kindheit  stehen  die  Völker  ganz  unter 
Vormundschaft;  wenn  hingegen  ihre  Fähigkeiten  sich  soweit  entwickeln, 
daß    sie   sich  über  ihr  Lokal  -  Interesse  beraten  können,    dann  wird  ihnen 


H.  Ritter:  Die  Halbkantianer  und  der  Pantheismus  ii^ 


eine  administrative  Freiheit  nötig,  durch  Munizipal-  und  Provinzial -Ver- 
sammlungen. Endlich  kommt  die  Epoche  der  Mündigkeit  und  politischen 
Freiheit.  Revolutionen  schaden  dreifach:  erstlich  durch  gehässige  Leiden- 
schaften. Die  Parteien  erreichen  eine  solche  Höhe  der  Verkehrtheit,  daß 
sie  danach  streben,  nicht  was  jeder  am  nützlichsten,  sondern  was  der 
Gegenpartei  am  widrigsten  ist.  Zweitens  durch  Entmutigung.  Von  den 
verschiedenen  streitenden  Parteien  sind  so  viele  richtige  Ideen  verdreht 
worden,  daß  die  edleren  Gemüter  zu  der  Überzeugung  gelangten,  man 
müsse  sich  Schweigen  auferlegen  auf  einer  Erde,  wo  die  heiligsten  Ge- 
danken vergiftet,  und  die  Worte  des  Friedens  selbst  zum  Kriege  gemiß- 
braucht werden.  Drittens  durch  den  Egoismus,  dessen  verhängnisvolle 
Schulen  die  Revolutionen  sind.  Denn  es  kommen  Menschen  aus  ihnen 
hervor,  denen  nichts  für  nützlich  gilt  als  Gold,  nichts  für  gerecht  als  die 
Stärke,  nichts  für  klug  als  die  Selbstsucht.  Denke  ich  an  die  Leiden- 
schaften der  Revolution,  die  Grausamkeiten  der  Schreckensregierung,  und 
an  die  Verführungen  des  Kaiserreichs,  dann  wundere  ich  mich,  daß  es 
noch   einige  ruhige,   mutvolle  und   uneigennützige   Männer  gibt.'' 

Man  braucht  nicht  Revolutionen  gesehen  zu  haben,  um  diese  Sprache 
des  Hrn.  Droz  wahr  und  treffend  zu  finden.  Und  diejenigen  Menschen, 
welche  nichts  im  voraus,  nichts  durch  Nachdenken  erkennen,  sondern  alles 
selbst  erfahren  wollen,  werden  immer  zu  spät  weise.  Richtige  Begriffe  müssen 
im  voraus  fest  stehen,  damit  man  aus  der  Ferne  beobachten,  fremde  Er- 
fahrung sich  aneignen,  den  Unterricht  der  Geschichte  fassen,  behalten,  be- 
nutzen könne.  Aber  die  alten  psychologischen  Fabeln  geben  keine  richtigen 
Begriffe  von  Menschen;  und  solange  das  Zwangs -Naturrecht  sich  gegen 
solche  Lehren,  wie  die  des  Verfs.  glaubt  auflehnen  zu  müssen,  werden 
wir  immer  von  neuem  die  leidige  Klage  anzuhören  haben,  über  den 
Staat  sei  Streit  zwischen  Philosophie  und  Erfahrung. 


Ritter,  H.,  a.  o.  Prof.  a.  d.  Univ.  Berlin,  Die  Halbkantianer  und 
der  Pantheismus.  Eine  Streitschrift,  veranlaßt  durch  Meinungen 
der  Zeit  und  bei  Gelegenheit  von  Jäsches  Schrift  über  den  Pantheismus. 
■ —   Berlin    1827. 

Jäsche,  Gottlieb  Benjamin,  kaiserl.  russ.  Staatsrat  und  Prof.  der  Philos. 
in  Dorpat^  Der  Pantheismus  nach  seinen  verschiedenen 
Hauptformen,  seinem  Ursprünge  und  Fortgange,  seinem 
spekulativen  und  praktischen  Wert  und  Gehalt.  Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  und  Kritik  dieser  Lehre  in  alter  und  neuer  Philosophie. 
2.  Bd.  —  Berlin  1828. 
Gedruckt  in:  Leipziger  Literatur-Zeitung  1829,  Nr.  106,   167.     SW.  XII,  S.  56;. 

Daß  Hrn.  Staatsrat  Jäsches  schätzbares  Werk  über  den  Pantheismus, 
dessen  erster  Teil  in  diesen  Blättern  bereits  angezeigt  worden,  bald 
Widerspruch  finden  würde,    ließ  sich  erwarten.     Daß  man  ihn  aber  nicht 

Herbarts  Werke.     XIII. 


114  J'  ^*  Herbarts  Rezensionen. 


einmal  ausreden  läßt,  obgleich  der  zweite  Band  in  der  Vorrede  des  ersten 
schon  angekündigt  war,  scheint  auf  starke  Reizung  oder  Reizbarkeit  hin- 
zudeuten. Gleichwohl  ist  Hr.  Prof.  Ritter  von  Hrn.  J.  unter  denjenigen 
Gelehrten  genannt  worden,  welchen  er  Vorarbeiten  verdanke.  Und  das 
ganze  Werk  zeichnet  sich  aus  durch  Ruhe  und  Humanität,  womit  es 
einen  der  streitigsten  Gegenstände  behandelt.  Hr.  Prof.  R.  beginnt  auch 
nicht  mit  Klagen  über  Hrn.  J.,  sondern  über  mehrere  Rezensenten,  welche 
ihn  und  andere  des  Pantheismus  beschuldigten.  Die  angegriffene  Lehre 
aber  gehört  in  seinen  Augen  zu  denen,  ohne  welche  niemand  der  ewigen 
Seligkeit  teilhaftig  werden  kann;  Origenes,  der  heilige  Athanasius,  der 
heilige  Augustinus,  der  heilige  Anseimus,  und  wie  die  Pfeiler  der  Kirche 
weiter  heißen,  müssen  dafür  zeugen.  Nun  griff  er  zu  der  Schrift  von  J., 
erwartend,  was  er  nicht  fand!  Er  erwartete  aber,  die  Anschauung  der 
ganzen  Geschichte  zeige  nicht  nur  die  Wurzel,  von  welcher  eine  Richtung 
des  Geistes  beginne,  sondern  auch  den  ganzen  Umfang,  über  welchen  sie 
sich  verbreiten  könne.  Ist  denn  die  Geschichte  schon  ein  Ganzes?  Er 
klagt,  unsere  deutsche  Philosophie  sei  so  neu,  daß  sie  ihre  Jugend  nicht 
verleugnen  könne;  er  klagt  über  „Neulinge,  welche  auf  den  alten  Adel 
schmähen;  weil  sie  ihn  nicht  besitzen."  x\ndere  hört  man  klagen,  daß 
unsere  Philosophie  sich  ein  ältliches  Ansehen  gebe,  und  aus  Streit  und 
Zank  nicht  herausfinden  könne,  weil  es  ihr  an  neuen  Verdiensten  fehle; 
so  daß  sie  auf  den  alten  Tummelplätzen  festgebannt  scheine,  während 
unsere  Wissenschaften  rasch  fortschreiten.  Da  wir  nun  einmal  in  einer 
Welt  leben,  worin  es  sehr  viele  verschiedene  Meinungen  gibt,  so  wird 
sich  Hr,  R.  auch  wohl  müssen  gefallen  lassen,  daß  Hr.  J.  bei  Sekten- 
namen auf  das  Prinzip  eines  Systems  sieht,  während  er  freilich  „schon 
früher"  seine  Meinung  dahin  abgegeben  hat,  daß  dergleichen  Namen  nur 
das  Extrem  bezeichnen  sollten,  wozu  ein  Keim  des  Unrichtigen,  rein  aus- 
gebildet, führen  könnte.  Und  so  möchte  es  auch  wohl  eine  Partikular- 
Meinung  und  ein  Notbehelf  bleiben,  wenn  er  "behauptet:  es  gebe  gar 
keine  wahren  und  reinen  Pantheisten,  sondern  nur  hier  und  da  eine 
Richtung  der  Denkart,  welche  sich  dem,  was  man  Pantheismus  mit  Recht 
nenne,  annähere.  Indem  er  aber  diesen  Satz  auf  einen  allgemeinen  stützt, 
—  nämlich,  daß  es  keinen  reinen,  durch  das  ganze  Leben  hindurch- 
geführten, Irrtum  geben  könne,  —  wird  ein  so  sanfter  und  billiger  Gegner, 
wie  Hr.  J.,  gewiß  nicht  Anspruch  machen,  das  Leben  irgend  eines  Menschen 
genau  und  vollständig  zu  beobachten  und  zu  beurteilen. 

Es  ist  eine  schlimme  Sache  für  eine  Streitschrift,  wenn  sie  nur  auf 
unbestimmte  Veranlassung  durch  Meinungen  der  Zeit,  und  nur  bei  Ge- 
legenheit, nicht  aus  dringenden  Gründen  hervortritt.  Der  Streit  muß  als- 
dann erst  geschaffen  werden,  und  dazu  gehört  vielmehr  ein  dogmatischer, 
als  polemischer  Vortrag.  So  findet  es  sich  hier.  Verlangt  nun  jemand, 
wir  sollen  R.s  Kampf  gegen  J.  beschreiben,  so  müssen  wir  klagen  über 
Mangel  an  Stoff;  will  aber  jemand  eine  dogmatische  Lehre  kennen 
lerpen,  die  sich  durch  die  Negation  ankündigt,  sie  heiße  mißbräuchlich 
Pantheismus,  so  verweisen  wir  ihn  nicht  bloß  auf  die  ganze  zweite 
Hälfte  dieser  Schrift,  sondern  auch  auf  eine  Menge  von  Behauptungen 
und  Argumenten  der  ersten  Hälfte,    eine  Menge,  die  in  vielem  Betrachte 


H.  Ritter:  Die  Halbkantianer  und  der  Pantheismus. 


115 


für  uns  zu  groß  und  zu  bunt  ist;  daher  statt  eines  Berichts  wenige  Proben 
genügen  müssen. 

Zuerst  ein  paar  polemische  Kunststücke!  „Wir  wollen  es  zugeben'- 
(was  schwerlich  ein  Kantianer  begehrt),  „der  Mensch  in  seinem  irdischen 
Leben  mag  vor  Gott,  wie  vor  sich  selbst,  nur  Erscheinungen  erkennen ; 
so  ist  ja  eben  diese  Erkenntnis  von  seiner  Lage  eine  Erkenntnis,  die 
ebenso  in  Gott  ist,  wie  in  ihm,  mithin  eine  übersinnliche  Erkenntnis;  und 
es  ist  nicht  wahr,  was  die  Kantianer  sagen,  wir  wüßten  nichts  vom  Über- 
sinnlichen." Ja  freilich,  wenn  der  Kantianer  das  Geschenk  eines  trans- 
cendenten  Wissens,  wie  die  menschliche  Erkenntnis  sich  in  der  Gottheit 
projiciere,  unbehutsam  annimmt;  so  ist  er  leicht  überrumpelt.  Und  sieg- 
reich setzt  Hr.  R.  hinzu:  „Nimmt  man  an,  das  Resultat  der  Kantischen 
Kritik  sei  nicht  eine  ewige  Wahrheit,  und  nicht  in  Gott;  so  heißt  ja  dies 
nichts  anderes,  als:  auch  dies  sei  ungewiß,  daß  der  Mensch  bloß  sinnliche 
Erscheinungen  zu  erkennen  vermöge."  Ein  zweites  Kunststück:  „Die 
Freiheit  des  Willens  kann  Gegenstand  meines  Denkens  werden;  überzeuge 
ich  mich  nun,  daß  ich  mir  Freiheit  zuschreiben  müsse,  genötigt  durch  das 
gesetzmäßige  Verfahren  meiner  Vernunft;  so  erhalte  ich  eine  Überzeugung 
des  vernünftigen  Denkens,  welche  ich  nicht  anders,  als  ein  Wissen  nennen 
kann"!  Daß  der  Kantianer  nimmermehr  den  verschwiegenen  Obersatz  in 
diesem  Schlüsse:  alle  vernünftige  Überzeugung  ist  gleichartig,  und  heißt 
Wisseii  —  einräumen  werde,  dies  ignoriert  Hr.  R.,  damit  sein  Kunst- 
stück scheinen  möge  zu  gelingen.  Dritte  Probe:  „Wenn  wir  der  Vernunft 
das  Recht  zugestehen  müssen,  über  das  Freie  im  menschlichen  Leben 
ein  Urteil  abzugeben;  so  kommen  unter  den  Erscheinungen,  in  welchen 
das  Freie  ist  (?),  auch  Erscheinungen  vor,  in  welchen  das  Gute  ist  (?). 
Nun  ist  aber  wohl  kaum  irgend  etwas  sicherer^  als  daß  Gott  das  wahr- 
haft Gute  sei,  und  daß  mithin  in  allem  Guten  auch  zugleich  das  Wesen 
Gottes  erkannt  werde."  Erkannt?  oder  geglaubt?  oder  geahnt?  Jedem,  der 
sich  auf  diese  Frage  besinnen  will,  stellt  sich  sogleich  das  Böse  in  den 
Weg,  welches  samt  dem  Guten  in  der  Freiheit  gesucht  wird,  und  sich  in 
den  nämlichen  Erscheinungen  auch  vorfindet.  Was  hat  nun  Hr.  R.  damit 
gewonnen,  daß  er  das  Sein,  das  Freie  und  das  Gute  in  die  Erscheinung 
hineinlegt,  das  Böse  aber  ausläßt?  Wer  ihn  wegen  jener  Begriffe  nicht 
etwa  zur  Rechenschaft  zieht,  der  erinnert  ihn  doch  gewiß  zum  wenigsten 
an  den  letztern. 

Etwas  mehr  Interesse,  als  dies  und  ähnliches  dialektisches  Spinnen- 
gewebe, hat  die  Stelle,  wo  er  J.s  Formeln,  in  welchem  das  Verhältnis  der 
Welt  zu  Gott  dargestellt  werden  soll,  ungeschickt  findet,  um  den  Zwecken 
zu  entsprechen,  zu  welchen  sie  aufgestellt  worden.  Ohne  hier  dem 
Hrn.  J.  vorgreifen  zu  wollen,  überlegen  wir  doch,  welcher  Zweck  dem 
Hm.  R.,  indem  er  überhaupt  von  Formeln  redet,  wohl  vorschweben  möge? 
Fast  scheint  es,  er  vergesse  auch  hier,  mit  wem  er  spreche,  und  sei 
unbesorgt,  ob  es  ihm  gelinge,  sich  auf  den  Standpunkt  seines  Gegners 
zu  versetzen,  oder  ob  er  auf  seinem  Katheder  einen  Monolog  halte. 
Formeln  dienen  dem  Wissen.  Wer  so  stolz  ist,  sich  da  eines  Wissens 
zu  rühmen,  wo  andere  schon  längst  die  Grenzen  der  menschlichen  Er- 
kenntnis  überschritten   finden,   und   deshalb    bescheidentlich  vom  Glauben 

8* 


j  I  5  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

reden:  der  sorge  für  Genauigkeit  seiner  eigenen  Formeln,  aber  ohne  Zu- 
dringlichkeit gegen  andere;  denn  der  Glaube  läßt  sich  nicht  befehlen, 
noch  auf  bestimmte  und  allgemein  mitteilbare  Formeln  beschränken.  Am 
allerwenigsten  aber  gewinnt  man  ihn,  wenn  man  dialektische  Künstelei 
und  polemische  Hitze  an  die  Stelle  religiöser  Wärme  setzt.  Wir  wollen 
nicht  abschreiben,  was  Hr.  R.  S.  43  von  „kalten  Gesinnungen,  welche 
Gott  nicht  leugnen  wagen,"  zu  reden,  und  mit  Zitaten  aus  Hrn.  J.s  Werke 
zu  begleiten  für  gut  befunden  hat.  Klagen  über  den  kalten  Verstand  ist 
man  gewohnt,  von  einer  gerade  entgegengesetzten  Seite  her  zu  vernehmen. 
Der  natürliche  Schiedsrichter  in  solchem  Streite  ist  das  Gefühl  der  Un- 
befangenen; diese  mögen  aussagen,  ob  sie  mehr  wahres,  religiöses  Gefühl 
spüren  bei  Hrn.  R.  und  denen,  die  ihm  ähnlich  sind,  oder  bei  Jacobi 
und  dessen  Schule.  Wollen  aber  die  Parteien  keinen  Schiedsrichter  an- 
erkennen, so  fallen  sie  irgend  einmal  dem  kalten  Verstände,  den  sie  ge- 
meinschaftlich schmähen,  in  die  Hände;  denn  dieser  muß  allemal  da 
Ordnung  schaffen,  wo  Parteien  gegeneinander  aufbrausen,  und  sich  nicht 
selbst  zur  Ruhe  begeben.  Der  kalte  Verstand  hat  aber  freilich  nicht  seinen 
Sitz  in  dialektischen  Künsten,  bei  welchen  das,  was  bewiesen  werden  soll, 
schon  versteckt  vorausgesetzt,  noch  in  Machtsprüchen,  wodurch  das  Streitige 
tapfer  behauptet  wird,  sondern  in  kritischer  Überlegung  der  Bedingungen 
und  Grenzen  unseres  irdischen  Wissens.  Dem  Dogmatismus,  welchen 
Hr.  R.  in  der  zweiten  Hälfte  seiner  Schrift  lehrt,  liegt  nach  der  Meinung 
des  Rez.  nichts  anderes  zu  Grunde,  als  eine  phantastische  Naturphilosophie, 
welche  dreist  über  die  höchsten  Gegenstände  abspricht,  weil  sie  noch  nicht 
weiß,  was  ein  Sandkorn  ist;  auch  noch  nicht  gelernt  hat,  auf  dem  Wege 
einer  gründlichen  Untersuchung  darnach  zu  fragen.  Hr.  R.  ist  anderer 
Meinung;  er  hätte  also  wohlgetan,  Kants  Kritik  aller  spekulativen  Theo- 
logie direkt  anzugreifen;  sein  Streit  gegen  Halbkantianer,  oder  gegen  die, 
welche  er  dafür  hält,  ist  noch  etwas  weniger,  als  eine  halbe  Maßregel. 

Wir  wenden  uns  zu  Nr.  2,  wo  wir  in  der  Vorrede  gleich  anfangs 
die  bescheidene  Äußerung  finden:  der  Verf.  wolle  sich  kein  größeres  Ver- 
dienst erwerben,  als  nur  durch  Zusammenstellung  des  schon  Bekannten 
einen  Überblick  der  pantheistischen  Weltansichten  zu  gewähren.  Das  ist 
nur  Wiederholung  einer  Erklärung  in  der  Vorrede  des  ersten  Teils,  und 
man  sollte  meinen  Hr.  Staatsrat  J.  wäre  schon  hierdurch  gegen  Anfechtung 
einer  so  spöttischen  Bezeichnung,  wie  jene  des  Halb-Kantianers,  gesichert 
genug.  Die  ungemeine  Klarheit  seines  Vortrages  wird  ihm  ohnehin  alle 
diejenigen  Leser  gewinnen,  welche  Klarheit  zu  schätzen  wissen.  Ob  nicht 
über  denselben  Gegenstand  mit  sehr  viel  schärferer  Polemik  hätte  gesprochen 
werden  können  und  sollen?  ist  eine  andere  Frage,  die  sich  vielleicht  be- 
antworten läßt,  wenn  wir  durch  Angabe  des  Inhalts  ihren  Sinn  näher  be- 
stimmen. Es  ist  nämlich  in  diesem  zweiten  Bande  noch  nicht  (außer  hier  und 
da  gelegentlich)  von  unseren  Zeitgenossen  die  Rede;  sondern  zuvörderst 
vom  orientalischen  Pantheismus,  dann  von  den  aus  orientalischen  und 
occidentalischen  Quellen  gemischten  Emanations-Lehren,  die  in  der  Folge 
auch  in  die  christliche  Theologie  eindrangen,  und  sogar  zur  Stütze  der 
orthodoxen  Lehre  gebraucht  wurden ;  alsdann  von  den  beiden  heterodoxen 
Pantheisten  Bruno    und  Spinoza,    welche    sich   selbst   für   heterodox   er- 


H.  Ritter:  Die  Halbkantianer  und  der  Pantheismus.  117 


klärten,  indem  sie  im  offenen  Gegensatze  gegen  die  Kirche  ihre  Lehre 
ausbildeten.  Daß  diese  verschiedenen  Teile  des  zweiten  Bandes  nicht 
alle  eine  gleiche  Beziehung  auf  unser  Zeitalter  haben,  verrät  sich,  wenn 
man  es  sonst  vergessen  könnte,  deutlich  genug  in  der  langen  Vorrede, 
welche  des  früheren  Pantheismus  nur  kurz  erwähnt,  hingegen  bei  Ge- 
legenheit des  Bruno  und  Spinoza  sich  in  Streit  mit  unseren  Zeitgenossen 
verwickelt,  wie  natürlich,  weil  die  letztern,  besonders  Spinoza,  unter  uns 
nicht  als  bloß  historische  Personen  betrachtet  werden,  sondern  fortdauernd 
leben  und  wirken.  Daß  die  Veranlassung  hierzu  vorzugsweise  von  Jacobi 
ausging,  weiß  jedermann.  Auch  die  Art  der  Betrachtung,  die  Achtung, 
worin  jene  beiden  heute  stehen,  läßt  sich  großenteils  von  ihm  herleiten. 
Selbst  Hr.  J.  schließt  diesen  Band  mit  der  bekannten,  starken  Äußerung: 
man  habe  den  Spinozismus  nicht  verklärt,  sondern  getrübt  und  verfälscht, 
da  die  neuern,  aus  dem  scharfen  und  folgerechten  Denker  geschöpften 
Werke,  voll  Schwindel  und  Betörung,  statt  der  Lehre  nur  Geschwätz 
geben;  „der  ehrwürdige  Vater  sitze  verkindischt  da,  und  erzähle  Märchen". 
Leider  darf  man  diesen  Worten  nicht  gerade  widersprechen.  Allein  die 
Sache  verhält  sich  denn  doch  noch  etwas  anders,  als  wie  sie  hier  er- 
scheint. Der  Vater  ist  nicht  so  ehrwürdig,  sondern  er  büßt  seine  Sünden, 
indem  er  im  märchenhaften  Pomp  umhergeführt  wird.  Er  selbst,  Spinoza, 
war  der  Verführer  derjenigen,  welche  uns  heute  zu  unangenehmen  Streitig- 
keiten zwingen.  Dies  ist's,  was  nach  dem  Urteile  des  Rez.  im  vor- 
liegenden Buche  nicht  genug  ist  hervorgehoben  worden.  Solange  das 
Lob  der  besondern  Gründlichkeit  eines  Mannes  fortdauert,  der  gar  keinen 
Begriff  von  regelmäßiger  metaphysischer  Untersuchung  hatte,  und  solange 
man  die  offenbar  unsittlichen  und  unrechtlichen  Grundsätze,  welche  er 
zwar,  soviel  wir  wissen,  nicht  übte,  aber  doch  in  der  nacktesten  Deut- 
lichkeit und  Ausführlichkeit  lehrte,  ins  Schönere  und  Mildere  umzudeuten 
fortfährt,  und  die  Blendwerke  nicht  zerstört,  mit  denen  er  sich  selbst  zu 
täuschen  verstand;  solange  wird  man  immerfort  unsere  Zeitgenossen, 
welchen  die  nämliche  Täuschung  anklebt,  härter  beurteilen,  als  gegen  sie 
billig  ist.  Hr.  J.  hat  zwar  viel  getan,  um  die  Schlechtigkeit  und  Ver- 
kehrtheit des  Spinozismus  aufzudecken,  aber  bei  weitem  nicht  alles,  und 
wenn  wir  nicht  irren,  wird  er  im  dritten  Bande  manches  nachzuholen 
finden,  um  heutige  Fehler  durch  die  frühern,  aus  denen  sie  entstanden, 
soviel  möglich  zu  entschuldigen. 

Für  jetzt  nehmen  wir  dankbar  an,  was  der  Scharfsinn  des  trefflichen 
Verfs,  uns  darbietet,  und  teilen  einiges  davon  mit,  ohne  uns  gerade  an 
die  Ordnung  des  Buches,  dessen  historischer  Faden  schon  angegeben 
worden,  streng  zu  binden.  „Die  Aufgabe  der  Philosophie  (sagt  Hr.  J.) 
besteht  darin,  nicht  stehen  zu  bleiben  bei  der  ganz  abstrakten,  un- 
bestimmten Einheit,  sondern  mit  Hilfe  des  Begriffs  fortzugehen  zu  dem, 
worin  alles  Interesse  fällt,  zur  Vielheit  und  Verschiedenheit."  Jene  Ein- 
heit, die  kein  Interesse  hat,  und  dennoch  im  Pantheismus  den  Dingen 
vorgeschoben  wird,  beschreibt  unser  Verf.  bei  Gelegenheit  der  Plotinischen 
Lehre  mit  folgenden  Worten :  Sie  ist,  genau  betrachtet,  nichts  anderes,  als 
die  an  sich  unlebendige,  formlose  Materie  der  intelligibeln  Welt,  woraus 
die  Intelligenz,   als  tätiges  Prinzip,    alle  besondern  Daseinsformen  erzeugt. 


1 1 8  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


Erst  mit  diesem  zweiten  Prinzip  beginnt  alle  Tätigkeit.  Wenn  nach 
Plotin,  gemäß  einer  treffenden  Bemerkung  Schellings,  das  Überfließende 
nicht  kraft  einer  Wirkung  desjenigen  überfließt,  aus  dem  es  überfließt, 
sondern  durch  seine  eigene  Schwere;  wenn  es  sich  losreißt,  nicht  aber 
abgestoßen  wird:  so  kann  das  Urwesen  nur  als  ruhiger  Grund  der  Dinge 
angenommen,  und  es  muß  dagegen  die  Tätigkeit  oder  Handlung  vielmehr 
in  das  Emanierende,  als  in  das,  woraus  es  emaniert,  gelegt  werden.  Als 
ruhiger  Grund  der  Dinge  kann  demnach  das  Urwesen  auch  nicht  das 
Prinzip  der  Wirklichkeit,  sondern  lediglich  der  Möglichkeit  derselben,  mit- 
hin auch  nicht  das  Vollkommene  actu,  sondern  bloß  potentia  sein.  Es 
ist  ein  völlig  Unbestimmtes,  bloß  Bestimmbares,  erst  zu  Bestimmendes. 
In  diesem  Systeme  ist  demnach  das  erste  Prinzip  im  Grunde  ein  logisches 
Chaos,  ein  indifferender  Urgrund."  Da  es  nun  offenbar  ist,  daß  eine 
solche  Annahme  eher  zu  einer  Naturlehre,  als  zu  einer  Lehre  vom 
höchsten  Wesen  (dem  Sittlich- Höchsten),  zu  gebrauchen  ist;  so  sieht  man 
die  Pantheisten,  denen  es  niemals  an  Wendungen  fehlt,  und  die  immer 
alles  auf  einmal  fassen  wollen,  ohne  je  die  Unmöglichkeit  davon  zu  be- 
greifen, sich  ein  andermal  gerade  nach  der  entgegengesetzten  Richtung 
hin  wenden.  Das  erste  Wesen,  welches  vorhin  zur  bloßen  Möglichkeit 
aller  Dinge  herabsank,  soll  nun  alles  machen,  auch  sogar  sich  selbst,  so 
daß  es  sein  eigenes  Geschöpf  wird.  Hr.  J.  weist  diese  Vorstellungsart 
beim  Scotus  nach.  Da  heißt  es:  Deus  est  omnium  factor,  et  in  omnibus 
factus;  und  vollends:  Non  ergo  Deus  erat  subsistens,  antequam  miiversi- 
tatem  conderet.  Dies  kann  (fügt  der  Verf  hinzu)  keinen  anderen  Sinn 
haben  als  den:  Gott  existierte  vor  der  Schöpfung  nur  als  der  Grund 
alles  im  Schöße  seiner  Substanz  noch  verborgenen  Seins.  Zum  wahrhaft 
Seienden  machte  er  sich  erst  durch  Entfaltung.  Wobei  wir  bemerken,  daß 
hier  auf  das  Vorher  und  Nachher  wenig  ankommt.  Es  ist  genug,  zu 
sagen:  er  würde  nicht  sein,  wenn  er  sich  nicht  machte;  der  Erfolg  ist 
die  Bedingung  des  Grundes,  welchem  ohne  das  Tun  nicht  einmal  das 
Sein  zukäme.  Wir  dürfen  wohl  erwarten,  daß  der  Verf.  im  dritten  Bande 
mit  dieser  ungereimten  Vorstellungsart  das  Fiehtesche  Ich  zusammen- 
stellen wird;  denn  dies  war  es,  wodurch  die  Einbildung,  man  könne  wohl 
das  Tun  zum  Ersten,  und  das  Sein  zimi  Zweiten  machen,  wieder  in 
Gang  kam,  und  dadurch  wurde  die  neuere  Periode  des  Pantheismus  vor- 
bereitet. Übrigens  könnte  in  Ansehung  des  Zeitverhältnisses,  die  frucht- 
bare Phantasie  der  heutigen  Philosophen  zu  Vergleichungen  mit  älteren 
nicht  minder  fruchtbaren  Köpfen  einladen.  Interessant  genug  ist  in  dieser 
Hinsicht  der  Zusatz,  welchen  Hr.  J.  bei  Erwähnung  des  Scotus  noch  bei- 
fügt: „Wie  der  sich  evolvierende  und  evolvierte  Gott  aus  der  Einheit 
seines  Wesens  in  die  Allheit  der  Dinge  übergeht,  so  kehrt  der,  durch 
Auflösung  der  Vielheit  und  Mannigfaltigkeit  der  Weltwesen  sich  invol- 
vierende und  involvierte  Gott  in  die  substantiale  Einheit  seines  Wesens 
wieder  zurück,  so  daß  nun  nichts  weiter  wirklich  ist,  als  Gott.  Als  christ- 
licher Religions-Philosoph  sucht  ScoTUS  auch  in  Ansehung  dieses  Punktes 
seine  Philosophie  mit  den  Dogmen  der  Kirche  zu  vereinigen,  indem  er 
drei  Arten  dieser  Rückkehr  annimmt.  Die  erste  besteht  in  einer  Ver- 
wandlung der  Körperwelt  durch  Rückkehr  in  ihre  verborgenen  Ursachen; 


H.  Ritter :  Die  Halbkantianer  und  der  Pantheismus.  1 1  q 

—  die  zweite  in  einem  Rückgange  der  ganzen  menschlichen  Natur  in 
ihren  ursprünglichen  Zustand;  —  die  dritte  in  einer  mystischen,  un- 
begreiflichen Vereinigung  mit  Gott,  die  aber  nur  den  Auserwählten  zu 
teil  wird."  Wer  solche  Meinungen  ausspinnt,  der  hat  gewiß  noch  nicht 
begriffen,  daß  Ursache  und  Wirkung,  abgesehen  von  der  Erscheinungs- 
welt, streng  gleichzeitig  sein  müssen. 

Wie    vieles     nun     auch     aus     metaphysischen    Gründen    gegen    den 
Pantheismus    zu    sagen    ist    (und   wie   sehr   auch  Rez.   in   dieser  Art   eine 
strengere  Kritik  bei  Hrn.  J.  zu  finden  gewünscht  hätte) ;  so  läßt  sich  doch 
nicht    verkennen,     daß    religiöses    Gefühl    in    jenen    Systemen    und    Dar- 
stellungen der  Indier,    der  Neuplatoniker   und   der  Scholastiker  zu  spüren 
ist.    Zwar  kann  das  religiöse  Gefühl  unmöglich  bei  jenen  ganz  gleichartig 
sein    mit   demjenigen  Gefühle,   was    unter   der   Voraussetzung   des   außer- 
weltlichen höchsten  Wesens  sich  ausbildet;  so  daß  dessen  Verbindung  mit 
der  Welt   auf  Güte  und  Weisheit  beruht,    durch  Trennung  von  der  Welt 
aber    die    Reinheit    und    Heiligkeit    bewahrt    wird.     Allein    den   seltsamen 
indischen    Mythen    liegt    wenigstens    ein    Gefühl    der    Bewunderung    zum 
Grunde,  und  wenn  Hr.  J.  fragt:  wo  ist  in  diesem  fatalistischen  Emanations- 
systeme   das    moralische  Element?    —    so    können    wir    noch    immer    eine 
halbe  Antwort   nachweisen    in    dem   Grundgefühle    einer   unendlichen  Be- 
trübnis,   entspringend    aus    dem    niederschlagenden    Bewußtsein    sittlicher 
Verderbnis  und   der   Entfernung  von   der  Urquelle  göttlicher  Vollkommen- 
heit.    Wäre    das    Gesetz    des  Sollens    wirklich    verwechselt    mit    dem    des 
Müssens,    so    gäbe   es   keinen    Grund    der  Betrübnis,    denn    in    das   bloße 
Müssen   findet   sich   am  Ende  jedermann.     Zwar   sagt  Hr.  J.    mit  Recht: 
„An  die  Stelle  eines  moralischen  Endzwecks  der  Schöpfung  tritt  in  diesem 
Systeme    der    Begriff   von    der   Zwecklosigkeit    der   Welt    und    einer    bloß 
spielenden    Tätigkeit   Gottes;    und   ein  Gott,    der   das  Rechttun   und  Un- 
rechttun vorher  bestimmt,   ist  nicht  moralisch."    Allein  so  wahr  dieses  ist; 
so  "muß    man   sich   doch   hüten,    mit  Gefühlen   gegen  spekulative  Begriffe 
zu  streiten,  welches  wir  zu  oft  erlebt  haben,  um  nicht  dagegen  zu  warnen, 
von    welcher  Seite   her   auch    diese  Waffe   möge   gebraucht   werden.     Die 
Unparteilichkeit  gebietet  zu  bemerken,    daß,    nachdem  einmal  vom  halben 
Kantianismus  die   Rede  gewesen  ist,  die  echten    Kantianer   wohl  Ursache 
haben  zu  verhüten,    daß  sie  ihrer  Zuneigung  zu  Jacobi  mehr  einräumen, 
als  dem  Geiste  Kants  gemäß  ist.     Die  Gegenpartei  wird  nicht  widerlegt, 
wenn  man  sie  kränkt;  sie  wird  auch  nicht  besiegt,  wenn  man  sie  zu  sehr 
schont,    wo    eine   offenbare  Verkehrtheit   zu   bekämpfen   ist.     Beides  aber 
findet   sich   zuweilen   seltsam   genug  vereinigt.     Hieran  sind  wir  besonders 
dort  erinnert  worden,  wo  der  Verf.  über  Spinoza  spricht,  welchen  Jacobi 
viel    zu    glänzend    dargestellt    hatte,    während    wohl    schwerlich    irgendwo 
weniger  Zartgefühl,  das  man  schonen  müßte,  anzutreffen  ist,  als  eben  bei 
Spinoza. 

War  es  Ernst,  daß  Hr.  J.  vom  Spinozismus  rühmt,  er  zeichne  sich 
durch  eine  streng  wissenschaftliche  Methode  aus?  Gebühren  wirklich  dem 
Aufsatze:  de  intellectus  emendatione  solche  Lobreden,  wie  sie  ihm  hier 
gespendet  werden?  Videbar  bonum  certum  pro  incerto  amittere.  Sed 
inveni,    me    bonum   incertum   omissurum    pro   incerto.     Das   sind  die  Be- 


120  J-  ^-  Herbarts  Rezensionen. 


rechnungen  des  Nützlichen,  womit  die  Schrift  beginnt.  Passen  diese  Be- 
rechnungen in  eine  Kantische  Sittenlehre?  De  mea  felicitate  etiam  est, 
operam  dare,  ut  alii  multi  idem,  atc^ue  ego  intilligant.  Viel  Großmut, 
aber  keine  sittliche  Strenge!  Die  Lebensregeln:  ad  captum  vulgi  loqui, 
deliciis  in  tantum  frui,  in  quantum  ad  tuendam  valetudinem  sufficit; 
tantum  numorum  quaerere,  quantum  sufficit  ad  vitam,  et  ad  mores 
civitatis,  qui  nostrum  scopum  non  oppugnant,  imitandos,  —  können  das 
vorige  nicht  veredeln,  und  gehören  nicht  ad  intellectus  emendationem. 
Aber  nun  folgen  die  Hauptsachen :  das  Verachten  der  sogenannten 
experientia  vaga,  welche  schwankt,  solange  sie  nicht  scharf  denkend  auf- 
gefaßt wird ;  und  das  Gegebensein  einer  wahren  Idee,  das  heißt,  eine  steife, 
ohne  Kritik  behauptete  Voraussetzung!  Sind  solche  Mittel,  den  Verstand 
zu  verderben,  sattsam  zurückgewiesen  durch  Erwähnung  einiger  Worte 
von  Tennemann?  Hier  erwarteten  wir  vielmehr  die  kritischen  Bemühungen 
des  Verf.,  wenn  auch  nur,  um  nach  Kants  Weise  die  Rechte  der  Er- 
fahrung, welche  allein  gegeben  ist,  zu  verteidigen  gegen  eingebildete 
Ideen,  die  man  dem  Gegebenen  unterschieben  will,  weil  man  die  INIühe 
scheut,  der  Erfahrung  selbst  durch  scharfes  Denken  die  Hilfsmittel  zu 
ihrem  richtigen  Verständnisse  abzugewinnen.  Hätte  nur  der  Verf.  den 
treffenden  Ausspruch,  welchen  wir  von  ihm  gegen  das  Ende  erhalten, 
weiter  entwickelt!  Wir  meinen  die  folgende  Stelle:  Unsers  Metaphysikers 
dialektische  Kunst  ist  damit  beschäftigt,  die  an  sich  leere,  unfruchtbare, 
unbestimmte  Idee  von  Gott,  als  dem  Absolut -Realen  mit  allem  dem 
reichlich  auszustatten,  was  ihm  die  Erfahrung  als  ein  Reales  von  be- 
stimmter Qualität  darbot,  um  das,  was  er  a  posteriori  hergenommen,  und 
womit  er  jene  Idee  angefüllt  hatte,  sodann  dem  Scheine  nach  a  priori 
aus  derselben  ableiten  zu  können."  (Selbst  dies  ist  noch  zu  günstig;  es 
ist  auch  nicht  einmal  eine  scheinbare  Ableitung  vorhanden,  sondern  der 
rohe  Empirismus  liegt  nackt  am  Tage,  nur  am  Rande  schlecht  vergoldet.) 
Daß  Hr.  J.  sich  auf  die  Künste,  welche  bei  Spinoza  seine  Lehre  von 
der  Seele  und  von  der  Materie  vorstellen  sollen,  nicht  genauer  einließ, 
um  sie  zu  widerlegen,  können  wir  ihm  nicht  verdenken;  denn  sein  Gegen- 
stand war  nicht  Psychologie  und  Naturlehre,  sondern  Pantheismus;  und 
er  hat  sich  fast  tiefer,  als  für  seinen  Zweck  nötig  war,  auf  deren  historische 
Darstellung  eingelassen.  Aber  da  er  einmal  die  Frage  aufwarf:  „Können 
auch  wohl  dergleichen  Wesen  (außer  dem  spinozistischen)  Substanzen  ge- 
nannt werden?"  so  lag  es  nahe,  die  Frage  auf  das  Urwesen  des  Spinoza 
selbst  zurückzuwenden.  Hr.  J.  hat  diese  Frage  von  mehreren  Seiten  zu- 
rechtgelegt, daß  wir  wohl  annehmen  dürfen,  er  denke  sich  unter  einer 
Substanz  etwas  anderes,  als  eine  bloße  Möglichkeit  dessen,  was  man  in 
sie  hinein  erklären  will,  weil  man  es  aus  ihr  nicht  zu  erklären  vermag. 
Die  Stelle  in  der  Angabe  von  Brunos  Lehre:  „wenn  es  eine  vollkommene 
Möglichkeit,  wirklich  zu  sein,  ohne  wirkliches  Dasein  gäbe,  so  erschafften 
die  Dinge  sich  selbst,  und  wären  da,  ehe  sie  da  wären,"  hätte  füglich 
gegen  die  vorgebliche  causa  sui  können  benutzt  werden,  und  würde  dann 
ein  ganz  anderes  Resultat  ergeben  haben,  als  die  gegen  Aristoteles  be- 
hauptete Identität  der  wirkenden,  formalen  und  End-Ursache,  worin  bloß 
Brunos  Abhängigkeit  von  seinem  Zeitalter  sichtbar  ist. 


Dr.  Fr.  Ed.  Beneke:  Psychologische  Skizzen.  121 


Allein  wir  wären  unbillig,  wenn  wir  mehr  forderten,  als  uns  ver- 
sprochen wurde.  Einen  Beitrag  zur  Geschichte  und  Kritik  des  Pantheis- 
mus hat  der  Verf.  angekündigt;  einen  ehrenwerten  Beitrag  hat  er  geleistet; 
möge  er  bald  sein  Werk  vollenden! 


Beneke,    Dr.  Fr.  Ed.,    Psychologische    Skizzen.     Zwei    Bände. 

—  Göttingen,  bei  Vandenhöck  &   Ruprecht,    1825.     XVIII  u.   492  S. 

2.  Bd.,  XXXVIII  u.  698  S.    80.     (4  Rthlr.   16  Gr.) 
Zwischen  diesen  beiden  Bänden  steht,  als  Vorarbeit  für  den  zweiten, 
ein    anderes    Buch    desselben    Verfs.,    und    in    demselben    Verlage,    unter 
dem  Titel : 
Das  Verhältnis  von  Seele  und  Leib.     Philosophen  und  Ärzten 

zu   wohlwollender   und  ernster  Erwägung  übergeben.      1826. 

XVI  u.  301   S.    8  0.     (i   Rthlr.  8  Gr.) 
Gedruckt  in:  Jenaer  Literatiir-ZeiUing  1830,  Nr.  6,  7.      SW.  XII,  S.  628. 

Die    Besorgnis,    welche    man    vor    einigen  Jahren    hegen   konnte,    als 
würde    das  philosophische  Studium  in  Deutschland   ermatten,    scheint  sich 
glücklicherweise  nicht  zu  bestätigen.    Die  Aufregung  der  Köpfe  ist  mannig- 
faltig;   die    abschreckende    Herrschaft    einer    einzelnen    Schule    bloß    ein- 
gebildet,   und   selbst   das    allgemeine  Bedürfnis,   mit   der  Zeit   fortzugehen, 
erinnert   wohl    manchen,    daß    er    auch    in    der  Philosophie   nicht  zurück- 
bleiben   darf.       Freilich    aber    begnügen     sich     viele    mit    oberflächlichen 
historischen  Notizen,   oder   mit  höchst  einseitiger  Kenntnis  eines  dürftigen 
Systems,    dessen  Auffassung   nicht   viel  Mühe    macht;    oder   mit  abstrusen 
Formeln,  bei  denen  sie  nach  ihrer  Weise  etwas  denken,  ohne  den  wahren 
Zusammenhang   zu   kennen.     Wie  müßten  wohl  Schriften  beschaffen  sein, 
die  solchen  Mängeln  abhelfen  sollten?  Rez.  wünschte  antworten  zu  dürfen: 
so  wie  die  Schriften  des  Hrn.   Beneke.     Wenigstens  scheint  es,  der  Verf. 
habe    sich   jene   Frage    vorgelegt,   und    suche   ihr   durch    die  Form    seines 
Vortrags    zu    entsprechen.      Seine    Schriften    sind    nicht    historisch,    nicht 
systematisch;    seine  Ausdrücke   scheinen   leicht  verständlich;    seine  Manier 
hat  etwas  Anziehendes,  und  er  hat  einen  gewissen  Grad  von  Anerkennung 
seines   Talents    im  Publikum    erlangt.     Mit    einer    beinahe   imponierenden 
Gewandtheit    bewegt    er   sich    durch  alle  Höhen  und  Tiefen  der  Psycho- 
logie, der  Metaphysik,  der  Ethik  und  Ästhetik;  ja  es  fehlt  nicht  viel,  daß 
er   scheine    auch    sogar  Naturphilosoph   zu  sein,    und  schon   der  letzt  an- 
geführte   seiner  Büchertitel  zeigt,    wie  wenig  schwer  es  ihm  dünke,    selbst 
bei  den  Ärzten  Gehör  zu  finden.     Mit  einem  Worte,   er  will  Allen  Alles 
sein,  und  zwar  mit  so  wenigen  Hilfsmitteln  als  nur  möglich.    Ist  es  etwa 
auf   diese  Weise   auch   einem  Lichtenberg,   Lessing,    Herder  gelungen, 
dem    großen  Kreise    derer,    die   sich    eben   nicht   sehr   anstrengen  mögen, 
den  INIangel  der  eigentlichen  Wissenschaft  einigermaßen  zu  ersetzen?  Doch 
wir    wollen  Hrn.  B.   nicht   mit  Vergleichungen    lästig   fallen,    die    er  ohne 


122  J-  F,  Herbarts  Rezensionen. 


Zweifel  nicht  verlangt.  Mag  immerhin  der  Kreis,  in  dem  er  wirkt,  kleiner, 
mag  die  belebende  Wirkung,  die  von  ihm  ausgeht,  geringer  sein;  mag 
es  sich  finden,  daß  er  vielen  zu  leicht,  und  noch  weit  mehreren  zu 
schwer  ist;  kurz,  mag  sein  Bestreben,  ein  recht  allgemeiner  Lehrer  zu 
werden,  verfehlt  sein:  es  scheint  dennoch,  daß  er  bei  manchen  Eingang 
findet,  die  ohne  ihn  noch  flacher  und  in  ihrem  Nachdenken  sorgloser 
sein  würden.  Und  in  diesem  Falle  verdient  er,  durch  das  öffentliche 
Urteil  aufgemuntert  zu  werden.  Denn  bei  aller  deutschen  Schreibsucht 
scheint  es  doch  an  Büchern  zu  fehlen,  die  sich  mit  Philosophie  beschäftigen, 
ohne  systematisch  die  Aussicht  zu  beschränken,  und  polemisch  und  durch 
Parteilichkeit  unbequem  zu  werden.  Wir  wollen  nun  versuchen,  aus  den 
vorliegenden  Schriften  Bericht  zu  erstatten. 

Um  den  geradesten  Weg  zu  denjenigen  Punkten  hin  zu  nehmen, 
von  welchen  aus  man  sich  unter  philosophischen  Lehren  zu  orientieren 
pflegt,  nehmen  wir  zuerst  das  Buch  über  das  Verhältnis  zwischen  Seele 
und  Leib  vor  uns.  Dieses  will  der  sogenannten  rationalen  Psychologie, 
und  also  der  Metaphysik,  angehören;  es  will  das  Verhältnis  zwischen  dem 
menschlichen  Vorstellen  und  dem  An-sich-sein  der  vorgestellten  Gegen- 
stände bestimmen,  durch  eine  auf  Erfahrung  begründete  psychologische 
Darlegung.  „Alle  philosophischen  Systeme  seit  Des  Cartes  lehren,  der 
Mensch  müsse,  um  über  die  Natur  und  die  Verhältnisse  des  Weltalls 
sich  zu  orientieren,  bei  sich  selbst  den  Anfang  machen,  und  in  dem  seiner 
unmittelbaren  Erfahrung  in  der  inneren  Selbstanschauwig  Vorliegenden  den 
Aufschluß  suchen  über  alles  für  seine  Kurzsichtigkeit  Erkennbare."  Diese 
Lehre  haben  wir  nun  allerdings  oft  gehört;  allein  Hr.  B.,  der  sich  durch 
die  Erfahrung  der  letzten  vierzig  Jahre  von  der  Nichtigkeit  der  Spekulation 
überzeugt  findet,  hätte,  wie  es  scheint,  einen  ganz  anderen  Schluß  aus 
der  nämlichen  Erfahrung  ziehen  können.  Die  Philosophen  lehrten,  man 
müsse  bei  sich  selbst  anfangen;  diese  Lehren  führten  aber  nicht  zum 
Ziele  einer  allgemeinen  Überzeugung;  also  zeigt  die  Erfahrung  dieses 
Mißlingens,  man  müsse  niclit  bei  sich  selbst  anfangen.  Hr.  B.  fängt 
dennoch  bei  sich  selbst  an;  aber  er  kommt  nicht  auf  die  Lehrsätze  von 
Locke,  oder  Kant,  oder  Fries;  also  muß  die  unmittelbare  Erfahrung  in 
der  inneren  Selbst- Anschauung  doch  wohl  nicht  allen  einerlei  Unterricht 
geben.  Dagegen  rücken  die  Naturwissenschaften,  die  sich  an'  Beobachtung 
mit  den  äußeren  Sinnen  und  an  Rechnung  halten,  gerade  vorwärts;  also 
muß  wohl  die  äußere  Erfahrung  geschickter  sein,  als  die  innere,  um  gleich- 
förmige Resultate  zu  liefern,  wiewohl  sie,  genau  besehen,  auch  dieses  nur 
denjenigen  leistet,  die  mit  der  höchsten  möglichen  Vorsicht  beobachten 
und  experimentieren,  zugleich  aber,  wo  nur  irgend  eine  zulässige  Hypo- 
these sich  darbietet,  dieselbe  durch  Rechnung  ausbilden,  und  mit  den 
solchergestalt  im  voraus  entworfenen  Fragepunkten  die  Erfahrung  ver- 
gleichen. Allein  über  das  Verfahren,  auch  in  die  höchst  dunkeln  Regionen 
der  inneren  Erfahrung  die  Leuchte  der  Rechnung  voran  zu  tragen,  um 
sich  besser  darin  umsehen  zu  können;  hierüber  mit  Hrn.  B.  zu  sprechen, 
das  wäre  vergeblich,  wie  eine  bekannte  Erfahrung  nur  zu  deutlich  gezeigt 
hat.  Ihm  besteht  „der  eigentliche  lebendige  Geist  der  Kantischen  Philo- 
sophie"  in   der   empirischen  Psychologie;    und   dabei  mag  er  bleiben,  wie 


Dr.  Fr,  Ed.  Beneke:  Psychologische  Skizzen.  123 


SO  viele;  wir  wollen  nur  sehen,  was  er  daraus  macht.  Nichts  weniger 
als  „eine  Weissagung!  Nur  durch  unser  eigenes  Sein  wissen  wir  vom 
Sein  außer  uns;  die  Grundverhältnisse  des  ersten  legen  wir  dem  letzten 
unbewußt  schon  im  Vorstellen  und  Denken  des  gewöhnlichen  ;  Lebens 
unter.  Von  diesem  nehmen  die  Naturwissenschaften  sie  auf;  nun  werde 
man  sich  der  Natur  dieser  Grundlage  klar  bewußt,  so  werden  diese 
Wissenschaften,  aus  dem  Stande  der  Unmündigkeit  in  den  der  Mündigkeit 
tretend,  zu  Aufschlüssen  gelangen,  die  sich  kaum  ahnen  lassen."  Eine 
Weissagung,  die  wir  schon  längst  gehört  hatten;  es  fragt  sich  nur,  wie 
alt  eine  Weissagung  wohl  werden  dürfe,  bis  sie  entweder  erfüllt,  oder 
als  ungültig  verworfen  wird.  Ob  dazu  wohl  jene  vierzig  Jahre,  durch 
welche  die  Zwecklosigkeit  der  Spekulation  sollte  bewiesen  sein,  hinreichen 
mögen? 

Mit   derselben  Befangenheit  in  den  heutigen  Vorurteilen,   welche  die 
Vorrede   verkündet,    tritt  nun  Hr.  B.  in  der  Abhandlung  seinen  Weg  an. 
Er  versichert  uns   zuerst:   „Die  Philosophen  nicht  weniger,   als  die  übrigen 
Menschen    setzen   voraus,    einer  Verständigung   über  den  Begriff  des  Sein 
bedürfe  es  nicht;  sondern  es  verstehe  sich  von  selbst,  daß  bei  dem  Worte 
Sein    im    allgemeinen    alle    das  Gleiche    denken,    und    das   als   seiend  Be- 
zeichnete in  dieselbe  Beziehung  mit  ihrem  Vorstellen  setzen.'-     Nun  ver- 
wechselt  er   die    ontologische    Analyse    des  Begriffs   vom  Sein   und   seiner 
Beziehungen  mit  der  psychologischen  Frage;  wie  hat  sich  in  uns  die  Be- 
ziehung  des  Vorgestellten    auf   ein  Seiendes   gebildet?    Und   so   ist  er  im 
Zuge,    Psychologie    an    die    Stelle   der  Metaphysik   zu   setzen ;    das    heißt :    die 
Frage,    wie  unser  bisheriges  Vorstellen  geworden  ist,    soll  an  die  Stelle  der 
anderen   Frage    treten :    wie  unsere   Begriffe  für  unsere  jetzige  und  künftige 
Überzeugung  müssen  bestimmt  werden.     Ungefähr,    wie  wenn  die  gesetz- 
gebende Versammlung  in   einem  Staate,    statt  neue  Gesetze  zu  geben,  sich 
in    pragmatisch    historische    Untersuchung    über    den   Ursprung    der   bisher 
bestandenen    Verordnungen   und   Sitten   vertiefen   wollte.      Zwar   unterläßt 
er  nicht,    die  Philosophen  zu  beschuldigen,  sie  vertauschten  das  Sein  mit 
einem    anderen,    vollkommneren    Sein;    wovon   jenes    nur    das    Schattenbild 
sei.    Aber  diese  Unterscheidung  mißbraucht  er  so,  daß  er  von  erhabenen 
Dichtungen    spricht,    denen    man   nicht   den  Namen  des  Wissens  beilegen 
dürfe.      Vermutlich    ist    ihm    die    Geometrie,    welche    die    Raumbegriffe    so 
bestimmt,    wie   sie    gedacht   werden    sollen,    auch   eine   erhabene  Dichtung, 
und   kein  Wissen!    Durch  Spekulation,   meint   er,    die   von   der  Erfahrung 
abgekehrt  sei,  könne  kein  allgemeingültiges  Wissen  entstehen;  Kakt  habe 
das  objektive  Dichten  nur  mit  einem  subjektiven  Dichten  vertauscht.     Der 
Begriff  des  Sein  aber  sei  keine  Erdichtung;  denn  das  Dichtungsvermögen 
könne  keine  neuen,   also  auch  keine  einfachen  Begriffe  schaffen,   sondern 
nur   Vorhandenes    zusammensetzen.    —    Hier   ist    ein   Punkt,    wobei    dem 
Rez.  wirklich  bange  wurde,   er  möge  Hrn.  B.  wohl  nicht  recht  verstehen. 
Denn    die   vorigen  Ansichten   waren   alle  noch  so  ziemhch  im  Kreise  des 
Kantianismus,  insofern  als  er  anthropologisch  ist;  allein  wie  weit  der  all- 
gemein geltende,   erfahrungsmäßig  zu  bestimmende,    nicht  erdichtete,   mit- 
hin   nach   Hrn.   B.    der    wahre  Begriff  des  Sein  nun  abweichen  möge  von 
jenem,  für  eine  Dichtung  ausgegebenen,  vollkommeneren  Begriffe:  —  dies 


124  J*  ■^*  Herbarts  Rezensionen. 


war  doch  eine  Frage,  über  die  sich  nicht  füglich  ohne  ein  Zeugnis  des 
Verfs.  selbst  bestimmen  ließ.  Glücklicherweise  findet  sich  für  diesmal  noch 
die  gesuchte  Aushilfe  etwas  tiefer  unten  in  einer  klassischen  Stelle,  welche 
lautet  wie  folgt:  Kant  nennt  als  die  dem  Seelensein  fremde,  von  dem 
inneren  Sinne  hinzugebrachte  Erkenntnisform  die  Zeit ;  und  setzt  also  das 
wahre  Sein  als  an  und  für  sich  selber  unzeitlich  voraus.  Unter  dieser 
Voraussetzimg  hatte  er  dann  freilich  recht,  zu  behaupten,  auch  die  innere 
Anschaming  gebe  uns  das  angeschaute  Sein  nicht,  ivie  dasselbe  an  und  für 
sich  selber  sei,  sondern  nur  in  trügerischen  Erscheinungen.  Von  welcher  Be- 
schafifenheit  nun  aber  auch  das  wahre  Sein,  wie  es  ihm  vor  Augen  stand, 
oder  nicht  vor  Augen  stand,  sein  mag:  die  allgemein  menschliche  Vernunft., 
ivenn  sie  vom  Sein  spricht,  meint  damit  ein  zeitliches  Sein;  und  diesem 
Denk-  und  Sprach- Gebrauche  nach  haben  wir  also  wieder  recht,  zu  be- 
haupten, daß  die  Zeitlichkeit  der  inneren  Anschauung  kein  Hindernis, 
sondern  vielmehr  ein  Zeugnis  für  ihre  Wahrheit  sei,  und  daß  gerade  ver- 
möge derselben  das  ajtgeschaute  Sein,  ivie  dasselbe  an  Jind  für  sich  selber 
ist,  uns  gegeben  iverde.  Darf  aber  wohl  diese  Urkunde  des  allgemein- 
menschlichen Denk-  und  Sprachgebrauchs  durch  die  besonderen  Haus- 
gesetze einzelner  Philosophen  umgestoßen  werden?"  —  Nun  also  kennen 
wir  Hrn.  B.  als  vollkommenen  Empiristen!  So  scheint's;  allein  auch  darin 
wird  er  uns  weiterhin  wieder  irre  machen. 

Mit  HuME  sucht  der  Verf.  die  Impression  oder  unmittelbare  An- 
schauung aufzufinden,  welcher  der  Begriflf  entspreche.  Wider  Hume  aber 
behauptet  er,  eine  solche  nicht  nur  für  den  Begriff  des  Sein,  sondern 
auch  für  den  Kausalbegriff  nachweisen  zu  können.  „Einem  jeden  Vor- 
stellen, und  wäre  es  auch  nur  ein  Vorstellen  vom  Vorstellen  des  Vor- 
stellens,  kommt  doch,  als  Tätigkeit  der  menschlichen  Seele,  ein  Sein  in 
dieser  Seele  zu  (da  ist  Sein  und  Geschehen  verwechselt).  Dieses  Vor- 
stellen aber  können  unr  ohne  Schwierigkeit  wieder  vorstellen;  hiermit 
liegt  uns  die  Erkenntnis  des  Verhältnisses  zwischen  Vorstellen  und  Sein, 
in  einem  Beispiele  wenigstens  offen."  (Wir,  auf  dem  Standpunkt  unserer 
Ausbildung,  können  gar  manches,  was  nicht  jeder  kann;  wir  können  uns 
auch  Täuschungen  bereiten ,  die  bei  noch  höherer  Ausbildung  wieder 
verschwinden.  Eine  Psychologie,  die  vom  Zusammejiwirken  mehrerer 
Vorstellungs?7iasse7i  nichts  weiß  oder  wissen  will,  läßt  uns  in  jenen 
Täuschungen  stecken).  Die  durch  äußeren  Sinn  wahrgenommenen  Dinge 
können  wir  freilich  nicht  ihrer  vollen  Wahrheit  gemäß  aufifassen,  weil  wir 
doch  nicht  aus  uns  selbst  zu  den  Dingen  hinausgehen  können.  (Gewiß 
nicht!)  Dieser  Grund  fällt  ja  aber  in  Bezug  auf  das  Vorstellen  von  uns 
selber  weg,  indem  wir,  die  Vorstellenden,  zugleich  das  Vorgestellte  sind. 
(Wenn  das  nur  wahr  wäre!  Aber  die  Unterscheidung  der  apperzipierenden 
Vorstellungsmassen  von  der  apperzipierten  in  uns  ist  gerade  so  notwendig, 
als  die  unseres  äußeren  Sinnes  von  den  äußeren  Dingen.)  Hume  fragt: 
Sind  wir  bekannt  mit  der  Fähigkeit  der  Seele,  eine  Vorstellung  hervor- 
zubringen? Hr.  B.  antwortet:  Freilich!  Denn  von  früheren  Vorstellungen 
bleiben  gewisse  (?)  Angelegtheiteji  zur  Wiedererweckung  übrig;  von  der 
Wiedererweckung  nun  haben  wir  ein  unmittelbares  Gefühl;  und  das  ge- 
wöhnliche menschliche  Bewußtsein  kann  dies  Gefühl  zu  einer  Vorstellung 


Dr.  Fr.  Ed.  Beneke:  Psychologische  Skizzen.  i2e. 

Steigern;  wir  können  aiso  jenen  wunderbaren  Schöpfungsakt  in  vollkommen 
begreifliche  Natur-Erfolge  auflösen!  —  Bei  Newtok  gibt  es  auch  gewisse 
Angelegtheiten  des  Lichts,  leichter  durchzustrahlen  oder  zurückgeworfen 
zu  werden;  jeder  Physiker  klagt  hier  über  Dunkelheit.  Aber  man  klage 
nicht  mehr;  die  Sache  ist  gerade  so  klar  als  Hrn.  Benekes  Psychologie. 
An  einer  andern  Stelle  kommt  es  Hrn.  B.  nur  auf  Veränderung  eines 
Wof-fes  an,  um  der  Humeschen  Zweifel  mächtig  zu  werden.  Etwas  minder 
bequem  jedoch  macht  er  sich  bei  der  Frage,  ob  unsere  Vorstellungen  von 
der  Außenwelt,  gleich  den  Vorstellungen  von  unserem  eigeneji  Seeleiisein  (denn 
bei  diesen  hat  Hr.  B.  noch  nicht  zweifeln  gelernt),  das  Vorgestellte,  wie 
es  an  sich  ist,  oder  nur  subjektiv  bedingte  Erscheinungen  gewähren.  — 
Volle  Wahrheit  meint  er,  würde  erfordern,  daß  wir  das  Sein  der  Dinge 
in  uns  nachbildeten,  oder  dieses  Sein  würden;  wie  die  Vorstellungen  von 
unserem  eigenen  Seelensein  nur  dann  wahr  sind,  wann  sie  das  vor- 
zustellende Sein  entweder  unmittelbar  selber  sind,  oder  doch  rein  und 
vollständig  in  sich  wiederholen.  „Vollkommen  der  aufgestellten  Forderung 
zu  genügen,  wäre  nur  möglich  bei  unseren  Vorstellungen  von  einem  voll- 
kommen uns  gleichen  Menschen,  denn  nur  dieser  Mensch  würden  wir 
vollkommen  zu  werden  im  stände  sein.  Eine  solche  Gleichheit  können  wir 
uns  wenigstens  im  einzelnen  als  Aufgabe  denken.  Bemühen  wir  uns 
z.  B.,  einen  Schriftsteller  vollkommen  zu  verstehen,  so  müssen  wir  werden, 
was  er  ist  oder  war;  nur  dann  können  wir  uns  rühmen,  ihn  richtig  vor- 
zustellen. Ebenso,  wenn  wir  die  Gemütsbewegung  eines  Freundes  in  ihrer 
vollen  Wahrheit  vorstellen  wollen.  Aber  nur  zu  bald  finden  wir  einen 
merklichen  Abstand;  es  sind  dieselben  Gedanken  und  Gefühle,  und  sind 
doch  auch  wieder  nicht  dieselben;  weil  die  Individualität  unseres  Tempe- 
raments usw.  eine  Verschiedenheit  hineinträgt.  Der  Cholerische  bleibt 
dem  Phlegmatischen  unvorstellbar,  und  umgekehrt;  denn  der  Eine  kann 
nicht  werden,  was  der  Andere  ist.  Wer  das  Sein  eines  Farnkrautes,  oder 
das  Sein  des  Quecksilbers  so  vorzustellen  vermöchte,  wie  es  an  sich  selbst 
ist,  der  müßte  eben  hierdurch  aufhören,  Mensch  zu  sein."  Wir  haben 
diese  Stelle  ausgezogen,  nicht  als  ob  der  Gedanke  an  sich  neu  wäre, 
sondern  weil  wir  gern  glauben,  der  Verf.  habe  ihn  mit  eigenem  Witze 
gefunden.  Schade,  daß  er  nicht  weit  reicht.  Gesetzt,  zwei  völlig  gleich- 
gestimmte und  gleichgebildete  Menschen  lebten  in  der  nämlichen  Stadt: 
würden  sie  nun  voneinander  wissen  ?  Sie  könnten  lange  nebeneinander 
vorbeigehen,  und  voneinander  weit  weniger  wissen,  als  jeder  von  seinen 
Feinden;  und  es  möchte  immer  noch  darauf  ankommen,  ob  ein  Dritter 
die  Güte  hätte,  einen  dem  andern  vorzustellen,  damit  jeder  vom  anderen 
eine  Vorstelhmg  bckä?ne ;  ja  selbst  dann  müßte  noch  das  Wunder  ihrer 
völligen  Gleichheit  ihnen  offenbart  werden,  sonst  möchten  sie,  bei  einiger 
Weltkenntnis,  wohl  kaum  zuversichtlich  daran  glauben.  Die  Brücke,  auf 
welcher  das  Vorstellen  herbeikommt,  möchte  also  Hr.  B.  wohl  nicht  ge- 
funden haben;  sie  ist  auch,  solange  man  das  Vorstellen  ohne  nähere 
Bestimmung  für  ein  Abbilden  hält  (vollends  gar  für  Abbilden  von  Qualitäten) 
durchaus  nicht  zu  finden,  sondern  der  Sinn  der  Frage  muß  verändert 
werden;  und  man  muß  gerade  so  wenig  Anspruch  machen,  die  eigent- 
liche Qualität  der  Seele  eines  Freundes  kennen  zu  lernen,  als  die  Qualität 


126  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 

des  Quecksilbers,  wie  es  an  sich  selbst  ist.  Übrigens  haben  wir  eine 
Vorstellung  von  Körpern;  unsere  Seele  ist  dennoch  kein  Körper. 

Das  Angeführte  möchte  nun  wohl  mancher,  der  im  Philosophieren 
weit  höher  zu  stehen  glaubt,  als  Hr.  B.,  für  zu  schwach  erklären,  um 
einer  weiteren  Aufmerksamkeit  wert  zu  sein.  Allein  machen  es  diejenigen 
etwa  besser,  die  ihr  Gemüt  lediglich  als  einen  Gegenstand  der  inneren 
Erfahrung  und  Beobachtung  zu  kennen  behaupten?  Haben  diese  Gönner 
des  anthropologischen  Empirismus  etwa  genauer  das  Verhältnis  zwischen 
dem  Wissen  und  dem  gewußten  Gegenstande  erwogen?  Sehr  klar  sagt 
Hr,  B.:  ,, Stellen  wir  eine  Gemütsbewegung  eines  Freundes  vor,  so  wird 
uns  so  zu  Mute,  wie  dem  Freunde  zu  Mute  war;  aber  so  wie  dem  Steine 
zu  Mute  ist,  kann  uns  nicht  zu  Mute  werden  bei  dessen  Vorstellung, 
was  doch  ein  notwendiges  Erfordernis  für  die  Ansich-Erkenntnis  desselben 
sein  würde."  Daß  er  hiermit  eine  Abstufung  der  Möglichkeit  des  Er- 
kennens  eingeleitet  hat,  die  sich  sehr  leicht  weiter  anwenden  und  aus- 
führen läßt,  sieht  man  ebensogut,  als  andrerseits,  daß  dennoch  die  Zu- 
gänglichkeit des  Objekts  fürs  Subjekt  immer  noch  im  Dunkeln  bleibt;  und 
ebenso  der  Grund  des  Glaubens,  man  habe  den  Gegenstand  richtig  er- 
kannt, wie  er  ist.  Wenn  ferner  Hr.  B.  lehrt:  der  Begriff  des  Sein  existiere 
nun  einmal  in  unserer  Seele;  dieser  einfache  Begriff  könne  nicht  erdichtet, 
er  müsse  vielmehr  durch  irgend  ein  Gegebenes  dargeboten  sein,  wovon 
er  habe  abgezogen  werden  können,  dies  Gegebene  aber  liege  in  unserem 
Seelensein,  desse?i  Vergleichung  mit  dem  dasselbe  ajifassenden  Vorstellen  uns 
unmittelbar  gelinge:  —  so  finden  wir  uns  hier  zwar  zurückgeschleudert  zu 
den  Grund-Irrtümern  Fichtes  und  Schellings,  allein  diejenigen,  welche  in 
den  nämlichen  Irrtümern  noch  heute  stecken,  haben  nicht  Ursache,  gegen 
Hrn.  B.  vornehm  zu  tun;  auch  sie  suchen  das  Hirngespinst  eines  Punktes, 
worin  Wissen  und  Sein  zusammenfallen  sollen,  und  verblenden  sich  ab- 
sichtlich gegen  die  Ungereimtheit  dessen,  was  sie  fordern.  Endlich  selbst 
in  Hinsicht  der  Behauptung,  daß  die  Wahrnehmung  des  Körpeis  und 
die  Wahrnehmung  des  Geistigen  nicht  zwei  verschiedene  Dinge,  sondern 
ein  und  dasselbe  Ding  vorstellen,  —  daß  also  auch  die  voneinander  un- 
abhängigen Kausal-Entwicklungen  beider  einen  und  denselben  Erfolg  dar- 
stellen: —  auch  hier  ist  Hr.  B.  vollkommen  modern  und  schließt  sich 
ausdrücklich  dem  Spinoza  an;  welches  ihm  denn  immerhin  zur  Emp- 
fehlung bei  denen  gereichen  mag,  die  darin  eine  Empfehlung  finden. 
Rez.  ist  aber  hierin  gerade  der  entgegengesetzten  Meinung,  und  glaubt  sich 
zu  erinnern,  daß  Hr.  B.  früherhin  weniger  geneigt  war,  mit  dem  Strome 
zu  schwimmen,  was  im  Grunde  wohl  ehrenvoller  möchte  gewesen  sein; 
indessen  sei  es  ihm  keineswegs  verdacht,  wenn  er  lieber  nachgiebig,  als 
ohne  innere  Festigkeit  starrsinnig  sein  will. 

Aber  von  der  Keckheit,  womit  Hr.  B.  sich  herausnimmt,  in  dem 
zweiten  Teile  seines  Buches  den  Luftsprung  zu  dem  Verhältnis  zwischen 
Seele  und  Leib  zu  wagen,  würden  wir  schweigen,  wenn  nicht  der  Gegenstand 
praktisch  wichtig  wäre,  indem  der  Verf.  die  Aufmerksamkeit  der  Ärzte  für 
sich  zu  gewinnen  sucht.  Diese  sind  ohnehin  schon  sehr  geneigt,  sich  selbst 
eine  seichte  Philosophie  zu  erfinden;  welche  ihnen  wenig  schaden  wird, 
solange    sie   nichts   anderes  als  der  verfehlte  Ausdruck  der  medizinischen 


Dr.  Fr.  Ed.  Beneke:  Psychologische  Skizzen.  127 

Erfahrung  ist,  aber  Gefahr  bringt,  sobald  sich  damit  Schul -Vorurteile  der 
Philosophen  verbinden,  wodurch  die  Fähigkeit,  zu  beobachten,  und  gemäß 
den  Beobachtungen  zu  handeln,  vermindert  wird.  Die  gerechte  Be- 
wunderung des  organischen  Lebens  veranlaßt  eine  Geringschätzung  der 
allgemeinen  Physik  und  Chemie;  was  Leben  sei,  glaubt  man  wissen  zu 
können,  noch  bevor  man  überhaupt  weiß,  was  Materie  ist.  Auf  diese 
Weise  springend,  erreicht  man  nun  wissenschaftlich  gar  nichts;  denn  so 
wenig  Fleisch  und  Blut  aufhören,  ponderabele  Massen  zu  sein,  ebenso- 
wenig sind  sie  den  Gesetzen  der  Wärme,  der  Elektrizität  usw.  entnommen; 
sie  gehorchen  nur  nicht  unbedingt,  weil  sie  eigene  und  neue  Bedingungen 
des  Gehorchens  zu  den  allgemeinen  Naturgesetzen  hinzufügen.  Daß  nun 
ein  vielbeschäftigter  Arzt  über  manches  hinwegsieht,  was  auf  sein  Tun 
keinen,  ihm  bemerkbaren  Einfluß  ausübt,  mag  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
unschädlich  sein;  es  ist  auch  in  der  Praxis  kein  großes  Übel,  wenn  ein- 
mal eine  falsche  Hypothese  durch  zehn  Hilfs-Hypothesen  so  bedeckt  wird, 
daß  die  Fehler  sich  gegenseitig  auslöschen.  Aber  daß  Philosophen,  die 
nicht  Mathematik,  Physik,  Chemie  studiert  haben,  sich  mit  ihrer  unmathe- 
matischen Psychologie  auch  noch  in  die  Physiologie  —  die  schwerste 
aller  Wissenschaften  - —  versteigen;  daß  sie  hier,  mit  gewohnter  Dreistigkeit, 
die  Ärzte  zu  belehren  unternehmen,  bei  denen  jede  falsche  Richtung  des 
Denkens  auch  ein  falsches  Handeln  nach  sich  ziehen  kann,  —  das  ge- 
bührt sich  nicht!  Nur  in  der  Kürze  wollen  wir  zeigen,  wiefern  Hr.  B. 
uns  zu  dieser  Bemerkung  veranlaßt  habe.  Mit  stolzer  Freude  beginnt  er 
seinen  zweiten  Teil,  wie  wenn  mit  der  Lösung  der  Vorfrage,  nach  dem 
Verhältnisse  des  Vorstellens  zum  Sein,  auch  die  Lösung  der  Frage  nach 
dem  Verhältnis  zwischen  Seele  und  Leib  soweit  vorgerückt  wäre,  ,,daß 
für  die  letzte  im  Gncfide  nichts  inehr  übrig  ist,  als  die  gefundenen  Resultate 
klar  und  in  angemesse^ier  Ordnung  nebeneinander  zu  stellen.'-''  Hätte  er 
wirklich  der  Vorfrage  genügt,  so  wäre  damit  noch  nicht  die  allergeringste 
Kenntnis  des  Wesens  der  Materie  gewonnen,  ohne  welche  an  Kenntnis 
des  leiblichen  Lebens  nicht  zu  denken  ist;  diese  aber  ist  die  nächste 
Voraussetzung  einer  richtigen  Einsicht  in  das  Verhältnis  zwischen  dem 
Leibe  und  der  Seele.  Was  er  von  einer  Verbindung  räumlicher  Ver- 
änderungen im  Gehirn  usw.  mit  Geistes-Tätigkeit  mutmaßt,  ist  allerdings 
richtig,  und  läßt  sich  ohne  Vergleich  bestimmter  erklären,  als  Hr.  B.  getan 
hat;  aber  seine  Gedankensprünge  gehen  so  regellos  fort,  daß  man,  ein 
paar  Blätter  umschlagend,  auf  den  ungereimten  Satz  stößt:  ,,wenn  die 
Verdauung  bei  übermäßigen  Reizen  unmittelbar  empfunden  wird.,  gehört  sie 
offenbar  der  Seele  an.'-^  Er  hätte  ebensogut  sagen  können:  wenn  eine 
Kanonade  in  einer  Entfernung  mehrerer  Meilen  vernommen  wird,  so  gehört 
die  Abfeuernng  der  Geschütze  den  Personen  an,  welche  am  Boden  ge- 
lagert, mit  horchenden  Ohren  im  stände  sind,  den  dumpfen  Schall  gewahr 
zu  werden.  So  wenig  diese  Personen  in  den  Prozeß,  der  von  den 
Kanonieren  abhängt,  fördernd  eingreifen  können,  ebensowenig  hat  es  je- 
mals eine  verdauende  Seele  gegeben.  Nur  verhindernd  kann  sie  ein- 
greifen^ wie  wenn  der  Wagen  bei  schlechtem  Wege  die  Pferde  zurückhält. 
Nach  Hrn.  B.  aber  gibt  es  keine  Gattung  menschlicher  Entwicklungen, 
welche  nicht  unter  gewissen  Umständen  bewußt  werde?i  kö?inte.    Was  heißt 


128  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


das,  bewußt  werden?  „Die  Muskelbewegung  erhält  Bewußtsein  bei  über- 
mäßiger Ermüdung  oder  Anstrengung.''  (Das  heißt,  wenn  die  Muskeln 
schon  ihren  rechten  Dienst  versagen!)  „Der  Blutumlauf  wird  bewußt  bei 
Erhitzungen"  (also  wenn  das  Umlaufen  schon  mit  Hindernissen  kämpft!). 
,,Für  den  im  Schifte  Geschaukelten  setzt  sich  diese  Bewegung  auch  noch 
auf  dem  festen  Lande  fort"  (also  was  nicht  mehr  geschieht,  wird  dennoch 
wirklich  ein  Bewußtes!).  Sind  nun  die  Kontraktionen  der  Muskeln  etwas 
in  der  unräumlichen  Seele?  Oder  haben  sich  diejenigen  inneren  Zustände, 
welche  wirklich  in  den  Elementen  der  Muskeln  zur  Erklärung  der  Irritabilität 
vorausgesetzt  werden  müssen,  etwa  durch  die  Nerven,  welche  keine  Irri- 
tabilität besitzen,  bis  in  die  Seele  verbreitet?  Und  ist  etwa  nun  die  Seele 
in  einem  gleichartigen  Zustande  mit  den  Elementen  der  Muskeln,  weil 
sie  etwas  empfindet,  das  wir  Ermüdung  nennen?  —  Ferner:  es  gibt  viele 
und  verschiedene  Arten  von  Fiebern;  wenn  nun  in  der  Fieberwallung 
Hitze  empfunden  wird,  ist  das  Eigene  jedes  besonderen  Fiebers,  das,  was 
seinen  Grund  ausmacht,  ein  Bewußtes  geworden?  Gesetzt,  es  wäre  so, 
wovon  ist  denn  nun  ein  Wissen  in  der  Seele?  Von  der  Expansion  des 
turgescierenden  Blutes,  oder  von  der  Reizung  des  Herzens,  oder  von  der 
Spannung  in  den  Haargefäßen,  oder  von  der  veränderten  Hämatose  im 
System  der  Pfortader,  oder  von  der  Entkohlung  des  Blutes  in  den  Lungen? 
Welche  unter  den  verschiedenen  Meinungen  der  Physiologen,  um  die  so 
lebhaft  gestritten  wird,  erhält  nun  hier  Bestätigung  durch  jenes  eingebildete 
Bewußtwerden  des  Blutumlaufes?  —  Man  höre:  „lüir  können  uns  dieses 
Übermaß  bis  zu  dem  geiüöhnlichen  Maße,  jene  krankhafte  Beschaffenheit  bis 
zur  Norm  der  Gesundheit,  stetig  vermindert  denken:  und  werden  dann, 
indem  wir  den  Einfluß  einer  solchen  Verminderung  an  den  geistigen 
Tätigkeiten  uns  anschaulich  machen,  welche  auch  in  dieser  Vermindei  uns. 
noch  durch  sich  selber  vorstellbar  sind  (durch  homöopathische  Bruchrechnung 
vermutlich!),  allerdings  eine,  wenn  auch  nicht  vollkommen,  doch  selbst  für 
wissenschaftliche  Konstruktioneti  genügeiid  klare  Erkenntnis  von  dem  An-sich 
der  gesu7iden  Verdauung  gewinnen" !! !  Hr.  B.  frage  doch  einen  Blumenbach, 
oder  Rudolph:,  oder  Treviranus,  oder  Baer,  oder  welchen  Physiologen 
er  will,  ob  nun  die  Theorie  der  Verdauung  sich  wissenschaftlich,  und 
zwar  genügend  klar,  konstruieren  lasse?  Und  wie  nun  die  Analogie  laute, 
durch  welche  man  auf  ähnliche  Weise  eine  Theorie  des  Fiebers  erlangen 
könne  ?  Wir  wollen  noch  folgende  Worte  des  Hrn.  B.  anführen,  damit 
man  ihn  nach  seinen  eigenen  Aussagen  richten  möge.  „Die  Beobachtung 
jener  starkbewußten  Äußerungen  der  gewöhnlich  geringbewußten  Tätig- 
keiten macht  uns  mit  den  Entwicklungsgesetzen  usw.  derselben  bekannt. 
Diese  werden  wir  auf  die  gleichartigen  schwächeren  Entwicklungen  über- 
tragen. Die  unbewußten  Verdauungs-  und  Muskeltätigkeiten  stellen  wir, 
untereinander  und  zu  den  geistigen  Tätigkeiten,  in  eben  das  Verhältnis, 
in  welches  wir  die  beivußien  haben  treten  sehen"  (also  die  normalen  in 
eben  das  Verhältnis  wie  die  anormalen!  Ungefähr  wie  Hahnemann  Heil- 
mittel  gegen  Krankheiten  beurteilen  wollte  nach  dem  Schaden,  den  sie 
dem  Gesunden  zufügen,  doch  scheint  es  fast,  hier  sei  Hahnemann  der 
"Wahrheit  näher,  indem  er  wenigstens  die  Systeme  des  Organismus,  worauf 
die  Mittel  wirken,  unterscheiden  konnte).      „Nun  werden  die  unbewußten 


Dr.  Fr.  Ed.  Beneke:  Psychologische  Skizzen."  12g 


Tätigkeiten  in  die  Entwicklung  der  bewußten  Seelentätigkeiten,  z.  B.  ins 
Denken,  einwirken.  —  Nach  dieser  Methode  (so  sagt  die  beigefügte  Note) 
sind  alle  Erklärungen  in  meinen  Beiträgen  zu  einer  rein -seelen- wissen- 
schaftlichen Seelen  -  Krankheits  -  Kunde  konstruiert;  die  leiblichen  Er- 
scheinungen möglichst  vollständig  in  Rechnung  gezogen,  aber  seelenartig 
übersetzt."  Da  der  Verf.  sich  einmal  selbst  ein  solches  Zeugnis  ausgestellt 
hat,  so  können  wir  es  nicht  ändern;  um  die  Physiologen  belehren  zu 
können,  wird  er  noch  vorher  gar  manches  von  ihnen  lernen  müssen ;  und 
wenn  er  sie  von  der  groben  Materie  auf  deren  innere  Kräfte  verweist, 
so  werden  sie  dies  schwerlich  als  seine  Erfindung  anerkennen,  und  den 
wahren  Begriff  dieser  sehr  uneigentlich  sogenannten  Kräfte  wohl  auch  nicht 
von  ihm  veriangen:  —  vielleicht  aber  doch  einmal  hier  und  da  seine 
luftigen  Behauptungen  als  Autoritäten  zitieren!  Denn  Leben  und  Seele  ver- 
wechseln sie  gar  gern. 

Man  erwarte  nicht,  daß  wir  mit  gleicher  Ausführlichkeit  auf  des  Verfs. 
psychologische    Skizzen    uns    einlassen    werden.      Die  Gründe,    weshalb    das 
nicht  geschieht,  sind  größtenteils  schon  aus  dem  Vorstehenden  ersichtlich  ; 
es  fehlt  bei  Hrn.  B.  an  allen  Erfordernissen  einer  gründlichen  Untersuchung  ; 
es  fehlt  an  Metaphysik,   an  Naturkenntnis,  an  bedeutendem  Umfange  der 
Belesenheit,    an   Reichtum    solcher  Erfahrung,    die    das  Gemeine   und  Ge- 
wöhnliche überschreitet    und  sich    durch  Seltenheit    schätzbar   macht;    nur 
Eins    ist    im   Übermaße   vorhanden,    nämlich    Dreistigkeit.      Mit   gewählten 
Redensarten  verspricht  er  —  Natuüehre\   Keinesweges  eine  Wissenschaft  aus 
eigetien  Begriffen\    Aber  der  erste  Band  soll  sich  mit  dem  Veränderiichsten, 
Flüchtigsten  in   der  menschlichen  Seele  beschäftigen;  der  zweite  mit  dem 
Bleibendsten,    der   wesentlichen    Natur   und   dem   inneren  Bau   der  Seele. 
Wir   wollen   hier   keineswegs    fragen,    ob    denn    ein  Bau   in   der  Seele  sei. 
Aber  Hr.   B.   weiß,   wie  es  scheint,    nicht,    was  Naturlehre  heißt.      Er  gehe 
demnach  zu  den  Naturiehrern  und  erkundige  sich.      Er   wird  hören,    daß 
tüchtige  und  treue  Beobachter  das  Bleibende   in   den   Erscheinungen    auf- 
suchen, nicht  das  Flüchtige  —  am  wenigsten  gleich  anfangs,  —  auch  nicht 
das    innere    Wesen    der   Dinge,    welches    zu   erkennen    die    Physiker    gar 
keinen   Anspruch    machen.      Ferner:    nicht    als    Wissenschaft    aus    eigenen 
Begriffen,    so    lautet    die   Verheißung.     Aber    kaum    treten    wir    über   die 
Schwelle   des   Eingangs    zur    ersten    Abhandlung,    welche    uns   eine  Natur- 
lehre der  Gefühle  anbietet,  so  empfängt   uns    ein  langes  Gerede  darüber, 
daß  es   erlaubt  sein  müsse,   Begriffe  zu  machen,  woran  im   allgemeinen  kein 
spekulativer  Denker  zweifelt,    vorausgesetzt,    daß    man   die  Gründe    dieses 
Machens  zu  rechtfertigen   wisse.     Und   was  macht  Hr.  B.?    Einen  Begriff 
von  den  Gefühlen.     Welchen  Begriff?    Dies  zu  sagen,  kostet  ihn  ein  lang- 
gestrecktes  Wort:   unmittelbares  Sicligegen-Einander-Messen  unserer  Seelen- 
tätigkeiten;  er  erklärt,   dieses  Verhältnis  scheine  ihm  dasjenige,   welches  im 
gewöhnlichen  Denkgebrauche,  wie  im  philosophischen,  mehr  oder  weniger 
bewußt  und  klar,  dem  Begriffe :    Gefühl  zum  Grunde  liege.     Eine  allgemeine 
Ähnlichkeit    zwischen    beiden,    meint    er,    w^erde    man    schon    beim    ersten 
Anblicke  nicht  verkennen.     Wir  unsererseits  meinen  das  Gegenteil;  ja  wir 
meinen,  daß  hier  gerade  die  Psychologie  an  eine  Schwierigkeit  stößt,  die 
sie    in    alle    Ewigkeit    nicht    genau,    sondern    nur    annäherungsweise,    mit 

Herbarts  Werke.    XIII.  9 


J-.Q  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Wahrscheinlichkeiten    sich    behelfend,    wird    beseitigen    können.     Die    be- 
kanntesten, bei  jedem  Menschen  und  jedem  Tiere  vorkommenden  Gefühle 
sind  die  des  sinnlichen  Wohl  und   Wehe.     Wer  sich   brennt    oder   sticht, 
wer  ißt  und    trinkt,    der   fühlt.      Wer   in    einem    solchen  Gefühle    die  Er- 
klärung  des    Hrn.    B.    wieder   erkennen   sollte,    der   müßte   sagen   können, 
welche  verschiedenen  Seelentätigkeiten   sich  darin  aneinander  messen.     Er 
müßte  also  das  Einfache,    das  Wohl  und  Wehe  zerlegen    können   in  eine 
Vielheit,    und    der    Philosoph    müßte    aus    dieser   Vielheit,    indem    er    sie 
wieder  zusammensetzte,  das  Gefühl,  als  den  notwendigen  Erfolg  derselben, 
begreiflich    machen   können.      Daß   allerdings    das    letzte,    die   Zusammen- 
setzung, sich  mit  Wahrscheinlichkeit   leisten   läßt,   hat  Rez.    am    gehörigen 
Orte  gezeigt;    aber  was  hilft's,    mit  Hrn.   B.    von  Berechnungen    der     Ver- 
schmelzufig    vor  der   Hemvuing   zu    reden?     Wer    so,    wie    er,    Begriffe    aus 
freier    Hand    macht,    der    wird    in    diesen    Rechnungen    ebensowenig    die 
wirklichen  Gefühle  wieder  zu  erkennen  vermögen,  als  der  Ungebildete  im 
Stande    ist,    sich    von    irgend    einer  Zusammensetzung    verschiedener    Vor- 
stellungen in  dem  einfachen  Gefühle  Rechenschaft  zu  geben.     Aber  auch 
die  Gebildeten,  die  Gelehrten  werden  fragen:  wie  kommt  das  Fühlen  zum 
Messen,    und   wie   kommt    das    Messen   zum  Fühlen?    Diejenigen,    welche 
den  Kern  der  Psychologie   im  Gefühle    suchen,    pflegen   bekanntlich    vom 
wirklichen  Messen  keine  Freunde  zu  sein,  so  wenig  wie  der  Verf.  selbst. 
Sieht  man  sich  weiter  um  in  dem  Buche,  so  stößt  man  auf  neue  Namen: 
wie    Vorstellungsramn^   Luftraum,    Strebungsrauvi,  ja  sogar  ajigeivachsener  und 
eingeioachsener  Raum.      Offenbar    hat    die  Mathematik,    welche   ganz    allein 
fähig  ist,  Licht  in  die  Psychologie  zu  bringen,  sich  an  Hrn.  B.  dafür  ge- 
rächt,    daß    er    die    Herrschaft,    welche    ihr    in    dieser    Wissenschaft   von 
Rechtswegen    gebührt,    nicht  einräumen  will.      Sie  hat  ihm,    da  er   Begriffe 
machen   wollte,   lauter  Größenbegriffe   aufgedrungen;    und   so  wird   sie  mit 
jedem    verfahren,    der    irgend    ein   freies  Nachdenken   in  der  Psychologie 
versucht.      Ein    sehr    merkwürdiger  Umstand,    der  hierbei  vorkommt,    darf 
nicht   unerwähnt    bleiben.      Die   Größenbegriffe  sind    i?az/;;zbegriffe,    obgleich 
anerkannt    als    Begriffe    vom     Unräumliclien ;    und    wiederum:    zu    dem    ein.' 
gewachsenen    Räume,    der    eine    intensive    Größe   bezeichnen  soll,    kommt 
sogar  noch  ein  atigeivachsener ^-  um  eine  Größe  zu  benennen,  die  im  Ver- 
gleich   mit    jener    so    gedacht    werden    muß,    als    verhielte    sie    sich    wie 
Extensives   zum  Intensiven.     Über    diese    letzten  Benennungen  erklärt  sich 
Hr.  B.   folgendermaßen:    „Angewachsener    Raum    bezeichnet   deutlich    das 
Hinzukommen  fremder   Bestandteile    zu    den,    der    ursprünglichen    Bildung 
eigentümlichen;  eingewachsener  Raum  hingegen,  daß  die  Bewußtseinsstärke 
rein    aus    den    letzten    besteht."     Also    von    der   Stärke,    womit    sich   eine 
Vorstellung  im  Bewußtsein  behauptet,  ist  die  Rede;  der  Unterschied,  der 
hierbei   vorkommt,    wird   durch  die  Präpositionen   An  und  In  bezeichnet; 
die  Stärke    der  Vorstellungen    wächst    entweder    in  sie  hinein,    oder  an  sie 
hinan.      Hier    nun    wollen    wir  Hrn.   B.    weder    tadeln    noch    loben;    denn 
unwillkürlich,    und    ohne  Schuld    oder  Verdienst   ist   ihm    etwas   begegnet, 
das  überall  in  aller  Sprachbildung  begegnet  und  begegnen  muß,  ohne  von 
den    gewöhnlichen  Psychologen    begriffen    zu   sein.     Es   ist   nämlich    einer 
der  wichtigsten  charakteristischen  Züge  von  Nachlässigkeit  der  alten  Psycho- 


Dr.  Fr.  Ed.  Beneke :  Psycliologische  Skizzen.  I  2  I 

logie,  daß  sie  den  Raum  nur  als  eine  Form  des  Sinnlichen  betrachtet. 
Als  aber  Kant  begriff,  daß  die  sinnliche  Empfindung  gar  nicht  einmal 
im  Stande  ist,  durch  sich  selbst  irgend  ein  Raumverhältnis  als  Empfundenes 
darzubieten,  obgleich  sie  sich  unter  gewissen  Umständen  notwendig  damit 
bekleidet,  da  hätte  ein  Grammatiker  zu  ihm  treten,  und  ihm  zeigen  sollen, 
daß  die  ganze  Sprache  sowohl  in  den  Worten^  als  in  den  grammatischen 
Fügungen,  voll  ist  vom  Räumlichen ;  alsdann  würde  er  diese  Tatsache  weiter 
erwogen  und  gefunden  haben,  daß  er  den  Verstand,  mit  eben  dem  Rechte 
wie  die  Sinnlichkeit,  als  den  Produzenten  der  Raumvorstellungen  betrachten 
könne;  und  auf  diesem  Wege  des  Nachdenkens  wäre  er  dann  vielleicht 
von  dem  Vorurteil  für  die  Seelenvermögen  losgekommen,  welches  ihm 
seine  Vernunftkritik  verunstaltet  hat.  Was  aber  ist  Hrn.  B.  begegnet? 
Ihm  schweben  die  Vei-schmelznugs- Hilfen  und  Koinplikations-  Hilfen  vor, 
welche  eine  Vorstellung  von  den  mit  ihr  verbundenen  erhält;  diejenige 
Stärke,  womit  sie  dadurch  im  Bewußtsein  gehalten  wird,  will  er,  wie  billig, 
unterscheiden  von  der  andern  Art  von  Stärke,  die  sie  erhalten  könnte, 
wenn  sie  „in  ihren  eigentümlichen  Elementen  verdoppelt  oder  verdreifacht 
würde".  Dies  Doppelte  oder  Dreifache  würde  in  sie  hineinwachsen;  jenes 
wächst  an  sie  hinan.  Ist  denn  der  Anwuchs  wirklich  außer  demjenigen, 
wohin  es  sich  anlegt?  So  ist's  nicht  gemeint;  die  Redensart  soll  nur  eine 
Metapher  sein!  Aber  jede  Metapher  miß  ihren  Grund  haben,  tveshalb  sie 
paßt.  Weiß  man  diesen  Grund  für  diejenigen  Metaphern,  welche  für 
e7itlehnt  vom  Räume  gehalten  zu  w^erden  pflegen,  psychologisch,  und  mit 
Genauigkeit  anzugeben,  so  weiß  man  zugleich  den  wahren  Grund,  aus 
welchem  alle,  auch  die  sinnlichen  Vorstellungen  vom  Räumlichen  entspringen. 
Weiß  man  ihn  nicht,  so  staunt  man  über  die  Einrichtungen  unseres  Er- 
kenntnisvermögens; dieses  Staunen,  das  gerade  Gegenteil  des  Erkennens, 
verbreitet  sich  verwirrend  über  Psychologie  und  Metaphysik,  samt  allem, 
was  davon  abhängt.  Wissen  aber  kann  man  den  Grund  nicht,  wenn  man 
nicht  rechnen,  oder  wenigstens  mathematische  Begriffe  fassen,  und  um  sie 
zu  fassen,  die  nötigen  Übungen  anstellen  will.  Hr.  B.  nun  hat  längst 
verraten,  daß  er  in  diesem  Punkte  zu  den  gänzlich  Ungeübten  gehört. 
Nach  allem  Bisherigen  kann  von  Leistungen  des  Hrn.  B.  für  die 
Wissenschaft  für  jetzt  noch  nicht  die  Rede  sein.  Damit  ist  jedoch  nicht 
geleugnet,  daß  er  einesteils  bei  besserer  Vorbereitung,  bei  gründlichen 
Studien,  etwas  hätte  leisten  können  und  noch  leisten  könnte;  andernteiis, 
daß  seine  vorhandenen  Schriften  einer  zahlreichen  Klasse  von  Lesern 
nützliche  Dienste  leisten  werden.  Die  alte,  in  ihrem  System  von  dem 
Seelenvermögen  gefesselte  Psychologie  ist  so  unfähig,  auch  nur  die  An- 
sprüche zu  begreifen,  die  man  gegen  sie  erhebt,  daß  selbst  die  unreifen 
Gedanken  des  Hrn.  B.  schon  besser  sind  als  jene  überreife  Irrlehre,  In 
seinen  Schriften  ist  manches,  was  ein  guter  Kopf  verarbeiten  kann;  die 
Selbstbeobachtung  kann  durch  ihn  geweckt  und  geschärft  werden;  in 
dieser  Hinsicht  ist  das  gute  Vorurteil,  das  man  hier  und  da  für  ihn  ge- 
äußert hat,  nicht  ohne  Grund.  Hr.  B.  ist  wenigstens  geneigt,  sich  auf 
Erfahrung  zu  berufen;  vermutlich  also  wird  er  auch  die  Winke  der  Er- 
fahrung beachten  wollen;  bekanntlich  aber  kommt  Erfahrung  allmählich 
mit   den  Jahren.     Vielleicht   bereut  der  Verf.  es  jetzt  schon,    Skizzen  ge- 

9* 


j  ,  2  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


schrieben  zu  haben,  statt  Untersuchungen  anzustellen.  Denn  schon  gegen- 
wärtig zeigt  sich's,  daß  die  Laune  der  Zeit,  welche  seinem  Empirismus 
günstig  schien,  im  Vorübergehen  begriffen  ist.  Das  Zeitalter  ist  ebenso- 
wenig mit  leichter  Ware  befriedigt,  als  die  Wissenschaft.  Wenn  nun 
auch  Hr.  B.  vielleicht  niemals  zu  der  Einsicht  gelangt,  daß  man  erst 
Mathematik  studieren  müsse,  bevor  man  in  der  Psychologie  Fortschritte 
machen  könne:  so  wird  er  wenigstens  davon  sich  mehr  und  mehr  über- 
zeugen, daß  man  aus  einem  gegebenen  Kreise  von  Erfahrungen  nichts 
willkürlich  herausreißen  darf,  und  daß  erfahrungsmäßig  der  Geist  mit  dem 
Leibe,  also  Psychologie  mit  Physiologie,  vermittelst  dieser  aber  mit  den 
übrigen  Naturwissenschaften  zusammenhängt.  Vor  dem  leidigen  Materia- 
lismus braucht  man  Hrn.  B.  glücklicherweise  nicht  zu  warnen;  er  studiere 
demnach  nur  die  Gesetze  der  Körperwelt;  vielleicht  bringt  ihn  dies 
Studium  noch  irgend  einmal  zum  wahren  Rationalismus.  Und  wenn  er 
dahin  gelangt,  die  ergänzende  Steigerung  für  die  unbewußten  geistigen 
Tätigkeiten  in  ihnen  zu  finden,  anstatt,  wie  jetzt,  sie  fälschlich  in  den 
Sinnen  zu  suchen,  alsdann  wird  er  mit  besserem  Rechte,  als  bisher,  von 
einer  rationalen  Psychologie  reden  dürfen. 


Hillebrand,  Dr.  Jos.,  ord.  öffentl.  Prof.  der  Philosophie  an  der  Uni- 
versität zu  Gießen  und  Pädagogiarchen  daselbst,  Lehrbuch  der 
theoretischen  Philosophie  und  philosophischen  Propädeutik, 
zum  Gebrauche  bei  akademischen  Vorlesungen.  —  Mainz, 
bei  Kupferberg,  1826.  VIH  u.  350  S.  80.  (i  Thlr.  8  Gr.) 
Gedruckt  in:  Leipziger  Literatur  -  Zeitung   1830,  Nr.  45,  46.     SW.  XIII,  S.  556. 

Man  hört  oft  genug  Klagen  über  die  raschen  Veränderungen,  welchen 
die  Philosophie  unserer  Zeit  sich  hingebe;  über  die  Unmöglichkeit,  ihnen 
nachzufolgen;  über  das  unvermeidliche  Mißtrauen,  was  daraus  entstehe; 
über  die  Vernachlässigung  der  philosophischen  Studien,  die  in  dem  ewigen 
Wechseln  der  Systeme  ihren  Grund  habe.  Die  Klagenden  scheinen  nicht 
sehen  zu  wollen,  daß  in  der  heutigen  Zeit  auf  den  philosophischen 
Kathedern  größtenteils  solche  Männer  einander  gegenüber  stehen,  die 
nebeneinander  alt  geworden  sind,  und  deren  ausgearbeitete  Werke  jetzt 
nur  darauf  warten,  von  den  jüngeren  Zeitgenossen  mit  Ernst  und  Fleiß 
verglichen  zu  werden.  Andrerseits  hört  man  ganz  entgegengesetzte 
Äußerungen:  die  Philosophie  drehe  sich  im  Kreise,  oder  wende  sich  bald 
rechts,  bald  links;  ihre  Bewegung  sei  keine  wirkliche  Veränderung;  in 
der  Tat  komme  sie  nicht  von  der  Stelle.  Eine  ebenso  übertriebene  Be- 
schuldigung, wie  die  vorige.  Die  Wissenschaft  ist  allerdings  im  beständigen 
Fortschreiten  begriffen,  nur  nicht  immer  in  allen  ihren  Teilen,  sondern 
freilich  wie  ein  rotierender  oder  schwankender  Körper,  welcher  in  An- 
sehung seines  Mittelpunktes  fortrückt,  während  es  auf  seiner  Oberfläche 
Punkte  gibt,  die  still  stehen,  oder  gar  zurückgehen.  Aber  auch  hier 
fehlt  es  an  scharfen  Beobachtern;  daß  man  solche  unter  den  Partei- 
gängern nicht  suchen  darf,   versteht  sich  von  selbst;    daß  man  sie  in  den 


Jos.  Hillebrand:  Lehrbuch  der  theoretischen  Philosophie  usw.  i%5 

Kreisen  unbefangener  Gelehrter  auch  nur  höchst  selten  findet,  ist  ein 
schlimmer  und  wahrhaft  befremdender  Umstand !  Was  nützen  Philologie 
und  Literatur- Kenntnis  (dürfte  man  fragen),  wenn  sie  nicht  einmal  soviel 
bewirken,  daß  der  Philosophie  eine  stets  beharrende  Achtung  und  Auf- 
merksamkeit gesichert  bleibe,  vermöge  deren  man  sich  über  manches,  was 
im  einzelnen  anstößig  sein  kann,  was  der  Augenblick  bringt  und  entführt, 
hinwegzusetzen  wisse?  —  Allein  wir  wollen  nicht  unsererseits  uns  in  Klagen 
vertiefen,  sondern  vielmehr  zufrieden  sein,  wenn  jüngere  Schriftsteller, 
wohin  auch  der,  zwar  schon  über  ein  Jahrzehnt  bekannte  Verf.  des  an- 
gezeigten Buches  noch  zu  rechnen  sein  mag,  uns  die  zwar  langsame,  doch 
merkliche  Fortrückung  der  Wissenschaft  vergegenwärtigen.  Das  Buch  ist 
wenigstens  fleißig  genug  gearbeitet,  um  uns  zu  einer  verweilenden  Be- 
trachtung desselben  einzuladen  und  manche  Bemerkungen  zu  veranlassen. 
Ob  aber  von  neueren  Fortschritten  viel  darin  zu  spüren  sei?  Ob  das- 
jenige Neue,  welches  beim  Verf.  Eingang  fand,  schon  reiner  Gewinn,  oder 
ob  es  zu  den  Vorstellungsarten  zu  rechnen  sei,  deren  Umwandlung  noch 
nicht  vollendet  ist?  Hierüber  mögen  wir  noch  nicht  bestimmt  sprechen; 
vielmehr  müssen  wir  mit  der  Nachricht  beginnen,  daß  die  größeren  Um- 
risse des  Buches  uns  noch  ganz  jene  alte  Logik  und  Metaphysik  vor 
Augen  stellen,  welche,  in  Ein  Kollegium  zusammengedrängt,  einige  ency- 
klopädische  Bemerkungen  und  eine  sogenannte  psychische  Anthropologie 
vorantreten  lassen.  Und  diese  Nachricht  wird  wenigstens  tröstlich  sein 
für  jene  Klagenden,  deren  wir  zuerst  erwähnten.  Kein  besonderer  Drang, 
etwas  Neues  zu  lehren,  ist  in  dem  Buche  zu  spüren,  wohl  aber  sehen  wir 
den  Verf.  in  der  Vorrede  mit  der  Frage  beschäftigt,  wie  die  akademischen 
Vorträge  einzurichten  seien,  damit  sie  nützlich  werden.  „Womit  soll  man 
anfangen,  was  zusammenstellen,  wie  das  Interesse  erregen  und  wach  er- 
halten bei  einer  Wissenschaft,  die  keine  bestimmten  Anfangspunkte  hat  (?), 
bei  der  oft  das  Entfernteste  das  Nächste  bedingt,  worin  das  meiste  über 
dem  Kreise  gewöhnlichen  Vorstellens  liegt,  bei  deren  Studium  die  erste, 
notwendigste  Forderung  ist,  auf  liebgewordene,  gewohnte  Ansichten  nötigen- 
falls zu  verzichten,  abzusehen  von  dem  unmittelbaren  Vorteile  für  das 
alltägliche  Leben  und  mit  ernster  Selbstverleugnung  dem  ruhigen,  un- 
befangenen Gedankengange  sich  hinzugeben?  Bedenkt  man  dabei,  daß 
solche  Vorträge  in  der  Regel  vor  Jünglingen  gehalten  werden,  bei  denen 
das  bewegliche  Leben  der  Gefühle  und  der  Einbildungskraft  noch  vor- 
waltet, die  sich  oft  ohne  gehörige  Reife  den  höheren  Studien  zuwenden, 
und  zu  dene7i  der  Philosophie  häufig  keine  andeien  Vorbereitungen  mitbringen, 
als  die  gemeinsten  Vorurteile  in  Hinsicht  ihrer  Bedeutung  7ind  ihres  Nutzens: 
—  Bedenkt  man  dies  und  so  manches  ähnlicher  Art,  so  wird  einleuchten, 
daß  es  ratsam,  ja  notwendig  sei,  bei  den  Vorlesungen  über  Philosophie 
die  Resultate  eigener  Erfahrung  und  Praxis,  soviel  es  die  Selbständigkeit 
und  die  Würde  der  Wissenschaft  nur  immer  erlaubt,  in  Rücksicht  zu 
nehmen.  - —  Es  ist  mehr  darum  zu  tun,  allseitig  das  Denken  zu  ivecken, 
als  eigentliche  Resultate  dogmatisch  hinzustellen  und  dadurch  den  un- 
vorbereiteten Sitin  des  Zuhörers  zu  überraschen.  Mag  dies  letzterem  oft  an- 
genehmer und  interessanter  sein ;  jenes  ist  ihm  nützlicher  und  der  Wissen- 
schaft angemessener." 


j  2  4  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


Goldene  Worte,  die,  leider!  verhallen  werden,  wie  so  manche  ähnliche 
schon  verhallt  sind.     Denn  die  Lehrer  wollen  meistens  imponieren;    und 
die  Jugend  läßt  sich  gern  imponieren.    Starke  und  schnelle  Effekte  werden 
gesucht  und  wohl  aufgenommen,   solange  das  Urteil  über  den  Lehrer  mehr 
von  der  Jugend,  als  von  dem  reiferen  Teile  des  Publikums  bestimmt  wird. 
Woher    soll    nun    der    ausdauernde    Fleiß    und    das    allmählich    steigende 
Interesse    kommen,    dessen    die    Philosophie    im    höchsten    Grade    bedarf? 
—   Die  vielfach  laut  werdenden  Klagen  über  geringe  Teilnahme  an  ernsten 
philosophischen  Studien    will    der  Verf.    nicht  wiederholen;    er  fordert  mit 
Recht    bessere    Vorbereitimg    auf  den   Schulen^    und:    weniger  Mißachtung    der 
Philosophie    von    Seiten    mancher   Gelehrten,    ,, welche    oft    ebenso    lächerlich    als 
unverständig    über  Bedeutuiig    und    Wesen   der  Philosophie  radotieren^    von   der 
sie  viel/ach  zum  Schaden  ihrer  eigenen    Wissenschaft  nichts  verstehen."     Aber 
in    diesem  Punkte   sind  Klagen   ganz    unnütz.     Die  Sache   wird   sich    all- 
mählich   von    selbst    ändern,    sobald    das    langsame,    aber   wirkliche    Fort- 
schreiten und  Reifen  der  Philosophie,    welches  mitten  unter  Stürmen  und 
Streitigkeiten    geschehen    ist    und   noch   geschieht,    erst   sichtbarer   an  den 
Tag    kommt.     Freilich    müssen    die    Philosophen    selbst    die    nötigen    Ge- 
ständnisse   wegen    der    Durchgangspunkte,    wo    sie    nicht    stehen    bleiben 
können,    und   auch  wegen  der  Seitenwege,    in  die  sie  oft  genug  sich  ver- 
irrten,  abzulegen  nicht  scheuen.     Es  muß  jedem  ausgezeichneten  Denker 
genügen,  zu  sehen,  daß  er,  noch  nicht  am  Ziele,  doch  einige  notwendige 
Fortschritte    gemacht    hat,    die    dem    Ziele   näher   führen.     Man   wird   die 
Augen  öffnen  müssen  über  die  Wege,  welche  durchlaufen  wurden.    Daran 
fehlt  es  noch  zu  sehr.    Als  der  Kantianismus  herrschte,  vergaß  man  vor- 
schnell weitereilend  die  Leibnizische  Schule;  jetzt  vergißt  man  die  Kantische. 
Das  darf  nicht  sein;    die  früheren  Standpunkte  müssen  fest  im  Auge  be- 
halten werden.     Von  der  Mathematik  ist  die  Philosophie  losgerissen;  das 
Band  muß  wieder  geknüpft  werden.     Naturrechtliche  Untersuchungen  sind 
aus  der  Mode,  weil  die  politische  Bewegung,  sie  nicht  mehr  belebt;    aber 
man    muß    der  Mode    nicht   huldigen,    sondern    mit  Ernst    und  Ruhe   die 
Wissenschaft  als  solche  im   Auge  behalten.     Bedingungen  dieser  Art  werden 
sich    wohl  allmählich   erfüllen;    hiermit  wird   die  Achtung,    welche  der  ge- 
lehrte  Fleiß  und   Ernst  sich  am  Ende  allemal   erwirbt,  auch  wiederkehren. 
Denjenigen  aber,  welche  mit  hohlen  Worten  noch  jetzt  Lust  haben,  Unter- 
suchungen   zu    Boden    zu    schlagen,    deren    Gründe,    Zusammenhang    und 
Hilfsmittel    sie    nicht    kennen,    wird    man    vielleicht    Schweigen    gebieten 
müssen.    —    Der  Verf.    erwähnt   noch  in  einer  Note  eines  sehr  wichtigen 
Punktes,    nämlich    der    Notwendigkeit,    daß    die     erotematisch- dialogische 
Methode    mit   der   akroamatischen   zu  verbinden  sei.     Er  fährt  fort:    „so- 
lange  jedoch  die  hauptsächlichsten  philosophischen  Vorlesungen  nicht  als 
zu  dem  gesetzlichen  Kursus   erforderlich  von  oben  bezeichnet  werden,  bleibt 
es  dem  Lehrer  unmöglich,  die  erstgenannte  Methode  anzuwenden."    Allein 
dem   Rez.  scheint  es  bedenklich,   auf  Einwirkungen  von  oben  anzutragen; 
sobald  sich  nämlich  die  Philosophie  nach  ihren  mancherlei  Aufregungen  mehr 
läutert,    wird   bei   gehöriger  Lehrfreiheit    sich  auch  jene  Verbesserung  des 
Unterrichts  eher  vermöge  des  öffentlichen  Vertrauens  herbeiführen  lassen, 
soweit   sie   nötig   und  in  zahlreich  besuchten  Vorlesungen  überhaupt  aus- 


Jos.  Hillebrand:  Lehrbuch  der  theoretischen  Philosophie  usw.  135 


führbar  ist.  — ■  Die  Vorrede  schließt  mit  den  Worten:  „Wer  es  in  der 
Philosophie  versucht,  nach  vorgängigem,  sorgfältigem  Studium  des  Fremden 
und  mit  wahrheitsliebender  Berücksichtigung  desselben  seinen  Gedanken- 
gang sich  selbständig  zu  bilden,  wird  mit  vielen  übereinstimmen,  aber 
auch  vielen  widersprechen.  Dies  letztere  dürfte  bei  dem  Verf.  besonders 
in  der  Psychologie,  und  zum  Teil  auch  in  der  Metaphysik  der  Fall  sein. 
Diejenigen,  welche  gemeinschaftlich  die  große  Angelegenheit  des  freien, 
ernsten  Denkens  fördern,  werden  dem  Verf.  nicht  darum  abgeneigt  sein, 
daß  er  mit  ihnen,  wiewohl  auf  seine  Weise,  tätig  sein  wollte."  Diese  Worte 
sind  bezeichnend  genug,  sowohl  für  das,  was  man  im  allgemeinen  von 
dem  Buche,   als  auch,  was  der  Verf.  selbst  zu  erwarten  hat. 

Oben  hörten  wir  von  einer  „Wissenschaft,  die  keine  bestimmten  An- 
fangspunkte habe".  Wirklich  scheint  das  Anfangen  dem  Verf.  mehr  als 
billig  schwer  zu  werden.  Voran  stellt  er  eine  allgemeine  Einleitung;  dann 
erst  kommt  die  Propädeutik  der  Philosophie,  und  zwar  wiederum  in  drei 
Abschnitten,  die  nicht  füglich  als  koordiniert,  sondern  als  einer  dem  andern 
vorgeschoben  können  angesehen  werden.  Nicht  genug,  daß  der  Meta- 
physik die  Logik,  und  wiederum  der  Logik  die  psychische  Anthropologie 
vorausgeht,  so  muß  der  letztern,  die  hier  den  dritten  Abschnitt  der  Propä- 
deutik bildet,  auch  noch  die  Encyklopädie  der  Philosophie,  und  dieser  die 
allgemeine  Technik  der  Philosophie  vorantreten,  welche  selbst  mit  einer 
Vorerinnerung  hinter  der  allgemeinen  Einleitung  beginnt.  Es  mag  nun 
wohl  sein,  daß  sehr  geduldige  Zuhörer  ihre  Aufmerksamkeit  desto  höher 
spannen,  je  mehr  Zurüstungen  vor  ihren  Augen  gemacht  werden;  aber  den 
Gewinn  der  vielen  „voriäufigen  Vergleichungen,  Andeutungen,  Erklärungen, 
Bemerkungen,"  die  gleich  in  den  ersten  Paragraphen  sich  bei  solchem 
Verfahren  notwendig  anhäufen,  diesen  Gewinn  müssen  wir  bezweifeln. 
Das  Nachdenken  der  Zuhörer  kann  nicht  füglich  eher  beginnen,  als  bis 
man  ihnen  entweder  evidente  Wahrheit  oder  Probleme  darbietet,  an  denen 
sie  -sich  üben  sollen.  Und  wenn  vollends,  im  §  6,  behauptet  wird:  „es 
könne,  genau  genommen,  keine  Propädeutik  der  Philosophie  geben;"  was 
hilft  denn  eine  so  weitläufige  Propädeutik?  Unseres  Erachtens  ist  Ein- 
leitung in  die  Philosophie  deshalb  notwendig,  weil  die  Vorträge  der  Ethik, 
der  Psychologie  und  der  Metaphysik  nur  bei  vorgeübten  Zuhörern  Über- 
zeugung hervorbringen  können,  indem  für  Ungeübte  der  Weg  der  Unter- 
suchung in  diesen  Wissenschaften  zu  lang  ist,  als  daß  sie  ihre  Gedanken 
anhaltend  und  hell  genug  darauf  zu  richten  fähig  wären.  Dagegen,  was 
irgend  unmittelbar  klar,  oder  zur  Aufregung  des  spekulativen  Interesse 
geeignet  ist,  das  muß  den  Zuhörern  sobald  als  möglich  vorgelegt  werden; 
schon  deshalb,  damit  die  trägeren  und  die  flüchtigeren  Köpfe  sich  von 
der  Philosophie  zurückziehen  mögen;  denn  es  ist  kein  Gewinn  weder  für 
sie,  noch  für  die  Wissenschaft,  wenn  sie  lange  in  dem  Glauben  erhalten 
werden,  die  Philosophie  habe  mit  ihnen  zu  reden. 

Es  gibt  nun  der  Anfänge,  oder  wenigstens  Anknüpfungen  in  dem 
vor  uns  liegenden  Buche  zu  viele,  als  daß  wir  sie  alle  anzeigen  könnten; 
wir  müssen  uns  begnügen,  einige  auszuheben.  ,,Die  Probleme  der  Philo- 
sophie sind  folgende:  i.  die  Philosophie  hat  zunächst  die  Prinzipien  alles 
Erkennens  und  Wissens  zu  erforschen;   2.  die  Gesetze  und  Kriterien  alles 


j^6  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


wahren  und  richtigen  Erkennens  darzustellen,  wie  sich  dieselben  aus  jenen 
Prinzipien  ergeben;  3.  die  höchsten  Prinzipien  der  Dinge  selbst  zu  er- 
forschen, also  zu  untersuchen,  ob  und  wie  iveil  das  menschliche  Erkennen 
in  die  realen  Verhältnisse  einzudringen  vermöge;  sie  soll  versuchen,  nicht 
nur  das  Gegebensein  der  Dinge  zu  erklären,  sondern  auch  ihren  Ursprung 
aus  einem  letzten  und  höchsten  Sein,  ihre  notwendigen  Beziehungen  zu 
diesem  Sein,  als  ihrem  Urgründe,  wenigstens  negativ^  zu  bestimmen;  4.  einen 
wichtigen  Gegenstand  der  Forschung  bilden  die  praktischen  Interessen. 
—  Die  Erkenntnisweise  einer  Aufgabe  wird  von  der  Natur  der  letzteren 
bedingt.  Überhaupt  ist  zu  unterscheiden  empirische  Erkenntnis,  die  ein 
wahrgenommenes  zur  Voraussetzung  hat,  unmittelbar  oder  tniüelbar  (mittel- 
bare Empirie  können  wir  nicht  zugeben),  und  rationale,  die  sich  im  reinen 
Denken  bewegt,  und  an  den  Kreis  des  wahrgenommenen  Gegebenseins 
nicht  geknüpft  ist  (da  möchte  sie  leicht  einer  Kritik  der  reinen  Vernunft 
begegnen!).  Eine  besondere  Art  des  rationalen  Erkennens,  das  spekulative, 
erzeugt  eine  Erkenntnis  gleichsam  (?)  urtätig,  und  nach  ihrer  in  der  ur- 
sprünglichen Einrichtung  des  Geistes  und  der  Dinge  gelegenen  Begründung. 
(Also  gibt  es  ursprüngliche  Einrichtung  des  Geistes?  und  der  Dinge? 
Und  beiderlei  Einrichtung  läßt  sich  erkennen?)  Empirische  Kenntnis  ist 
nicht  unnötig;  nur  dies  soll  behauptet  werden,  daß  die  selbständig-philo- 
sophische Erkenntnis,  insofern  sie  das  Urgründliche  wenigstens  anstreben 
soll,  die  empirische  Weise  ausschließt.  (Eine  Behauptung,  die  nicht  von 
ihren  Beweisen  hätte  getrennt  werden  sollen,  da  wenigstens  die  Kantische 
Kritik  sich  damit  wohl  nicht  vertragen  dürfte.)  Die  Philosophie  als  Wissen- 
schaft des  ursprünglichen  Erkennens,  bewegt  sich  ganz  eigentlich  in  der 
Lebendigkeit  des  spekulativen  Denkens,  d.  h.  ihr  Gehalt  entsteht  durch 
die  ursprüngliche  Selbsterzeugung  und  ununterbrochene  Fortentwicklung 
des  Gedankens  nach  seinem  subjektiv  -  objektiven  also  (?)  ivahren  Inhalte. 
Die  Philosophie  muß  demnach  vor  allem  System  sein,  und  zwar  ursprüng- 
liches System,  d.  h.  eine  mit  und  in  dem  Denken  sich  gestaltende  lebendige 
Einheit  des  Gedachten,  wobei  die  Wahrheit  des  Einzelnen  von  der  des 
Ganzen  bedingt  und  getragen  wird.  (Und  das  Ganze?  wovon  wird  denn 
das  getragen?  Verhält  es  sich  damit  etwa  wie  mit  den  Weltkörpern, 
deren  Teile  durch  gegenseitige  Gravitation  im  Gleichgewichte  schweben? 
Es  wäre  doch  gut  gewesen,  darüber  eine  Erklärung  beizufügen;  denn  die 
bloße  Lebendigkeit  charakterisiert  noch  mehr  den  mit  feuriger  Polemik  be- 
haupteten Irrtum,  als  die  kühle  und  geprüfte  Einsicht.)  Jede  subjektive, 
individuell  -  persönliche  Philosophie  hat  ihr  eigenes  System,  indem  sie, 
selbst  bei  der  höchstmöglichen  Erhebung  zur  Allgemeinheit  des  Denkens, 
doch  stets  ein  individual- lebendiges  Selbsterzeugen  des  Gedankens  sein 
muß.  (Wie  mag  es  doch  zugehen,  daß  die  Mathematik  vom  individuellen 
Leben  gar  nicht  spricht?  Ist  bei  ihr  etwa  das  Selbst- Erzeugen  der  Ge- 
danken nicht  Sitte?)  Beim  Einteilen  der  Philosophie  entsteht  die  Schwierig- 
keit, daß  hier  das  wissenschaftliche  Ganze  nicht  wohl  objektiv  fertig  und 
in  der  Form  einer  abgeschlossenen  Gegebenheit  dargelegt  werden  kann, 
vielmehr  gerade  in  der  sich  selbst  fortzeugenden  Gedankenentwicklung 
eigentümlich  gelegen  ist.  Daher  denn  auch  die  Verschiedenheit  der  Ein- 
teilung   der  Philosophie.     Dennoch    läßt  sich    ein   sachlicher,    und  iiisoferti 


Jos.  Hillebrand:  Lehrbuch  der  theoretischen  Philosophie  usw.  137 


einigermaßen    objektiver,    Grund   gewinnen,    auf   welchem    das  Ganze    der 
Philosophie  sich  verzweigt.     Derselbe  betrifft  den  Ziveck  der  Philosophie, 
nämlich   Erforschung   und   Darstellung    des   Ursprünglich -Wahren  oder  der 
letzten  Gründe  jeglicher  Gegebenheit.     (Eine  Zweckbestimmung,    die   wir 
für  die  Metaphysik   allenfalls  anerkennen  würden.     Wie  sollen  nun  Logik 
und  Ethik  in  die  Einteilung  kommen?  Man  höre!)  Es  läßt  sich  aber  das 
Wahre    in    seiner    ursprünglichen    Reinheit    und    Allgemeinheit    erforschen 
einmal  an  und  für  sich,  also  nach  seiner  schlechthin  abstrakten  Bedeutung 
im  Wissen  (wie?    Das  Wahre  an  sich  ist  also  ein  Abstraktes?    Oder  was 
soll    man    sonst    dabei   denken?);    dann   nach   seiner  Erscheinung   in    den 
Dingen,    dem  Seienden  überhaupt  (also  in   dem   Seienden  erscheint  nur  das 
Wahre?);  endlich  nach  seiner  Erscheinung  im  Handeln  oder  im  mensch- 
lichen Leben   und  Wirken.     (Darin   erscheint   ja   wohl    auch   das  Falsche; 
oder    woher    kommt   sonst   das  Böse   und  das  Geraeine?)    Diesem  gemäß 
würde    die   Philosophie    zerfallen    in    drei    Hauptteile,    nämlich    in    Logik, 
Metaphysik  und  —  Humanistik!  —   Alle  Philosophie  soll  ihrer  Natur  nach 
theoretisch,    d.   h.    ein    Erkennendes,    und    spekulativ,    d.  h.    ein    auf   dem 
Wege  der  rein  denkenden  Betrachtung  Erkennendes  sein.    (Dann  müssen 
wir  uns  wundern,    woher  so  manchen   durchaus  nicht  spekulativen  Köpfen 
soviel     echt    praktische    Weisheit   kommt;    bei    Frauen    z.  B.    oftmals    der 
feinste  sittliche  Takt.    Hätte  der  Verf.  es  nicht  verschmäht,  von  den  drei 
Wissenschaften,   Logik,   Physik,   Ethik  auszugehen,  und  alsdann  zu  überlegen, 
wie    dieselben    zu   dem    Gesamtnamen    Philosophie    kommen    möchten,    so 
würde   er   sich   manche  Verlegenheit   erspart   haben.     Aber  die  verkehrte 
Voraussetzung    der  Einheit,    die   nicht  existiert,    hat  schon   Hunderte    von 
solchen    unnützen  Künsten   erzeugt,    und    wird  sie  erzeugen,    solange  man 
davon    nicht   ablassen   will.)     Zweifacher  Charakter   der   apodiktischen  Er- 
kenntnis:   die   unmittelhaie  Apodixis  besteht  darin,    daß  die  Notwendigkeit 
einer  Erkenntnis   sich  ohne  eigentlichen  Beweis  ergibt  (beati  possidentes!), 
und  höchstens    nur  der  Herleitung  und  Aufklärung  zum  Behufe  der  Ein- 
sicht   in   ihre   objektive  Gewißheit   und   Geltung   bedarf   [woher  leitet  man 
denn?  und  mit  welchem  Lichte  klärt  man  da  auf,   wo  große  Männer  der 
Vorzeit  keine  unmittelbare  Apodixis  wagten ;  wo  überdies  die  Zeitgenossen 
wegen   des   unmittelbaren  Wissens,    das  jeder  für  sich  zu  besitzen  rühmt, 
in    bitteren  Streit    zu   geraten   pflegen?)    Die   mittelbare  Apodixis  dagegen 
gründet  sich  wesentlich  auf  den  Beweis,  oder  ist  demonstrativ.    Aus  dem 
Wesen  der  Philosophie  wird  begreiflich,  wie  ihr  zunächst  nur  die  unmittel- 
bare Apodixis  eignen  kann.    Denn  in  ihr  sollen  die  allgemeinen  Prinzipien 
die  urwahrheitlichen  Erkenntnisse,  überhaupt  das  ursprüngliche,  begründende 
Wissen  entwickelt  und   dargelegt  werden,  welches  eben  deshalb  seine  Ge- 
wißheit unmittelbar  in  sich  tragen  muß.    (Also  das,  was  jeder  dem  andern 
zu  wissen  anmutet,  und  worüber  gerade  deshalb  die  Philosophie  zum  all- 
gemeinen Kampfplatze  geworden  ist.)    Alle  demonstrative  Apodixis  setzt  jene 
unmittelbare,   ivelche  man  aiich  die  spekulative  nennen  kann,  notwendig  voraus. 
(Sehr  schlimm!   Denn  sie  beruht  hiermit  nicht  etwa  auf  dem  moralischen  oder 
auf  dem   empirischen   Boden,    worauf  wirklich  alle  gemeinschaftlich   stehen, 
sondern  auf  jenem  Kampfplatze,  wo  einer  den  andern  zu  überbieten  sucht.) 
In  Ansehung  der  Methode  hat  die  Philosophie  das  Besondere,  daß  sie  kein 


I^g  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


Ganzes  objektiv-fertiger  Kenntnisse  enthält,  sondern  sich  im  Selbstdenken 
jedesmal  von  neuem  erzeugen  muß  (gerade  wie  die  Mathematik),  iveshalb 
sie  denn  eigentlich  loeder  gelelirl,  noch  gelernt  werden  kann  (ganz  anders, 
als  die  Mathematik,  welche  einen  so  ungeheueren  Umfang  gewonnen  hat, 
daß  in  ihr  bei  weitem  das  meiste  gelernt  und  von  jedem  einzelnen  ver- 
hältnismäßig nur  weniges  erfunden  wird).  Da  nun  die  Philosophie  keinen 
bestimmt  ergreifbaren  Anfang  hat,  da  sie  das  Resultat  eines  selbständigen 
Fortschreitens  zur  Wahrheit  ist,  so  kann  zunächst  nur  gesagt  werden,  daß 
alle  Philosophie  von  der  —  Skepsis  ausgehen  muß!  (Sollte  man  es  glauben? 
Die  Skepsis  also  hat  ergreifbare  Anfänge,  deren  die  Wissenschaft  entbehrt! 
Aber  was  sagt  denn  dazu  wohl  die  Geschichte  der  Philosophie?  deren  An- 
fänge weit  mehr  dogmatisch,  als  skeptisch  lauten,  während  der  Skeptizismus 
das  Grab  der  Systeme  zu  sein  pflegt?  Daß  es  in  öffentlichen  Katheder- 
vorträgen der  Philosophie  seinen  Nutzen  hat,  mit  skeptischen  Argumenten 
fürs  erste  den  gemeinen  Empirismus  zu  erschüttern,  ist  uns  wohl  bekannt; 
keineswegs  aber,  daß  Logik  oder  Ethik  oder  selbst  Physik,  an  und  für 
sich  eines  skeptischen  Einganges  bedürften.)  Fortschreitende  Skepsis  kann 
man  philosophische  Kritik  nennen  und  damit  behaupten,  daß  die  Philo- 
sophie als  Wissenschaft  notwendig  kritisch  verfahren  müsse.  (Und  die 
Kantische  Kritik,  von  der  man  im  allgemeinen  die  kritische  Philosophie 
benannte,  war  sie  skeptisch?)  Die  ivahre  Methode  der  Philosophie  ist  die 
umnitielbare,  lebendige  Verbindung  der  Analysis  und  der  Syntliese^  so  daß 
beide^   zu  ei?iem  Denkeii  vereint,   die  eigentlich  spekulative  Betrachtung  vermitteln. 

Bei  diesem  Punkte  müssen  wir  etwas  länger  verweilen,  als  bei  dem 
vorigen.  Man  wird  nämlich  in  den  bisherigen  Auszügen  mancherlei  be- 
merkt haben,  das  in  verschiedenen  bekannten  Systemen  seinen  Sitz  hat, 
und  dessen  Vereinigung  ein  mißliches  Unternehmen  ist.  In  dem  redlichen 
und  fleißigen  Bestreben,  alles  zu  prüfen  und  das  Beste  zu  behalten,  hat 
der  Verf.  so  vieles  als  möglich  aus  den  Systemen  behalten  wollen;  aber 
viel  zu  ivenig  daran  gedacht,  daß  man  zum  Behuf e  der  Philosophie  — 
besonders  der  theoretischen  —  nicht  bloß  die  Systeme,  sondern  auch  die 
Natur  prüfen  und  studieren  muß.  Kein  Teil  seines  Buches  ist  schwächer 
und  bedeutungsloser,  als  seine  Naturphilosophie,  welches  wir  kaum  um- 
hinkönnen, als  ein  Zeichen  von  mangelnder  Kenntnis  der  Physik  (das 
Wort  in  seinem  weitesten  Umfange  genommen)  zu  betrachten.  Die  un- 
vermeidliche Folge  der  Vernachlässigung  dieses  Studiums  ist  ein  Gefühl 
von  Unsicherheit,  das  sich  bei  dreisten  Polemikern  hinter  Machtsprüchen 
verbirgt,  bei  gelehrter  Kenntnis  der  Systeme  aber,  durch  deren  Wider- 
streit ernährt,  sich  in  den  mannigfaltigen  Anstrengungen  verrät,  auf  alle 
mögliche  Weise  festen   Boden  zu  gewinnen. 

Sehr  mit  Recht  hat  ganz  kürzlich  ein  berühmter  Denker  geäußert, 
daß  heutigestages  von  eigentlichem  Skeptizismus  nicht  mehr  die  Rede 
sein  kann,  weil  ihn  die  Konsistenz,  welche  die  Naturwissenschaften  ge- 
wonnen haben,  unmöglich  macht.  Wer  in  der  Mitte  derselben  sich  mit 
seinen  Denken  bewegt,  der  sieht  zu  vieles  im  klaren  Zusammenhange, 
und  besitzt  eine  zu  breite  Basis  des  Gegebenen,  als  daß  er  nicht  ver- 
suchen sollte,  auf  eine  entschiedene  Weise  aus  dem  Gewirr  der  Systeme 
hervorzutreten.    Dies  geschieht  nun  oft  genug  durch  bloße  Verzichtleistung 


Jos.  Hülebrand:  Lehrbuch  der  theoretischen  Philosophie  usw.  i^q 


auf  philosophische    Einsicht;    es  geschieht    auch  manchmal    durch  willkür- 
Hches  Festhaken  an  einer  ergriffenen  Meinung,  in  die  gewahsam  das  Ge- 
gebene sich   einpressen  soll;   wünscht  man  aber  im  Ernste  die,   vom  Verf. 
geforderte,  Vereinigung  der  Analyse   und  Synthese  zu  erreichen,    so  wird 
der  wahre   Naturkenner,  bei  soviel  Vorsicht  und  redlicher  Wahrheitsliebe, 
wie  der  Verf.   überall  zeigt,    sich    wohl    schwerlich    einer    Synthese    anver- 
trauen,   die    nicht    zuerst    selbst    durch    irgend    welche    analytische   Unter- 
suchung des  Gegebenen  wäre  begründet    worden.     Dem  iNIenschen  fallen 
nun   einmal    seine    Kenntnisse    nicht    vom    Himmel;  Jahrtausende    mußten 
vergehen,  ehe  sich  Erfahrung,  Beobachtung  und  Rechnung,    so  wie  jetzt, 
zusammenfinden  konnten ;    wer  wird,   bei  gehöriger    Überlegung,  sich    den 
mühevoll    gesammelten    Schatz    durch    solche    Meinungen,    die    nicht    aus 
diesem  Schatze   selber  geschöpft  sind,    verderben   lassen   wollen?    Hierauf 
glauben    wir   aufmerksam    machen   zu    müssen,    wegen    der    sehr    richtigen 
Bemerkung  des   Verfs. :    „Z>a    alles  Erkennen  ztmächst  auf  etwas    Gegebenes 
gerichtet  ist^  so   wird  die   Philosophie  der  analytischen   Methode  nicht  entraten 
können;    ohne  dieselbe   würde  sie  nicht  mir    nirgends   ehien    Anknüpfungspunkt 
finden,     sondern     auch    jeglichen     Objektes    ihrer    Betrachtung    beraubt    sein."- 
Stärker  kann    man  sich   kaum    ausdrücken.     Nun  aber,    wie  stimmt  damit 
das  gleich  Folgende?    „Allein,    da    die  Vergleich ung  des  Gegebenen  doch 
nach  einem  endlichen  Ausspruche  zu  einem  bestimmten  Resultate  geführt 
werden  muß,   da  eine  solche  Entscheidung  letzte  und    höchste    Prinzipien 
fordert,    welche    selbst    nicht   wieder  in    das    Gebiet    der   bloß   gemeinen, 
und    hiermit   eben    zweifelhaften    Gegebenheit   fallen    können;    so    folgt,    daß 
die    Philosophie    vorzugsweise    vom    Standpunkte    schlechthin    allgemeiner, 
d.  h.  nicht  erst  analytisch  vermittelter    und  damit  bloß  abstrakter   Grund- 
ansichten,   das  Begreifen    des    Gedachten    und    die    Gewißheit    der    Über- 
zeugung zu  bewirken  habe;    somit,   daß    sie  ganz   zugleich  auf  synthetische 
Weise   ihre   Aufgabe   lösen    müsse."     Dieses    ist  nun  gerade    die  Sprache 
derjenigen  Systematiker,  die  sich  ein  System  nach  ihrem  Sinne  zu  machen 
lieben,  wobei  sich  von  selbst  versteht,  daß  jeder  ein  eigenes  System,  aber 
keiner    ein    mitteilbares,    wenigstens    kein    überzeugendes    für   andere   ge- 
winnt.    Daher  so   vielerlei  Philosophien  nebeneinander,  die   weiter   nichts 
sind,  als  Ansichten  des  Gegebenen,  wie  wenn  dies  letztere  ein  biegsamer 
Stoff  wäre,  der  beliebige  Formen  annehmen  könnte.    Mit  solchen  Systemen 
geht    es    trefflich,    solange    man    sie  nicht    ann)enden  will.      Allein    bei    der 
gewohnten  Zudringlichkeit   der  Philosophen,    deren    einer  den    Staat,    der 
andere  die  Kirche,  ein  dritter  die  Medizin  leiten  und  reformieren  möchte, 
kommt  es  —  zu  spät  für  denjenigen,  der  einmal  seinen  ganzen  Gedanken- 
kreis in  eine    systematische    Form  gebracht,    und   sich   daran  gewöhnt  hat 
—   an  den   Tag,   daß  sich   das  Gegebene,  die  Erfahrung  und  der  Lauf  der 
Dinge.,  wieder  alle  Zweifel  starr  und  gebieterisch  hinstellt,   und  Nachgiebig- 
keit erzwingt,    denen   sich   die  Spekulation   ganz    umsonst   zu   unterziehen 
sucht.     Daher  so  viele  Zurückweisungen,   welche    die    Philosophie  in  den 
letzten  Dezennien  von  allen  Seiten  erlitten  hat!    Und  eben  daher  das  all- 
gemeine jNIißtrauen,    von    welchem    das  Studium    einer    so    höchst  nötigen 
Wissenschaft  niedergedrückt  wird!  War  es  denn  aber  so  schwer  einzusehen, 
daß  Prinzipien  keineswegs,  wie  der  Verf.  sich  mit  so   vielen  unrichtig  aus- 


j^o  T-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

drückt,  ein  Letztes  und  Höchstes  —  sondern  daß  sie  das  Erste  und 
Unterste  sind?  War  es  so  schwer,  vorauszusehen,  daß  man  dem  Getneinen 
sich  gerade  preis  gibt,  wenn  man  damit  anfängt,  es  zu  verkennen?  Wer 
es  besiegen  will,  der  fange  damit  an,  es  scharf  aufzufassen,  so  wie  es, 
jeden  Zweifel  trotzend,  sich  gibt  und  zeigt.  Und  wem  die  eigenen  Augen 
und  Ohren  nicht  sichere  und  deutliche  Zeugen  zu  sein  scheinen,  der 
nehme  die  Geschichte  der  Philosophie  zu  Hilfe,  die  ihm  sagen  wird,  daß 
allmählich  selbst  der  Zweifel  seine  bestimmten,  stets  wiederkehrenden  Formen 
angenommen  hat,  wie  es  ganz  natürlich  kommen  mußte,  weil  das  Gegebene 
dazu  stets  einerlei  wiederkehrende  Veranlassung  darbot  und  darbieten 
wird.  Freilich  kann  man  die  Erfahrung  nicht  so  roh,  wie  sie  sich  den 
Sinnen  gibt,  festhalten;  aber  der  Antrieb  zum  Nachdenken,  welcher  aus 
ihr  hervorgeht,  bleibt  in  seinen  allgemeinsten  Grundzügen  stets  der  nämliche; 
und  in  ihm  liegt  zwar  nicht  das  Letzte  und  Höchste,  wohl  aber  der  An- 
fang und  der  Boden  der  Philosophie.  Erst  nachdem  man  diesen  Boden 
analytisch  erforscht  hat,  finden  sich  die  Prinzipien  einer  notwendigen 
Synthesis,  die  alsdann  fortschreitet,  und  ihr  oftmals  sehr  unerwartetes,  aber 
stets  durch  die  Erfahrung  verstärktes  Licht  nach  allen  Seiten  ausstrahlen 
läßt.  Die  Anerkennung  dieser  Grundsätze  kann  schwerlich  mehr  lange 
ausbleiben.  Denn  auch  für  die  Philosophen  wird  sich  allmählich  aus  den 
Erfolgen  ihres  Tuns,  Lehrens  und  Strebens  eine  Art  von  Erfahritngs- 
Weisheit  bilden,  gegen  welche  kein  Starrsinn  und  keine  Rechthaberei  der 
Schulen  auf  die  Länge  bestehen  kann.  Zwei  höchst  wirksame  Kräfte 
unterscheiden  unser  Zeitalter  von  jedem  frühern ;  die  Publizität  und  all- 
gemeine Reibung  der  Gedanken  im  literarischen  Verkehre,  und  die  Höhe 
der  Naturwissenschaften.  Die  verschiedensten  Meinungen  werden  sich 
endlich  zu  einem  Strome  der  allgemeinen  Überzeugung  sammeln  müssen. 
Könnte  sich  der  Verf.  mit  Rez.  über  das  Verhältnis  der  Synthesis 
und  der  Analysis  in  der  Philosophie  verständigen,  so  müßte  bald  eine 
größere  Übereinstimmung  hervortreten.  Wie.  die  Sache  jetzt  steht,  ist  es 
schon  viel,  wenn  man  über  die  so  höchst  wichtige,  in  alles,  sowohl 
Praktische,  als  Theoretische,  tief  eingreifende,  jetzt  von  mehreren  Seiten 
zu  einer  Reform  hingewendete  Psychologie,  nicht  ganz  verschiedener  JNIeinung 
ist.  Das  alte  starre  Eis  der  Seelenvermögen  kann  nicht  auf  einmal 
schmelzen;  beim  Verf.  finden  wir  in  dieser  Hinsicht  eine  merklich  wärmere 
Temperatur  als  bei  manchen  anderen  Zeitgenossen,  die  sich  ja  großenteils 
noch  damit  begnügen,  von  Hörensagen  etwas  davon  zu  erfahren,  daß  hier 
Veränderungen  im  Werke  sind ;  um  alsdann  ganz  unbefangen  zu  erzählen, 
daß  sie  gar  nicht  begreifen,  wie  man  z,  B.  ohne  ein  besonderes  Gefühls- 
vermögen fertig  werden  wolle !  Vielleicht  würde  Hr.  Hillebrand  es  ihnen 
um  etwas  erleichtern,  sich  allmählich  darein  finden  zu  lernen.  Denn  zu- 
vörderst läßt  er  ihnen  die  beliebte  psychische  Anthropologie,  deren  Los- 
reißung von  der  Psychologie  der  Rezensionen  schon  dann  mißbilligen  würde, 
wenn  es  hierbei  auch  nur  auf  richtige  Zusammenstellung  von  Erfahrungen 
ankäme.  Solche  Behauptungen,  wie  die  im  §  162:  ^,Die  SpieliätigkeU 
ei7iiger  Tiere  ist  noch  kein  icirkliches  Bestreben  zti  nennen,  zveil  sie  itistinkt- 
artig  ist,  und  kein  anderes  Prijizip  hat,  als  den  blinden,  berviißt-  n?id  vor- 
stellungslosen  7rieb,"   —   sind  reine  Machtsprüche;    denn   niemand    hat  in 


Jos.  Hillebrand:  Lehrbuch  der  theoretischen  Philosophie  usw.  141 

die  Tierseelen  hineingeschaut,  und  der  Begriff  des  Instinktes  und  vor- 
stellungslosen Triebes  ist,  ohne  Spur  auch  nur  der  geringsten  kritischen 
Überlegung,  aus  der  rohesten  Empirie  entlehnt ;  die  natürlichsten  Analogien, 
dergleichen  in  der  Vergleichung  unseres  Selbst  mit  andern  Me?ischen  ganz 
unvermeidlich  stattfinden  müssen,  sind  dabei  willkürlich  und  eigensinnig 
zerrissen.  Der  Verf.  aber  läßt  nicht  nur  die  Anthropologie  in  ihrer  ge- 
wohnten Absonderung  stehen,  sondern  er  läßt  sie  auch  am  gewohnten 
Platze,  nämlich  in  der  Propädeutik;  so  schwer  auch  eine  solche  Pro- 
pädeutik, die  sich  unvermeidlich  mit  metaphysischen  Problemen  ver- 
wickelt, ausfallen  muß.  Dies  Verfahren  nötigt  ihn,  hintennach,  im  letzten 
Zehntel  seines  Buches,  nochmals  zur  Psychologie,  nämlich  zur  spekulativen, 
zurückzukehren,  die  nun  freilich  mager  genug  ist.  Auch  erschrickt  er 
nicht  im  mindesten  vor  der  beinahe  spinozistischen  Behauptung  einer 
iinmi/tlebar  gegebenen,  konkreteii  Natu)-- Einheit  des  Leibes  und  der  Seele ;''^ 
vielmehr  bekräftigt  er  noch  gar  seinen  Satz  durch  den  Schluß:  ^,aus 
jenem  urfaklischen  Ergebnisse  des  Bewußtseins  folgt  zunächst,  daß  die  Seele 
nie  und  nimmer  in  ihrer  gegebenen  Existenz  ohne  ihren  bestimmten  Leib  tätig 
sein  könne,"  wobei  seine  Schüler  ihn  leicht  fragen  könnten,  wo  denn  jene 
Natur-Einheit  ihre  Grenzen  habe,  indem  Arm  und  Beine  bekanntlich 
amputiert  werden  können,  ohne  Verlust  an  der  Seele!  Ein  Idealist  würde 
noch  manches  fragen  über  die  Einheit  des  Ich  und  Nicht-Ich  (des 
Leibes),  was  mit  einem  unmittelbaren,  urfaktischen  Ergebnisse  des  Be- 
wußtseins stark  kontrastieren  dürfte.  Nach  jener  Behauptung  wundern 
wir  uns  denn  auch  nicht,  auf  Reinholds  Weise  eine  Unterscheidung 
des  tätigen  Selbst  von  dem  Gegenstande  seiner  Tätigkeit  bei  allem  Vor- 
stellen vorausgesetzt  zu  sehen,  obgleich  wir  wünschten,  dieser  Mißgriff,  der 
aus  dem  bekannten  Satze  des  Bewußtseins  herrührt,  möchte  nach  un- 
gefähr vierzig  Jahren  nun  endlich  veraltet  sein.  Damit  ist  uns  nun  zwar 
die  Psychologie  des  Verfs.  schon  mehr  als  einmal  ganz  verdorben;  allein 
es  'finden  sich  doch  auch  merkliche  Unterschiede  von  der  alten  Ver- 
mögenslehre, wenigstens  in  dem  Kapitel  von  der  Reproduktion,  wo  es 
heißt:  die  Reproduktion  ist  zu  erklären  als  das  Vorstellen,  insofern  es  seine 
frühem  Richtungen  lüieder  annimmt.  Auch  mag  die  Bemerkung  wohl  wahr 
sein,  ,,daß  nirgends  die  Theorie  der  Seelenvermögen  mehreren  Schwierigkeiten 
unterliege.,  als  hier;"  —  lieber  freilich  hätten  wir  gelesen,  daß  selbst  der 
Ungeübteste  bei  der  mindesten  Überlegung  leicht  von  hier  aus  den  Ein- 
gang in  die  wahre  Psychologie  finden  würde,  wenn  er  sein  Augenmerk 
auf  die  Reproduktion,  als  auf  ein  natürliches  Rückkehren  der  Vorstellungen 
in  ihren  ursprünglichen  Stand,  gerichtet  hätte,  und  sich  nun  die  einfache 
Frage  vorlegte,  was  denn  wohl  dieses  Ereignis,  welches  so  natürlich  ist, 
daß  es  längst  hätte  geschehen  sollen,  bis  zu  dem  Augenblicke  möge  ver- 
hindert haben,  da  es  wirklich  geschieht?  Aber  dann  müßte  freilich  der 
grundfalsche  Satz  wegbleiben,  daß  immer  nur  eine  —  ja  sogar  eine  ab- 
geschlossene Vorstellung  die  Seele  wirklich  einnehme,  welches  gerade  nie- 
mals geschieht,  noch  geschehen  kann;  ebensowenig,  ais,  wenn  es  geschähe, 
Kontraste,  Harmonien,  Disharmonien,  Vergleichungen,  Begriffe  mit 
mehreren  Merkmalen  u.  dergl.  jemals  hervortreten  könnten.  Ungeachtet 
solcher,  selbst  offenbaren  Fehler,  wollen  wir  es  dem  Verf.  zum  Verdienst 


IA2  J-  ^-  Herbarts  Rezensionen. 


anrechnen,  daß  er  wenigstens  die  Einbildungskraft  als  eine  Form  der 
Reproduktion  mit  der  Erinnerung  in  Verbindung  setzt,  und  sich  hütet, 
diesen  Prozeß  zu  den  sogenannten  Ämtern  Seelenvermögen  herabzuwürdigen. 
Auch  wollen  wir  nicht  zu  genau  nach  der  historischen  Veranlassung 
fragen,  welche  beim  Anfange  des  Kapitels  vom  Fühlen  und  Begehren  die 
bekannten  Kunstworte  Für  sich  sein  und  Anderes  sein  herbeiführen  möge 
(wobei  sogar  die  sehr  unnötige  Erinnerung  an  das  Unorganische  und 
Pflanzlich-Organische  Platz  gewonnen  hat);  es  soll  uns  für  diesmal  ge- 
nügen, daß  der  Verf.  wenigstens  sucht,  die  natürliche  Verbindung  zwischen 
Fühlen,  Begehren  und  Vorstellen  aufzufinden,  so  unnatürlich  sie  auch 
unter  seinen  Händen  geworden  ist.  In  die  weitern,  überkünstlichen  Er- 
klärungen der  allereinfachsten  Ereignisse  aber  können  wir  uns  unmöglich 
einlassen.  Der  Verf.  weiß  noch  nicht,  ivie  einfach  die  Natur  in  den  Ur- 
sprüngen dessen  ist,  was  sich  uns  in  verwickelten  Verhältnissen  darstellt; 
mehr  Studium  der  Physik  würde  ihn  auf  ganz  andere  Wege  geleitet 
haben.  Dürften  wir  uns  eines  grobsinnUchen  Gleichnisses  bedienen,  sO' 
ließe  sich  fragen,  ob  wohl  jemand  dem  Meere  ein  besonderes  Vermögen, 
Wellen  zu  schlagen,  und  ein  anderes  Vermögen,  beim  Wellenschlage  einen 
Druck  und  Gegendruck  der  Teile  wider  einander  auszuüben,  beilegen 
möchte?  Nicht  ganz  unähnlich  diesem  sind  die  Vermögen  des  Vorstellens, 
Begehrens  und  Fühlens.  Mit  der  richtigen  Erkenntnis  ihres  wesentlichen 
Zusammenhanges  ist  nun  freilich  in  der  Psychologie  noch  nicht  alles 
gewonnen;  nicht  einmal  soviel,  daß  man  das  Menschliche  in  seinem  Vor- 
range vor  dem  Tierischen  deutlich  hervortreten  sähe.  Den  Punkt,  worauf 
es  hierauf  hauptsächlich  ankommt  —  die  Apperzeptioii ,  welche  selbst  bei 
den  höhern  Tieren  äußerst  unvollkommen  ist,  hat  der  Verf.  zwar  nicht 
erklärt,  aber  doch  in  seiner  entscheidenden  Wichtigkeit  erkannt;  und  auch 
dies  gehört  zu  den  Spuren  des  bessern  psychologischen  Geistes  in  seinem 
Buche. 

Wir  gehen  jetzt  rückwärts,  um,  ohne  weiteres  Verweilen  bei  Einzel- 
heiten, von  vornherein  die  größern  Umrisse  ins  Auge  zu  fassen,  worauf 
bei  einem  Lehrbuche  soviel  ankommt.  Die  Hauptfrage,  welche  in  Hin- 
sicht der  Zweckmäßigkeit  des  Ganzen  schon  der  Titel  erweckt,  ist  ohne 
Zweifel  diese:  kann  und  soll  theoretische  Philosophie  ohne  Verbindung 
mit  der  praktischen  für  Anfänger  vorgetragen  werden  ?  Müssen  nicht,  wenn 
es  geschieht,  sehr  wichtige  Dunkelheiten  in  der  Psychologie,  und  in  An- 
sehung der  Religionslehre  übrig  bleiben  ?  Was  kann  man  denn  von  der 
Vernunft  vortragen,  wenn  man  schweigt  vom  Sittlichen  ?  —  Diesen  Fragen 
ist  der  Verf.  zum  Teil  ausgewichen,  indem  er  im  zweiten  Abschnitte  seiner 
Propädeutik  eine  ganz  kurze  Encyklopädie  der  Philosophie  vorträgt,  wo- 
von das  dritte  Kapitel,  unter  der  sonderbaren  Überschrift:  Hunianistik, 
das  weitläufigste  ist.  Der  Sache  den  rechten  Namen  zu  geben,  war  der 
Verf.,  wie  es  scheint,  durch  mancherlei  unnötige  Bedenklichkeiten  ver- 
hindert ;  unter  andern  durch  die  Meinung,  daß  alle  Philosophie  als  Wissen- 
schaft theoretisch  sei ;  —  eine  unserer  Ansicht  keineswegs  zusagende 
Behauptung!  Zwar  mag  man  die  ersten  Grundlehren  vom  Löblichen  und 
Schändlichen  kontemplativ  nennen,  und  hiermit  dieselben  unter  einen 
Gattungsbegriff  bringen,  der  auch  auf  die  ersten  Auffassungen  spekulativer 


Jos.  Hülebrand:  Lehrbuch  der  theoretischen  Philosophie  usw.  143 


Gegenstände  und  Probleme  paßt.    Aber  wer  wird  bei  diesen  Grundlehren 
stehen  bleiben?    So  wenig   die  Konstruktionen    der  Spekulation    sich    mit 
bloßer     Kontemplation    begnügen,     ebensowenig    genügsam     sind     Moral, 
Naturrecht,   Politik  und  Kuiistlehre;   sie  sollen  sich  auch   nicht  beschränken 
auf  Kontemplation,  sondern  sie  sollen  uns  in  Atem  setzen  zum  Handeln. 
Daher  ist  die   Benennung  praktische  Philosophie  ganz  richtig;    nur  paßt  sie 
nicht  recht  auf  jene  rein  kontemplativen  Anfänge,  deren  ästhetische  Natur 
der  Verf.  nicht  anerkennen   wollte,    und   daher   der   humanistische    Nebel, 
welcher    erst   verschwindet,   indem    ausdrücklich    gesagt    wird,    das    Wort 
Humanistik  solle  hier   ein    loses  Aggregat   bedeuten,    zusammengesetzt  aus 
Ethik,  Politik  oder  Naturrecht  (das  zweite  Wort  stellt  der  Verf.  in  Klammem 
neben  das  erste,  als  ob  hier  eine  Apposition  stattfinden  könnte,  die  doch 
selbst  im  besten   Falle    den    Teil  fürs    Ganze    setzen    würde)    und   Ästhetik 
(in  welcher  eine  Theorie   der  Kunst  unterschieden   wird   von   einer  Theorie 
der  Künste,  wo  wir  jedoch  nur  eine  leere  Abstraktion  erblicken  können). 
Alle  diese  encyklopädischen  Umrisse  nun  sind  natürlich  sehr  dürftig;  und 
noch    dürftiger    (für    Anfänger    so    gut    als    ganz    unbrauchbar)    sind    die 
historischen    Andeutungen,    denen    wenigstens    kein    Tadel   und  kein  Lob 
hätte  beigemischt  werden  sollen,  da  der    Anfänger  den  Gegenstand  noch 
gar   nicht  kennt,  und   für  ihn  an    ein   eigenes    Urteil  noch   lange  nicht  zu 
denken  ist.     Demnach   bleibt   die   vorhin   bemerkte    Lücke   eigentlich  un- 
ausgefüllt.     Eine  der  Haupttriebfedern  des  Philosophierens,  das  praktische 
Interesse,  ist  nicht  angespannt,  nicht  in  Wirksamkeit  gesetzt,  sondern  nur 
von  fern  gezeigt.     Und  hierin  liegt  nun  in  der  Tat  wohl  der  Grundfehler 
des  ganzen  Buches.     Im  dogmatischen  Tone  trägt  es  Philosophie  vor,  als 
ob  dieselbe  eine  Gedächtnis-Sache   wäre;    und    der   Umstand,    daß    sie  es 
nicht  ist,   wird  gelegenthch  auch  mit  gelehrt    und  gelernt,  gleich   anderem, 
was    man    lehrt   und    lernt!    Allein   wir   glauben    gern,    daß    der   Verf.  im 
mündlichen    Vortrage  diesen    Fehler   des    Kompendiums  verbessert,    denn 
wir  kennen  seine  Wärme  fürs  Gute   aus  seinen   frühern  Schriften;    daher 
schon  zu  erwarten  ist,  er  werde  nicht  unterlassen,  das  Studium  der  Philo- 
sophie   auch    als    einen    wesentlichen    Teil    der    sittlichen    Regsamkeit    in 
Schwung  zu  setzen.    Ohne  diese  Triebfeder  kann  man  ein  so  schwieriges 
Studium   zwar  von   manchen  Seiten   beginnen,  aber  schwerlich  durchführen. 
Übrigens  findet  die  herrschende  dogmatische  Lehrart  des  Buches  großen- 
teils   auch    darin    ihre    Erklärung,    daß    die    Metaphysik,    auf  welche     die 
skeptische     Spannung     des    Untersuchungsgeistes    hauptsächlich     gerichtet 
werden    muß,    soweit    nach   hinten  gedrängt  ist;    sie  beträgt  nur  ungefähr 
das    letzte    Vierteil    des  Ganzen.     Die    psychische  Anthropologie    hat   ein 
dogmatisches  Ansehen    bekommen,    weil  sie  ursprünglich,    und  abgesehen 
von  dem  sich  allemal  einschwärzenden  metaphysischen  Dogmatismus,  eine 
Erfahrungswissenschaft  sein  sollte,  folglich  nicht  skeptisch  angelegt  werden 
konnte;  die  Logik  aber,  welche  das  dritte  Vierteil    des  Ganzen  ausmacht, 
besitzt    zu    viel    ursprüngliche    Evidenz    (ähnlich    der  Geometrie),    um  sich 
vom  Lehrtone  zu  entfernen.    Nachdem  nun  die  größte  Mitte  des  Buches 
einmal  dem  dogmatischen  Vortrage  anheimgefallen  ist,  bleibt  ganz  natürlich 
der  Nachklang    bis   ans  Ende.     So    geschieht    es,    daß   des  Zweifels  zwar 
genug   Erwähnung   getan,    der    eigentliche    Untersuchungsgeist   aber    doch 


J44  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


nirgends  in  Bewegung  gesetzt,  nirgends  in  Anspruch  genommen  wird. 
Etwas  anders  würde  die  Sache  zu  stehen  kommen,  wenn  Hr.  H.  die 
Logik  nach  behebter  Manier  mehr  mit  heterogenen  Bestandteilen  ge- 
mengt hätte.  In  dieser  Hinsicht  wollen  wir  seine  Erklärung  hersetzen. 
„Die  dem  Pantheismus  mehr  oder  weniger  sich  zuneigende  Philosophie 
der  Schellingschen  Schule  hat  die  gemeine  Logik  mißachtet;  dagegen  sind 
aus  derselben  mehrere  Versuche  einer  sogenannten  realen,  philosophischen, 
objektiven  Logik  hervorgegangen,  welche  indes  größtenteils  eine  Mischung 
des  eigentlich  Logischen  mit  metaphysischen  Aufgaben  darstellen.  Im 
sanzen  ist  dieselbe  ihrem  Grundcharakter  nach  vom  Aristoteles  bereits 
ausgebildet."  Wir  können  uns  nicht  auf  eine  genauere  Vergleichung 
dieser  Logik  mit  so  vielen  andern  Darstellungen,  welche  die  Wissenschaft 
neuerlich  erhalten  hat,  einlassen ;  der  Verf.  aber  scheint  hier  am  meisten 
in  seinem  Elemente  zu  sein,  und  wendet  viel  Sorgfalt  auf  genaue  Gliederung 
seines  Vortrages.  Oder  vielleicht  tritt  diese  Sorgfalt  hier,  wo  das  meiste 
auf  sie  ankommt,  nur  mehr  hervor;  man  kann  sie  ungestörter  auffassen, 
als  in  den  andern  Teilen  des  Buches,  in  welchen  das  Einverständnis  nicht 
so  leicht  ist.  Überhaupt  ist  es  der  Eindruck  eines  durch  anhaltenden 
Fleiß  und  vielfaches  Studium  in  seiner  Art  reif  gewordenen  Kompendiums, 
welches  das  Ganze  bei  uns  zurückläßt;  wir  würden  uns  jedoch  nicht 
wundern,  wenn  fernere  Studien  noch  tiefere  Überzeugungen  allmählich 
herbeiführten,  und  eine  zweite,  von  der  ersten  merklich  abweichende, 
Ause:abe  zur  Folge  hätten.  Von  dem,  was  wir  nach  unserer  Ansicht  an 
der  ganzen  Arbeit  und  an  den  einzelnen  Teilen  auszusetzen  haben,  darf 
hier  nicht  ausführlicher  die  Rede  sein;  aber  schwerlich  kann  ein  so 
denkender  und  gewissenhaft  lehrender  Mann,  wie  der  Verf.,  sich  durch 
dieses  Produkt  schon  ganz  befriedigt  finden;  vielleicht  wird  er  auch  der- 
einst gewahr  werden,  daß  er  die  Vorsicht,  nicht  ohne  Not  weit  vom  Alten 
und  Hergebrachten  abzuweichen,  in  mancher  Hinsicht  zu  festgehalten  hat. 
Neuerungssucht  ziemt  der  Philosophie  nicht ;  aber  starrsinniges  Behaupten 
des  Alten  und  Gewohnten  frommt  ihr  ebensowenig. 


Krause,    K.  Chr.  Fr.,    Vorlesungen   über   das   System    der  Philo- 
sophie. —   Göttingen    1828. 

Gedruckt   in:    Leipziger   Literatur  -  Zeitung   1830,    Nr.  94—96.      Kl,  Sehr.  III,    S.  694. 

SW.  XII,  S.  641. 

Bekanntlich  sind  manche  Schriftsteller  in  ihren  eigenen  Augen  sehr 
tätige  und  selbständige  Denker,  denen  doch  der  Unbefangene  auf  den 
ersten  Blick  ansieht,  woher  sie  den  Gedankenkreis  haben,  in  welchem  sie, 
durch  lange  Gewöhnung  beschränkt,  und  durch  Zeitumstände  dann  und 
wann  neu  angeregt,  sich  bewegen.  Um  ihre  Eigentümlichkeit  darzutun, 
lassen  sie  es  an  Neuerungen  nicht  fehlen,  und  oft  genug  entsteht  daraus 
für  denjenigen,  der  über  sie  Bericht  erstatten  soll,  eine  bedeutende 
Schwierigkeit,  weil  zum  Teil  das  Neue  nur  im  Ausdrucke  liegt,  andernteils 


K.  Chr.  Fr.  Krause:  Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie.  145 


das  Gewicht  und  der  Wert  desselben  so  zweifelhaft  bleibt,  daß  eine  genaue 
Prüfung    mehr  weitläufig,    als  belohnend  ausfällt.     Am  schlimmsten  ist  es, 
wenn    solche    Schriftsteller    von    ihrer    Wichtigkeit    und    ihrem    möglichen 
Einflüsse    eine    so    hohe  Meinung   hegen,    daß   sie   sich    berufen  erachten, 
die  Sprache  zu  reformieren.     Fast  unbegreiflich  ist,  daß  heutigestages,  wo 
die  Philosophie   den   Kreis    ihres  Wirkens  von   so  manchen  Seiten  beengt 
sieht,  Vorlesungen  über  diese  Wissenschaft  gehalten  und  gedruckt  werden 
können,  worin  das  Verstehen  absichtlich  durch  neuen  Wortprunk  erschwert 
wird.    Aber  die  Tatsache  liegt  vor  unseren  Augen;  S.  XXVII  lesen  wir: 
„Wesens  Lebselbstinnesein  geht  auf  sich  selbst  zurück;   der  Mensch  ist  das  voll- 
wese?iliche.  Gölte  vollivese?iähnliche  vollendetendliche  Vereinwesen;"  aus  welchen 
zufällig  aufgeschlagenen  Proben  man  auf  das  übrige  schließen  mag.    Wenn 
wir    hinzusetzen:    der  Verf.    ist    oder    war    ursprünglich  Fichtianer,    er  hat 
Mathematik    studiert,    und  er  gibt  sich   als   Freimaurer  kund;    —    so  wird 
hiermit  im  allgemeinen   bezeichnet  sein,  was  man  zu  erwarten  habe.     In- 
dessen   wollen    wir    sogleich    bezeugen,    daß    die    dreifache    Gravität    des 
Fichtianers,    Mathematikers   und    Freimaurers,    anspruchsvoll   wie   sie    ihrer 
Natur  nach  ist,   uns  doch  noch  erträglich  vorkommt,  weil  sie  durch   Ruhe 
des  Vortrags  gemildert  wird ;  und  daß  selbst  der  Sprachreiniger  und  Sprach- 
schöpfer sich  übrigens   Mühe  gibt,  verständlich  zu  reden.      Und  wahrlich! 
er    hatte    Ursache,    sich    darum    zu    bemühen.      Denn    sein   Unternehmen 
geht,  nach  der  Vorrede,  dahin:    i.  jeden  des  Denkens  fähigen  Menschen, 
Mann    oder    Weib,  Jüngling   oder   Guts,    vom  Standorte  des  gewöhnlichen 
Bewußtseins  zur  Selbsterkenntnis,  und  von  da  zur  Erkenntnis  Gottes  und 
der  Vernunft,  Natur  und  Menschheit  als  in  Gott  bestehenden  Wesen,  in- 
sonderheit der  göttlichen   Bestimmung  des  Menschen,   auf  dem  einzig  mög- 
lichen   Wege,    nach   den    Gesetzen    der   wissenschaftlichen  Methode   zu  geleiten! 
—    Auf    ein   so    umfassendes:    Erstefis,    sollte    man    denken,    könne    kein 
Ztveitens    und    Drittens    mehr    folgen.       Aber    es    folgt    dennoch:     2.    der 
Wissenschaftsbau    soll    in    diesem    Werke   soweit   ausgeführt   werden,    daß 
darin    die  Grundlage   aller   obersten   besonderen  Wissenschaften   enthalten 
sei,    namentlich    der   Lehre    von    dem    Leben    der   Menschheit   und   dem 
Organismus    ihrer    Geselligkeit.      3.  Der    zweite    Hauptteil    dieses    Werkes 
enthält  den   rein  spekulativen  Theismus,   ivelchen  bereits  viele  von  der  Philo- 
sophie erwarten  (etwa  in  den  Logen   der  Freimaurer?),    der  aber  in  keinem 
der    neuern    deutschen   Systeme    der  Philosophie   geleistet    ist.      (Also    vielleicht 
in  einem  der  altern  und  fremden  Systeme?  Denn  in  die  Ferne  der  Zeit 
und    des   Ortes   pflegen   ja    die  Sehnsüchtigen    hinauszuschauen,    und    alle 
Deutungen    haben    dort    leichtes   Spiel.)     Übrigens    sagt    diese  Lehre   von 
sich   selbst:    sie   sei   nicht  Pantheismus;    wobei  wir  uns  erinnern,   unlängst 
in  diesen  Blättern  eine  andere  Schrift  angezeigt  zu  haben,  die  mit  geringer 
Abweichung  das  Geständnis  ablegte,  man  nenne  sie  mißbräuchlich  Pantheis- 
mus,  und   die  hierbei  das  Sprichwort :  qui  s'excuse,  s'accuse,   selbst  anführte. 
Ferner  wird  von  der  nämlichen  Lehre  gesagt,  sie  stimme  mit  dem  Christen- 
tume   überein;   wobei   wir    sogleich   bemerken,    daß  eben  darum,    weil  das 
Christentum    längst    vorhanden   und   verbreitet   ist,    ein   so   gewaltig  hohes 
Selbstgefühl,    wie    das,    womit    unser  Verf.   sich   ankündigt,    uns   selbst   in. 

Herbarts  Werke.     XIII.  ^° 


j^^  J-  F'  Herbarts  Rezensionen. 


dem  Falle   anstößig   sein   würde,   wenn   sich  in  seinem  Vortrage  wirkliche 

Originalität  zeigte. 

Als  ob  niemand  sich  gegen  die  falschen  Anfänge  der  Fichteschen 
und  Schellingschen  Philosophie  geregt  hätte,  noch  regen  könnte  und  dürfte, 
wirft  der  Verf.  seine  Zuhörer,  deren  kritischen  Geist  er  gegen  vermeintes 
Wissen  wecken  sollte,  geradezu  schon  im  Beginne  der  Einleitung  in  alle 
die  petitiones  principiorum  hinein,  welche  seit  dreißig  Jahren  bis  zum 
höchsten  Überdrusse  sind  wiederholt  worden.  ,,  Wir  alle  luissen,  und  haben 
dazu  nicht  nötig,  schon  zu  wissen,  was  das  Wissen  ist."  Aber  was  wissen 
wir  denn?  Was  glauben  diejenigen  zu  wissen,  welche  hier  angeredet 
werden?  Empirische  Kenntnis  von  Erscheinungen;  mathematische  Kenntnis 
von  leeren  Formen;  moralische  Kenntnis  von  Forderungen  dessen,  was  sein 

soll:    welches   von    diesem  Wissen   taugt   hier   als  passendes  Beispiel? 

Oder  soll  gar  gleich  anfangs  der  religiöse  Glaube,  gegen  Kants  Einspruch, 
mit  dem  Wissen  verwechselt  werden?    Als  ob  so  etwas  nicht  könnte  ge- 
fragt   werden,    ist    der  Verf.   schnell    bei   dem  Satze:    „wenn  Wissenschaft 
im  Geiste  beginnen  soll,  muß  eingesehen  werden  irgend  eine  Wahrheit,   die 
durch    ihren    Inhalt    selbst    einleuchtet,"    (etwa    eine    mathematische    oder 
logische    oder    moralische?    —    nein!    sondern:)    ,,der  Geist  muß  sich  einer 
Erkenntnis   beivußt  loerden,    die  über  den    Gegensatz  des  Subjekts  und  Objekts 
erhaben    sei."     Der  Zuhörer    wird    fragen,    was    denn    irgend    eine   solche 
Wahrheit,    falls    eine    solche   vorhanden  wäre,    über  den  weiten  Kreis  des 
andern,    uns    im    Leben   höchst   nötigen  Wissens    vermöge,    worin  Subjekt 
und  Objekt  verschieden  sind?  Falls  diese  Verschiedenheit  ein  Fehler  wäre 
(;was   er    keineswegs   ist),    so   bliebe   die   größere  Masse   des  Wissens  stets 
mit   ihm   behaftet,   und    ein  Tropfen    von   anderer  Art   würde  den  Ozean 
nicht    bessern.     Aber    der   Verf.    weiß  Rat.     Gleich   in    den   ersten  Zeilen 
nämlich  hat  er  von  dem  Worte:  Wissenschaft,  gesagt:  durch  die  Endsilbe 
Schaft   werde    überall    ein    Verein    verschiedener    Teile    zu    einem  Ganzen 
verstanden.      Diese    Forderung    werde    noch    näher    bezeichnet    durch    die 
Worte  System  und    Organismus.     Auf  einer  solchen   Grundlage  von  Worten 
fortbauend,    fährt    er    nun    schon    auf  der   vierten  Seite    des  Buches  also 
fort:    „Fassen    wir   das  Bisherige   zusammen,    so   haben  wir  gefunden,    daß 
die  Wissenschaft   ein   organisches  Ganze   gewisser  Erkenntnis   sein  soll,    in 
welcher  jede   besondere  Erkenntnis    e7ithalten   sei,    und    worin  jede  andere 
gewiß  werde."    Und  nun  wird  die  Einheit  alles  Wissens,  samt  der  Mannig- 
faltigkeit desselben,   weiter  erwogen.     Das  ist  die  alte,    seit  dreißig  Jahren 
viel    erprobte  Manier,   jungen  Leuten    die  Einbildung   eines  Wissens   bei- 
zubringen, woraus  bei  reifen  Männern  die  Klage  erwächst:  die  Philosophie 
halte    niemals,    was    sie    verspreche.     Wer    jene  Zeit    des    ersten   Fichteschen 
Spekulierens   mit   erlebt   hat,   der   kann  sich  aus  historischer  Kenntnis  der 
damaligen  Stimmung  und  Bestrebung  denkender  Köpfe  den  Ursprung  jenes 
Beginnens    leicht   erklären;   aber  was  hilft  das  den  heutigen  Anfängern  in 
der  Philosophie?    Für  sie  ist  es  eine  unbegreifliche,  freilich  imponierende, 
Tatsache,  daß  auf  dem  Katheder  ein  Mann  sitzt,  welcher  mit  Nachdrucke 
behauptet:    alle  Erkenntnis   sei  Eine  Erkenntnis.     „Mithin   (fährt   er   qjiasi 
re  bene  gesta  weiter  fort)  muß  die  Einheit  teils  .subjektiv,  in  Ansehung  des 
Erkennenden,    teils  objektiv,   im  Erkannten,  vorhanden  sein.     Gewöhnlich 


K.  Chr.  Fr.  Krause:  Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie.  147 

wird  die  Einheit  der  Wissenschaft  vorwaltend  aufgefaßt  in  dem  Gedanken 
des  Prinzips  der  Wissenschaft.  So  wahr  sie  Eine  ist,  so  wahr  fordert  sie 
nur  Ein  Sachprinzip.  Aber  dies  muß  auch  das  Prinzip  aller  Erkenntnis 
sein."  Nun  aber  ein  merkwürdiges  Bekenntnis:  „Der  Gedanke  der  Ver- 
schiedenheit ist  nicht  derselbe  Gedanke,  als  der  der  Einheit,  daher  auch 
der  Gedanke  der  Verschiedenheit  mis  dem  Gedanken  der  Einheit  jiicht 
abgeleitet  werden  kann.  Wenn  demnach  Wissenschaft  auch  ein  geordnetes 
Ganze  des  Mannigfaltigen  sein  soll,  so  müßte  das  Mannigfaltige,  wie  es 
sich  auch  weiter  zeigen  möchte,  erkannt  werden  als  in  dem  Prinzipe  ent- 
halten." —  Was  will  diese  Rede  sagen?  Weil  von  der  Einheit  keine  Ab- 
leitung zum  Mannigfaltigen  geht;  so  wird  man  umgekehrt  die  Betrachtung 
bei  jedem  Stücke  des  Mannigfaltigen  beginnen  müssen,  um  es  in  die  Einheit 
hinein  zu  deduzieren.  Einen  andern  Sinn  können  wir  in  den  Worten  nicht 
finden.  Dann  gibt  es  aber  unendlich  viele  Erkenntnisprinzipien,  so  viele 
nämlich,  als  Anfänge  der  Betrachtung  des  Mannigfaltigen;  und  hiermit 
ist  sowohl  die  Einheit  des  Prinzips  überhaupt,  als  die  Identität  des  Sach- 
und  Denkprinzips  verloren!  Wer  den  Spinozismus  kennt,  dem  liegt  die 
Wichtigkeit  dieses  Punktes  vor  Augen;  wir  meinen  den  Sprung  aus  dem 
Unendlichen  ins  Endliche.  Hierüber  unbekümmert,  redet  der  Verf.  getrost 
weiter  vom  Prinzipe  als  Grund  und  Ursache;  und  von  der  Demonstration 
des  Endlichen,  wenn  man  erkennt,  daß  seine  Wesenheit  in  einem  höhern 
Ganzen  so  sein  muß,  wie  sie  ist.  Aber  es  entdeckt  sich  bald,  woher 
diese  Sorglosigkeit  kommt.  Was  denjenigen,  die  für  das  Wissen  Einheit 
des  Prinzips  behaupten,  das  Wichtigste  sein  muß,  das  gibt  er  auf.  „Was 
unpassend  intellektuale  Anschauung  genannt  wurde,  nenne  ich  die  Schauung 
Gottes,  oder  die  Wesenschauung.  Aber  mein  System  unterscheidet  sich 
dadurch,  daß  die  Erkenntnis  des  Prinzips  weder  bloß  postuliert  wird,  wie 
bei  ScHELLiNG,  noch  durch  irgend  einzelne  vorbereitende  Spekulation  ge- 
sucht wird,  wie  bei  Hegel,  sondern,  daß  die  Wissenschaft  vom  ersten 
subjektiv  Gewissen,  vom  Selbstbewußtsein  des  Ich  anhebend,  ohne  Willkür, 
der  Wesenheit  der  Sache  nach  fortschreitend  zu  der  Anerkenntnis  des  Prinzips 
aufsteigt.''-  Das  heißt  mit  andern  Worten :  die  Prinzipien  des  Wissens  und 
des  Realen  sind  verschieden;  das  Erkenntnisprinzip  ist  das  Ich;  und  nun 
kommt  alles  auf  die  Ableitung,  auf  die  Methode  an,  damit  es  sich  zeige, 
ob  man  von  hier  ausgehend  den  versprochenen  rein -spekulativen  Theismus 
dogmatisch  erreichen  könne,  dergestalt,  daß  man  weder  über  Schlußfehler 
ertappt  werde,  noch  Teleologie  und  praktische  Ideen  da  zu  Hilfe  nehme, 
wo  andere,  ihre  menschliche  Schwäche  bekennend,  gern  das  Wissen  durch 
den  Glauben  ergänzen.  Übrigens  sind  wir  insofern  mit  dem  Verf.  wohl 
zufrieden,  daß  doch  endlich  einmal  zum  Vorscheine  kommt,  was  vor 
dreißig  Jahren  freilich  ebenso  klar  hätte  sein  sollen,  wie  heute:  dies 
nämlich,  daß  Identität  des  Ideal-  und  Realprinzips  eine  Ungereimtheit  ist. 
Bevor  wir  nunmehr,  über  die  Einleitung  hinaus,  in  die  Abhandlung 
selbst  eintreten,  wird  es  gut  sein,  zu  erklären,  daß  wir  uns,  ungeachtet 
der  unvermeidlichen  Länge  dieser  Rezension,  doch  unmöglich  darauf  ein- 
lassen können,  eine  vollständige  Übersicht  zu  geben.  Nicht  nur  liegt  ein 
Buch  von  554  äußerst  eng  gedruckten  Seiten  vor  uns,  sondern  die  Arbeit, 
eine  neue  Sprache  zu  studieren,  ist  hier  größer,  als  daß  man  sie  uns  zu- 

10* 


j^g  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


muten   könne,   da,   wie   sich    bald   zeigen   wird,    Gründe   genug  vorhanden 
sind,    den    dazu  nötigen  Zeitaufwand  zu  scheuen.     Rez.  bekennt  also  ge- 
radezu,  nicht  zu  wissen,  was  das  neue  Wort:    Wesens- Or-Om-Volhvesenheit, 
eigentlich  bedeutet;  auch  nicht  genau  zu  verstehen,  warum  Schönheit  die 
vollwesenliche    Wesenähnlichkeit   ist,    und   obgleich  der  Verf.  gütig  genug  ist, 
zu    sagen,    daß     Wesenimiesein    und     Wesenvereinleben    soviel    bedeutet    als 
Religion;    so    ist   hiermit    doch    der    unmittelbar    folgende  Satz  nicht  klar: 
,, Hätten  Spinoza    und  Kant  die  Kategone  der  Bezugseinheit  erkannt^    so 
würden    sie    vielleicht   zur    Wesenschauung  gelangt  sein,    Kant    rvürde  die 
Gotterkenntnis   nicht  für   untnöglich   erklärt,    und  Spinoza    wüide  sich  nicht 
in    den    Kategorien    der    Notwendigkeit    und    der    Freiheit    venvirrt    haben." 
Diese  letzte  Probe  kann  zugleich  zeigen,  daß  die  Schwierigkeit  nicht  bloß 
in    den    Worten    liegt;    man    müsse    nämlich    hier    zuerst    einsehen,    wie 
Schauung,    welcher    Ausdruck    ein    Unmittelbares    zu    bezeichnen    scheint, 
vermittelt  werden  könne,  und  zwar  mittelst  der  Erkenntnis  einer  Kategorie; 
und    überdies    mag    ein    anderer    Ödipus    erraten,    wie    man    so    kurz    die 
Antipoden    Kant    und   Spinoza    zusammenfassen    könne,    um    einen    für 
beide  gemeinsamen  Grund,  weshalb  keiner  von  beiden  zur  Wesenschauung 
gelangt    sei,    mit  Einem   Worte    auszusprechen.      Dazu    möchte    doch    der 
Streit    zwischen  Spinozismus    und   Kantianismus    ein    wenig    zu    stark    und 
zu  vielfach  sein.    Allein  so  wenig  wir  uns  auch  in  des  Verfs.  Theosophie 
einzulassen   gedenken,   so  müssen  doch  ein  paar  allgemeine  Bemerkungen 
Platz    finden.     Erstlich   ist  der  Rez.  wohl  nicht  der  einzige,   dem  es  miß- 
fällt, wenn  polemisierende,  mit  allem  Stolze  des  Dogmatismus  ausgerüstete, 
Wesens  -  Schauungen    einander   zu    überbieten    suchen.      Religion    soll    die 
Gemüter   vereinigen,   und   das    Christentum   erlaubt   denen,    die   sich   dem 
Tische   des  Herren   nahen,    keinesweges,    mit    persönlichen  Vorzügen   auf- 
zutreten, sondern  es  verlangt,  daß  jedermann  sich  demütige  und  sich  den 
andern   gleichstelle.      Ferner   verrät   der   Verf.,   seiner   Meinung   nach   auf 
dem    einzig   möglichen   Wege   einhergehend,    die   stärkste   Neigung,    seine 
Lehre    zu   verbreiten;    er   tadelt    sogar   das  Ausschließen  der  Frauen  von 
der   Wissenschaft!    Wenn    nun   ein    solcher  Mann    dennoch    eine  Sprache 
einzuführen    sucht,    von    welcher   vorauszusehen   ist,    daß   nur   wenige  sich 
mit   ihr   vertraut   machen   werden;    wenn    dies  in  der  Form  akademischer 
Vorlesungen   geschieht,    die    zuerst   einer    —    oft  genug  auf  Geheimlehren 
erpichten  Jugend  dargeboten  wurden;  so  haben  wir  ein  so  sonderbar  ver- 
einigtes Streben    nach  Expansion   und  Kontraktion  zugleich  vor  uns,   daß 
eine   Frage    nach    dem    eigentlichen   Zwecke    sich    aufdringt,    und    daß   es 
schwer  wird,  in  Hinsicht  der   versuchten  Sprachschöpfungen   an  bloße  Lieb- 
haberei   zu    glauben.      Es    muß    doch    wohl    einiger    Wert    auf   den   Besitz 
eines    halbdurchsichtigen    Geheimnisses    gelegt    sein,    welches    sich    einen 
Kreis  bilden  könne. 

FiCHTES  Wissenschaftslehre,  desselben  Naturrecht  und  Sittenlehre 
bieten  uns  nun  den  Boden  dar,  auf  dem  wir  uns  bewegen  müssen;  der 
Faden  dieser  Werke  scheint  unverkennbar  durch,  wenigstens  in  dem  ersten 
Hauptteile,  welcher  die  Überschrift  führt:  subjektiv -analytische  Wissen- 
schaft. Das  Erkenntnisprinzip  soll  unmittelbar  gewiß  sein.  Den  zweiten 
Hauptumstand,    daß  es  andere  Gewißheit  aus  sich  erzeugen   muß,    vergaß 


K.  Chr.  Fr.  Krause:  VorlesuDgen  über  das  System  der  Philosophie.  14g 


Fichte;  unser  Verf.  vergißt  ihn  auch,  obgleich  dies  gerade  das  Schwierige 
der  Sache  ist.  Femer:  Jedermann  muß  in  sein  eigenes  Bewußtsein  hinein- 
schauen, um  zu  sehen,  ob  er  solch  eine  unmittelbar  gewisse  Erkenntnis 
in  sich  finde.  Solch  eine?  "Wie  nun,  wenn  er  mehr  als  Eine  findet?  Das 
wäre  freilich  ein  Unglück  für  die  obige,  aus  bloßen  Worten  deduzierte 
Forderung  der  Einheit,  und  es  bliebe  nichts  übrig,  als  die  Grundlosigkeit 
der  Forderung  einzusehen  und  zu  bekennen.  Unser  Verf.  findet  wirklich 
nicht  bloß  Eine,  sondern  drei,  die  sich  füglich  auf  das  Ich  und  Nicht-Ich 
reduzieren  lassen;  denn  wenn  einmal  andere  Menschen  von  den  Dingen 
außer  uns  getrennt  werden  sollten,  so  gab  es  noch  mehr  zu  trennen.  Aber 
nun  folgt  ein  Mißgriff",  den  wir  am  liebsten  der  im  Anfange  gesuchten 
Popularität  des  Ausdrucks  zurechnen  möchten;  während  die  Absicht,  das 
Ich  als  einzigen  Anfangspunkt  alles  "Wissens  hervorzuheben,  aus  dem  Zu- 
sammenhange erhellt. 

„Daß  unser  Wissen  von  äußern  sinnlichen  Dingen  nicht  unmittelbar 
ist,  zeigt  sich  gleich,  denn  —  es  beruht  auf  Wahrnehmungen  des  Auges, 
Ohres  und  der  übrigen  Sinne!"  Wie?  Empfindung  von  Farbe  und  Ton 
wäre  nicht  unmittelbar?  Menschen  und  Tiere  müßten  in  der  Reihe  ihres 
Wissens  erst  von  der  Ketint7ns  (denn  davon  ist  allein  die  Rede)  des  Ohres 
und  Auges  beginnen,  um  sehen  und  hören  zu  können^  —  Vielleicht  ist 
diese  Widerlegung  gar  zu  populär;  wir  wollen  also  etwas  künstlicher  ver- 
fahren. Der  Verf.  stelle  sich  auf  den  Standpunkt  des  Idealisten.  Dieser 
leugnet  die  Existenz  der  Körper;  mithin  auch  des  Auges  und  Ohres; 
er  verwirft  gänzlich  die  gemeine  Erklärung,  nach  welcher  die  Sinnes- 
erscheinungen als  vermittelt  betrachtet  werden.  Aber  die  empfundenen 
Töne  und  Farben  verwirft  er  nicht;  diese  sind  das  Unverwerfliche,  weil 
sie  das  Unmittelbare  sind,  welches  im  Wissen  fest  steht,  gleichviel,  welche 
Erklärung  seines  Ursprungs  man  ihn  auf  verschiedenen  Standpunkten 
der  Betrachtung  unterschiebe.  Dennoch  soll  die  Anschauung  des  Ich  die 
Priorität  erlangen!  Dahin  gelangte  Fichte  durch  das  bloße  Wort:  Nicht- 
Ich,  worin  die  Erschleichung  liegt,  wie  wenn  Farben,  Töne,  Gestalten, 
ursprünglich  als  Entgegengesetzte  des  Ich  empfunden  und  wahrgenommen 
würden.  Aber  Mißgriffe,  die  Fichte  noch  im  vorigen  Jahrhunderte  machte, 
waren  leichter  zu  entschuldigen,  als  die  heutigen.  Und  —  was  die 
Hauptsache  ist  —  die  Brauchbarkeit  eines  Prinzips  wird  sogleich  ver- 
dächtig, wenn  diejenigen,  die  es  gemeinschaftlich  als  ein  Erstes  und  Un- 
mittelbares, das  jedermann  in  sich  selbst  finde,  verkünden  und  preisen, 
über  die  wahre  Bedeutung  desselben  schon  streiten,  noch  ehe  sie  anfangen 
es  zu  gebrauchen.  Dies  begegnet  unserm  Verf.  mit  Fichte.  Tadelnd 
bemerkt  er:  Fichte  habe  das  Selbstbewußtsein  als  abhängig  von  der  Ent- 
gegensetzung gegen  das  Äußere,  —  er  habe  das  Ich  als  tätig,  als  in  sich 
zurückkehrend,  als  mitten  unter  anderen  Vernunftwesen  sich  findend,  als 
ein  Selbständiges,  dargestellt.  Die  Grundanschauung  des  Ich  sage  nichts 
von  Unbedingtheit.  Ebenso  tadelt  er  Kant.  „Nur  dadurch,  sagt  er  in 
der  Vernunftkritik,  daß  ich  mich  selbst  innerlich  individuell  in  der  Zeit 
erkenne,  weiß  ich  von  mir;  ich  aber  sage  dagegen:  nur  dadurch,  daß  ich 
mich  überhaupt  schon  weiß,  kann  ich  auch  wissen,  daß  ich  mir  unter 
andern  auch  in  sinnlicher  Individualität  erscheine.    Denn  er  muß  ja  schon 


I^O  J«  F.  Herbarts  Rezensionen. 


das  Ich  schauen,  um  dies  Besondere  zu  schauen,  daß  eben  das  Ich  in- 
dividuell sei."  (Wirklich?  Geht  denn  das  Schauen  gleich  dem  Denken 
vom  allgemeinen  zum  Besondern?  Schaut  man  nicht  etwa  auch  erst  den 
Begriff  der  Materie,  um  ein  Stück  Holz  zu  schauen?)  „Ferner:  wem  er- 
scheine ich?  Antwort:  Mir.  Wer  ist's,  der  da  sieht,  daß  ich  mir  erscheine? 
Antwort:  Ich.  Darin  ist  aber  zugegeben,  erstlich,  daß  ich  mich  überhaupt 
weiß;  zweitens,  daß  ich  auch  weiß,  wie  ich  als  Individuelles  mir  als 
Ganzem  erscheine."  (Nichts  ist  zugegeben;  denn  dies  Erstlich  und 
Zweitens  kehrt  das  Hinterste  nach  vorn.  Die  Frage  nach  dem  Subjekte, 
dem  das  Ich  erscheint,  läßt  sich  künstlich  ins  Unendliche  treiben;  dadurch 
wird  für  die  künstelnde  Reflexion  das  nämliche  Subjekt  unendlich  ver- 
vielfältigt; aber  die  Unendlichkeit  läßt  sich  nicht  vollenden;  und  von 
diesem  ganzen  Spiele  weiß  das  natürliche  Selbstbewußtsein  nicht  das 
mindeste.)  „Der  Fortgang  der  Untersuchung  wird  nun  möglich  sein. 
Wessen  wir  uns  gewiß  sein  sollen,  das  muß  so  gewiß  sein,  als  die  Grund- 
erkenntnis: Ich.  Jedoch  nicht  durch,  sondern  bloß  in  derselben;  jede  Er- 
kenntnis muß  mir  gegeben  sein  in  mir,  als  Eigenschaft  meiner  selbst,  als 
denkenden  Ichs.  Daraus  sehen  wir,  daß  wir  hier  nicht  demonstrierend 
den  Fortgang  nehmen  können,  sondern  bloß  monstrierend  als  ein  teilweise 
Wahrgenommenes  in  der  Grundwahrnehmnis  Ich.  Wollten  wir  demon- 
strieren, so  müßten  wir  schon  den  Satz  des  Grundes  erwogen,  wir  müßten 
schon  das  eine  Sachprinzip  gefunden  haben,  —  welches  wir  erst  suchen." 
(Neue  Verwirrung!  Sachprinzipien  sind  Ursachen,  aber  als  solche  nicht 
Erkenntnisgründe.)  „Alles  nunmehr  zu  Findende  muß  sowohl  in  Ansehung 
des  Gegenstandes  als  der  Gewißheit  Eins  sein  mit  der  Grunderkenntnis ; 
wir  machen  daher  lediglich  das  Ich  zum  Einen  Gegenstande  der  Reflexion.'' 
Von  hier  an  werden  nun  diejenigen,  welche,  gleich  dem  Verf.,  des  Demon- 
strierens  gern  überhoben  sind,  und  sich  mit  dem  Monstrieren  zu  begnügen 
pflegen,  zu  Vergleichungen  ihrer  eigenen  Ansichten  mit  seinen  Dar- 
stellungen Anlaß  nehmen  können.  Er  stellt  sich  die  Aufgabe:  die  An- 
schauung zu  vollziehen,  ivas  das  Ich  an  sich  ist ;  und  seine  Auflösung 
lautet:  das  Ich  ist  ein  Wesen,  und  zwar  ein  selbes,  ganzes  Wesen.  Hier 
soll  Wesen  das  Selbständige  bedeuten;  dennoch  soll  unentschieden  bleiben, 
ob  vielleicht  das  Ich  als  ein  inneres  endliches  Wesen  im  höhern  Ganzen 
der  Wesen  enthalten  sei.  Selbes  Wesen  aber  wird  betrachtet  an  sich,  gar 
nicht  im  Verhältnisse  zu  etwas  Äußerem.  Beim  ganzen  Wesen  soll  an 
Teile  noch  nicht  gedacht  werden;  wohl  aber  mag  in  gewisser  Hinsicht 
zu  sagen  erlaubt  sein,  der  Mensch  bestehe  aus  dem  Leibe  und  Geiste. 
Es  folgt  eine  zweite  Aufgabe:  die  Anschauung  zu  vollziehen,  was  das  Ich 
in  sich,  oder  als  Inneres  ist;  oder:  anzuschauen,  ifi  luelchen  Teilen  und 
Eigenschaften  das  Ich  sich  bestehend  findet.  Folgendes  ist  die,  stufenweise, 
durch  Selbstbeobachtung  zu  entwickelnde  Antwort:  das  Ich  besteht  aus 
Geist  und  Leib,  als  Mensch;  es  findet  sich  als  bleibend  und  veränderlich, 
als  lebend,  als  Vermögen,  als  Kraft,  als  Trieb.  Man  sieht,  der  Verf. 
betritt  hier  den  Boden  der  empirischen  Psychologie;  welches  dadurch 
vollends  klar  wird,  daß  er  an  diesem  Orte  die  Frage,  ob  das  Ich  ohne 
den  Leib  bestehen  könne,  unentschieden  zu  lassen  gebietet,  wie  es  auf 
dem   empirischen  Standpunkte   sein   muß.     Bei  dieser  Gelegenheit  kommt 


K.  Chr.  Fr.  Krause :  Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie.  151 


er    zurück    auf   das    Entstehen    unserer    Vorstellungen    von    den    Sinnen- 
gegenständen, und  zwar  in  sehr  seltsamen  Ausdrücken.    „Es  ist  eigentlich 
unser   Augennerve,    den    der  Geist   sieht,    nicht    aber  Gegenstände    außer 
dem  Leibe.    Der  Geist  hört  den  schallenden  Nerven  im  Ohre,  die  Zunge 
selbst    wird    geschmeckt"  usw.      So    fortfahrend,    würde    man    auch    sagen 
müssen:    der  Geist   will  nicht  Bewegungen  der  Gliedmaßen,   er  will  nicht 
gehen,  greifen,  reden,  sondern  er  will  die  Nerven,  sofern  sie  die  Muskeln 
zu  ihrem  Dienste  bestimmen.    Aber  das  eine  ist  so  falsch  wie  das  andere; 
wer    nicht   an  Physiologie   denkt   und   davon   nichts   weiß,    der  sieht  und 
hört  und  will  nichts  von  den  Nerven;  die  Worte  sehen,  hören  usw.  passen 
hier  gar  nicht  mehr,  und  der  falsche  Ausdruck  dient  nur  dazu,  die  wahren 
Fragepunkte    zu    verschleiern.     Daher   kein    Wunder,    daß    auch    hier    der 
Verf.  sich  am  Ende  der  bekannten  Erklärung  aus  hinzukommenden  Vor- 
stellungen   a  priori  anbequemt,    ohne  Spur    einer  Kritik   derselben.     Also 
wiederum   nichts    Neues,    sondern    Benutzung    Kantischer   Lehrmeinungen; 
was   dagegen  ist  eingewendet,    was  auf  andere  Weise  ist  erklärt  und  ent- 
wickelt worden,  davon  scheint  er  nichts  zu  wissen;  daß  in  seinem  ganzen 
bisherigen   Vortrage    kein  Punkt    zu    finden   ist,    der   nicht  Angriffen   bloß 
gestellt    wäre,    das    kümmert    ihn    nicht.      Einem    Schriftsteller,    der    von 
eigentlicher  Spekulation   so    wenig   loeiß,    —    der   sogar   von  Fichtes  Be- 
strebungen (irre  geleitet,  wie  sie  waren)  so  wenig  zu  benutzen  verstanden 
hat,  würden  wir  geraten  haben,  sich  lediglich  an  reine,  unverkünstelte  Er- 
fahrung  zu   halten.     Wie    schwer   das    bei   psychologischen  Gegenständen 
ist,  wissen  wir  sehr  gut;  allein  schon  die  Bemühung,  es  zu  leisten,  konnte 
ein    heilsames    Bedenken    erregen,    nicht    von    Kategorien    und    nicht    von 
einem   bloßen  und  nackten  Ich  mit  solcher  Dreistigkeit  zu  reden,   als  ob 
diese,  durch  künstliche  Reflexion  gesonderten  Gegenstände  auch  so  gesondert 
und    außer   aller  Anwendung   im  gemeinen  Bewußtsein  anzutrefifen  wären. 
Dann  möchte  von  einem  Ich,  als  selbem  und  ganzen   Wesen,   schwerlich  die 
Rede   gewesen   sein.     Der  Verf.   wird   kaum  glauben,    daß  der  natürliche, 
vorwissenschaftliche  Mensch  (um  uns  seines  Ausdruckes  zu  bedienen)  sich 
in    irgend  einem  Augenblicke  des  zeitlichen  Lebens  anders  finde,   als  mit 
irgend  einer  individualen  Bestimmtheit;    sollte  er  es  dennoch  glauben,   so 
mag  er  uns  die  Frage  nach  dem  eigentlichen  Objektiven  im  Ich,   was  jeder 
in  sich  schaue,  der  Selbstbewußtsein  hat,  genauer  beantworten,  als  in  seinem 
Buche    geschehen    ist.     Wenn   Fichte    nach   so   mannigfaltigem  Bemühen 
diese  Frage  nicht  genügend  beantworten  konnte;  so  muß  sie  wohl  schwerer 
sein,  als  der  Verf.  sie  sich  gemacht  hat.    Und  aus  Fichtes  Lehre  einige 
Bruchstücke  wegwerfen  und  andere  Bruchstücke  behalten,  heißt  nicht,  sie 
verbessern.     Sie   ist   trefflich  zur  Übung,    aber  nicht  zum  Gebrauche;   ihr 
Grundfehler,  das  eine,  selbe  und  ganze  Ich,  müßte  erst  gehoben  werden ; 
gerade    in   diesem   aber   hat   sich   der  Verf.    recht  sorgfältig  eingesponnen. 
Man  sollte  meinen,    daß  für  diejenigen,    deren  ganze  Philosophie  lediglich 
Religionsphilosophie    sein   will,    und   welche   nur   zu   diesem  Zwecke   ihren 
metaphysischen    Dogmatismus    einiichten,    Veranlassung   genug    wäre,    die 
Gebrechlichkeit   des  Ich,    wie    es    sich   wirklich   im  Bewußtsein  findet,  — 
sein   unstetes,   vielfarbiges,    zu    den   niedrigsten   wie  zu  den  höchsten  Ge- 
mütszuständen  sich   hergebendes,    den   Weisesten   täuschendes,    im    Blöd- 


j  ^2  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 

sinnigen  allmählich  erlöschendes  Wesen,  —  im  geraden  Gegensatze  gegen 
FiCHTES  Lehre  zu  entwickeln,  deren  Ursprünge  in  eine  Zeit  fallen,  worin 
Religion  nicht  das  Thema  des  Tages  war,  sondern  weit  stolzere  Gedanken 
die  Köpfe  begeisterten.  Aber  die  alten  Erinnerungen  kleben  an;  unä 
von  den  in  der  Jugend  eingesogenen  Vorurteilen  möchte  man,  so  sehr 
auch  die  Zeit  verändert  ist,  doch  etwas  behalten. 

Eben  hier  aber  möchte  der  Verf.  uns  wohl  den  Vorwurf  machen, 
daß  wir  seine  Zurüstungen  mit  der  Hauptsache,  seine  Einleitung  für  An- 
fänger mit  dem  wissenschaftlichen  Vortrage  verwechselten.  Denn  freilich 
ist  alles  bisher  Angeführte  noch  aus  der  ersten  Hälfte  seiner  sogenannten 
subjektiv- analytischen  Wissenschaft  entnommen.  Nun  steht  zwar  Fichtes 
Ansehen  beim  Rez.  zu  hoch,  als  daß  er  einräumen  könnte,  die  Grund- 
sätze der  Wissenschaftslehre  seien  eben  nur  gut  genug,  in  dem  ersten 
Vorhofe  der  Wissenschaft  ihren  Platz  zu  finden;  auch  ist  die  Unter- 
suchung über  das  Ich  eine  der  wichtigsten  und  der  schwersten  in  der 
gesamten  Philosophie,  und  es  fällt  dem  Verf.  sehr  zur  Last,  seine  Be- 
hauptungen darüber,  die  mit  Untersuchung  gar  keine  Ähnlichkeit  zeigen, 
so  leicht  hingeworfen  zu  haben.  Dennoch  sind  wir  verbunden,  ihm  weiter 
zu  folgen.  Die  Auseinandersetzung  bloßer  Tatsachen  des  Bewußtseins 
samt  den  daran  geknüpften  vorläufigen  Fragen  übergehend,  versetzen  wir 
uns  zu  den  Betrachtungen  über  die  Veränderung;  bekanntlich  eines  der 
wichtigsten  metaphysischen  Probleme,  welches  hier  gleich  verkümmert  wird, 
indem  statt  allgemeiner  Darstellung  auch  diese  an  das  Ich  geheftet  ist; 
eine  Folge  der  falschen  Anlage  des  ganzen  Werks.  Von  dem  Wider- 
spruche, in  der  Veränderung  wird  nun  zwar  gesprochen,  aber  an  eigent- 
liche Entwicklung  ist  nicht  zu  denken,  denn  die  Zeit  soll  genügen,  ihn 
aufzulösen.  „Was  zugleich  nicht  sein  kann,  das  kann  dennoch  nach- 
einander sein  an  demselben."  Natürlich!  Wenn  einmal  das  eine,  ganze 
und  selbe  Ich  feststeht  (obgleich  man  das  Objekt  des  Selbstbewußtseins 
nicht  angeben,  und  sein  letztes,  eigentliches  Subjekt  wegen  der  ins  Un- 
endliche sich  selbst  übersteigenden  Reflexion  nimmermehr  erreichen  kann), 
dann  besteht  dieses  vorgebliche  Ich  trotz  aller  Veränderung,  von  der  es 
in  seinem  Innern  nicht  getroffen  wird.  So  zieht  ein  Irrtum  den  andern 
nach  sich.  Aber  die  angeführten  Beispiele  sind  dennoch  zu  arg.  „Das 
Individuum  der  wachsenden  Pflanze  ist  und  bleibt  dasselbe."  Nein!  die 
Pflanze  wechselt  den  Stoff;  sie  stirbt,  und  selbst  ihre  Lebenskraft  ver- 
schwindet. „Ein  bildsames  Wachs  bleibt  Wachs."  Aber  verbranntes 
Wachs  bleibt  nicht  mehr  Wachs.  ,.Alle  wechselnden  Eigenschaften  muß 
ich  zusammen  denken,  wenn  ich  alles  das  denken  will,  was  dem  sich 
ändernden  Wesen  zukommt."  Gerade  darum,  weil  ich  das  Wechselnde 
zusammen  denken  muß,  und  dies  Denken  nicht  in  die  verschiedenen  Zeit- 
momente zerstreuen  darf,  kommt  im  Begriffe  des  Werdens  der  Wider- 
spruch zum  Vorscheine.  „Die  ganze  Wesenheit  des  Dinges  ist  und  bleibt." 
Umgekehrt!  Die  bleibende  Wesenheit  ist  eine  Forderung,  die  nicht  erfüllt 
wird,  weil  sie  keine  Oberfläche  hat,  woran  das  Wechselnde  vorüberstreifen 
könnte,  sondern  sie  selbst,  die  Substanz,  sich  auf  ihre  eigenen  Accidenzen 
bezieht,  wodurch  sie  als  diese  Substanz  von  andern  Substanzen  unter- 
schieden   wird.     Davon    weiß    freilich    die    bloße    Kategorie   der   Substanz 


K.  Chr.  Fr.  Krause:  Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie.  IS^- 

nichts^  aber  die  Kategorie  ist  auch  keine  Substanz,  und  ein  Spiel  mit 
leeren  Begriffen  ist  kein  Erkennen.  „Wenn  ich  sage:  ich  ändere  tnich,  so 
bedeutet  das  erste  Ich  mich  selbst  ganz  und  gar,  aber  das  Mich  ist 
nicht  das  ganze  Ich,  sondern  dies  ist  nur  das  Ich,  sofern  es  allaugen- 
blicklich ein  vollendet  Bestimmtes  ist."  Was  bedeutet  denn  wohl  der 
Ausdruck  gmiz  tuid  gar?  Vermutlich  ein  Ganzes,  von  welchem  der  ver- 
änderliche Teil  kein  Teil  ist!  Schwerlich  hätte  ein  Gegner  des  Verfs.. 
ihm  stärker  widersprechen  können,  als  er  hier  unwillkürlich  sich  selbst 
widerspricht.  —  Bloß  historisch,  und  um  zu  zeigen,  daß  solche  Lehren 
über  das  Wechselnde  und  Beständige  bei  dreisten  Theosophen  nicht 
ohne  Anwendung  bleiben,  wollen  wir  hier  aus  dem  zweiten  Teile  des 
Buchs  (S.  489)  den  Satz  anführen:  „Wesens  Selbstinnesein,  sofern  selbiges 
auf  das  Leben,  es  umfassend,  sich  bezieht,  ist  in  jedem  Zeit -Nun  ein 
eigenleblich  anderes;  und  bleibt  dabei  doch,  seiner  ganzen  Wesenheit 
nach,  unveränderlich  dasselbe.  Da  das  Leben  selbst  stetig  wird^  so 
wird  auch  das  Selbstinnesein  Gottes,  sofern  es  sich  auf  das  werdende 
Leben  bezieht,  stetig."  Hierbei  die  Note:  „Viele  Philosophen  meinen, 
es  seie  mit  der  Unbedingtheit  und  der  Unendlichkeit  Gottes  unvereinbar,. 
Gottes  Selbstinnesein  auch  als  ein  in  sich  Unendlich-  Werdendes  zu  denken. 
Sie  bemerken  nicht,  daß  Unbedingtheit  samt  der  innem  Bedingtheit, 
daß  Unendlichkeit  samt  der  innem  volhvesentlichen  Endlichkeit,  daß  die 
Unveränderlichkeit  samt  der  innem  gliedlebigen  Änderlichkeit,  alles  nur 
Teilvvesenheiten  Wesens  sind,  welche  insgesamt  in  der  Einen,  selben  Voll- 
wesenheit enthalten  sind."  Wenn  sie  das  noch  nicht  bemerken,  nachdem 
es  ihnen  der  Spinozismus  schon  längst  so  nahe  gelegt  hat,  so  werden  sie 
es  wohl  niemals  bemerken.  Aber  bedenklich  dürfte  es  doch  wohl  sein, 
solche  Lehrsätze  anzunehmen,  während  die  ersten  Fundamentalbegriffe 
noch  in  Untersuchung  schweben;  und  der  religiöse  Glaube,  falls  er  wirk- 
lich daran  gebunden  wäre,  stets  neuen  Erschütterungen  ausgesetzt  sein 
würde.  Sollte  übrigens  jemand  dem  Verf  mit  der  Erinnerung  entgegen- 
treten, das  Werden  unterliege  der  Zeit,  nun  sei  aber  die  Zeit  eine  bloße 
Form  der  Anschauung,  folglich  gehöre  alles,  was  wird,  ins  Gebiet  der 
bloßen  Erscheinung ;  so  ist  Hr.  Kr.  hiergegen  im  voraus  gerüstet.  Er 
hat  eine  besondere  Note  gegen  Kants  transzendentalen  Idealismus  in 
Bereitschaft,  welche  von  denjenigen,  die  alles  durch  Selbstbeobachtung 
entscheiden  wollen,  mag  erwogen  werden.  Er  sagt,  die  Behauptung  der 
leeren,  erst  durch  die  Sinnesanschauungen  auszufüllenden.  Formen  des 
Raums  und  der  Zeit  überschreite  den  wahrgenommenen  Inhalt  und  Tat- 
bestand der  innern  Selbstbeobachtung;  welches  von  der  Zeit,  als  Form 
der  Änderung  auch  des  reingeistigen  Lebens,  daraus  ersichtlich  sei,  daß^ 
sie  sich  durchaus  nur  als  erfüllte  Form,  als  Form  an  ihrem  Gehalte,  im 
Geiste  zeige.  „Da  vvir  nun  finden,  daß  in  uns  selbst  die  Zeit  nicht  und 
nie  als  leer  da  ist,  sondern  stets  als  erfüllt,  tmd  da  dieses  sich  auch  also 
in  dem  ewigen  Begriffe  der  Zeit  zeigt ,  den  wir  in  unserem  eigenen  Innern, 
als  Geist ^  realisiert  finden;  so  müssen  wir,  ganz  aus  denselben  Gründen, 
auch  äußern,  als  veränderlich  wahrgenommenen  Gegenständen  die  Zeit  als 
ihre  eigene  Form,  die  sie  an  sich  selbst  haben,  zuerkennen;  mit  welcher 
Anerkenntnis  der  transzendentale  Idealismus  in  Kants  Sinne  dahin  fällt.-' 


jcA  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Rez.  ist  zwar  weit  entfernt,  metaphysische  Fragen  durch  Selbstbeobachtung 
entscheiden  zu  wollen ;  aber  zu  was  für  Schlüssen  ein  solches  Verfahren, 
wenn  es  einmal  zugelassen  wird,  veranlassen  kann,  das  möchte  in  digsem 
Beispiele  ziemlich  deutlich  zu  erkennen  sein.  Auf  das  Äußere  sollen 
innere  Formen  übertragen  werden;  die  Beschaffenheit  dieser  innern  Formen 
wird  im  Bewußtsein  beobachtet;  kein  Wunder,  wenn  das  Äußere  sich 
den  Resultaten  solcher  Beobachtung  unterwerfen  muß.  Freilich  wird  nun 
weiter  gefragt  werden,  ob  denn  die  Beobachtung  richtig  ist.  Aber  als- 
dann gerade  kommt  das  Übel  zum  Vorscheine,  daß  Beobachtungen  des 
Innern  ewig  im  Streite  bleiben;  und  was  eine  Partei  in  sich  zu  finden 
zuversichtlich  beteuert,  von  der  andern  ebenso  zuversichtlich  geleugnet 
wird.  Gegen  den  Verf.  wollen  wir  indessen  hier  wenigstens  die  ganz 
leichte  Bemerkung  hinzusetzen,  daß  niemand  die  Intensität  der  innern 
Zeiterfüllung  für  gleichförmig  halten  wird,  daher  schon  deshalb  der  Be- 
griff der  Zeit  an  diese  Erfüllung  nicht  kann  gebunden  werden.  Doch 
genug  hiervon. 

Wir  sind  dem  Verf.  nun  weit  genug  gefolgt,  um  seine  Manier  zu 
kennen.  Mit  den  Gewöhnungen  des  Idealisten  verbindet  er  die  An- 
sprüche des  Theosophen;  fragt  man  aber  nach  seinen  spekulativen  Hilfs- 
mitteln, so  hat  er  —  keine;  sondern  statt  deren  dient  ihm  die  empirische 
Psychologie.  Wo  ein  so  großer  Geist,  wie  Kant,  sich  beschränkte;  wo 
ein  feuriger  Mann,  wie  Fichte,  durch  gewagte,  aber  doch  neue  An- 
strengungen den  Kreis  der  merkwürdigen  Versuche  erweiterte;  wo  der 
umfassende  Geist  Schellings  die  ganze  Natur  durchmusterte:  da  zieht 
unser  Verf.  erst  alle  metaphysische  Begriffe,  ohne  weitere  Kritik,  ins  Ich 
hinein,  an  dessen  kritische  Beleuchtung  er  ebensowenig  denkt  als  seine 
Vorgänger;  und  statt  nun  die  wieder  herausgeholten  Begriffe,  wenn  ja  dies 
Hin-  und  Hertragen  irgend  einen  Gewinn  hätte  bringen  können,  fürs 
erste  an  der  uns  zugänglichen  Naturkenntnis  zu  versuchen,  um  sich  der 
Berichtigung  durch  die  Erfahrung  darzubieten,  steigt  er  in  gerader  Linie 
^&Ci  Himmel,  wo  er  freilich  sicher  ist,  daß  wir  andern  Sterblichen  ihn 
nicht  erreichen  können.  Uns  interessiert  demnach  lediglich  die  Bewegung, 
die  er  macht,  um  sich  in  die  Höhe  zu  heben;  diese  aber  interessiert  uns 
allerdings,  und  zwar  deshalb,  weil  es  manche  gibt,  die  es  gern  eben  so 
machen  möchten,  wie  er,  indem  sie  stolz  genug  sind,  zu  meinen,  der 
natürliche,  einfache  religiöse  Glaube,  dessen  jedermann  bedarf,  der  sich 
in  allen  wohlgesinnten  Gemütern  von  selbst  findet,  den  Natur  und  Schrift 
und  Kirche  unterstützen,  dieser  genüge  ihnen  nicht!  Zur  Erleichterung 
fassen  wir  zuvörderst  den  ersten  Teil  des  Buchs  übersichtlich  zusammen. 
Die  Selbstschauung  des  Ich  fällt  in  den  ersten  Abschnitt;  das  Verhältnis 
des  Ich  und  der  Welt  zu  Gott  zu  erkennen,  ist  die  Aufgabe  des  zweiten; 
beide  zusammen  bilden  die  Grundlage  zur  analytischen  Erkenntnislehre 
und  Wissenschaftslehre,  und  dem  Entwürfe  des  ganzen  Wissenschaftbaues; 
wiederum  mit  zwei  Abschnitten,  deren  erster  die  analytische  Methoden- 
lehre, der  zweite  den  Grundriß  des  Wissenschaftgliedbaues  enthalten  soll. 
Dies  zusammen  ist  das  Fundament;  damit  alsdann  im  zweiten  Teile  die 
absolut-organische  Wissenschaft  selbst  hervortreten  könne,  welche  besteht 
in  der  Anschauung  Gottes,  dergestalt,    daß   angeschaut  werde,    was    Gott 


K.  Chr.  Fr.  Krause:  Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie.  155 


an  sich,  was  er  in  sich  ist,  daß  ferner  beide  Anschauungen  sich  verbinden 
zur  „Vereinschauung  dessen,   was    Wesen   aii  und  in    sich  ist;"    und  daß 
endlich  noch  eine  vierte  Teilwesenschauung   hinzukomme,  mit  der  Über- 
schrift:   ,,Wesen   als   Wesengliedbau   seiendes    Wesen  in  seiner  Bestimmt- 
heit, zugleich  auch  Wesen    in    Bezugheit    zu    sich  selbst    als    Wesengliedbmi 
seiendem    Wesen."     Da    wir  aus  diesem    zweiten   Hauptteile   nur   ganz  kurz 
referieren  wollen,    so  kann  dies  füglich    gleich   hier  geschehen;    man    wird 
desto  deutlicher  sehen,    wohin  der  Verf.  will.     Es    wird    darin  behauptet: 
nur    der    wissenschaftliche    Mensch,    nur    der    Philosoph,    sei    des    reinen 
Theismus   fähig    und    teilhaftig.      Hiermit    stellen    wir    einige  Urteile  über 
andere  Philosophen  zusammen.    Von  Jacobi  heißt  es  S.  222:   „Er  wähnte, 
daß  der  Gottwissende  sich  über  Gott  erhübe,  oder  im  Wissen  Gott  unter 
sich  brächte;  in  dieser  Aussage  sieht  der  Wesenschauende  das  reine  und 
ganze   Bekenntnis,    daß    der   Aussagende   Gott   erst   dunkel   ahnet."      Von 
Kant   S.  375:    „Ich    sage,    er    konnte   nicht    zur   wissenschaftlichen    An- 
erkenntnis Gottes  gelangen;    ich  sage  aber  nicht,    er  habe  ihn  überhaupt 
nicht  anerkannt,  denn  anerkannt  hat  er  ihn  in  Vernunftahnung  von  selten 
der  sittlichen  Freiheit."    Bei  der  Gelegenheit  meint  der  Verf.,  Kant  habe 
„nicht  bemerkt,  daß  das  Sein  schon    mitgedacht   sei   an   der  Wesenheit;'' 
ein  Punkt,    worüber  wir  mit  ihm  streiten    würden,   wenn    wir  nicht  schon 
Proben  genug  gehabt  hätten,  daß  er  von  den  eigentlichen  Schwierigkeiten 
der    Metaphysik    wenig    oder    nichts    kennt.     Er,    der  „alle    Endheit   und 
Bestimmtheit    nicht    an    und    um   Gott,    sondern    nur  in   Gott"  mit  dürren 
Worten  hineinsetzt,  will  es  dennoch  Hegel   verdenken  (S.  392),    daß   er 
behauptet,   Gott  sei  sich  ein  anderes,    und  als  solches  nur  die  Natur;  — 
diesem  Satze  widersprechend,  sagt  der  Verf.  (den  Ausdruck   abstumpfend, 
aber    die    Sache    nicht    ändernd),    „Wesen    sei   sich   selbst   gar   nicht   ein 
anderes,    wohl    aber    werde    erkannt:    daß    Wesen    in   sich    und    unter  sich 
zwei    Wesen    ist ,    welche  gegeneinander   gegenheitlich   sind."      Und    damit  ja 
niemand    meine,  hier  sei  etwas  Neues    zu  finden,    so  kommt  sogleich  an 
diesem    Orte    das    alte    Spinozistische    quatemis    wieder    zum    Vorscheine. 
„Die    Verneinung    oder    Verneintheit,    welche    die    beiden   innern    Gegen- 
wesen an  sich  sind  oder  haben,  ist  nur  Verneintheit  für  sie  wechselseits ; 
in   Ansehimg    Gottes    aber    wird    dadurch    nichts   verneint,    denn   dasjenige, 
was    das    erstere    der    beiden    Gegenwesen    nicht   ist,    das    ist    dafür   das 
andere;    aber    sowohl    das    eine,    als    auch    das    andere    ist   in  und  iinter 
Wesen;  fiir  Wesen  also  selbst  ist  alles  beides  bejahig."    Wer  eine  solche 
Lehre  annehmen   mag   und    kann,    der   hat   schon   längst   nicht   auf   Hrn. 
Kr.    gewartet;    sie    ist    genug    gepredigt    worden,    und    sie  wird    so   lange 
gelten,  bis  man  sehen  wird,  in    welchem  Grade   sie  selbst   ihre  Anhänger 
veruneinigen  muß,    die  den  Widerspruch  hin-  und  herschieben,    statt  ihn 
aufzulösen,  nachdem  sie  ihn  mit    aller  Dreistigkeit  in    das  höchste  Wesen 
hineingetragen    haben,    statt  ihn    wenigstens    da    zu  lassen,    wo    er    liegt, 
nämlich  in  den  Formen  der  gemeinsten  Erfahrung.     Hier  beunruhigt  er  uns 
genug;    es  ist  nicht  nötig,    die   Ahnung  des  Höchsten  und  Heiligsten  da- 
durch zu  stören    und    zu    trüben;    wir    mögen    uns  freuen,    wenn    wir  be- 
greifen,  der  Fehler  könne  nicht    in   der  Natur  der  Dinge  liegen,    sondern 
nur  in  unserer  Auffassung.    Übrigens  werden  ietzt  folgende  Lehrsätze  des 


ic6  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Verf.  nicht  mehr  befremden:  „Wesen  ist  Gegenwesen  und  Vereinwesen; 
die  Wesenheit  ist  zu  betrachten  nach  der  Gegenheit  und  Vereinheit,  da- 
hin gehören:  der  Gliedbau  der  Wesenheit,  Formheit,  Jäheit,  Neinheit, 
Bewegheit,  Grenzheit ,  Vereinfaßheit,  Daseinheit  u.  dergl.  m.  Wesen  ist 
sich  inne  des  Gliedbaues  der  Wesenheiten."  Weiterhin  wird  geredet  von 
der  Vollständigkeit  des  in  der  Wesenschauung  abgeleiteten,  teilwesen- 
geschauten  Gliedbaues  der  Wesenheiten ;  derselbe  ist  wiederum  sich  selbst 
nach  jedem  seiner  Teile  ähnlich;  es  gibt  eine  Wechselbestimmtheit  der 
endlichen  Wesen  nach  der  Gegenähnlichkeit.  (Schellingsche  Reminiscenz !) 
Alle  oberste  Wesen  in  Wesen  sind  unendlich,  aber  bestimmbar  und  be- 
grenzbar usw. 

Zwei  kritische  Fragen  werden  nach  der  vorstehenden  Übersicht  einem 
jeden  einfallen;  die  eine:  passen  wirklich  die  dogmatischen  Sätze  des 
Verfs.  zur  Gesinnung  der  religiösen  Demut,  wie  sie  unter  den  Schicksalen 
des  wechselnden  Lebens  dem  sich  schwach  fühlenden  Menschen  Bedürf- 
nis ist?  Die  zweite:  wenn  sie  passen,  und  mit  der  echten,  längst  in 
edeln  Menschen  vorhanden  gewesenen,  durch  kein  System  erst  zu  erzeugenden^ 
sondern  nur  deutlich  auszusprechenden,  höchstens  etwas  näher  zu  be- 
stimmenden Religiosität  richtig  zusammentreffen,  ist  denn  der  spekulative 
Unterbau,  weichen  der  Verf.  dazu  darbietet,  so  beschaffen,  daß  er  wirk- 
lich etwas  tragen,  stützen,  befestigen  könne?  Oder  sinkt  vielmehr  diese 
Spekulation  bei  genauer  Prüfung  dergestalt  in  sich  selbst  zusammen,  daß 
man,  weit  entfernt,  ihr  etwas  Kostbares  anzuvertrauen,  sich  vielmehr  in 
acht  nehmen  muß,  sie  mit  höchst  wichtigen  Glaubenswahrheiten  in  Ver- 
bindung zu  bringen,  damit  sie  dieselben  nicht  in  die  Gefahren,  wogegen 
sie  sich  nicht  schützen  kann,  mit  hineinziehe  ?  Wir  können  nicht  umhin, 
diese  Fragen  zu  berühren;  allein  man  wolle  hierbei  erstüch  die  unver- 
meidliche Unvollständigkeit  einer  bloßen  Rezension,  die  ja  nicht  einmal 
eine  zulängliche  Relation  enthalten  kann,  vor  Augen  haben,  und  andrer- 
seits sind  wir  es  dem  Verf.  schuldig,  anzuerkennen,  daß,  wenn  er  geirrt 
hat,  seine  Irrtümer  im  Geiste  der  Zeit  liegen;  und  daß  sein  Buch  eine 
sehr  achtungswerte  Persönlichkeit  bezeichnet,  welcher  wir  um  so  weniger 
zu  nahe  treten  dürfen,  da  die  ganze  Arbeit  in  ihrer  Art  reif,  ein  würde- 
voller Vortrag  überall  festgehalten,  mannigfaltige  Gelehrsamkeit  vielfach  darin 
sichtbar,  und  der  Gegenstand  unserer  Kritik  lediglich  in  den  vorgetragenen 
Lehrmeinungen  zu  suchen  ist.  Von  den  beiden  angegebenen  kritischen 
Fragen  aber  wollen  wir  die  erste  zur  Seite  lassen;  jetzt  zunächst  sei  das 
wissenschaftliche  Verfahren  des  Verfs.  unser  Gegenstand ;  wir  müssen  zur 
Probe  davon  noch  einige  Grundzüge  hervorheben  und  beleuchten;  denn 
offenbar  ist  die  absichtlich  erwählte  Methode  von  der  unwillkürlich 
angewöhnten  Manier  (die  wir  schon  oben  andeuteten)  noch  zu  unter- 
scheiden, wenngleich  daraus  entstanden.  Der  wichtigste  Zug  jeder 
spekulativen  Methode  aber  ist  die  Art,  wie  die  Untersuchung  fortzu- 
schreiten und  sich  zu  erweitern  sucht;  Kants  Synthesis  a  priori,  oder 
was  deren  Stelle  vertreten  soll.  Hierüber  nun  glauben  wir  mit  des  Verfs. 
eigener  Zustimmung  vorzugsweise  folgende  Stelle  anführen  zu  können 
(S.  324): 

„Das  Weiterbestimmen  oder  Determinieren  ist  gerade  diejenige  Ver- 


K.  Chr.  Fr.  Krause:  Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie.  \  ^-j 


richtung,    wodurch   alles    unser    Denken  erweitert  wird,   fortschreitet,  und 
sich  zu  einem    Gliedbau    der    Erkenntnis    vollendet.      Das    Schaubestimmen 
also  ist  das    progressive    Prinzip,    oder   auch    das    formative  Element  alles 
Erkennens   und    der   Wissenschaftbildung   insbesondere.      Seine    drei   Teil- 
funktionen sind  :  Deduktion,  Intuition,  Konstruktion.    Deduktion  ist  Schauung 
eines    Gegenstandes   gemäß    den   Kategorien,    welche    anerkannt    sind    als 
Denkgesetze.    Diese  Funktion  ist  erst  dann  ganz  und  vollwesentlich,  wenn 
die  göttlichen  Grundwesenheiten,  als  an  und  in  der  Wesenschauung  ent- 
halten,   selbst   synthetisch    abgeleitet    sind.'-'      (Der  Kantianer   wird    dieses 
Wenn    für    eine    unmögliche    Bedingung    erklären;    Rez.  fügt    hinzu,    daß 
Kategorien  erst  selbst  kritisch  beleuchtet,  und  in  ihrer  wahren  Bedeutung 
begrenzt  werden  müssen,  ehe    sie  anerkannt    werden  können.)     „Der  all- 
gemeine Grund  der  Möglichkeit  dieser  grundwesentlichen  Erkenntnis  eines 
jeden  Gegenstandes  ist:  daß  alles,  was  Wesen  in  sich  ist,  an  der  Wesen- 
heit Wesens  teil  hat,   ihm  im    Endlichen   ähnlich  ist.''    (Das   gerade  ist   der 
bekannte  Stein  des  Anstoßes;  denn  so  müßte  die  Ähnlichkeit  auch  rück- 
wärts stattfinden,    und    wie  man    sich  auch    drehen   und  wenden  mag,    — 
das  Gemeine  käme  vermöge  dieser  unglücklichen  Ähnlichkeit  in  das  Höchste 
hinein;  das  Unheilige  ins  Heiligste.)    ., Selbst  aber  bevor  noch  die  Wesen- 
schauung erfaßt  ist,  verfährt  schon  das   teilwissenschaftliche,  ja   sogar  das 
vorwissenschaftliche  Bewußtsein  deduzierend  und  alles  nach  den  Kategorien 
bestimmend."     (Darum  machte  sich's  der  Verf.  in  seinem  ersten  Teile  so 
leicht.      In    der   nahen   Zusammenstellung    dessen,    was   er   das  teilwissen- 
schaftliche   Denken    nennt,    mit    dem  vor  wissenschaftlichen,    liegt   der  Ur- 
sprung seiner  spekulativen  Fehlgriffe;  jenes  muß  ganz  anders  ausgearbeitet 
werden,  als  dieses.)     „Denn  welcher   Gegenstand  auch   im   gemeinen  Be- 
wußtsein vorkomme,  so  wendet  der  Geist  doch  unwillkürlich  die  obersten 
Grundwesenheiten,  wenn  auch  nur  als  Gemeinbegriffe,  auf  diesen  Gegen- 
stand an."      (Hätte    es    wirklich,    psychologisch   genommen,    mit  dem   vor- 
geblichen   Anwenden    seine    volle    Richtigkeit;    so    dürfte    es    doch,    meta- 
physisch betrachtet,    bei    dem    Unwillkürlichen  nicht    bleiben,    sondern  die 
genauere   Nachforschung  müßte  hier  eingreifen.)    „Gewöhnlich  denkt  man 
bei  dem  Namen   Deduktion  nur  an  das  Verhältnis  von  Grund  und  Folge ; 
das  aber  ist  nicht  genug.     Man  kann  eigentlich  nicht  sagen,  daß  bei  der 
Deduktion  etwas  aus   dem  Prinzipe  bewiesen  wird,  wenn    man    dabei  an: 
außer  denkt;  sondern  man  sagt  besser,    es  werde   etwas  bewiesen  ///  dem 
Prinzipe,  durch  das   Prinzip.'' 

Hier  müssen  wir  etwas  länger  verweilen;  denn  an  diesem  Punkte 
zeigt  sich  gerade  recht  deutlich  der  Schaden,  weichen  die  Lehre  von  der 
Immanenz  in  Einem  Prinzipe  der  Spekulation  zufügt.  Nichts  ist  bequemer, 
als  dadurch  der  faulen  Vernunft  einen  Thron  zu  erbauen,  daß  man,  um 
den  Schwierigkeiten  der  Synthesis  a  priori  zu  entschlüpfen,  sich  auf  ein 
bloß  analytisches  Denken  beschränkt.  Ein  solches  kommt  allerdings  nicht 
von  der  Stelle,  es  geht  nicht  heraus,  sondern  beweist  innerhalb  des  Prinzips. 
Darum  kommt  der  Verf.,  wie  gleich  ihm  so  viele  andere,  niemals  heraus 
und  hinweg  über  die  Begriffe,  die  jedermann  kennt.  Darum  dreht  sich 
das  heutige  Philosophieren  im  Kreise;  und  wo  es  diesen  zu  erweitern 
wünscht,  wendet  es  sich  an  Erfahrung  und  Geschichte,   an  ältere  Systeme, 


I  cj)  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


an  empirische  Naturlehre.  Darum  klagt  das  Publikum,  aus  allem  Philo- 
sophieren lerne  man  gar  wenig;  man  bleibe  so  klug  als  man  war.  Doch 
der  Verf.  soll  uns  nicht  umsonst  mit  folgendem  Beispiele  versorgt  haben: 
„Der  Gegenstand  sei  der  Raum;  die  Deduktion  desselben  wird  so  ge- 
leistet :  da  der  Raum  eine  Form  ist,  so  müßte  erst  das  Wesen  deduziert 
werden ,  dessen  Form  er  ist ;  dieses  ist  die  Materie  oder  der  Stoff  (als 
ob  beides  einerlei  wäre!),  das  ist  die  Natur,  sofern  sie  das  Bleibende  ist 
(wozu  so  viele  Worte,  wenn  das  alles  einerlei  ist?);  demnach  müßte  erst 
die  Natur  deduziert  sein  (früher,  als  der  Stoff?),  d.  h.  es  müßte  gezeigt 
sein,  welches  die  Wesenheit  der  Natur  ist,  sofern  die  Natur  in  ihrem 
Höhern  erkannt  und  bestimmt  wird  (wäre  es  doch  erkannt!);  es  müßte 
also  erkannt  sein  die  reine,  nicht  sinnliche  Idee  der  Natur,  als  Teilidee 
in  der  Wesenschauung  (vielmehr:  es  müßte  bewiesen  werden,  daß  a priori 
die  Idee  vorhanden,  und  nicht  aus  der  Erfahrung  in  jenes  allgemeine 
Gefäß,  genannt  Wesenschauung,  erst  hineingetragen  sei);  es  müßte  also 
erschaut  sein,  daß  Wesen  in  sich  auch  die  Natur  ist.  Wenn  also  erkannt 
wäre,  daß  —  die  Natur  ein  Bleibendes  ist,  als  welches  sie  die  Materie  ist 
(also  die  bleibenden  Pflanzen-  und  Tierformen,  die  festen  Unterschiede 
der  Tiergeschlechter,  dieser  Typus  der  Natur,  welcher  beharrt  im  Ganzen 
wie  im  Einzelnen,  während  die  Materie  assimiliert  und  ausgeschieden  wird, 
—  dieses  Bleibende  ist  auch  Materie!),  dann  ferner,  daß  die  Natur,  wie 
alles,  eine  bestimmte  Form  hat  (die  Natur  im  Ganzen  hätte  eine  be- 
stimmte Form?  also  die  Fixsterne  bewegen  sich  nicht,  sie  stehen  wirklich 
fest,  trotz  den  Entdeckungen  der  Astronomen!);  und  wenn  weiter  auch 
gezeigt  wäre,  daß  diese  Form,  wie  ihr  Gehalt,  unendlich,  stetig,  immer 
weiter  bestimmbar  sein  müsse:  so  hätte  man  —  die  reine  Idee  des  Raums!" 
Wehe  uns,  wenn  der  Raum  durch  solche  und  so  viele  Fehlgriffe  müßte 
gefunden  werden;  wenn  das  Kind,  und  der  Hund,  und  das  Pferd,  und 
die  Biene,  welche  oft  besser,  als  der  Mensch  im  Räume  orientiert  sind, 
auf  solche  Deduktionen  warten  sollten!  Wehe  uns,  wenn  die  vielen,  zum 
deutlichen  Denken  höchst  notwendigen  Analoga  des  Raums,  worauf  alle 
Ordnung  unserer  Gedanken  beruht  (von  denen  wir  anderwärts  ausführlich 
geredet  haben),  nicht  unendlich  viel  leichter  zu  stände  kämen,  als  durch 
eine  so  holprichte  Ableitung  aus  einem  leeren,  empirischen,  durch  Schleich- 
wege auf  einen  höhern  Punkt  hingestellten  Begriff  der  Natur!  —  Der  Raum 
ist  zu  bescheiden,  um  schlechthin  die  Form  der  Natur  sein  zu  wollen;  denn 
sie  hat  ganz  unräumliche  Formen,  wodurch  sie  sich  erst  mittelbar  ihre  Räum- 
lichkeit zu  bestimmen,  oder  dieselbe  wenigstens  abzuändern  pflegt.  Das  verrät 
sich  allemal  da,  wo  aus  bloßen  Raurabegriffen ,  etwa  aus  Kräften,  deren 
Grundbegriffe  sich  auf  den  Raum  beziehen,  die  Natur  soll  konstruiert  werden. 
Leere  Begriffe  von  der  Materie,  als  der  räumlichen,  anziehenden,  ab- 
stoßenden Substanz,  kann  man  auf  die  Weise  erzeugen,  aber  daraus  ist 
noch  niemals  ein  starrer,  tropfbarer,  ausdehnsamer  Körper,  wie  sie  aus 
der  Erfahrung  bekannt  sind,  - —  am  wenigsten  ein  organisch  lebender 
Körper  begriffen  worden.  Der  Raum  ist  das  Bekannteste  und  Einfachste, 
die  Natur  ist  das  Geheimnisvollste;  und  es  ziemt  sich  nicht,  das  Einfache, 
was  vor  den  Füßen  liegt,  aus  dem  Unerreichbaren  deduzieren  zu  wollen. 
Aber   anders   stellt    sich   die    Sache,    wenn    man    psychologisch    die    Vor- 


K.  Chr.  Fr.  Krause:  Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie.  j^g 


Stellungen  des  räumlich  Gestalteten  erklären,  —  und  noch  ganz  anders, 
wenn  man  metaphysisch  die  'R.dMra.begriffe  zur  Auffassung  der  Materie  vor- 
bereiten soll,  dazu  gehört  etwas  mehr  als  bloß  analytisches  Denken.  Hier- 
von absehend,  erinnern  wir  an  Kant,  welcher  sagte:  damit  gewisse 
Empfindungen  auf  etwas  außer  mir  bezogen  werden,  dazu  muß  die  Vor- 
stellung des  Raums  schon  zum  Grunde  liegen.  Das  war  wenigstens  be- 
lehrender, als  von  der  Anschauung  des  höchsten  Wesens  beginnend,  die 
Natur  als  bekannt  voraussetzend,  nun  noch  die  Anweisung  zu  geben,  man 
möge  von  der  Natur  den  Raum  entnehmen.  Beim  Verf.  folgt  aber  nun 
gar  die  Intuition  auf  die  Deduktion,  selbst  beim  Räume.  „Mit  der 
deduktiven  Idee  ist  gar  nicht  die  Anschauung  des  Raums  bereits  mit- 
gegeben, sondern  der  Raum  wäre  ntir  erst  erkannt  nach  seiner  Wesenheit 
in  Wesen  als  innere,  untergeordnete  Teilwesenheit  in  der  Wesenheit  Wesens, 
und  diese  Schauung  des  Raums  wäre  nur  erst  als  eine  Teilschauung  in  der 
Wesenschauung  erkannt.  Der  Geometer  wird  sich  ohne  alle  Deduktion  be- 
wußt, daß  der  Raum  unendlich  ist,  daß  er  stetig  weiter  begrenzbar  ist"  usw. 
Über  diese  bekanntlich  rätselvolle,  und  in  ihren  Anwendungen  auf  die  Natur- 
lehre vielfach  bestrittene  Stetigkeit  hat  der  Verf.  in  diesen  Vorlesungen  über 
die  Philosophie,  soviel  wir  bemerkten,  weiter  nichts  zu  sagen;  er  nimmt  die 
Begriffe,  wie  er  sie  findet,  und  ist  zufrieden,  sie  der  Wesenschauung  ein- 
zuordnen. Darum,  weil  es  ihm  an  aller  eigentlichen  Spekulation  gebricht, 
wird  ihm  alles  überaus  leicht.  Er  fordert  ohne  Umstände :  ,,Der  Raum 
ist  an  sich  selbst  unmittelbar  zu  schauen;  das  Licht  muß  unmittelbar  ge- 
schaut werden,  wie  es  ist"  (mögen  doch  die  Naturforscher  den  Verf. 
fragen,  wie  das  Licht  beschaffen  ist;  hätte  Frauenhofer  das  getan,  so 
wäre  die  Mühe  erspart  worden,  die  Linien  jedes  Farbenspektrums  zu  er- 
kennen); „die  Natur  muß  unmittelbar  geschaut  werden  in  ihrer  indivi- 
duellen Erscheinung"  (möchte  doch  der  Verf.  uns  vorläufig  nur  einmal 
die  Oberfläche  der  Sonne  erschauen!);  „außerdem  würde  die  Deduktion 
davon  zwar  gewiß  sein,  aber  nicht  die  Anschauung  gewähren"  (eine  solche 
Deduktion,  wenn  sie  nur  gewiß  wäre,  möchten  wir  in  Ansehung  der  so 
geheimnisvollen  Sonnenflecken  uns  in  Ermangelung  der  Anschauung  wohl 
gefallen  lassen).  Es  entspringt  nun  die  dritte  Forderung,  das  Deduzierte 
mit  demjenigen  vereinzuschauen,  was  intuiert  wird.  „Wenn  in  Wesen  ge- 
schaut, deduziert  wäre,  daß  die  oberste  Tätigkeit  der  Natur  durch  alle 
Prozesse  hindurchwirkend  dieselbe  sei,  und  wenn  von  der  andern  Seite 
das  Licht  intuiert  wäre,  als  diejenige  Naturkraft,  welche  sich  als  die  all- 
gemeinste erweist ;  so  wäre  hiermit  noch  nicht  erwiesen,  daß  jene  deduzierte 
höchste  Naturkraft,  worin  die  Natur  als  ganze  wirkt,  eben  das  Licht  sei, 
welches  uns  in  unmittelbarer  Intuition  einleuchtet."  (Was  der  Verf.  hier 
eigentlich  sagen  will,  schimmert  durch  die  einzelnen  Verkehrtheiten  frei- 
lich hindurch ;  es  ist  kurz  dies,  daß  die  Naturphilosophie  einen  synthetischen 
und  einen  analytischen  Teil  haben  muß,  und  daß  ihr  Wert  nicht  größer 
ist,  als  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  beide  richtig  zusammentreffen.  Aber 
was  weiß  Kr.  Kr.  von  Wahrscheinlichkeit?  Bei  ihm  ist  alles  gewiß,  denn 
er  ist  in  der  Wesenschauung.  Darum  fährt  er  fort:)  „Da  mithin  die 
Deduktion  mit  der  Intuition  zusammengebildet,  konstruiert  werden  muß, 
um   die    Erkenntnis    zu   vollenden;    so   ist   die  Schauvereinbildung   als  die 


l6o  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


dritte  Teilverrichtung  der  Schaubestimmung  grundwesentlich!"  —  Indessen 
der  Verf.  ist  wenigstens  persönlich  bescheiden;  er  will  nicht  sich,  —  aber 
■doch  der  die  Wissenschaft  bildenden  endlichen  Vernunft  anmaßen,  die 
Grundgesetze  der  Naturverhältnisse  zu  erforschen.  Freilich,  Erfahrung, 
Beobachtung,  Rechnung,  Werkzeuge,  gehören  mit  zu  jener,  die  Wissen- 
schaft bildenden  Vernunft;  aber  diese  gemeinsame  Vernunft  aller  Natur- 
forscher und  Denker  ist  neuerlich  auf  die  heilloseste  Weise  mit  sich  selbst 
entzweit  worden,  indem  die  Rodomontaden  der  sogenannten  Naturphilo- 
sophen es  dahin  gebracht  haben,  daß  Mathematiker  und  Physiker  alle 
Gemeinschaft  mit  ihnen  fliehen.  Das  ist  eine  leidige  Tatsache;  und  den- 
jenigen, welche  daran  schuld  sind,  hätte  längst  das  Gewissen  erwachen 
sollen.  Ein  aufrichtiges  Bedauern  wandelt  den  Rez.  an,  einen  so  wohl- 
denkenden Mann,  wie  der  Verf.  oflfenbar  ist,  so  ganz  in  jenen  Spinnen- 
geweben verwickelt  und  verhüllt  zu  sehen.  Mit  allgemeiner  Bezeichnung 
seiner  Methode  können  wir  uns  nicht  länger  aufhalten;  da  die  Haupt- 
tendenz seines  Buchs  auf  Theologie  gerichtet  ist,  so  müssen  wir  in  der- 
jenigen Gegend  seiner  Arbeit,  wo  er  dazu  den  Grund  legt,  jetzt  uns 
genauer  umsehen. 

Aus  unserm  bisherigen   Berichte  wird  erhellen,  daß  ihm  alles  darauf 
ankommen  muß,  die  gegebene  Grundschauung  des  Ich  mit  der  gesuchten 
Wesenschauung   in   zulängliche    Verbindung   zu    setzen.     Denn  die  Wahr- 
heitsliebe des  Verfs.   scheint  es    ihm    bedenklich  gemacht   zu  haben,  eine 
absolute  Idee,  welche  zwar  von   einigen  behauptet  wird,  andern  aber  nicht 
einleuchtet,  als  etwas  über  allen  Zweifel  Erhabenes  geradezu  an  die  Spitze 
zu  stellen ;    den   Unterschied   zwischen   Wissen    und  Glauben  will  er  aber 
auch   nicht    zulassen;    seine    harten    Urteile  über   Kant    und  Jacobi,    die 
wir  schon  anführten,  sprechen  darüber  deutlich   genug.     Das    Mißliche  in 
dem    von    ihm    erwählten    Verfahren    ist    nun   zwar   fast   ebenso   groß    als 
jenes    Vermiedene;    denn    die   Anschauung   des    Ich   ist    allen    zugänglich, 
die  Selbsterkenntnis   ist   längst   gepredigt,    gesucht,    geübt,    von   allen  an- 
gesehenen Philosophen    mit   Anstrengung   hervorgehoben;    kann  sie  allein, 
ohne  künstliche  Spekulation,  ohne  Beihilfe    der  Naturlehre,  zum  höchsten 
Punkte    hinaufleiten,    wie    konnte    ein    so    leichter    Weg    jemals    verfehlt 
werden,   und  warum  ist  man   nicht   allgemein  darüber   einverstanden?   — 
Da   wir    schon  im    vorhergehenden   uns   darüber   erklärt   haben,    daß    die 
Ichheit    ein    äußerst    schweres    spekulatives    Problem    ist,    welches    Unter- 
suchungen herbeiführt,  die  sich  keinesweges  einem  jeden  von  selbst  dar- 
bieten; da  wir  zugleich  die  Unbehutsamkeit  des  Verfs.   in    diesem  Punkte 
schon  angedeutet  haben:    so  wollen   wir   ihm    hier  fürs   erste  nicht  weiter 
in  den   Weg  treten.      Er    hatte   am    Ich    die    Kategorien    aufgesucht ;   und 
schließt    nun  (S.   208)    folgendermaßen:     ,,Da    die   Grundanschauung  Ich, 
als  solche,  unbedingt  gewiß  ist;   so  ist  in  ihr  die  Befugnis  enthalten,  allen 
besondern  nichtsinnlichen  Gedanken,   worin  das    Ich  erkennt,    was  es  an 
sich  und  in  sich  ist,  Sachgültigkeit  beizumessen;    immer  unter  der  Form: 
so  wahr  ich  mich  weiß  als  Ich;    so  wahr  ich  die  Grundanschauung:   Ich, 
habe.     Alles   mithin,    was   weiter   in   Anschauung  des    Ich  Nichtsinnliches 
erkannt  wird,   zeigt  sich  als  enthalten  an  und  in  dieser  Teilwesenschauung: 
Ich.     Wie  aber  kommen  wir  dazu,  unsern   nichtsinnlichen  Gedanken  von 


K,  Chr.  Fr.  Krause:  Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie.  i5i 

Wesenheiten,  die  außer  dem  Ich  sind,  Gültigkeit  beizumessen?  Wie  ge- 
langen wir  zu  einem  allgemeinen  Kennzeichen  der  Wahrheit  in  Ansehung 
der  transzendenten  Gedanken?  Wir  dürfen  nicht  über  das  hinausgehen, 
was  wir  hierüber  in  uns  selbst  im  Geiste  wahrnehmen.  Das  Erkennen 
ist  ein  Verhältnis  der  wesentlichen  Vereinigung  des  Erkannten  als  Selbst- 
ständigen mit  dem  Erkennenden  als  Selbständigem.  Wenn  also  behauptet 
wird,  eine  nichtsinnliche  Erkenntnis  sei  wahr,  so  folgt,  das  Erkannte  sei 
mit  dem  Erkennenden  dergestalt  vereint,  daß  der  Gegenstand  wesenhaft 
gegenwärtig  sei  dem  Erkennenden.  Wir  sind  geztvungen ,  zu  denken  ein 
Wesentliches,  woran  oder  worin  die  Vereinigung  dessen,  was  außer  dem 
Ich,  und  das  Ich,  enthalten  ist;  welches  also  der  Grund  ist  dieser  unser 
Ich  überschreitenden  Gedanken.  Denn  da  das  Gedachte  in  diesem  Ge- 
danken Nicht- Ich  ist,  so  kann  also  das  Ich  nicht  als  Grund  dieser  Ver- 
einigung gedacht  werden,  indem  ein  Wesen  nur  Gnand  von  dem  ist.  was 
an  und  in  ihm  ist.  Ja  selbst  dann,  wenn  diese  nichtsinnlichen  Gedanken 
von  etwas  außer  dem  Ich  ganz  oder  teilweise  irrig  sein  sollten;  so  kann 
das  Ich  nicht  einmal  gedacht  werden  als  der  Grund  des  bloßen  Ge- 
dankens von  etwas  außer  ihm.  Zuhöchst  gilt  das  vorhergehende  von 
dem  Gedanken  des  unendlichen  Wesens,  welcher  gemäß  dem  Satze  des 
Grundes  nicht  anders  kann  gedacht  werden,  als  daß  er  verursacht  ist 
durch  seinen  Inhalt,  durch  das  Wesen  selbst."  • — -  Hiermit  liegt  nun  die 
Gedankenfolge  des  Verfs.  klar  genug  vor  Augen.  Er  kennt  die  Schwierig- 
keit der  causa  transiens,  aber  nicht  die  der  causa  immanens.  Er  macht 
sich  selbst  den  Einwurf  wegen  des  Irrtums,  der  gemäß  solcher  Lehre  ganz 
unmöglich  sein  würde.  Er  fühlt  den  Zwang,  welchen  die  geforderte  Ver- 
einigung des  Mannigfaltigen,  Endlichen,  gegenseitig  Fremdartigen,  mit  sich 
bringt.  Aber  die  alte  Täuschung  der  Lehre  vom  Ich  dauert  für  ihn  fort; 
es  fehlt  ihm  an  Psychologie  und  Metaphysik  zugleich;  und  ohne  Um- 
sicht in  diesen  weitläufigen  Wissenschaften  ergibt  er  sich  einem  höchst 
dürftigen  und  einseitigen  Räsonnement,  um  ein  vorgestecktes  Ziel  zu  er- 
reichen. Einmal  angelangt  bei  diesem  Ziele,  vergißt  er  sehr  bald,  daß 
er  es  schrittweise  erreicht  hat.  Als  ob  ihm  weder  das  Ich,  noch  das 
Nicht-Ich,  weder  die  Frage  von  der  Erkennbarkeit  des  letztern,  noch  der 
Satz  des  Grundes  irgend  welche  Dienste  geleistet  hätten,  behauptet  er 
S.  375:  alle  angebliche  mittelbare  Beweise  vom  Dasein  Gottes  können 
nicht  dieses,  wohl  aber  Mittel  sein,  Gottes  sich  zu  erinnern.  Man  sollte 
zwar  meinen,  an  Erinnerungen  ließen  es  die  Leiden  und  Schwächen  des 
menschlichen  Daseins  nicht  fehlen;  auch  habe  die  Kirche  dafür  gesorgt, 
solche  Erinnerungen  selbst  den  wenigen,  die  im  Taumel  des  äußern 
Glücks  dahin  leben,  fortwährend  zu  vergegenwärtigen  und  einzuprägen. 
Alfein  Kants  Kritik  der  reinen  Verminft  sieht  im  Wege!  Darum  erinnert 
der  Verf.,  wie  schon  längst  andere,  an  den  Anselm  von  Canterbury,  an 
Descartes,  welche  beide  es  nur  darin  versehen  haben  sollen,  daß  sie  die 
Form  einer  syllogistischen  Demonstration  zu  ihren  Beweisen  wählten.  Wir 
unsererseits  würden  vom  Verf.  verlangen,  was  bei  wichtigen  Beweis- 
führungen eben  nicht  gerade  zu  viel  verlangt  ist,  er  möge  auch  seinen 
Vortrag,  gleichviel  ob  Beweis  oder  Erinnerung,  der  mehrern  Klarheit 
wegen  in  syllogistische  Form  bringen,    damit   er  gewahr  werde,    daß  sein 

Herbarts  Werke.    XIII.  II 


l52  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Fortschreiten  von  der  Grundanschauung  des  Ich  bis  zur  Wesenschauung 
noch  an  manches  erinnere,  was  er  vergessen  hat.  Er  lobt  den  Spinoza, 
für  den  Satz:  substantia  est,  ctiins  essentia  iiwolvit  existentiam ;  und  dis- 
putiert dennoch  gegen  den  gleichgeltenden  Ausdruck  des  nämlichen  Ge- 
dankens: Detis  causa  s?n,  indem  das  Ganze  als  Ganzes  zu  sich  selbst 
nicht  im  Verhältnisse  des  Grundes  und  der  Ursache  stehe;  auch  will  er 
nicht  einstimmen,  wenn  Schelling  von  dem  Grunde  in  Gott  redet; 
wenigstens  sagt  er:  „als  dieser  innere  Grund  würde  die  Natur,  und  alles 
Endliche  zu  denken  sein."  Aber  die  Trennung  und  Wiedervereinigung 
der  Begriffe  von  Ursache  und  Wirkung  ist  um  nichts  schlimmer  in  diesem 
Punkte  als  jene  essentia,  von  welcher  gesagt  wird,  sie  involvire,  —  das 
heißt,  sie  sei  der  immanente  Grund  —  der  Existenz,  dergestalt,  daß, 
wenn  jene  voraus  gedacht  werde,  dann  sogleich  die  andere  folge,  und 
daß  dieses  Vorausdenken  und  unmittelbare  Folgen  ein  richtiger  Ausdruck, 
eine  wahre  Erkenntnis  des  Gegenstandes  sei.  Der  Verf.  sehe  sein  eigenes 
Buch  an.  Schon  S.  121  redet  er  vom  unbedingten  Wesen  mit  den 
Worten:  „Nun  sage  ich  hier  nicht,  daß  ein  iinetidliches ^  7inbedingtes  Wesen 
da  ist,  denn  es  muß  erst  untersucht  zv erden ,  ob  wir  zu  dieser  Behauptung 
befugt  sind."  Er  schreibt  weiter  und  weiter  bis  S.  20g,  wo  es  heißt:  „Wir 
müssen  also  gründlich  untersuchen,  ob  wir  befugt  sind,  dem  ujibedingten 
Gedanken  unbedingte  Gültigkeit  und  Wahrheit  zuzuerkennen."  Was 
anders  dachte  denn  der  unbedingte  Gedanke,  außer  der  Essenz?  Was 
anders  wurde  so  langsam  vorbereitet,  als  die  Anknüpfung  der  Existenz? 
Warum  denn  sparte  jener  belobte  Satz:  essentia  involvit  existentiam.^  nicht 
dem  Leser  und  dem  Verf.  die  vielen  Worte  und  die  lange  Mühe?  Warum? 
Weil  der  Verf.  fühlte,  daß  die  getrennten  Begriffe  sich  so  kurz  und  gut 
nicht  verbinden  lassen^  und  daß  es  dem  Menschen  nicht  so  leicht  wird, 
sich  mit  zwei  Worten,  mit  Machtsprüchen,  im  Besitze  der  höchsten  Er- 
kenntnis festzusetzen.  Sonst  wäre  die  lange  und  breite  Rede  vom  Ich, 
die  Ausdehnung  derselben  mit  Hilfe  der  Kategorien,  ganz  offenbar  am 
unrechten  Orte  gewesen.  Nur  die  Substanz  hätte  müssen  erklärt,  die 
Essenz  hätte  müssen  erläutert  werden,  um  sogleich  die  Existenz  darin  zu 
zeigen.  Aber  so  geht  es  den  Anhängern  des  Spinoza.  Erst  fühlen  sie, 
daß  er  nicht  genügt,  hintennach  finden  sie,  daß  sie  nicht  weiter  sind,  als 
er.,  und  werfen  sich  ihm  in  die  Arme;  denn  so  ist  es  am  bequemsten. 
Hätte  Fichte  die  Untersuchung  des  Ich  richtig  geführt,  so  wäre  der 
Spinozismus  nimmermehr  wieder  hervorgetreten. 

Der  Vollständigkeit  wegen  müssen  wir  jetzt,  nachdem  von  der 
Spekulation  des  Verfs.  wenigstens  das  Notwendigste  ist  gesagt  worden, 
auch  noch  seine  ethischen  Begriffe  in  demjenigen  Punkte  berühren, 
welcher  durch  die  Wesenschauung,  wenn  es  eine  solche  gäbe,  ins  Klare 
müßte  o-esetzt  werden,  während  die  bloße  Sittenlehre  ihn  nur  als  einen 
dunkeln  Punkt  zu  bezeichnen  vermag;  nämlich  der  Ursprung  des  Bösen. 
Daß  es  auch  hier  dem  Verf.  um  nichts  besser  ergangen  ist,  als  seinen 
Vorgängern,  springt  sogleich  in  die  Augen.  Was  immer  und  immer  von 
neuem  versucht  wird,  das  versucht  auch  er;  nämlich  den  ethischen  Be- 
griff in  einen  theoretischen  zu  verwandeln,  und  ihn  auf  diese  Weise  hin- 
wegzuspülen, wovon  allemal  die  Folge    ist,    daß  er  nachmals  desto  härter 


K.  Chr.  Fr.  Krause:  Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie.  163 


hervortritt.  Wir  lesen  S.  519  folgendes:  „Durch  die  zugleich  und  ver- 
eint aller  endlichen  Wesen  Leben  betreffende  Lebgliedbau- Beschränkung 
ist  in  Wesen  die  Möglichkeit  davon  begründet,  daß  jedes  Endliche  auch 
an  seines  Lebens  bejahiger  Wesenheit  die  diese  Wesenheit  ewigwesentlich 
verneinende  Verneintheit  vorübergehend  darlebe."  (Man  bemerke  hier 
gleich  die  angenommene,  leidige  Naturnotwendigkeit,  welche  sogar  eine 
ewigioesenÜiche  genannt,  und  auf  eine  Möglichkeit  zurückgeführt  wird,  die 
in  Wesen  begründet  sei!)  „Unter  dem  Bedingnis  jedoch,  daß  diese,  seine 
ewige  Wesenheit  verneinende,  Verneintheit  selbst  wiederum  verneint  werde." 
(Schlimm  genug,  wenn  die  Bejahung  in  Wahrheit  erst  aus  doppelter  Ver- 
neinung sich  wieder  zusammensetzen  müßte!  Etwa  so  wie  im  Staate,  wo 
man  straft,  weil  man  die  Verbrechen  nicht  hindern  kann!)  „Für  das 
Wesenwidrige  finden  wir  in  der  Volkssprache  die  Wörter  übel  und  schlecht-^ 
der  wesenwidrige  Wille  heißt  böse;  das  Übel  also  begreift  das  Böse  mit 
in  sich ;  und  zwar  als  das  oberste  und  innerste  Übel  der  endlichen  Wesen. 
Da  nun,  der  Vollwesenheit  Wesens  zufolge,  alles,  was  lebmöglich  ist, 
auch  dem  Lebgesetze  gemäß  zeitwirklich  ist,  so  ist  auch  in  der  Einen 
unendlichen  Gegenwart  an  einem  Teile  des  Endlichen  der  Gliedbau  des 
zeitmöglichen  Wesenwidrigen  vollständig  lebwirklich;  zugleich  aber  auch 
an  einem  andern  Teile  des  Endlichen  vollständig  verneint  und  aufgehoben.^ 
—  so  daß  alle  endliche  Wesen  gleichförmig  die  Weltbeschränkung  erfahren, 
und  (man  höre!)  von  selbiger  imabhängig  sind!.'!"  —  In  diesem  Augen- 
blicke schwebt  uns  eine  Landkarte  eines  ganzen  Weltteils  vor;  wir  er- 
blicken in  Gedanken  zwei  Hauptstädte,  in  der  einen  auf  dem  Throne  einen 
höchst  ehrwürdigen  Monarchen,  in  der  andern  einen  Tyrannen.  Wir 
fragen  uns:  lebt  dieser  letztere  etwa  darum,  weil  es  nach  den  Worten 
des  Dichters  auch  solche  Käuze  geben  muß7  Und  ist  jener  Treffliche, 
der  Wohltäter  seines  Landes,  etwa  darum  da,  weil  das  Wesenwidrige  des 
andern  aufgehoben  werden  muß?  Was  gewinnen  denn  die  Unglücklichen, 
welche  unter  dem  Drucke  des  Tyrannen  seufzen,  durch  diese  Aufhebung? 
Wo  ist  nun  die  Gleichförmigkeit  der  Weltbeschränkung,  und  wo  ist  die 
Unabhängigkeit?  Das  will  uns  der  Verf.  ein  andermal  lehren,  denn  gerade 
in  der  Note  zu  dieser  Stelle  verspricht  er,  eine  Philosophie  der  Geschichte 
zu  schreiben,  worin  von  unendlich  vielen,  wiederkehrenden  Zeitkreisen  soll 
gehandelt  werden;  —  vermutlich  zum  Tröste  jener  gemarterten  Nation, 
die  leider  kein  Deutsch  versteht  und  des  Verfs.  Schriften  nicht  lesen  wird. 
Um  ernsthaft  zu  sprechen,  wollen  wir  hinzufügen,  daß  wir  dem  Verf. 
nicht  bloß  eine  gute  Gesinnung,  sondern  auch  dasjenige  zutrauen,  was 
man  gesunden  Menschenverstand  zu  nennen  pflegt;  wir  wollen  ferner  be- 
kennen, aus  eigener  vieljährigen  Erfahrung  wohl  zu  wissen,  wie  schwer 
es  hält,  diejenige  Besonnenheit  an  das  Gewöhnliche  und  Bekannte,  welche 
durch  jenen  Ausdruck  bezeichnet  wird,  mitten  in  abstrakten  Spekulationen 
aufrecht  zu  halten.  Allein  wenn  das  nicht  geschieht,  so  gibt  nicht  bloß 
der  einzelne  sich  mißfälligen  Urteilen  preis,  sondern  die  Philosophie  selbst 
muß  in  der  öffentlichen  Meinung  unfehlbar  sinken.  Darum  ist  es  nicht 
Privatsache,  wie  jemand  über  die  Geschichte  zu  philosophieren  beliebe, 
wenn  er  nämlich  als  Schriftsteller  auftritt,  sondern  man  darf  bitten,  daß 
besonders  dann,  wenn  von  Geschichte  die  Rede  sein  soll,  auf  das  Urteil 
jener    klugen    Männer    Rücksicht    genommen    werde,    welche    dieser    iiicht 


164  J>  F.  Herbarts  Rezensionen. 


spekulativen  Wissenschaft  kundig  sind,  damit  bei  ihnen  die  Philosophie  in 
Ehren  bleiben  könne. 

Oben  erwähnten  wir  zweier  kritischen  Fragen;  was  die  nach  der 
spekulativen  Baukunst  des  Verfs.  anlangt,  insofern  dadurch  der  Religions- 
lehre eine  Unterlage  soll  geschafft  werden,  die  fester  und  zuverlässiger 
sei,  als  irgend  eine  frühere,  so  glauben  wir  dem  prüfenden  Leser  nun 
Stoff  genug  herbeigeschafft  zu  haben,  um  dieselbe  nach  eigenem  Urteile 
zu  beantworten.  Die  andere,  ob  eine  Wesenschauung  von  so  streng 
dogmatischer  Art  mit  der  religiösen  Demut  zusammenpasse,  —  ob  der 
Erdenbürger  wohl  tue,  sich  einzubilden,  er  wohne  in  der  Sonne  und  über- 
schaue das  Planetensystem  aus  dem  Mittelpunkte,  —  ob  das  Unbegreifliche 
dadurch  erhabener,  erbaulicher  wird,  wenn  man  unternimmt,  es  mit  Be- 
griffen zu  umspannen:  diese  Fragen  möchten  wir  wohl  manchem  ans 
Herz  legen,  allein  es  ist  mißlich^  darüber  zu  disputieren.  W.  Scott 
schildert  eine  Scene,  wo  ein  paar  Geistliche  von  verschiedenen  Sekten 
zugleich  in  Gefangenschaft  geraten;  kaum  haben  sie  einander  als  alte 
teure  Jugendfreunde  erkannt,  so  entbrennt  auch  unter  beiden  der  theo- 
logische Zank,  und  wird  von  den  Mitgefangenen  mit  Mühe  beschwichtigt. 
Während  sie  nun  still  grollend  da  sitzen,  kommt  die  Botschaft,  man 
möge  sich  zum  Tode  bereiten,  denn  die  Stunde  der  Hinrichtung  sei  nahe. 
Jetzt  erwacht  das  Gefühl;  die  Geistlichen  umarmen  sich,  sie  verzeihen 
und  erbitten  Verzeihung  der  frühern  harten  Reden.  Es  scheint  dem  Rez. 
nicht,  daß  hiervon  auf  bloß  spekulativen  Streit  eine  Anwendung  könne 
gemacht  werden;  denn  dieser  läßt  die  Person  des  Gegners  unangetastet; 
er  läßt  demselben  auch  als  Gelehrten  in  der  gelehrten  Welt  seinen  Platz. 
Allein  was  das  Verhältnis  der  theologischen  Meinung  zur  religiösen  Ge- 
sinnung anlangt,  so  ermahnt  ein  so  höchst  zarter  Gegenstand,  daß  es 
am  besten  sei,  sich  schweigend  in  den  Respekt  zurückzuziehen,  welchen 
man  den  Religionsansichten  eines  jeden  ernsten  und  denkenden  Mannes 
schuldig  ist. 


Schubarth,  Dr.  K.  E.,  und  Carganico,  Dr.  K.  A.,  i.  Über  Seyn, 
Nichts  und  Werden.  Einige  Zweifel  an  der  Lehre  des 
Herrn  Prof.  Hegel.  —  Berlin,  Posen  und  Bromberg,  bei  Mittler, 
1829.      24   S.    8  0.     (4  Gr.) 

2.  Brief  gegen  die  Hegel'sche  Encyclopädie  der  philosophischen 

Wissenschaften.  Erstes  Heft.  Vom  Standpunkte  der  Ency- 
clopädie und  der  Philosophie.  —  Ebendas.  bei  Enslin,  1829. 
IV  u.  94  S.    8  0.     (10  Gr.) 

3.  Über  Philosophie  überhaupt  und  Hegel's  Encyclopädie  der 

philosophischen  Wissenschaften  insbesondere.    Ein  Beitrag 
zur  Beurtheilung  der  letzten.    Ebend.  bei  Enslin,    1829.    VIII  u. 
222   S.    8  0.     (2  Thlr.  6  Gr.) 
Gedruckt  in:  Jenaer  Literatur-Zeitiing  1830,  Nr.  178.     SW.  XIII,  S.  573. 

Man   weiß   längst,   daß   philosophischer   Irrtum    oftmals    achtungswert 
und  belehrend  gefunden  wird,  wenn  dessen  Quellen  und  Fortschritte  sorg- 


Dr.  K.  E.  Schubarth  u.  Dr.  K.  A.  Carganico:  Über  Sein,  Nichts  und  Werden.      165 

fältig  erforscht  sind.  Aber  es  fällt  ins  Sonderbare,  wenn  falsche  Theorien, 
die  vom  gemeinen  Verstände  viel  zu  weit  entfernt  liegen,  um  eine  prak- 
tische Wichtigkeit  zu  erlangen,  mit  Unkunde  ihres  historischen  Zusammen- 
hanges, oder  gar  mit  Eifer  wegen  eingebildeter  Folgen  angegriffen  werden. 
Hegels  Lehre  hat  Bedeutung  für  die  Metaphysik,  insofern  sie  gewisse 
rein  -  spekulative  Untersuchungen  über  die  Formen  der  Erfahrung  zwar 
nicht  selbst  enthält,  aber  deren  Bedürfnis  gerade  durch  den  Irrtum  fühlbar 
macht.  Sprächen  nun  die  Gegner:  Diese  Lehre  ist  handgreiflich  falsch, 
und  nur  darum  gefällt  sie  den  Liebhabern  des  Ungemeinen:  so  würden 
wir  ihnen  nicht  ganz  unsere  Beistimmung  versagen.  Oder  sprächen  sie: 
Diese  Lehre  nähert  sich  der  alten  Scholastik;  und  dadurch  gewinnt  sie 
den  Schein,  vergrabenes  Gold  wieder  ans  Licht  zu  bringen:  so  würden 
sie  einen  vielleicht  nützlichen  Wink  geben.  Sprächen  sie  endlich:  Diese 
Lehre  läßt  die  Erfahrungsbegriffe  so  roh,  wie  sie  gegeben  werden,  und 
daher  kommt  das  Vorurteil,  als  würde  sie  von  der  Erfahrung  bestätigt: 
so  würden  wir  ihnen  bezeugen,  daß  sie  gerade  das  Rechte  getroffen 
hätten;  welches  hier  um  so  mehr  das  Wesentliche  ist,  weil  die  Hegeische 
Philosophie  die  Meinung  erregt  hat,  als  schwebe  sie  hoch  über  aller  Er- 
fahrung. Was  tun  denn  die  drei  hier  vorgeführten  Gegner?  Zwei  kommen 
mit  veralteten  Waffen;  der  dritte  ereifert  sich  nicht  bloß  gegen  Hegeln, 
sondern  gegen  die  Philosophie  selbst.  Wer  so  angegriffen  wird,  der  mag 
ruhig  sein;  vorausgesetzt,  daß  er  nicht  selbst  seine  Sache  verderbe. 

Nr.  I  hat  beim  ersten  Stück  den  Rez.  an  ein  altes,  artiges  INIärchen 
erinnert.  Am  Vermählungstage  einer  schönen  Prinzessin  kommt  ein  böser 
Zauber,  der  nicht  bloß  sie  selbst,  sondern  alles  um  sie  her  in  den  tiefsten 
Schlaf  begräbt;  selbst  das  Feuer  auf  dem  Herde  schläft  ein.  Nach 
fünfzig  Jahren  löset  sich  der  Zauber;  nicht  bloß  Prinz  und  Prinzessin 
finden  einander  jung  und  schön,  sondern  alles  steht  bereit;  die  erstarrten 
Flammen  lodern;  die  Bratenwender  drehen  sich;  Schmaus  und  Tanz  be- 
ginnen, als  ob  keine  Zeit  verffossen  wäre.  Schade,  daß  kein  solcher  all- 
gemeiner Schlaf  demjenigen  Schriftsteller  zu  Hilfe  kommt,  der  einige 
Dezennien  hindurch  versäumte,  mit  der  Zeit  fortzugehen;  und  der  nun- 
mehr erwachend  meint,  was  se  puero  gegolten  habe,  das  könne  er  auch 
heute  noch  als  zugestanden  voraussetzen.  Der  Verf.  der  zuerst  angezeigten 
wenigen,  bescheidentlich  zweifelnden  Blätter  läßt  sich  gleich  anfangs  also 
vernehmen:  „Das  System  gibt,  hoff"e  ich,  zu,  daß,  was  wir  denken,  ent- 
weder a  posteriori  oder  a  priori  uns  gegeben  sei,  und  daß  wir  a  priori 
jene  beiden  reinen  Anschauungen  und  jene  zwölf  Kantischen  Kategorien 
haben.  Die  Forderung,  sie  hätte  deduziert  werden  sollen,  scheint  mir 
einen  Widerspruch  zu  enthalten,  weil  Kategorien  die  obersten  Begriff'e 
heißen.  Unser  Verstand  ist  an  diese  Kategorien  gebunden"  usw.  Hegel 
soll  sich  nun  gefallen  lassen,  daß  man  das  reine  Sein,  womit  er  beginnt, 
unter  den  Kategorien  aufsuche;  er  mag  wählen,  ob  er  die  Realität  oder 
die  Wirklichkeit  für  sich  passend  finde.  Ferner  wird  eines  berühmten 
Schlusses  erwähnt:  ,,Ich  bin  Ich,  also  ich  bin,"  welcher  sogenannte  Schluß 
auf  einen  Traum  schließen  läßt,  worin  dem  Verf.  ein  Hörensagen  von 
Fichtescher  Lehre  wieder  vorschwebte.  Weiter  wird  vermutet,  in  dem 
reinen   Sein    verstecke   sich   ein    unbekanntes  Etwas;    und   die  Vermutung 


l56  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


schreitet  fort  zu  dem  Verdacht,  dieses  Etwas  möge  wohl  der  leere  Raum 
sein,  „Wenn  wir  alles  aus  unseren  Vorstellungen  entfernen  sollen,  so 
bleibt  doch  zurück,  was  wir  nicht  entfernen  können,  und  das  ist  der 
Raum."  Man  sieht:  der  Verf.  hat  seine  Kritik  der  reinen  Vernunft  noch 
gut  im  Kopfe!  Übrigens  verweisen  wir  ihn  der  Kürze  wegen  auf  Hrn. 
Hofrat  Wendts  neueste  Ausgabe  des  Tennemannschen  Grundrisses  der 
Geschichte  der  Philosophie.  Dort  werden  sich  gegen  das  Ende  wohl 
einige  Titel  von  Büchern  finden,  die  der  Verf.  noch  nicht  gelesen  hat, 
weil  sie  nicht  ganz  so  alt  sind,  als  die  Vernunftkritik.  Verlangt  der  Verf. 
etwas  mehr,  so  wollen  wir  ihm  ausdrücklich  zugeben,  daß  sein  Nachdenken 
über  Hegels  Lehre  dort  auf  die  rechte  Spur  gerät,  wo  er  sagt:  „Freilich 
wohl,  wo  ein  Ding  im  Werden  begriffen  ist,  da  möchte  man  im  uneigent- 
lichen Sinne  sagen,  es  sei  und  sei  auch  nicht;  Sein  und  Nichtsein  ver- 
einigten sich  hier."  Sogleich  aber  verliert  er  die  Spur,  indem  er  das 
Werden  zerreißt  und  hinzusetzt:  „Der  Teil  des  werdenden  Dinges,  der 
schon  geworden  ist,  ist  doch  nun  auch  wirklich;  und  der  Teil,  der  noch 
nicht  geworden  ist,  ist  doch  wirklich  noch  nicht."  Aber  der  zweite  Teil 
wird  aus  dem  ersten.  Auf  diesen  Übergang  kommt  alles  an!  Kann  der 
Verf.  diesen  Übergang  nicht  fassen,  so  hat  er  ganz  recht;  und  zwar  recht 
gegen  Hegeln.  Andrerseits  aber  wird  Hegel  noch  lange  scheinen,  die 
Wahrheit  getroffen  zu  haben,  weil  —  die  Erfahrung  es  ist,  die  uns  das 
Werdende  vor  Augen  stellt,  und  weil  keinerlei  Kategorienlehre  uns  darüber 
zu  trösten  vermag.     Weiter  können  wir  uns  hier  nicht  einlassen. 

Der  Briefsteller  in  Nr.  2  ist  nicht  bloß  so  aufrichtig,  dem  Leser 
schon  auf  dem  Titelblatte  zu  verstehen  zu  geben,  er  schreibe  vielmehr 
gegen  als  an  jemanden,  sondern  auch  so  pünktlich  in  seinen  Angaben, 
daß  gleich  die  dritte  Zeile  der  Vorrede  hinzufügt,  für  die  Sache  der 
Philosophie  seien  diese  Briefe  bekannt  gemacht,  während  Hegels  Ency- 
klopädie  ihnen  nur  ein  vorübergehendes  Interesse  verleihen  möchte  (!). 
„Wozu  das  Neue  —  Sie  kennen  ja  die  Sprache  der  Bequemlichkeit,  die 
gern  am  Alten  festhält  — ,  und  nun  gar  eine  neueste  Philosophie!  indes  die 
Entdeckungen  der  Kantischen  Kritik  noch  in  aller  ihrer  Neuheit  vorliegen, 
geplündert  war  —  aber  unbenutzt,  und  mißverstanden  selbst  von  ihren 
geistreicheren  Bearbeitern,  oder  wo  ein  tieferes  Verständnis  Ernst  mit  ihnen 
machte,  angefeindet  sogar  und  durch  die  seltsamsten  Mißdeutungen  be- 
seitigt." Weiter  ist  vom  „gütigen  Zutrauen"  des  Empfängers  die  Rede, 
daß  dem  Verf.  nach  mehjährige?!  Bemühungen  die  nötigen  ,,  Vordersätze" 
nicht  fehlen;  die  Bescheidenheit  ist  so  überaus  groß,  auf  „Sicherheit,  in 
der  ^^Subsumtion  des  einzelnen  Falles  gleich  mit  dem  ersten  Schlage  den  Nagel 
auf  den  Kopf  zu  treffen^-'-  doch  lieber  nicht  Anspruch  zu  machen.  Sollen 
wir  dem  Verf.  kurz  sagen,  daß  wir  an  dieser  Einbildung  von  Vorder- 
sätzen und  Subsumtionen  bei  einem  Kantianer,  dem  die  Vernunftkritik 
noch  in  aller  Neuheit  vorliegt,  schon  völlig  genug  haben?  —  Wir  sammeln 
noch  für  einen  Augenblick  Geduld:  in  Rücksicht  auf  die  „zerstreuenden 
Berufsgeschäfte"  eines  Mannes,  der  freilich  besser  täte,  auf  die  zu  hören, 
deren  Beruf  nun  gerade  die  Kultur  der  Philosophie  selbst  ist.  Noch 
mehr!  Wir  wollen  ihm  zugeben,  daß  man  bei  Hegeln  „anfangen  müsse, 
ohne   zu    wissen^    wie,    wo,    und  womit  man  anfange7i  solle;'-'-   nämlich  wenn 


Dr.  K.  E.  Schubarth  u.  Dr.  K,  A.  Carganico :  Über  Sein,  Nichts  und  Werden.      167 

die  nötigen  historischen  Vorkenntnisse  fehlen,  um  zu  begreifen,  wie  Hegel 
auf  sein  System   kam;    und,    was   wesentlich   damit   verbunden   sein  muß, 
die   nötigen    Kenntnisse    der  Probleme,   welche   von  jeher   der  Metaphysik 
das    Dasein    gaben;    namentlich    auch    derjenigen    Leibnizisch  -  Wolffischen 
Metaphysik,  die  von  Kant  kritisiert  wurde,   und  welche  eben  deshalb  zu 
Kants  Kritiken  den  Schlüssel  enthält.     Wer  diese  Probleme  nicht  kennt, 
der    versteht   weder  Kant   noch  Hegel;    wer   sie   kennt,    der   muß,    zum 
Zeichen   dieser  Kenntnis,   sich  über  das  Wesentliche  des   letzten,   wie  des 
ersten,   nicht   wundern.     Als  Kant   wirklich  neu  war,   in  den  letzten  De- 
zennien des  vorigen  Jahrhunderts,   da  wurde  er  von  Unwissenden  gerade 
so   sehr  angestaunt  und  angefeindet,   als  jetzt  Hegel.     In  der  Form  von 
Gegensätzen    gibt    der  Verf.    von   seinem    eigenen  Philosophieren  folgende 
Proben:  „Das  philosophische,   wie  jedes  andere,  ist  auch  als  Wissen  vom 
Unendlichen  ein  endliches  Wissen;  weil  die  Vernunft,  indem  sie  sich  selbst 
erkennt,  darin  als  ein  Subjektives  sich  selbst  objektiv  als  Gegenstand,  und 
somit   als   endlich   gegeben,  voraussetzt.     Die  Vernunft  ist  als  Bewußtsein 
Gegenstand    ihrer    selbst,    und    als   Gegenstand    notwendig   ein    Endliches; 
aber  in  der  Philosophie  als  endlich,  und  darum  unter  Voraussetzung  des 
Unendlichen.      Vielleicht    aber    besitzt    die    Encyklopädie    das    Geheimnis, 
vom    Unendlichen    zu    sprechen    auf   endliche  Weise?     Vom   ganzen  Uni- 
versum  wird    sie  Ihnen  (dem  Empfänger  der  Briefe)  nichts  berichten,    als 
was  und  wie  sie   es  weiß;    und  nichts  wissen,  als  dessen  sie  sich,   und  in- 
sofern sie  sich  dessen  selbst  bewußt  wird.    —  Wie  durch  die  Philosophie, 
als  Wissen  vom  Unendlichen,  das  Endliche  nicht  unendlich,  aber  aus  devi 
Unendlichen    begriffen    wird   (!):    so    wird    auch    durch   sie  als  Wissenschaft 
der  Freiheit  (???)  die  Abhängigkeit  des  Wissens  von  der  Naturnotwendig- 
keit  nicht  aufgehoben,    aber  erkannt  aus  dem  Gesetz  seines  Wesens   und 
erklärt   aus   seinem   höheren  Grunde."     Die  Philosophie  endet,   indem  sie 
das,  was  sie  selbst  auf  dem  theoretischen  Standpunkte  ist,  die  reflektierende 
Freiheit,    als    negativ    erkennt,    mit    Hinweisung    auf   die    positive   Freiheit 
des   praktischen  Standpunkts,    als   auf   ein  Soll,    zu  welchem  das  Ist  nicht 
unmittelbar  gegeben  oder  erfunden,  sondern  —   (wie  nun  ?)  unter  den  ge- 
gebenen Bedingungen  allein  durch  Übung  und  Überwindung  von  allen  auf 
gleiche  Weise    erworben   wird."    —    Rez.    würde   doch   einer  theoretischen 
Philosophie,  die  sich  selbst  für  eine  reflektierende  Freiheit  erkennt,  unmaß- 
geblich raten,   nichts  weiter  drucken  zu  lassen,  sondern  sich  überzeugt  zu 
halten,  daß  in  der  Sphäre  der  reflektierenden  Freiheit  der  Spruch  gilt,  ivieviel 
Köpfe,  soviel  Sifine.    Die  Mühe  des  Abschreibens  aber  wendet  Rez.^  lieber 
auf   eine    Note    von    Kant   in    dessen    Grundlegung   zur   Metaphysik    der 
Sitten,    beinahe    im    Anfang    des    dritten   Abschnitts,    die    folgendermaßen 
lautet:  „Den  Weg,  die  Freiheit  nur,  als  von  vernünftigen  Wesen  bei  ihren 
Handlungen  bloß  in  der  Idee  zum   Grunde  gelegt,  zu  unserer  Absicht  hin- 
reichend  anzunehmen,    schlage   ich    deswegen    ein,    damit   ich   mich  nicht 
verbindlich  machen  dürfe,  die  Freiheit  auch  in  ihrer  theoretischen  Absicht 
zu   beweisen.     Denn    wenn   dies   letzte   auch  unausgemacht  gelassen  wird, 
so    gelten    doch    dieselben  Gesetze   für   ein  Wesen,    das   nicht   anders  als 
unter  der  Idee  seiner  eigenen  Freiheit  handeln  kann,  die  ein  Wesen,  das 
wirklich   frei    wäre,   verbinden  würden.      Wir  kötmen  uns  also  hier  von  der 


l58  J«  F-  Herbarts  Rezensionen. 

Last  befreien^  welche  die  Iheorie  drückt."'  Diese  goldenen  Worte  Kants 
kann  man  denen,  die  von  einer  Wissenschaft  der  Freiheit  plaudern,  nicht 
oft  genug  wiederholen;  freilich  aber  bleibt  ihnen  selbst  überlassen,  ob  sie 
dieselben  sich  einprägen  und  gehörig  benutzen  wollen.  Denn  ihrer  re- 
flektierenden Freiheit  Grenzen  vorzuschreiben,  ist  allerdings  niemand  be- 
rechtigt. 

Die  Philosophie  kann  sich  weit  eher  gefallen  lassen,    daß  so,   wie  in 
Nr.  3,  mit  Geist  und  gebildetem  Ausdruck  gegen  sie,  als  so,  wie  in  jenen 
ungehobelten  Briefen,  für  sie  gesprochen  werde.    Der  beiden  Herren  aber, 
die   auf  dem  Titel    sich   genannt  haben,    scheint  doch  ein  dritter  Freund 
zu  fehlen,  der  ihnen  möchte  geraten  haben,    diesmal  anonym  zu  bleiben. 
Denn   am  Ende   wird  ein  Unternehmen,    das  nicht  viel  klüger  ist,    als  ob 
man  den  Mond  zur  Erde  herabziehen  wollte,  immer  nicht  viel  Ruhm  ein- 
bringen, wieviel  Kunst  und  Kraft  man  auch  dabei  offenbare.    Den  Unmut, 
welchen    ein   falsches  System    allemal  verursacht,   während  der  Mühe,    die 
man  daran  wenden  muß,  um  es  zu  verstehen,  gegen  die  Philosophie  selbst 
ausbrechen  lassen,  ist  eine  offenbare  Schwäche,  gleich  jeder  Ungeduld  über 
Dinge,   die  nicht  zu  ändern  sind.     Die  Philosophie  hat  sich  seit  ein  paar 
Jahrtausenden    unter    so    vielen   Stürmen    erhalten,    daß    sie   recht   füglich 
einige   gegen    sie    geschriebene  Blätter   völlig   ignorieren   kann.     Und    was 
für    die  Verf.   am   schlimmsten  ist,   sie  haben  es  dem  Rez.  überaus  leicht 
gemacht,    die    falsche  Voraussetzung,    worauf   sie   bauen,   mit  zwei  Worten 
anzuzeigen.      Diese   zwei  Worte  heißen:  Allheit  und  Absolutheit.     In  einer 
sehr  genauen  Inhalts-Anzeige  steht  unter  Nr.  4  wörtlich  folgendes :  „Findung 
des  philosophischen  Standpunkts,   und  allgemeine  Bezeichnung  des  von  ihm 
ausgehenden  Strebens,  als  des  auf  eine  Allheit  und  Absolutheit  gerichteten." 
Nun  ist  es  aber  falsch,  daß  hierauf  das  Streben  der  Philosophie  gerichtet 
sei.     Die  Verf.    stehen    mitten    in   dem  Nebel,    den  sie  wegblasen  wollen. 
Sie   sind  Hegelianer,    ohne    es  zu  wollen,    sie  sehen  alles  durch  ein  Glas, 
weil  sie  von  Philosophie  eben  nichts  anderes  kennen,  und  ein  paar  Systeme 
mit    dem    Wesen    der    Wissenschaft    verwechseln.      Hegel    ist    ihnen    der 
Philosoph    par    excellence,    wie    die    Vorrede    ausdrücklich    bekennt.      Ein 
schlechtes    Zeichen    für   die    Gelehrsamkeit   der  Herren!    Sie    sollten   doch 
wissen,  daß  Hegel  nur  der  Nachklang  von  Schelling  ist;  daß  Schelling 
in    sehr   jungen  Jahren    von  Fichte    fortgerissen   wurde;    daß  Fichte   zu 
einer  Zeit    allgemeiner,    sehr  ungewöhnlicher  Aufregung,    also  gar  nicht  in 
einem    Zeitalter    philosophischer    Ruhe,    wohl    aber    des    philosophischen 
Enthusiasmus,  sich  in  ein  Wagstück  einließ,  das  er  niemals  endigte,  noch 
endigen  konnte;  sie  sollten  wissen,  daß  im  Gefühl  der  Unmöglichkeit,  mit 
reinem  Idealismus   fertig  zu  werden,   Spinoza,   der  nichts  helfen,   sondern 
nur    verderben    konnte,    späterhin    höchst    tumultuarisch    zu    Hilfe    gerufen 
wurde;   sie  sollten  wissen,   daß  hierdurch  scheinbare  Befriedigung  eines  ur- 
sprünglich ganz  fremdartigen  Bestrebens  entstand,  nämlich  des  von  Reinhold 
angeregten  Strebens   nach  Einem   ersten  Grundsatze    der  gesamten  Philo- 
sophie,   der    jedoch    weder    Allheit    noch    Absolutheit    auszudrücken    be- 
absichtigte,   sondern    bloß    als    unbestreitbarer    Anknüpfungspunkt    für    die 
Lehrform    gesucht    wurde,    welche    der    damals    herrschenden    Kantischen 
Philosophie   allgemeine  Überzeugungskraft  verschaffen  sollte.     Wer  diesen 


Dr.  K.  E.  Schubarth  u.  Dr.  K.  A.  Carganico :  Über  Sein,  Nichts  und  Werden.      169 

historischen  Ursprung  und  Zusammenhang  entweder  nicht  vor  Augen  hat, 
oder  mit  eigener  Meinung  darin  befangen  ist,  der  vermag  nicht  über 
irgend  eines  der  neueren  Systeme  ein  richtiges  Urteil  zu  fällen.  Die 
Philosophie  selbst  ist  bekanntlich  weit  älter.  Das  Altertum  schon  besaß 
Logik  und  Ethik  ziemlich  vollständig;  es  besaß  von  der  Metaphysik 
wenigstens  die  Kenntnis  Eines  Hauptproblems  von  der  Veränderung. 
Was  sollen  wir  weiter  ins  Einzelne  gehen?  Wäre  die  Polemik  der  Verf. 
gegen  die  Philosophie  aus  dem  Innern  derselben  entnommen,  so  könnte 
dieselbe  einiges  Interesse  haben;  aber  ihre  Unkunde  verrät  sich  nicht 
bloß  S.  123  — 126,  wo  von  einer  „Kluft  zwischen  Kant  und  Hegeln", 
von  FiCHTES  „Rettung  der  Philosophie  ihrer  Form  nach"  usw.  gar  seltsame 
Dinge  vorkommen,  —  sondern  auch  durch  den  Aufwand  von  Kräften, 
die  sie  von  at(ßen  her  in  Bewegung  setzen.  Kunst,  Wissenschaft,  Religion 
und  Staat  werden  aufgeboten,  um  gegen  die  Philosophie  zu  zeugen,  und 
dieselbe  zu  einem  großen  index  falsi,  einem  ausgebildeten  pathologischen 
Geistesphänomen  herabzuwürdigen.  Die  Verf.  können  hier  eine  Art  von 
Entschuldigung,  —  jedoch  nur  unter  Voraussetzung  ihres  Irrtums  und  ihrer 
Unkunde  —  darin  finden,  daß  Schelling  und  Hegel  allerdings  mit 
Ansprüchen  in  Ansehung  der  Kunst,  der  Wissenschaften,  der  Religion 
und  des  Staats  aufgetreten  sind,  welche  zu  verantworten  zwar  ihnen,  aber 
nicht  der  Philosophie  obliegt.  Ebenso  haben  die  Verf.  es  ihrerseits  zu 
vertreten,  daß  sie  (um  doch  ihre  Philosophie,  die  zwar  nicht  Philosophie 
heißen  will,  an  einer  kleinen  Probe  zu  zeigen)  die  Hauptlehre  des  Christen- 
tums in  folgender  Manier  auslegen:  ,,Der  Vater,  Gott  in  seinem  universellen, 
kosmischen  Verhältnisse  werde  nicht  erkannt  ohne  den  Sohn  —  ohne 
Gott  in  seiner  zur  Menschheit  gesetzten  und  aus  dieser  entwickelten 
Totalbeziehung  — ,  und  zwar  werde  er  nur  mittelst  des  Geistes  erkannt, 
der  vom  Sohn  und  Vater  zugleich  ausgehend,  die  Vermittlung  dieses 
Verhältnisses  an  sich  und  für  den  Menschen  bewirke,  und  so  seine  Wahrheit 
begründe."  „Wäre  nämlich  (heißt  es  weiter)  diese  Vermittlung  nicht 
durch  den  Geist,  und  zwar  den  höchsten,  göttlichen  Geist,  und  wiederum 
für  den  Geist,  als  Geist  des  Menschen,  sondern  eine  bloß  sinnliche;  so 
würde  die  Wahrheit  diesen  Beziehungen  fehlen,  wie  es  z.  B.  in  allen  den 
Religionen  der  Fall  ist,  denen  der  Begriff  einer  Incarnation  des  Göttlichen 
zwar  sonst  nicht  fremd  ist,  welche  dies  jedoch  bloß  als  sinnliches  Macht- 
verhältnis Gottes  darstellen,  oder  eine  Entzügelung  der  Phantasie  und 
wahrer  geistiger  Verhältnisse  damit  beabsichtigen,  wie  z.  B.  die  indische 
Lehre.  —  Innerhalb  der  Grenzen  der  menschlichen  Natur  die  vollkommene 
Erscheinung  des  Göttlichen  hervorzubringen,  ist  der  hohe  Zweck  des  Christen- 
tums. Wenn  es  nun  hiernach  das  Erdendasein  des  Menschen  erst  er- 
hoben und  verklärt  hat,  so  wird  doch  hiermit  das  Leben  nicht  als  eine 
Allheit  gesetzt,  sondern,  wie  der  wSohn  das  ewige  Wesen  des  Vaters  nicht 
verdecken,  sondern  heranführen  soll,  wie  der  Vater  in  der  Herrlichkeit 
seines  Sohnes  nicht  verschwinden,  sondern  durch  dieselbe  recht  offenbar 
werden  soll:  so  gesellt  sich  in  der  christlichen  Verklärung  des  Lebens,  als 
einer  seligen  Totalität  auf  Erden,  die  Idee  der  Unsterblichkeit  hinzu;  die 
Aussicht  in  die  unendliche  Ferne  soll  nicht  benommen  werden"  usw.  Dies 
hängt   mit  Klagen   über  Hegeln   zusammen;    er   habe   nämlich   über  den 


I^o  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Tod  eine  unzureichende  Erklärung  gegeben;  ein  Vorwurf,  der  hier  als 
Probe  einer  Kritik  dienen  mag,  wie  sie  wirklich  von  solchen,  die  nicht 
Philosophen  vom  Fache  sind,  über  philosophische  Systeme  zu  ergehen 
pflegt.  Denn  diese  fangen  mit  einer  Kritik  in  praktischer  Hinsicht  an, 
als  ob  das  die  Hauptsache  wäre,  und  sie  fallen  auch  dann  wieder  dahin 
zurück,  wenn  sie  schon  die  theoretische  Kritik  versprochen  haben.  Es 
lohnt  nicht,  das  an  dem  vorliegenden  Buche  ausführlich  nachzuweisen; 
aber  bei  dieser  Gelegenheit  mag  wohl  daran  erinnert  werden,  daß  philo- 
sophische Kritik  in  ihrem  Hauptteil  allemal  theoretisch  ist,  und  zwar  aus 
drei  Gründen.  Erstlich:  in  den  Augen  der  wahren  Denker  fallen  praktisch 
schädliche  Sätze  von  selbst,  sobald  die  theoretischen  Stützen  weggenommen 
sind.  Zweitens  vermeidet  auf  diesem  Wege  die  Widerlegung  das  Ge- 
hässige einer  Anklage,  und  der  Disput  die  ungebührliche  Hitze  des  Streits; 
und  drittens  führt  die  von  den  Verf.  erwähnte  Manier  allemal  den  Ver- 
dacht eines  Bewußtseins  von  Schwäche  und  von  mangelndem  Beruf  zur 
Widerlegung  und  zur  Anklage  bei  sich.  Das  sei  den  Herren  von  einem 
Gegner  Hegels  gesagt! 


Metz,  Andreas,  Prof,  der  Philosophie  in  Würzburg,  Ueber  den  B!e- 
griff  der  Naturphilosophie;  oder  die  Frage:  Was  hat  die 
Philosophie  zu  leisten,  um  in  Wahrheit  sich  Naturphilo- 
sophie nennen  zu  können?  verbunden  mit  der  Frage: 
Welchen  Werth  hat  die  Naturphilosophie  sowohl  über- 
haupt, als  insbesondere  für  die  Medicin?  Aus  den  Jahr- 
büchern der  philo  s.  medic.  Gesellsch.  zu  Würzburg  besonders 
abgedruckt.  —  Würzburg,  bei  Strecker,  1829.  52  S.  8<^.  (6  Gr.). 
Gedruckt  in:  Jenaer  Literatur-Zeitung  1830,  Nr.  178.      SW.  XIII,  S.  581. 

Ein  vielversprechender  Titel  für  eine  kleine  Abhandlung!  Man  sollte 
denken,  der  Raum  in  dem  Büchlein  sei  sorgfältig  gespart  für  so  viele, 
teils  negative,  teils  positive  Sätze,  die  nötig  sind,  um  über  einen  der- 
gestalt streitigen  Gegenstand,  wie  die  Naturphilosophie  es  ist,  das  Zeit- 
alter zu  belehren.  Ein  Chaos  von  hypothetischen  Kräften  ist  zu  ordnen; 
die  Erscheinung  von  Stoffen,  die  man  durch  Eigenschaften  beschreiben 
will,  ist  zu  erklären;  die  Vorliebe  für  die  ins  Unendliche  vervielfältigten 
Polaritäten  ist  in  ihre  Schranken  zurückzuweisen;  die  Kräfte  dürfen  weder 
selbständig  auftreten,  noch  an  die  Stoffe  angeklebt  werden;  aus  den  Ver- 
hältnissen der  Elemente  müssen  die  vermeinten  Kräfte  dergestalt  begreiflich 
werden,  daß  ihre  Unterschiede  bestimmt  hervortreten,  daß  man  aus  leeren 
Allgemeinheiten  herauskomme,  daß  man  die  Erfahrung  genau  mit  der 
Theorie  vergleichen  könne,  ohne  Erscheinungen  mit  dem  Realen  zu  ver- 
wechseln. Insbesondere  müssen  die  Ärzte  gewarnt  werden,  nicht  eher 
vom  Leben  zu  reden,  als  bis  sie  wissen,  was  Materie  ist;  bis  sie  ferner 
den  Unterschied  des  starren  vom  flüssigen  Körper  nicht  bloß  durch 
Namenerklärung  zu  bezeichnen,  sondern  ihn  vom  ersten  Grunde  aus  ein- 


Joh.  Chr.  A.  Heinroth :    Über  die  Hypothese  der  Materie  usw.  171 

zusehen  vermögen ;  denn  sonst  können  sie  ja  von  dem  zv^^ischen  Starr- 
heit und  Flüssigkeit  stets  schwebenden,  sich  vorwärts  und  rückwärts 
bildenden,  belebten  Organismus  nichts  wissen,  das  ihn  von  einer  Leiche 
gründlich  unterscheide,  die  sich  unverändert  erhält,  wenn  sie  von  der 
Frostkälte  zu  einem  starren  Körper  gemacht  ist. 

Ein  langer  Eingang  zu  einer  kurzen  Rezension?  Er  soll  bloß  dienen, 
dasjenige  ungefähr  anzudeuten,  was  in  dem  vorliegenden  Büchlein  nicht  steht. 
Wohl  aber  finden  wir  Hrn.  Prof.  Metz  gleich  anfangs  bei  der  psychischen 
Anthropologie;  wir  finden  ihn  weiterhin  bei  der  Platonischen  ^iva^-iic, 
noXixiv.i],  die  mit  der  Philosophie  zusammenfallen  soll;  noch  weiter  zwar 
bei  ScHELLiNG,  aber  bei  dessen  Theologie  anstatt  bei  seiner  Naturphilo- 
sophie; und  nun  kommt  die  Hauptsache:  die  Kategorien  der  Relation 
und  der  Modalität!  Dann  wendet  sich  Hr.  Prof.  Metz  in  wenigen  Worten 
an  die  Ärzte,  und  insbesondere  an  Hrn.  Heusinger.  In  einer  Note  er- 
klärt sich  derselbe  geg^n  die  moderne  Meinung,  als  müsse  Mathematik 
schon  auf  dem  Gymnasium  gelehrt  werden.  Um  nun  doch  über  eine 
Schrift,  worin  die  Gegenstände  des  Titels  recht  sorgfältig  vermieden  sind, 
wenigstens  etwas  zu  sagen,  so  könnte  Rez.  zuvörderst  amtlich  bezeugen, 
daß  es  preußische  Gymnasien  gibt,  worin  Mathematik  gelehrt  wird,  aber 
nicht  in  einem  ^^Feizenvorirage"  ]  einem  neuen  Worte  des  Verfs. !  Zweitens 
ist  zu  erinnern,  daß  empirische  Psychologie,  „nach  uns  psychische  Anthro- 
pologie" (wir  meinten  doch  bisher:  nach  Schulz  und  Fries!)  —  zwar 
spekulative  Probleme  genug  aufgibt^  aber  kein  einziges  aufzulösen  vermag. 


Heinroth,  Joh.  Christian,  August,  Professor  der  psychischen  Heilkunde 
auf  der  Universität  zu  Leipzig;  Arzt  am  Zucht-,  Waisen-  und  Ver- 
sorgungshause zu  St.  Georgen  daselbst,  mehr.  gel.  Gesellschaften 
correspond.  Mitgliede,  Über  die  Hypothese  der  Materie  und 
ihren  Einfluß  auf  Wissenschaft  und  Leben.  —  Leipzig,  bei 
Hartmann  1825.  IV  und  226  S.  (i  Rthlr.  4  Gr.) 
Gedruckt  in:  Hallische  Literatur-Zeitung   1830,  Nr.   50 — 53.     SW.  XIII,  S.   582. 

Wahrhaft  merkwürdig  ist  der  Wechsel  des  literarischen  Schicksals, 
welchen  der  Verf.  des  angezeigten  Buches  im  Laufe  weniger  Jahre  er- 
fahren hat.  Noch  vor  kurzem  wurde  er  hochgepriesen,  als  ein  genialer 
Denker,  als  ein  Hauptschriftsteller  im  Fache  der  Psychologie,  besonders 
in  Beziehung  auf  Geisteszerrüttung;  und  nichts  war  natürlicher,  als  daß 
von  ihm  ein  Buch  nach  dem  andern  erschien.  Und  jetzt  —  die  Un- 
gunst medizinischer  Journale  ist  es  nicht  allein,  die  ihn  trifft,  sondern  so- 
gar ein  medizinisch  -  gerichtliches  Gutachten  mit  höherer  Genehmigung 
herausgegeben,  weiset  seine  Ansprüche  zurück,  die  nichts  minderes  be- 
zweckten, als  das  ärztliche  Verfahren  bei  kriminalgerichtlichen  Unter- 
suchungen zu  reformieren.  Man  vermißt  bei  ihm  eigene  Erfahrungen  aus 
dem  Gebiete  der  Psychiatrie;  man  vermutet  große  Befangenheit;  man 
findet     seine     Behauptungen     in     offenem     Streite     mit     dem     bewährten 


172  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Verfahren  der  besten  Ärzte.  Fragen  wir,  worin  der  Grund  seines  Irr- 
tums liege,  so  antwortet  uns  eine  der  gelesensten  Zeitschriften  in  den 
härtesten  Ausdrücken,  indem  sie  von  einem  übelwollenden  Zeitgeist  der 
Finsternis,  von  Verirrungen  spricht,  wovon  der  Himmel  die  Gerichtshöfe 
bewahren  möge;  und  als  der  Hauptpunkt  wird  Hs.  Satz  hervorgehoben: 
nie  werde  die  Unschuld  wahnsinnige  sondern  nur  die  Schidd!  Die  Sünde, 
die  moralische  Entartung  soll  die  innere  Bedingung  jeder  Seelenstörung 
und  diese  demnach  die  Wirkung  und  Folge  von  Verbrechen  sein.  Wo 
bleibt  nun  (so  fragt  man)  der  Unterschied  zwischen  Immoralität  und 
Geisteskrankheit?  —  Aber  indem  wir  uns  tiefer  nach  den  Gründen  der 
Heinrothschen  Meinungen  erkundigen,  nennt  man  uns  die  beiden  bekannten 
Sätze:  durch  die  Ver7iunft  ist  der  Mejisch  frei  und:  in  dem  Metischen  ist  ein 
Hang  zum  Bösen.  Und  nun  verwundert  man  sich  —  in  der  Tat  etwas 
zu  laut  —  über  den  zweiten  dieser  Sätze,  welchen  Herr  H.  gerade  eben- 
sowenig erfunden  hat,  als  den  ersten  ;  sie  sind  vielmehr  beide  uralt  und 
doch  beide  keineswegs  veraltet;  denn  Kant  ist  es,  der  sie  unter  uns  im 
philosophischen  Zusammenhange  erneuerte  und  sehr  nachdrücklich  lehrte. 
Damit  sind  die  Sätze  nun  keineswegs  gerechtfertigt,  denn  in  der  Philo- 
sophie gilt  keine  Autorität;  aber  der  Weg,  wie  H.  zu  seinen  sonderbaren 
Behauptungen  kommen  konnte,  wird  heller,  sobald  man  ihn  auf  historische 
Weise  rückwärts  verfolgt.  Dem  hart  verklagten  Manne,  dessen  Ansichten 
wir  nicht  zu  den  unsrigen  machen  wollen,  sind  wir  gleichwohl  soviel 
Gerechtigkeit  schuldig,  daß  unsere  Darstellung  ihnen,  soviel  als  eine 
fremde  Darstellung  vermag,  ihren  eigentümlichen  Zusammenhang  lasse, 
und  ihre  Berührungspunkte  mit  dem,  was  früher  da  war,  nicht  verletze; 
daher  man  sich  nicht  wundern  wird,  wenn  wir  unter  solchen  Umständen 
uns  nicht  streng  an  dem  angezeigten  Buche  halten,  sondern  vielmehr 
(wie  es  bei  philosophischen  Werken  immer  geschehen  sollte)  die  andern 
Schriften  desselben  Verfs.  ebenfalls  zu  Rate  ziehen,  um  über  seine  Lehre 
unser  Urteil  zu  bilden.  Im  allgemeinen  läßt  sich  freilich  leicht  erraten, 
was  man  finden  werde.  Philosophische  Sätze,  denen  große  und  erhabene 
Wahrheiten  zum  Grunde  liegen,  nehmen  leicht  etwas  Exzentrisches  an, 
wodurch  sie,  mit  kecker  Laune  verfolgt,  in  große  Ungereimtheiten  über- 
gehen. Wo  die  Laune  eines  Schriftstellers  öffentlichen  Beifall  findet,  da 
wächst  sie  schnell;  es  kommt  der  Wunsch  hinzu,  etwas  Auffallendes  zu 
sagen ,  —  und  eine  Paradoxie  überbietet  die  andere.  Von  schlechten 
Schriftstellern  weiß  man  nun  genug,  sobald  man  soviel  von  ihnen  weiß; 
allein  nach  Heinroth  und  seinem  Ruhme,  lohnt  es  wohl,  sich  genauer 
zu  erkundigen. 

Um  unser  Geschäft  mit  Ruhe  und  Kälte  zu  beginnen,  könnte  ein 
so  kalter  Gegenstand,  wie  die  INIaterie,  uns  recht  willkommen  sein ;  und  es 
wäre  günstig  für  Hrn.  H.,  wenn  wir,  unser  Hauptthema  zuerst  fixierend,  seine 
lateinische  Abhandlung  de  materiae  hypothesi  der  vorläufigen  Ansicht  wegen 
benutzen.  Allein  der  Geist  des  Mannes  regt  sich  unruhig,  ja  beinahe 
zürnend  und  züchtigend,  schon  in  der  Vorrede  zu  dieser  kleinen  Schrift. 
Der  Begriff  der  Materie  wird  gleich  in  den  ersten  Zeilen  beschuldigt,  un- 
sägliche Verwirrung  sowohl  in  der  Ethik  als  in  der  Physik  angerichtet  zu 
haben,  dort  atheistische  Freiheit,  hier  atomistische  Dürre  hervorbringend; 


Job.   Chr.  A.   Heinroth:    Über  die   Hypothese  der  Materie  usw.  17^ 


beides  aber  hänge  mit  der  Heilung  der  Seelenstörungen  zusammen!  Wer 
nun  freilich  das  Band,  das  alle  Wissenschaften  umschlingt,  so  polemisch 
benutzt,  der  stellt  sich  selbst  allen  Angriffen  von  allen  Seiten  bloß;  und 
Hr.  H.  darf  sich  nicht  wundern,  wenn  er  hiervon  Erfahrungen  zu  machen 
gezwungen  wird;  die  Wirkung  seines  unholden  Benehmens  fällt  auf  ihn 
selbst  zurück;  daß  aber  die  Materie  einem  so  ungestümen  Frager  ihre 
Geheimnisse  verraten  sollte,  läßt  sich  gar  nicht  erwarten;  ebensowenig, 
als  daß  die  älteste  Geschichte  der  Philosophie  in  ihm  ihren  Ausleger  an- 
erkennen sollte.  Man  vernehme  als  Probe  in  letzterer  Hinsicht  folgende 
Sätze:  apud  orientis  populos  invisibilia  (mens,  povg),  apud  occidentales 
visibilia  (materia  vli])  originibus  rerum  substernebantur.  Thaies,  Pherekydes, 
Anaximenes,  Heraklit,  Leukipp,  Demokrit,  werden  genannt;  Anaximander, 
die  Pythagoräer,  die  Eleaten  werden  verschwiegen.  Daß  weder  das  Stets- 
Fließende  noch  die  Atomen  zu  den  visibilibus  gehören,  wird  nicht  über- 
legt. Für  die  gelehrten  Forscher  des  Plato  und  Aristoteles  aber  schreiben 
wir  folgende  Lehre  des  Hrn.  H.  ab:  Plato,  Aristoteles  aliique,  postquam 
materiae,  utpote  rerum  duntaxat  substantiae,  vim  quandam  formatricem 
adjunxerant  (also  e7-s^  legte  Platon  die  Materie  zum  Grunde,  da?i?i  hinten- 
nach  kam  das  formende  Prinzip !  Die  Philosophie  des  Anaxagoras  ließe 
sich  ebenfalls  so  beschreiben,  —  doch  weiter!)  quae  ab  iis  nunc  rozg, 
nunc  Zevg^  nunc  md^i'jQ,  nunc  <Wa,  nunc  nÖog,  nunc  imlt/na  vocatur 
(damit  wären  wir  also  wegen  der  schweren  Streitfragen  über  Ideen  und 
Entelechien  zur  Ruhe  verwiesen!)  Epicurus  nullam  aliam  esse  rerum 
caussam  affirmavit  nisi  atomos  usw.  Nach  dieser  Stelle  wird  man  die 
Dreistigkeit  des  Hrn.  H.  hinreichend  kennen  und  ihm  raten,  eher  über 
alles  in  der  Welt  zu  reden,  als  über  die  ältere  Geschichte  der  Philosophie. 
Aber  macht  er  es  mit  der  neueren  Zeit  besser?  Nuper  sectatores  philo- 
sophiae  naturalis,  quae  Schellingium  auctorem  habet  (daß  Schelling  von 
Kant  ausging  und  sich  später  an  Spinoza  anfügte,  weiß  Hr.  H.  nicht?), 
eXcultorem  Okenium  (also  andere  excultores,  außer  Oken,  sind  für  Hrn. 
H,  nicht  vorhanden;  wir  wollen  ihn  aber  des  Gegensatzes  wegen  zum 
wenigsten  an  Fries  erinnern),  necessariam  scilicet  ad  creandas  res  materiam 
quo  certius  tenerent,  ipsi  e  mentis  propriae  penu  materiam  construxeruntü 
Wir  hatten  bisher  gemeint,  man  konstruiere  deti  Begriff  der  Materie,  nicht 
um  die  gegebene  Materie  noch  fester  hinzustellen,  als  sie  ohnehin  schon 
steht,  sondern  um  das  Gegebene  zu  begreifen,  weil  es  ohne  dieses  Hilfs- 
mittel wirklich  ganz  unbegreiflich  ist.  Aber  sollte  wohl  Hr.  H.  von  dieser 
Unbegreiflichkeit  der  gegebenen  Materie  etwas  begriff'en  haben?  Das  wird 
sich  bald  zeigen.  Zunächst  folgen  Klagen  über  den  Galvanismus  und 
über  Priestleys  grüne  Materie,  besonders  über  die  letztere,  in  welcher 
man  die  ersten  Spuren  (ob  gerade  die  ersten?)  des  Pflanzen-  und  Tier- 
lebens gefunden  hat;  seitdem,  so  lautet  die  Klage,  hat  man  angefangen, 
eine  organische  Materie  zu  statuieren  (als  ob  man  in  früherer  Zeit  weniger 
geneigt  gewesen  wäre,  Leben  und  Seele  zu  verwechseln);  daraus  haben 
die  Naturforscher  alle  Lebensformen  deduzieren  wollen,  explicantes  ex 
nervorum  formatione  sensus,  ex  cerebri  natura  perceptiones  et  cogitationes. 
Wirklich  und  im  vollen  Ernste  explicantes?  Daß  man  im  Gehirnleben  die 
Erklärung   sucht ^    die   Gründe   voraussetzt,    ist    bekannt;    daß   dies   Suchen 


IjA  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


und  Voraussetzen  ganz  falsch  ist  und  völlige  Unkunde  der  Psychologie 
beweiset,  hiervon  ist  Rez.  vielleicht  noch  etwas  fester  und  bestimmter 
überzeugt,  als  Hr.  H.;  daß  aber  irgend  jemand  sich  eingebildet  habe, 
wirklich  die  Erklärung  des  Geistes  aus  dem  Räumlichen,  dem  Aus- 
gedehnten ,  dem  Soliden ,  leisten  und  deutlich  aussprechen  zu  können ,  ist 
uns  neu,  und  kaum  glaublich,  denn  die  Worte  müßten  (sollte  man  denken) 
demjenigen  im  Munde  ersticken,  der  etwas  so  Ungereimtes  auszusprechen 
versuchen  würde.  Vielmehr  ist  hier  ein  Fall  vorhanden,  wo  die  größte 
Gefahr  darin  liegt,  daß  man  sehr  leicht  sich  gegenseitig  mißversteht,  und 
dann  viel  Lärm  um  nichts  macht,  welches  sich  desto  übler  ausnimmt, 
weil  der  Gegenstand  selbst  von  der  höchsten  Wichtigkeit  ist.  Wir  wollen 
hier  zum  Behuf  des  folgenden  einstweilen  die  Ansprüche  eines  Gegners 
von  Hrn.  H.  hersetzen;  sie  können  uns  helfen,  den  Streitpunkt  festzu- 
setzen. „Der  Hauptfehler  liegt  in  dem  ersten  Schritte  einer  ärztlichen 
Seelenlehre,  eine  totale,  enigegeiigesetzte  Zweiheit  zwischen  dem  psychischen 
und  animalen  Leben  anzunehmen.  Der  Arzt  wird  mit  keinem  großen 
Glücke  am  Krankenbette  heilen,  der  humoralpathologisch  oder  dynamisch 
die  Prinzipien  von  Lebenskraft  und  Materie  in  weiter  Ferne  halten,  und 
nur  entioeder  auf  jene  ode7-  auf  diese  Weise  erklären  und  heilen  will.  Er 
zerreißt  in  seiner  gezwungenen  Erklärungs-  und  Heil-Art  das  vereinte 
und  einende  Bild  der  Natur,  wo  Lebenskraft  und  die  soge?iannte  materielle 
Basis  aufs  innigste  verschmolzen  Jind  verwebt  sind.  So  und  nicht  anders 
ist  es  auch  mit  der  wahren  und  gründlichen  Ansicht  des  Arztes  in  betreff 
des  SeelenreicJis.  Er  scheide,  —  er  trenne  nicht;  wenigstejis  nicht  zu  weit] 
somatisches  und  psychisches  Leben,  so  verschieden  auch  in  sich^  mögen 
beide  für  ihn  Eine  Gliederkette  bilden,  wo  ein  Glied  auf  das  andere  paßt, 
keins  von  dem  andern  durch  eine  gewaltsame  Theorie  getrennt  werden 
mag.  Der  Arzt,  der  Beschauer  der  oft  so  starken,  oft  aber  auch  so 
schwachen,  ungemein  gebrechlichen  menschlichen  Natur,  wird  Gründe 
genug  finden,  die  kleinern  oder  größern  Schatten,  die  der  Körper  wirft, 
unmittelbar  von  diesem,  von  seiner  Stellung  vor  der  strahlenden  Sonne 
der  Psyche  abzuleiten;  es  wird  ihn  nicht  an  Gründen  fehlen,  de?i  schuldigen 
Meiischen  durch  die  Körpersclmld  der  siiinlichen  Hülle  zu  entsündigen.  Nichts 
entnerft  mehr,  nichts  lenkt  so  sehr  ab  von  der  wahren  Energie  des 
Geistes,  als  der  ewige  Vorwurf  von  Sündenschuld  und  Selbstverwerfung; 
solche  Traktaten  sind  am  wenigsten  in  der  Erklärung  und  Heilart  von 
Seelenkrankheiten  zu  wünschen."  (Jenaische  A.  L.-Z.,  Oktober  182g; 
Nr.  194  u.  s.  f.)  Hat  nun  dieser  sehr  entschiedene  Gegner  des  Hm.  H. 
etwa  die  Absicht  verraten:  die  Empfindungen  und  Gedanken  aus  der 
Natur  des  Gehirns  zu  erklären?  —  Aber  freilich:  entsündigen  möchte  er 
gern  den  sündigen  Menschen  durch  ZurücMührung  der  Schuld  auf  die 
sinnliche  Hülle.  Und  daß  hierzu  die  Ärzte  sehr  geneigt  sind,  ist  eine 
nur  gar  zu  wohl  gegründete,  neuerlich  wieder  sehr  laut  gewordene  Klage; 
deren  wir  ebenfalls  hier  erwähnen,  weil  bei  der  Beurteilung  des  Hrn.  Verfs. 
hierauf  eine  Rücksicht  muß  genommen  werden,  die  ihm  sehr  zu  statten 
kommen  wird.  Bei  der  gänzlich  ungenauen  und  vorurteilsvollen  Auf- 
fassung historischer  Gegenstände,  von  der  wir  Proben  genug  gegeben 
haben,    wollen    wir    uns   jetzt    nicht    länger    aufhalten,   sondern    nur    die 


Joh.  Chr.  A.  Heinroth:  Über  die  Hypothese  der  Materie  usw.  175 


Meinung  des  Verfs.  so,  wie  er  sie  in  der  erwähnten  kleinen  Schrift  über 
die  Materie  angedeutet  hat,  voriäufig  in  der  Kürze  angeben,  damit  man 
den  Ursprung  derselben  erkenne  und  sie  nicht  als  etwas  Fremdes  und 
Neues  anstaune.  Denn  Hrn.  Hs.  Lehre  hat  wirklich  eine  philosophische 
Grundlage;  wenn  nun  auch  diese  Grundlage  sich  etwas  dünn  und  zer- 
brechlich zeigen  sollte,  so  ist  das  doch  immer  noch  weit  mehr,  als 
man    von   gewöhnlichen    Paradoxien -Jägern  sagen  kapn. 

Hr.  H.  ist  Kantianer  und  zwar  ein  solcher  (wie  es  scheint),  der  noch 
nicht   merkt,   daß   die    Zeit   fortgeschritten   ist;    der    vielmehr   noch   heute 
mit   vieler    Dreistigkeit    den    Kantianismus   auch   nach   seinen  schwächsten 
Seiten  hin  erweitem  möchte.    Die  Grundlage  seiner  Lehre  ist  nichts  Neues; 
vielmehr  dasselbe,  was  wir  als  Jünglinge   in    den  philosophischen  Schulen 
gelernt  haben.     Er  hat  das  Verdienst,  diese   mit  uns  altgewordene  Lehre 
deutlich  und  zum  Teil  passend,  vorzutragen.    Folgendes  sind  seine  eigenen 
Worte :   Kantius  in  omni  cognitione  distinguit  varietatem  eorum,  quae  sen- 
sibus   percipiuntur   (die    Materie   der  Erfahrung,    d.h.  die  Empfindungen), 
et    formam    cognoscendi    (Formen   der   Erfahrung,    das    heist   nach  Kant, 
Formen  der  Sinnlichkeit,    des    Verstandes  und  der  Vernunft);    quam   dis- 
tinctionem  non    temere  quisquam    infitietur    naturae    facultatis  cognoscendi, 
qua  praediti    sumus,    apprime    convenire     (die    Distinktion    ist  richtig    und 
notwendig,  die  Natur  des  Erkenntnisvermögens,  womit  wir  versehen  sind, 
ist    Erschleichung    und    Einbildung    der    alten,    unkritischen    Psychologie). 
Empirici   errant,   quia  cogitatio  perceptione  sola    non  absolvitur;    idealismo 
autem   addicti,    quia   perceptio   nequit   ex   mera   cogitatione   nasci.     (Und 
Hr.  H.  irrt,  weil  er  von  den  Formen  der  Erfahrung  den  wahren  Ursprung 
nicht  kennt.)     Si    cognitioni   pateret   materia   sive   substantia    rerum,    hanc 
cognitionem    aut    a  sensibus,    aut   ab    intellectu,    aut    a  ratione   proficisci, 
atque  perceptionis  ope  effici  necesse  esset.     Eins  autem,  quod  per  se  est 
(des  Dinges  an  sich)  cognitionem  neque  intellectus  neque  ratio  aßert:  ergo 
materiae  cognitionem  necesse  esset,    per  sensus    effici.     At  ubi  accuratius 
in  sensuum  perceptiones  in  quirimus,    statim   materiae   evanescunt.      Und 
nun  folgen  die  bekanntesten,    leichtesten  Bemerkungen,  wodurch  man  die 
ersten    Anfänger    in    die    Philosophie    einleitet,    daß    vom    Auge   nur    die 
Farben,   vom    Ohre   nur  Töne  usw.,  von  keinem   Sinne   aber   das  Solide, 
am    wenigsten    dessen     Bestandteile    wahrgenommen    werden.      Wie    aber 
nun    kommen   wir    denn   zur    Kenntnis   der   Materie,    und   zwar   zu   einer 
genauen,    so    konsequenten    Kenntnis,    die    sich    in    der    Gesamtheit    der 
Naturwissenschaften    fortwährend   erweitert?    Weiß   das    Hr.    H.?    Hat    er 
auch  nur  jemals  ernstliche  Mühe  angewendet,    es    zu  erfahren?  —   Plane 
apparet,    de    cognoscenda    materiae   natura    nobis    esse    desperandum    (ja 
freilich,    wenn    man   so    schnell    wie   Hr.  H.  am    Ende   aller   spekulativen 
Hilfsmittel    ist,    und    weder    Mathematik    noch    Metaphysik    ernstlich    zu 
studieren  Lust    hat);    hoc   unum    indagandum,    quid   sit,    quod  jubeamur 
materiam  omnino,  sive  substantiam  rerum  (starke  Verwechslung)  statuere,  cuius 
fundamento  omnes  res  ita  nitantur,   ut  neque  oriri  eo  non  parato,    neque 
sublato  valeant  perstare.     (Das  letztere  gilt  von  der  Substanz,  aber  nicht  von 
der    Materie.      Doch    der    Verf.  beantworte    nun    die    Frage,    die   er   sich 
vorlegte!  Statt  frisch  ans  Werk  zu  gehen,  fängt  er  an  zu  zögern.)     Quae 


j^,5  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


modo  sigillatim  exposita  sunt,  in  summam  sunt  colligenda.    Universus  ille 
rerum  complexus  nihil  est,  nisi  summa  cunctarum  perceptionum  nostrarum. 
Atque  hae   quidem   non   sunt  rerum    substantiae,    sed   aliquid    nobis   ipsis 
proprium.      (Gemeinplätze!)    Quare   qualescunque   tandem    per   se   sint  res 
externae,    sunt  merae  nobis,   sive   formae   sive  materiae    rationem  habeas, 
cogitationes.      (Wiederholung).      Nihilo    secius    tarnen    ita    formati     sumus 
atque  natura  instructi,  ut  contra  intellectus  Judicium,  idque  sive  ignorantes 
sive  spernentes,    sensuum  nostrorum  qiiodam    quasi  inslinctu  ducti   fretique 
(ja  wohl!  auf  eine  Art  von  Instinkt  sich  berufen,  ist  am  bequemsten,  wenn 
man    von    der    Sache    nichts    versteht)     substantiam    rerum     materiamve 
(vorige  Verwechslung)  alte  animis  nostris  infixam  quasi  teneamus.    Sed  ut 
redeamus    unde    digressi   sumus;    quid   est,    quo   jubeamur  tribuere  rebus 
stabile  illud  atque  immutabile,  quod  venit  nomine  substantiae,   cuius  funda- 
mentum  in  materia   hypothetica    ponimus?    Mens    ipsa    est,    in  qua  huius 
rei  necessitas    residet.     Est    nimirum   haec    innata  menti    humanae  lex,  ut 
quaelibet  sensuum    phaenomena    in   uniiatem   colligat   et    quasi  formet.     Da 
sind  wir  am  Ende;  der  Verf.  ist  weder  abgeschweift,  noch  zurückgekehrt; 
er  ist  gar  nicht  von  der  Stelle  gekommen.    Woher  alle  die  mannigfaltigen 
Eigenschaften  der  (Körper)  Materie  kom.men,  von  denen  die  Physiologen, 
die    Chemiker,   die    Physiker   so   vieles    zu    erzählen   wissen?    —  darüber 
mag  man  getrost  die  Sinne,  die  Erfahrung  fragen;    denn  unser  Geist  hat 
genug  getan,  indem  er  den  leeren  und   für  alle   Arten    der  Materie  gleich 
brauchbaren    Begriff  der    Einheit,    der   Substanz    hergab!    Sind  denn  nun 
Caloricum  und  Electricum  Substanzen  oder  nicht?  Gibt  es  zwei  elektrische 
Fluide  oder  nur  eins?  Der  Kantianismus  freilich  schweigt  darüber.    Doch 
ein  Schritt  ist  noch  übrig.    Kant  hatte  aus  der  Undurchdringlichkeit  der 
Materie,    die  zu   seiner   Zeit   im   unbestrittenen   Besitze    des    Rechts    war, 
alle  physikalischen  Lehrbücher  zu  eröffnen,   eine  Repulsiv- Kraft  gemacht; 
er  hatte  diese,  für  die  Existenz  der  Materie  in  der  Tat  gefähriiche  Kraft 
durch  eine  Attraktiv- Kraft  gezügelt;    um    die  Substanz  aber,    worin    beide 
vereint  sein  sollten,  sich   wenig  bekümmert.     Was  Wunder,  daß  mich  Hr. 
H.,  als   ob  er  die  vorhin   gerühmte   Natur   seines  menschlichen,   wohlein- 
gerichteten Erkenntnisvermögens  leicht  abschütteln  könnte,  den  Verstandes- 
begriff   der   Substanz    verschmäht    und    statt  dessen,    um   sich   mit    einem 
Sprunge  der  Wahrheit  zu  bemächtigen,  den  Nachbar  jenes  Begriffs,  näm- 
lich den  der  Kausalität,  ergreift?    Folgende  Worte  wollen  wir,  ohne  Aus- 
lassung eines  einzigen,  abschreiben:  Nihil  nisi  hypostasis  est,  si  materiam 
aliquid  per  se  esse  putamus.     Quae  rerum  per  ipsas  natura  est,    cernitur 
eo,  quod  sund;  esse  autem  eas,  eo  quod  agunt  aliquid;  agere  eas  porro, 
efficientia,    efficientiae    denique    causa   est  vis.     Itaque    cuiuslibet  rei  vera 
natura    est    definita    quaedam    sive    finibus    quibusdam    circumscripta    vis. 
Eines  autem  illi   lege  continentur:    quare   unaquaeque  res  vis  est  legi  ad- 
stricta,    rerumque  universitas  est  infinitas  virium  legibus  subjectarum,    sive 
mundus  dynamicus,  in  quo  illud    tantum   quaeritur,  quae  origo  sit  virium 
illarum  legumque.     Ging    uns    Hr.  H.  vorhin  zu    langsam,    so  ist   er    uns 
hier  zu  rasch.    Wie  die  Beschaffenheit  der  Dinge  (natura),  welche  ma?mig- 
faltig  ist,  erkannt  werde  daraus,    daß   sie  sind,    welches  ihnen  gemeinsam 
ist,  davon  verstehen  wir  nichts.     Daß  man  zum  Geschehen  ein  Tun  und 


Job.  Chr.  A.  Heinroth:    Über  die  Hypothese  der  Materie  usw.  177 


zum  Tun    ein    Seiendes    hinzuzudenken    pflege,    z.  B.    zum    Fühlen    ein 
tätiges  und  darum  seiendes  Gefühlsvermögen,  oder  zum  Herannahen  eines 
Körpers    an    den    andern    eine    Attraktionskraft,    dies    ist    uns  nur  gar  zu 
wohl    bekannt,    denn    diese  falschen  Fortschreitungen  des  Meinens  gelten 
leider  manchem    Philosophen    für    gute    Schlüsse;    wir   haben   aber  diesen 
Verkehrtheiten   schon   längst   so    laut    widersprochen,    daß    selbst    Hr.    H. 
hätte   davon   hören    können.      Abgesehen   hiervon    wird    jeder    Kantianer 
demselben  sagen  können,  was  wir  schon  vorhin  bemerklich  machten,  näm- 
lich, daß  die  Begriffe  des  Wirkens  und  Tuns  und  der  Kraft  —  mit  einem 
Worte    der    KausalbegrifF   —  im    vorliegenden  Falle   noch   etwas    weniger 
Vertrauen   verdient,    als   der   Begriff  der   Substanz.     Denn    soviel    wissen 
doch  in  der  Regel  die  Kantianer  von  den  Schicksalen  ihres  Systems,  daß 
gerade  gegen  die  Inkonsequenz,  womit  Kant  selbst  den  Kausalbegriff  zur 
Erklärung  des  Ursprungs  unserer    Empfindungen    aus    dem    Einwirken  der 
Dinge  an  sich  anwendete,   die  ersten  durchdringenden  Angriffe  gegen  das 
System   gerichtet   waren.     Dadurch    sollte   man  in   Ansehung  des  Kausal- 
begriffs doch  endlich  hinlänglich  gewitzigt  sein.     Aber  noch  mehr!   Kant 
selbst  hat  sich  von  dieser  Inkonsequenz  frei  erhalten  in  der  Untersuchung 
der  Materie.      Diese   bleibt    bei    ihm   im    Gebiete   der    Erscheinung:    und 
gerade  dadurch  ist  der  transzendentale  Idealismus  ganz  besonders  charakte- 
risiert.    Geschah  es    vermöge   der    Einrichtung    des    Erkenntnisvermögens, 
daß    die    Materie    als    Substanz   hypostasiert  wurde,    so   geschieht    es   aus 
eben  dem  Grunde,  und   mit  eben  den  Einschränhingen ,   daß  die  materielle 
Welt  durch  den  Kausalbegriff  aufgefaßt,  sich  in  einen  mundus  dynamicus 
verwandelt.      Im    Znsammenhange    dieses^    einzig   und   allein    aus    Kantischen 
Materialien  zusammengesetzten    Vortrages,  bedeutet  die  ganze    Verwandlung^  ja 
der  mtcndus  dynamicus  selbst  durchaus  nichts    weiter  als    eine    Vorstellung 
und  Zusammenfassung   desse?i,   zvas  dem  Mefischen  erscheint,   nach  Gesetzen  des 
menschlichen  Denkens.     Und  jetzt  überlege    Hr.   H.  selbst,    was  ihm  weiter 
begegnet  ist.    Nämlich  auf  den  §  24,  den  wir  oben  größtenteils  abgeschrieben 
haben,    folgt    nun    sogleich    und    unmittelbar,    folgender   §   25:    Nee   vires 
finitae  sine  vi  infinita,  nee  leges    sine    legislatore   cogitari  possunt.     x\tqui 
nullam  novimus  infinitam  sive  liberam  vim,  nisi  voluntatem,  neque  legum 
ferendarum    fontem  alium,   quam  intelligentiam.     (Es  lohnt  nicht,  hier  auf 
das    schwache:    nullam    novimus   aufmerksam    zu    machen;    man   bemerke 
nur,   wohin   der  Verf.   durch   den  vorigen  §  gelangen  wollte.)    Ergo  mundus 
sive  rerum  universitas    pro    effectu    habendus    et   voluntatis   et   intelligentiae, 
quae    eadem    necessitate   cohaerent    qua  vis   et  lex,    qua   materia    et  forma. 
Ut  aliis  veibis  dicamus,   res  creatae  creatorem  requirunt   ut  causam  sufficientem. 
Wo  sind  wir?    Im  Leibnizischen  Systeme?     Da  würden  diese  Worte  ihre 
volle  Bedeutung  haben.    Aber  unser  Verf.  muß  gänzlich  vergessen  haben, 
welches  Weges  er  gekommen  ist,  und  welchen  Sinn  seine  Reden  deshalb 
mit  sich  führen.      Wenn    hier    ein    offener,    auch    noch    so  schmaler  Fuß- 
steig wäre,   oder  jemals  versucht  werden  dibfte.    schon    längst    wäre  durch 
die  Bemühungen  so  vieler  Kantianer  eine  breite  und  bequeme  Straße  zu 
Stande  gekommen.     Aber   das  Schauspiel,    welches   uns  Hr.  H,  darbietet, 
ist  noch  nicht  zu  Ende.    Ohne  im  geringsten  zu  merken,  daß  er  die  Wolke 
statt  der  Juno  umarmt  hat,  beginnt  er   sogleich  mit  geistlichem  Stolze  zu 

Herbarts  Werke.     XIII.  ^^ 


j^3  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


Zürnen  auf  Andersdenkende,  Si  vera  sunt,  quae  de  materiae  vanitate  non 
statuimus  modo,  sed  vero  etiam  probavimus  (zu  seinem  eignen  Miß- 
geschick!), cuncta  illa,  quae  materialismi  sectatores  mira  insolenfia  somniant^ 
illico  corruunt  jure  nobis  indii^iabjmdis  repudiata.  Und  doch  wird  Hr.  H., 
falls  er  seinen  Mißgriff  einsieht,  damit  anfangen,  die  Realität  der  Materie 
verteidigen  zu  helfen.  Denn  erst  nachdem  dies  gelungen  sein  wird,  taugt 
die  Körperwelt  zum  Fundament  für  höhere  Überzeugungen.  ■  Könnte  es 
nicht  gelingen,  müßte  die  INIaterie,  als  bloße  Erscheinung,  auf  Kräfte,  nach 
unsern  Denkgesetzen,  zurückgeführt  werden:  so  bliebe /ra//c/z  auch /«> 
den  Stützpunkt  dieser  Denkgesetze  der  Satz :  mundus  pro  effectu  habendus  est, 
noch  schärfer  zu  beweisen.  Übrigens  ist  der  Verf.  sehr  sicher  davor,  daß 
wir  nicht  die  Hrn.  Oken  usw.  gegen  ihn  zu  schützen  suchen  werden. 
Diesen  Herren  mag  er  das:  ex  nihilo  nihil  fit,  so  lange  predigen  als  ihm 
beliebt;  um  so  lauter,  da  er  ja  auf  Angriffe  völlig  gefaßt  ist.  Haud  laudibus 
mulcebitur  nostra  de  materiae  vanitate  sententia,  utpote  Astronomiae, 
mechanicae^  physices  atomisticae ,  cheviiae  elementaris ,  physiologiae  materialis, 
psychiatriae  somaticae  interitum  vaticinans  sed  uno  ore  „quae  te  dementia 
cepit"  clamabunt.  Welcher  Eifer!  Aber  die  Materie  ist  fühllos;  sie  läßt 
sich  auf  solche  Weise  nicht  erwärmen,  viel  weniger  erweichen;  vollends 
wenn  man  sie  erst  für  einen  Effekt,  zu  welchem  eine  Ursache  gehöre, 
und  dann  den  Effekt  für  ein  Hirngespinst  erklärt,  woraus  folgen  würde, 
daß  auch  die  hinzugedachte  Ursache  nichts  weiter  als  ein  psychologisches 
Phänomen  wäre. 

Wir  kennen  nun  im   voraus  der  langen  Rede  kurzen  Sinn ;  allein  in 
dem    größeren    Werke    über    die    Materie    uns    nach    den   näheren    Be- 
stimmungen dieses  Sinns  umzusehen,  dazu  ist  noch  nicht  die  Zeit.    Denn 
beim  Verf.  ist  der  Kern  nicht  hier,  sondern    bei  den  Seelenstörungen  zu 
suchen;    um    diese    glaubt    er   sich   das   doppelte   Verdienst   der  richtigen 
Beurteilung  in  den  Gerichtshöfen,  und  in  der  Heilung  erworben  zu  haben. 
In  der  Tat  die  Geisteszerrüttungen  bezeichnen  eine  für  die  gesamte  Philo- 
sophie höchst   wichtige  Stelle,    wo    alle  einzeln    geführten  Untersuchungen 
richtig  zusammentreffen  müssen,    wenn  nicht  irgend  eine  zugelassene  Un- 
richtigkeit es  unmöglich  macht.     Wer   wird  leugnen,    daß  moralische  Ge- 
brechlichkeit, Unlauterkeit  und  eben  deshalb  mehr  oder  weniger  Verschuldung 
in    jeder    Geistesstörung    sich   müsse    auffinden     lassen?     Zu    jeder    Ver- 
suchung,  welcher   die    Tugend    des   Menschen  unterliegt,    läßt  sich  je  ein 
Grad  von  sittlicher   Charakterstärke   hinzudenken,    wodurch,    falls  er  vor- 
handen   wäre,    die    Versuchung,    wie   groß    sie   auch    sein  möchte,    über- 
wunden worden  wäre.     Ebenso  nun  kann    man  zu  jeder,  eben    erst  ent- 
stehender, Verwirrung  der  Gedanken,  einen  Grad    von   Bestimmungskraft 
annehmen,  von  hinreichender  Energie,    um   den  einbrechenden  Wahn  zu 
durchschauen   und    zu    verwerfen.      Und   sicherlich  gehört   es  mit  zu    den 
Anstrengungen   des    sittlichen    Menschen,    sich    der    Täuschungen   zu    er- 
wehren,  die   seinen  Geist   zu  verdüstern  drohen.     Andrerseits  aber  legen 
die   bekanntesten  Tatsachen    des  Schlafes   und  des  Traumes  uns  die  Er- 
innerung nahe,  daß  man  sich  zwar  auch  des  Schlafs  erwehren  könnte,  — 
nämlich   für   eine  Zeitlang    —    daß   man   sich  aber  ihm  samt  dem  Wahn 
der  Träume  preisgeben  solle,    um  das  äußerste  des  Mnssens,  nach  gar  zu 


Job.  Chr.  A.  Heinroth:    Über  die  Hypothese  der  Materie  usw.  ijq 


langem  Aufschübe,  nicht  abzuwarten.  Denn  endlich  ist  doch  der  Leib 
mächtiger  als  der  Geist;  und  man  muß  entschiedener  Idealist  sein,  um 
dies  zu  verkennen.  Also  wird  der  Philosoph,  der  die  Seelenstörungen 
untersuchen  will,  hier  an  Psychologie  und  Naturlehre  und  INIoral  zugleich 
erinnert;  und  aus  allen  diesen  Disziplinen  muß  ihm  die  nötige  Vor- 
bereitung zu  Gebote  stehen.  Unser  kritisches  Geschäft  führt  uns  dem- 
nach dringend  genug  wenigstens  zur  Psychologie  des  Verfs.  Daß  die 
Gefahr  einer  Abschweifung  für  uns  nicht  zu  groß  werde,  dafür  ist  gesorgt. 
Wir  haben  es  ja  erlebt,  daß  in  einer  Anthropologie  ein  langes  und 
breites  vom  Kern  der  Erde  geredet  wurde;  wie  sollten  wir  uns  wundern, 
wenn  Hr.  H.  in  seiner  Psychologie  schon  im  ersten  Viertel  des  Buches 
mit  der  Seele  an  sich  beinahe  fertig  wird,  um  alsdann  fast  dreiviertel 
desselben  Buches  auf  die  Verbindung  der  Seele  mit  dem  Leibe,  der  Welt^ 
dem  Geiste  und  Gott  zu  verwenden.  Von  der  Materie  ist  demnach  in 
einem  solchen  Buche  genug  für  unsern  Zweck  zu  finden.  Aber  das  nil 
admirari  haben  wir  in  einer  andern  Hinsicht  nötig  uns  einzuprägen.  Vor- 
hin berichteten  wir:  Hr.  H.  sei  Kantianer;  wir  haben  die  Belege  nicht 
bloß  hierzu,  sondern  auch  zur  Scheidung  seiner  Lehre  von  der  Schelling- 
schen  angegeben.  Oder  kann  man  der  letztern  zugetan  sein,  wenn  man 
es  tadelt,  daß  sie  (wie  oben  bemerkt)  e  mentis  propriae  penu  die  Materie 
konstruieren,  um  dieselbe  desto  fester  zu  halten?  —  Aber  in  der  Psycho- 
logie des  Verfs.  werden  wir  zu  unserm  Schrecken  überführt,  daß  unser 
voriger  Bericht  wenig  genau  war.  Beim  ersten  Aufschlagen  stoßen  wir 
auf  Stellen  wie  folgende :  „Es  ist  nicht  denkbar,  daß  Raum  und  Zeit  bloße 
in  uns  liegende  Formen  seien;  die  starre  Form  würde  die  Seelentätig- 
keiten zu  etwas  rein  mechanischem  stempeln.  Derselbe  Vorwurf  triftt  die 
Kantischen  Kategorien."  Und  weiterhin:  „Es  ist  eine  nicht  bloß  kümmer- 
liche, öde  und  leere,  sondern  auch  alle  Naturwahrheit  und  Lebendigkeit 
verläugnende  Ansicht,  wenn  nach  Kantischer  Weise  angenommen  wird, 
daß  "die  Sinne  eben  nur  den  Stoff  zu  der  Tätigkeit  des  Verstandes  liefern.'' 
Dieser  Gegner  Kants  zählt  dagegen  mit  Schelling  Kräfte  der  Ei7iheii, 
Ziueiheii,  Dreiheit,  welche  bedeuten  sollen  Magnetismus,  Elektrizität  und 
Chemismus;  —  eine  Torheit,  die  schon  zu  alt  geworden  ist,  um  heute 
noch  darüber  zu  lachen.  Ist  denn  dieses  Buch  früher  geschrieben  oder 
später,  als  jene  Abhandlung  de  materiae  hypothesi?  Beide  tragen  die 
Jahreszahl  1827  auf  dem  Titel.  Aber  zufällig  begegnete  uns  beim  Auf- 
schlagen der  Psychologie  gleich  folgende  Note  S.  292;  welche  wir  her- 
setzen wollen,  weil  sie  auf  das  Verfahren  des  Hrn.  H.  ein  Licht  wirft. 
Sie  lautet  wörthch  folgendermaßen :  „Der  Verf.  hat  —  die  Durchkreuzung 
der  Zahn-  und  Geschlechts-Entwicklung  aufgestellt;  eine  durch  nichts  er- 
wiesene und  vielleicht  ohne  Mühe  umzustoßende  Hypothese.  Da  er  sie 
aber  einmal  hier  adoptiert  hat,  so  mtißte  er  sie  auch  als  legitimes  Kind  be- 
handeln, d.  h.  nicht  als  Hypothese,  sondern  als  rem  in  facto  positam. 
Daher  die  Entschiedenheit  in  der  Darstellung,  welche  man  nicht  für  An- 
maßung auslegen  möge.  Jede  andere  auf  Gri'mden  ruhende  Erklärung  ist 
dem  Verf.  ebe7tso  willkommen^'-  Solche  Stellen  zu  weitergreifenden  Ana- 
logien zu  benutzen,  und  z.  B.  anzunehmen,  Kants  Lehre  sei  für  den  Verf. 
eine  Hypothese,    die  er   nach  Bequemlichkeit  adoptiere  und  verstoße,   — 

12* 


l8o  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

möchte  mißlich  sein;  indessen  enthält  die  Vorrede  des  Buchs  eine 
Äußerung,  welche  einem  Bekenntnisse,  schon  früher  sich  Vorwürfe  zu- 
gezogen zu  haben,  sehr  ähnlich  sieht.  Da  heißt  es:  Ferner  wird  man 
vielleicht  mich  aus  diesem  Buche  durch  Stellenvergleichungen  Widersprüche 
herausklauben,  und  so  zu  zeigen  meinen,  daß  sich  die  Einheit  des  Ganzen 
durch  den  Widerspruch  der  Teile  vernichte."  Und  wie  gedenkt  sich 
denn  wohl  in  solchem  Falle  der  Verf.  aus  der  Verlegenheit  zu  ziehen? 
—  ,,Bede?ikt  man  aber,  daß  sich  auf  den  verschiedenen  Stufen  der  Betrachtung 
die  Gesichtspunkte  verändern,  und,  zvas  ifu  niedern  U7id  engern  Kreise  galt 
jind  sich  behauptete,  ?iicht  seile?!  im  höhere??  tmd  freiere??  seine  Wahrheit  auf- 
geben muß,  so  tüird  ???an  lüohl  ?nit  diese???  Vorwzaf  ?iicht  zu  ß-eigebig  sein." 
Dabei  wollen  wir  für  jetzt  bloß  soviel  erinnern,  daß  nichts  schwieriger  und 
nichts  nötiger  sein  kann,  als  in  solchen  Fällen,  wo  gewisse  Behauptungen 
nur  auf  gewissen  Standpunkten  richtig  sind,  diese  Verschiedenheit  der 
Standpunkte  höchst  sorgfältig  sich  selbst  und  andern  einzuprägen,  um  sie 
festzuhalten;  weil  sonst  Verwechslungen  zu  fürchten  sind,  wodurch  aller 
Wert  der  Philosophie  verloren  geht.  Wie  Hr.  H.  die  Standpunkte  ver- 
wechsele, davon  sehen  wir  oben  schon  ein  merkwürdiges  Beispiel,  indem  er 
die  wichtigsten  Lehren  in  einem  Zusammenhange  darstellte,  welchem  gemäß 
sie  nur  für  Erscheinungen  Gültigkeit  haben  würden! 

Welches  nun  auch  die  Erklärung  der  Möglichkeit  sein  möge,  daß 
ungleichartige  Gedankenkreise  in  Hrn.  H.s  Kopfe  nebeneinander  bestehen: 
die  Tatsache  liegt  vor  Augen,  daß,  so  gewiß  jene  kleinere  Schrift  den 
Kantianer  zeigte,  der  ?iicht  mit  Fichte  über  Kant  hinausgehen  will,  viel- 
mehr dieses  Hinausgehen  ausdrücklich  verschmähet,  —  ebenso  gewiß  das 
andere  Buch,  welches  Hr.  H.  Psychologie  zu  nennen  beliebt,  und  seinem 
wahren  Wesen  nach  den  Schellingianismus  repräsentiert.  Gerade  die  nämliche, 
spielende,  tändelnde,  grund-  und  bodenlose  Deutelei,  —  denn  das  ist  der  einzig 
rechte  Name  dafür,  —  welche  für  Schellings  Jugendjahre,  aus  denen  sie 
stammt,  passen  mochte,  und  deren  Verbreitung  in  viele  schwächere  Köpfe 
als  eine  Laune  der  Zeit  gelten  konnte,  —  diese  Deutelei,  welche  reichern 
Stoff  in  den  Naturwissenschaften  fand,  hingegen  den  ärmlichen  Vorrat 
der  empirischen  Psychologie  nur  teilweise  zu  benutzen  Lust  hatte,  und 
seltener  antastete,  findet  sich  so  offenbar  wieder,  daß  nichts  verändert  ist, 
als  nur  der  Ton.  Ein  angenehmer  Fluß  der  Rede  ist  Hrn.  H.  eigen,  wäre 
dies  ein  Geschenk,  was  der  Psychologie  helfen  und  ihre  Schwierigkeiten 
erleichtern  könnte,  so  hätte  sie  ihm  Dank  abzustatten. 

Allein  dafür  kann  sie  ihm  nicht  danken,  daß  er  ein  paar  hundert 
Seiten  eines  breitfließenden  Vortrags  daran  gewendet  hat,  um  ein  leeres 
Gerede  von  der  Seele  an  sich^  zur  Abwechslung  einmal  als  einen  neuen 
Eingang  für  Schellings  Naturansichten  zu  benutzen.  Aus  dem  alten 
Seelenvermögen  macht  er  eine  Seele  als  Trieb,  als  Gemüt,  als  Vorstellungs- 
kraft, als  schaffende  Kraft,  als  moralische  Kraft,  in  persönlicher  Indivi- 
dualität, als  bildungs-  und  verbildungsfähiges  Wesen,  und  endlich  —  um 
mit  einer  Satire  auf  sich  selbst  zu  schließen  —  redet  das  erste  Buch 
zuletzt  noch  von  einer  E?itivickl?ing  der  Seele  zur  Ei?ihcit  und  Ganzheit \ 
vermutlich  also  war  die  Seele  vorher  nicht  Eins  und  kein  Ganzes,  sondern 
damit  Vieles  Eins  werde,   muß  eine  Entwicklung,  wie  ?iun,    des    Viele??  zu 


Joh.  Chr.  A.  Heinroth:    Über  die  Hypothese  der  Materie  usw.  i8l 

Einem,  oder  des  Einen  zu  Vielem  ?   vor  sich  gehen !   Daß  die  Seelenvermögen 
einen    Trieb    an    ihrer  Spitze  sehen,    ist   Fichtes   Werk;    und    die   wahre 
Geltung  dieses  Werks  ist  keine  andere  als  eine  historische;  d.h.  der  Trieb 
im  Ich  gehört    in    die    Gedankenreihe  der    Wissenschaftslehre,    aber  nicht 
in  die  wahre  Psychologie,   welcher  gemäß   die  Vorstellungen    nur  treiben, 
sofern  sie  gehemmt  sind.    Denjenigen,  welche  irgend   einen  Urtrieb  in  die 
Seele    hineinlegen,   hätte    zum    allermindesten    eine    Analogie   mit    Kants 
Besorgnis  einfallen  sollen,  seine  Repulsivkraft   werde  die  Älaterie  ins  Un- 
endliche zerstreuen,  wenn  ihr  nichts  entgegenstünde.    Daß  auf  den  Trieb 
das  Gemüt  folgen  würde,  war  von  einem  gemütlichen  Manne,  wie  Hr.  H., 
zu  erwarten ;  aber  diese  Gemütlichkeit  ist  polemisch  genug,  um  mit  längst 
verworfenen  Einfällen  gegen  bessere   Denker    um  sich   zu  werfen.     Kaum 
hat  er  seinen  Vortrag  begonnen,  so  rühmt  er  sich  in    einer  Note:    „Hier 
ist    auf  einmal,   fast   zufällig,  wenigstens   ganz    ungesucht,    das    Gefühlver- 
mögen, welches  ein   berühmter  Philosoph  neuerlich  sozusagen  mit   Stumpf 
und  Stiel  ausrotten  wollte,  als  die  allererste  Bedingung  unserer  Selbstheit 
abgeleitet,   als  das    Grundvermögen   unserer  Seele."'    Der  stärkste  Grund,  den 
Hr.   H.   für  seine  Ableitung  anführt,    ist  der:    ivenn  das  Kind  nicht  fühlen 
könnte,  kein    Gefühlvermögen  hätte,   zvüide  es  nicht  schreien.    Allein  für  Lieb- 
haber  einer   längeren    Rede   ist   auch   gesorgt:   man    vernehme    folgenden 
Kettenschluß:    „Das  Nächste,  was  wir  finden,    wenn  wir  an  unser  Selbst 
denken,  ist:    daß    es  eben  ein  Selbst,    d.h.  für  sich    etwas  —  nicht  bloß 
ist,   sondern   auch   sein   und   haben   will.      In    diesem  für   sich   selbst  sein 
und  haben  wollen  liegt  der  ganze  Charakter  unseres  Selbst  als  natürlichen 
Wesens  verschlossen.    Das  Sein  unseres  Selbst  besteht  eben  in  seiner  Selbst- 
heit d.  h.  in  dem  Streben  nach  Sein  und  Haben.    In  unserer  Seele  liegt 
also  ursprünglich  ein  Mangel,  ein  Bedürfnis.    Dies  bestätigt  sich  eben  durch 
unser  Streben.     Hätten  wir  das  vollständige  Sein  (Leben),  so  strebten  wir  nicht. 
Wir  würden  aber  auch  nicht  streben,  wenn  wir  nicht  hegehrten,  und  wir  würden 
nicht  begehren,  wenn  wir  nicht  bedibften.    Wir  würden  aber  wiederum  vom  Be- 
dürfnis nichts  wissen,  wenn  wir  es  nicht  fühlten ;  und  endlich  würden  wir  kein 
Bedürfnis  fühlen,  wenn   wir  nicht    Gefühlvei mögen  hätten.    Hier  stoßen  wir 
auf  die  lebendige    Wurzel   unseres   Selbst,    auf   das   Vermögen    zu  fühlen, 
mithin  auf  Vermögen  überhaupt."    Ja  freilich,  ab  esse  ad  posse  valet  con- 
sequentia;  und  diejenigen,  welche  das  Gefühlvermögen  leugnen,  sind  dennoch 
nicht    so    hartnäckig,    gegen    die    Möglichkeit    des    Fühlens   zu    disputieren; 
Hr.   H.  muß  also  wohl    nicht    recht  vernommen  haben,   wovon  in  diesem 
Streite    eigentlich    die  Rede    ist.     Aber   von   dem  Streben   im  Ich  hat  er 
irgend  einmal  etwas  gehört;  wir  können  auch  sagen,  woher  sein  Argument 
stammt.    Fichtes  Sittenlehre  ist  das  merkwürdige  Buch,  worin  für  mancherlei 
Gedanken,    die   sich  jetzt   in    Hrn.    Hs.    Kopfe    bewegen,    der   Anfang  zu 
suchen  ist.     Fichte  machte  einen  auffallenden    und   längst  gerügten  Fehl- 
schluß., indem   er  aus   dem   Ich   —   der  Identität  des  Denkenden  und   Ge- 
dachten,   aufsteigend     zuerst     durch     erlaubte    Abstraktion,    ableitete    eine 
Identität  des  Handelnden  und  Behandelten.,    um  alsdann   durch    eine  falsche 
Determination  hierin  ein   Handeln  ohyie  Denken  zu  suchen,   wozu  ihn   die 
Frage  trieb:    ik:as  ist  das  letzte  Objekt  im  Ich?  Diese  Frage  ist  von  Fichte, 
als  einem  echten  spekulativen  Denker,  aufgeregt,    aber  ganz  unrichtig  be- 


l82  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


handelt  worden.    Die  Mißgrifie,  die  daraus  entstanden,  klebten  schwächern 
Köpfen  an;    und   das    ist  ein   Hauptgrund   des    nachmaligen   Verfalls    der 
Philosophie.    Verfallen  ist  sie,  und  gesunken  bis  zu  solchen  Schwächen,  der- 
gleichen wir,  um  zu  dem  schon  oben  Gesagten  die  nötigen  Belege  anzuführen, 
hier  in  kurzen  Proben  aus  des  Verfs.  Psychologie  entnehmen.    Die  Rede 
soll  auf  die  Sinne  gelenkt  werden ;   zur  Vorbereitung  geht  das  Eins,  Zwei, 
Drei  des  Magnetismus,    der  Elektrizität  und    des  Chemismus  voran;    dem 
zufolge  gibt  es  magnetische^  elektrische  und    chemische  Sinnesreihen  mit  einer 
äußern    und    innern    Seite.      Folglich    sind    der    Sinne    nicht  fünf,    sondern 
sechs.      Woher   aber    nimmt   man  den    sechsten    Sinn  ?    Den   Gefühlssinn 
zerlegt  er  in  den  Tastsinn  und  in  den  Sinn  für  Wärme  und  Kälte;  dies 
ist  psychologisch  richtig.     Denn  warum    sollte   die    Psychologie    sich  nach 
der  Zahl  der  Organe  richten?  Ihr  kommt  es  vielmehr  auf  die  verschiedenen 
Klassen  der  Empfindungen  an.    Fahren   ivir  nun  so  fori !  Die  Empfindungen 
des  Getastes  und  die  der  Wärme    sind  disparat;    gerade  das  nämliciie  gilt 
von  den  Empfindungen  der  Musiktöne  und    der  Vokale,  desgleichen  von 
denen  der  Vokale  und  der   Konsonanten,    oder    des  tonlosen    Geräusches 
überhaupt.     Auch   fürs   Auge   ist   der   Sinn   für   die   Farben   von    dem  für 
Helles  und  Dunkles  so  verschieden,    daß  man  im    Kupferstich    die   Farbe 
ganz  zufällig  erachtet  und  sie  meistens  wegläßt.    Woran  dachte  denn  wohl 
Hr.  H.,  als  er  aus  zivei  mal  drei  die.  Anzahl  von  n?ir  sechs  Sinnen  konstruierte.^ 
—  Er  dachte  zuerst  an  den  Magnetismus.    Wird  jemand  erraten,  welches 
der  innere,  und  welches  der  äußere  magnetische  Sinn  sei  ?  Ist  es  leichter, 
die    beiden    elektrischen    Sinne    zu    erraten?     Aber  von    den     chemischen 
Sinnen    errät    man     leicht     den    einen;    denn    das    Schmecken    lehrt    zwar 
niemanden  Chemie,  allein  wir  wissen  ja  aus  der  Physik,  daß  Salze,  indem 
man     sie     schmeckt,     sich    auf    der    Zunge    auflösen.       Das    genügt;    ob 
alles  Schmecken    auf    chemischen    Verhältnissen   beruhe,    muß    man    nicht 
fragen!    Nun   ist  der    Weg   der    Deutung   off"en.     Geruch   und   Geschmack 
sind  Nachbarn;   dieser  Wink  ist  leicht  zu  verstehen;  der  Geruch  gibt  uns 
den    zweiten   chemischen    Sinn;    gelegentlich    lernen    wir   dabei;    daß    der 
Stickstoft   widrig    und    der    Sauerstoff  angenehm   riecht.     Soweit   kann  ein 
gelehriger  Schüler  die  Sache  noch  allenfalls  verstehen,  wenn  er  seine  un- 
bescheidenen   Nebenfragen   zurückhält.      Aber    für   die   magnetischen    und 
elektrischen    Sinne   muß    man  tapferer   deuteln.       Wir    wollen  eine    kleine 
Übung  nicht  scheuen.     Lichtstrahlen  und  Schallstrahlen    sind  die  Vehikel 
des  Sichtbaren  und  Hörbaren;  der  positive  oder  aktive  Pol  ist  das  Objekt, 
der  negative  oder  passive  Pol  ist  das  Subjekt;  der  Strahl  zwischen  beiden 
ist  ein  offenbarer  Magnet;  also  —  Gesicht  und  Gehör  sind  die  magnetischen 
Sinne;  jenes  der  äußern,  dieses  der  innern.    War  es  so  recht?   —   Nichts 
weniger;  wir  haben  uns  vergriffen.     Gesicht  und  Gehör  sind  die  elektrischen 
Sinne!    Und  warum?    „Wie  die   Naturkrajt  (Elektrizität)    sich  in  offenbarer 
Trenming  ausspricht^  so  sind  jene  Sinne  auch    in   getrennte    Organe   verteilt." 
In  offenbarer  Trennung?     Diese  Neuigkeit  ist  noch   etwas  unverdaulicher, 
als  jene,  daß  der  Sauerstoff  angenehm  rieche.    Gerade  umgekehrt  entsteht 
nach  dem  Gesetze  der   sogenannten  elektrischen    Verteilung  allemal   -\-  E 
neben  —  E,  und  —  E   neben  -j-  E,    und    wahrscheinlich    um    vieles   ge- 
schwinder,   als   neben    einem    abgebrochenen    Nordpol   sich   ein  deutlicher 


Joh.  Chr.  A.    Heinroth:    Über  die  Hypothese  der  Materie  usw.  183 


Südpol  ausbildet;  denn  dazu  gehört  nach  der  iVussage  der  Physiker  einige 
Zeit,   ehe  die  Pole    eine  feste    Lage   gewinnen.     Hingegen   der  elektrische 
Kondensator,    welcher   auf  der   elektrischen  Verteilung   in  einem  belegten 
Isolator  beruht,    läßt  nie   auf  sich    warten,   wenn    die   Elektrizität  einiger- 
maßen tätig  ist.    Um  nun  dies  zu  wissen,  und  um  das   +  ""d  — •  E  nicht 
etwa    in     den    Belegungen    zu    suchen,     während    der    Isolator    durchweg 
polarisiert  ist  und  hierin  einem  Magneten  vollkommen  gleicht,   —   braucht 
man    einige    physikalische    Kenntnisse.      Aber    welche    Kenntnis  ist   nötig, 
um  die   Behauptung,   das  Gesicht  sei  der  Raumsinn,    das  Gehör  der  Zeit- 
517111,  zu  widerlegen?   Muß   man  etwa  Musik  gelernt  haben,  um  zu   wissen, 
daß  mit  den  Ohren  nicht  bloß  das  Successive  der  Melodie,  sondern  auch  das 
Gleichzeitige  der   Harmonie  vernommen  wird?  Die  Harmonie  besteht  aus 
hohem  und  tieferii  Tönen;    ein   Unterschied,    der  mit  der  Zeit  gar  nichts, 
mit  dem  Räume  aber,    vermöge    einer  sehr   wesentlichen   Analogie,    desto 
mehr  zu  tun   hat.      Doch  gesetzt,    auch  hierzu  wäre  noch  einige   Kenntnis 
nötig:    gibt  es   denn    irgend    ein    menschliches  Wesen,    welches    sich    ein- 
bildet,  fnan   höre  die  Zeit,    aber  diese    nämliche  Zeit   könne  man  nicht  sehen? 
Jedermann    weiß,    daß    sie    ebensogut    gesehen    als   gehört   wird;    ja    der 
Musikdirektor  zeigt  den   Augen  die   Zeit  und  nimmt    allenfalls   ein   Pendel 
zu  Hilfe,  damit  man  sie  genauer  sehe  als  höre.    Wären  diese  Betrachtungen 
geringfügig,    wären    sie    ohne    Einfluß    auf    die  Philosophie    überhaupt,    so 
würden  wir  uns  nicht  dabei  aufhallen.      Allein  wer  die  Wissenschaft  und 
ihre  Streitpunkte  kennt,   der  muß  wissen,  daß  die  Frage,   zvie  die  Vorstellnngen 
des  Räumlichen   und  Zeitlichen   in   die  sifinlichen  Enipfindtmgen   hineinkommen, 
zu   den    allerersten    und  notwendigsten    Gnindfrageii  gehört.     Daher  jemand, 
der  hierüber  unbesonnene  Reden  hören  läßt,  sogleich  verrät,  daß  es  ihm 
für  die  ganze  Wissenschaft  an  den  Vorbereitungen   fehlt.    So  etwas  scheint 
Hr.   H.    gefühlt    zu   haben.      Denn    nachdem     er    durch    die    vortrefflichste 
aller  Deduktionen   seine   sechs   Sinne  vollkommen   begreiflich  gemacht  hat, 
fährt  er  unmittelbar  also  fort:    ,,Wir  können  die    Weisheit,  die  in  der  Ein- 
nchtung  der  Sinne  lebt,    nur  bestaunen,   nicht  begreifen  !"■    In  diesem  Punkte 
ist  Rez.  mit  Hrn.  H.  im  vollsten  Ernste  einverstanden;  daher  möchte  es 
ratsam  sein,  jede  vorgebliche   Deduktion    einer  bestimmten    Zahl  und   Art 
der  Sinne  gerade  ins   Feuer  zu  werfen. 

Bei  einem  Schriftsteller,  der  (wie  wir  oben  sahen)  gelegentlich  Hypo- 
thesen adoptiert,  sie  dann  als  legitime  Kinder  behandelt,  ja  sogar  als 
,,res  in  facto  positas;"  und  der  hintennach,  um  nicht  für  anmaßend  zu 
gelten,  die  geschehene  Adoption  wieder  aufgibt:  ist's  nun  freilich  schwer, 
herauszufinden,  was  eigentlich  bei  ihm  feststehe.  Das  Sicherste  ist  unter 
solchen  Umständen  anzunehmen,  der  Irrtum  sei  überhaupt  bei  ihm  nicht 
festgewurzelt:  und  er  werde  ihn  vielleicht  irgend  einmal  aufgeben.  Hr.  H. 
hat  in  frühern  Jahren  eine  Philosophie  gelernt,  die  zu  ihm  nicht  paßt; 
dies  Schicksal  teilt  er  mit  manchen  andern.  Nun  weiß  er  nicht,  wäe  er 
davon  loskommen  soll;  der  Irrtum  ist  für  ihn  eine  Krankheit,  deren  Sitz 
man  nicht  kennt.  Wie  wäre  es,  wenn  man  die  Krankheit  einmal  bei 
andern  zu  beobachten  suchte?  Hr.  H.  hat  vermutlich  vergessen  oder  nie 
gewußt,  daß  die  Lehren,  welche  er  predigt,  großenteils  von  Fichte  her- 
stammen; er  lese  also  Fichte;  so  wird  er  sich  selbst  im  Spiegel  zu  sehen, 


I  Sa  J-  f.  Herbarts  Rezensionen. 


sein  Übel  an  einem  andern  wahrzunehmen  glauben  und  es  dort  leichter 
erkennen,  alsdann  aber  sich  davon  losmachen.  Wir  kehren  nämlich  zu 
dem  Hauptvorwurfe  zurück,  der  ihm  ist  gemacht  worden;  zu  jener  aller- 
dings empörenden  Behauptung:  Geisteszerrüttungen  seien  Verschuldimgen\ 
und  zwar  nicht  etwa  zuweilen,  in  besondern  Fällen,  sondern  allgemein 
und  wesentlich.  Wüßte  Hr.  H.,  wie  seine  eigenen  Gedanken  über  diesen 
Punkt  unter  sich  zusammenhängen,  so  würde  er  sie  leichter  geordnet  und 
berichtigt  haben.  Er  weiß  es  aber  schwerlich,  da  er  im  Vorworte  zu 
seiner  Psychologie  erzählt:  „Der  Verf.  hat  in  seinem  psychisch -ärztlichen 
Geschäft  fortwährende  Veranlassung,  die  Tiefen  der  Seele  zu  betrachten. 
Das  Resultat  dieser  (???)  Forschungen  ist:  daß  das  Rätsel  des  Seelen- 
lebens 7iur  in  der  Freiheit  seinen  Schlüssel  hat."  Gerade  umgekehrt!  Die 
Freiheit  sieht  der  moralische  Beobachter  teils  in  der  besonnenen  Tugend, 
teils  im  besonnenen  Verbrechen;  hingegen  im  Irrenhause  sieht  man  die 
Unfreiheit.  „Wie  wird  uns?"  fragt  Reil,  „beim  Anblick  dieser  Horde 
vernunftloser  Wesen;  wo  bleibt  unser  Glaube  an  unseni  ätherischen  Ur- 
sprung, an  die  Invnaterialität  tmd  Selbständigkeit  unseres  Geistes?"  Hätte 
Hr.  H.  auch  so  gefragt,  so  würden  wir  glauben,  daß  er  die  unvermeid- 
lichen Eindrücke  der  Erfahiung  in  ärztlicher  Praxis  treu  wiedergeben 
könne  und  wolle.  Aber  Hr.  H.  besinne  sich  nur,  woher  ihm  die  Redens- 
art anklebt :  sich  selbst  bestimmen  heißt,  sich  selbst  beschränken.  Von  diesem 
Bestimmen  und  Beschränken  sind  die  Schriften  eines  berühmten  Mannes 
voll,  der  keinesweges  durch  Beobachtung  und  Erfahrung  berühmt  ist, 
sondern  dem  es  gerade  in  diesem  Punkte  gar  sehr  fehlte;  der  Mann  ist 
Fichte.  Von  dorther  hat  Hr.  H.  seine  Freiheitslehre.  Und  der  Irrtum, 
welchen  er  den  Kriminal-Richtern  aufdringen  wollte,  hat  nicht  im  Irren- 
hause, sondern  in  Fichtes  Lehre  seinen  wahren  Ursprung.  Hier  sind 
die  drei  Grundlaster:  Trägheit,  Feigheit,  Falschheit;  die  eigentlich  nur 
Eins  sein  sollen,  nämlich  Trägheit.  Hier  werden  Reflexionspunkte  unter- 
schieden, mit  der  absoluten,  doppelten  Forderung,  auf  die  höheren 
Reflexionspunkte  solle  man  sich  erstlich  erheben,  zweitens  darauf  ver- 
harren. Hier  endlich  verschmilzt  das  Böse  mit  dem  Irrtum;  denn  wer  sich 
nicht  erhebt  und  sich  in  der  erreichten  Höhe  nicht  behauptet,  der  ver- 
liert Wahrheit  und  Güte  zugleich. 

Aus  dem  sechzehnten  Paragraphen  in  Fichtes  Sittenlehre,  der 
eigentlich  ganz  nachgelesen  und  mit  Hrn.  H.s  Schriften  verglichen  werden 
muß,  können  wir  nur  folgendes  kurz  hersetzen,  damit  man  den  Born  der 
Heinrothschen  Weisheit  deutlich  vor  sich  sehe : 

„Wie  soll  bei  der  eingewurzelten  Trägheit  dem  Menschen  geholfen 
werden  ?  Wenn  nicht  durch  ein  Wunder,  sondern  auf  natürlichem  Wege, 
so  muß  der  Antrieb  von  außen  kommen.  Das  Individuum  müßte  Muster 
erblicken,  die  ihm  Achtung  und  mit  ihr  die  Lust  einflößten,  dieser 
Achtung  sich  würdig  zu  machen.  Einen  andern  Weg  der  Bildung  gibt 
es  nicht.  Dieser  gibt  das,  was  da  fehlt,  Bewußtsein  und  Antrieb;  wer 
die  eigene  Freiheit  auch  dann  noch  nicht  braucht,  dem  ist  nicht  zu 
helfen.  Woher  aber  sollen  die  äußern  Antriebe  unter  die  Menschheit 
kommen?  —  Da  es  jedem  Individuum,  ungeachtet  seiner  Trägheit,  doch 
immer  möglich   bleibt,  sich  über  sie  zu  erheben ,  so  läßt  sich  füglich  an- 


Job.  Chr.  A.  Heinroth:    Über  die  Hypothese  der  Materie  usw.  ige 

nehmen,  daß  unter  der  Menge  der  Menschen  einige  sich  wirklich  empor- 
gehoben haben  werden  zur  Moralität.  Es  wird  notwendig  ein  Zweck 
dieser  sein,  auf  ihre  Mitmenschen  einzuwirken.  So  etwas  nun  ist  die 
positive  Religion.  Veranstaltungen,  die  vorzügliche  Menschen  getroffen 
haben,  um  auf  andere  zur  Entwicklung  des  moralischen  Sinnes  zu 
wirken.  Diese  Veranstaltungen  können  wegen  ihres  Alters,  wegen  ihres 
allgemeinen  Gebrauchs  und  Nutzens  etwa  noch  mit  einer  besondern 
Autorität  versehen  sein,  welche  denen,  die  ihrer  bedürfen,  sehr  nütz- 
lich sein  mag"  usw. 

Wir  sind  weit  entfernt,  zu  behaupten,  Hr.  H.  habe  Fichte  ab- 
geschrieben. Er  hat  es  gemacht,  wie  manche  andere,  nämlich  Fichte 
benutzt  (ob  mittelbar  oder  unmittelbar,  wissen  wir  nicht)  und  gegen  ihn 
polemisiert,  als  ob  er  über  ihm  stände.  Soviel  aber  liegt  klar  am  Tage: 
jene  Freiheit,  ivelche  nichts  zveiter  zu  tun  hat,  als  sich  zu.  erhebe7i,  nahm 
Hr.  H.  mit  ins  Irrenhaus;  hier  fand  er  nicht  sie,  sondern  ihr  Gegenteil; 
er  fand  die  Menschen  keineswegs  erhoben,  sondern  gesunken.  Nun  schloß 
er:  Diese  Gesunkenen  sollten  sich  erheben;  sie  tun  es  nicht,  während  sie 
doch  vermöge  der  Freiheit  es  könnten;  folglich  sind  sie  böse.  Ihr  Wahn, 
ihr  Toben  ist  ihre  Schuld;  ihre  Narrheit  ist  Trägheit  und  Feigheit,  wo 
nicht  Falschheit.  Das  sind  Schlüsse,  die  aus  Fichtes  Freiheitslehre  folgen, 
gleichviel  ob  Fichte  selbst  diese  Folgerungen  gezogen  habe  oder  nicht. 
Will  irgend  einmal  Hr.  H.  sich  von  diesen  Konsequenzen  losmachen,  so 
gebe  er  die  falschen  Prinzipien  auf;  er  höre  auf,  Fichtianer  zu  sein.  Die 
Kriminalisten  werden  ihm  das  nahe  genug  legen,  falls  er  fortfährt,  sie  zu 
behelligen;  denn  diese  Männer  verstehen  besser,  was  Zurechnung  und 
Freiheit  heiße,  sofern  diese  Worte  einen  wahren  Sinn  haben,  ganz  unab- 
hängig von  Kant  und  Fichte.  Nur  eins  hätten  wir  hierbei  zu  bemerken, 
wenn  hier  der  Ort  dazu  wäre;  Kriminalfälle  nämlich,  deretwegen  der 
Arzt  nach  dem  Gemütszustande  gefragt  wird,  in  welchem  eine  Handlung 
verübt  sei,  verraten  schon  durch  die  Frage  selbst,  daß  sie  in  dem  Haupt- 
punkte, worauf  die  Zurechnung  beruht  —  dem  entschlossenen,  besonnenen 
und  aus  dem  Charakter  der  Person  hervorgehenden  Willen  — ,  nicht  ganz 
klar  sind.  Nun  geht  zwar  die  Absicht  der  Frage  gewiß  nicht  dahin, 
daß  der  Arzt  Entschuldigungen  wegen  vorübergehenden  Wahnsinns  oder 
anwandelnder  Tobsucht  aus  Gutmütigkeit  vorbringen  solle;  allein,  daß 
auf  der  andern  Seite  der  Arzt  die  Zweifel  des  Richters  heben  solle, 
wäre  zu  viel  verlangt;  er  wird  sie  meistens  entweder  verstärken  oder 
vollends  in  Gewißheit  verwandeln.  Doch  wir  können  dies  hier  nicht 
ausführen. 

Von  welchem  praktischen  Interesse  Hr.  Heinroth  zu  seiner  Lehre 
von  der  Materie  getrieben  sei,  und  in  welchem  historischen  Zusammen- 
hange diese  Lehre  stehe,  wird  durch  Zusammenfassung  des  vorhergehenden 
nun  bald  einleuchten;  und  darauf  kommt  hier  in  der  Tat  mehr  an,  als 
auf  die  Einzelheiten  der  Ausführung.  Die  Materie  soll  erniedrigt,  der 
Geist  erhöht  werden;  dies  kräftig  auszudrücken,  spricht  man:  die  Materie 
ist  nichts ;  imd  der  Geist  ist  frei!  Hätten  diejenigen,  welche  sich  ein  Ver- 
dienst zu  erwerben  glauben,  wenn  sie  beides  mit  hochtönenden  Worten 
verkündigen   und    ausschmücken,    lieber   dafür   gesorgt,    die   Freiheit   ihres 


j8ö  J-  ^-  Herbarts  Rezensionen. 

eigenen  Geistes  durch  Anstrengung  in  gründlicher  Untersuchung  zu  be- 
tätigen, so  würden  die  großen  Wahrheiten,  welche  in  beiden  Sätzen  aller- 
dings enthalten  sind,  reiner  und  bestimmter  hervorgetreten  sein.  Es  würde 
sich  gefunden  haben,  daß  man  diese  Wahrheiten  nicht  mit  ein  paar  leeren 
Allgemeinbegrifilen  richtig  bezeichnen  kann,  sondern  daß  in  den  wirklichen 
Gegenständen,  die  man  dadurch  erkennen  soll,  Verwicklungen  eines  viel- 
fach Mannigfaltigen  liegen,  wie  die  Erfahrungen  selbst  es  verraten.  Wem 
die  Erscheinungen  der  Uiifreiheii  in  Geisteszerrüttungen  unerwartet,  ja 
sogar  seltsam  und  wunderbar  vorkommen,  wessen  Psychologie  dafür  keinen 
Platz  offen  hat,  der  kennt  die  Freiheii  nicht.  Und  wer  in  allgemeinen 
Theorien  von  der  Materie  spricht,  ohne  zu  überlegen,  daß  jede  Materie 
eine  bestimmte,  starre  oder  flüssige,  belebte  oder  unbelebte  ist,  dessen 
Theorie  macht  sich  schon  durch  den  Umstand,  daß  sie  zur  Erklärung 
der  mannigfaltigen  Arten  der  Materie  sich  nicht  von  selbst  darbietet, 
einer  Unrichtigkeit  verdächtig.  Sind  nun  falsche  Theorien  in  Umlauf  ge- 
kommen, so  sträuben  sich  zwar  die  Anhänger  derselben  gegen  schärfere 
Untersuchungen  der  Begriffe  so  lange  sie  können;  allein  dem  Andränge 
der  Erfahrungen,  welche  von  sorgfältigen  Beobachtern  gesammelt  werden, 
vermögen  sie  doch  auf  die  Länge  nicht,  sich  zu  entziehen.  Was  die 
Freiheitslehre  anlangt,  so  hat  sich  diese  schon  durch  politische  Erfahrungen 
müssen  beschränken  lassen;  etwas  Ähnliches  steht  ihr  jetzt  bevor,  da  in 
der  Staats- Arzneikunde  genauer  als  früherhin  die  Zurechnungs- Fähigkeit, 
sofern  sie  bestimmten  Gemütszuständen  entspricht  oder  nicht  entspricht, 
erwogen  und  erörtert  wird.  Die  von  Pinel  aufgestellte  manie  sans  delire 
ist  einmal  Gegenstand  von  Diskussionen  geworden,  welche  von  mehreren 
Seiten  mit  Wärme  geführt  werden:  und  man  hat  eingesehen,  daß  man 
die  Gemütsbeschaffenheit  des  gesunden  und  volljährigen  Menschen  zum 
Vergleichungspunkte  wählen  müsse,  um  die  Abstände  der  gradweise  ver- 
minderten Willensfreiheit  von  dort  aus  zu  bestimmen.  Ob  aber  Manie 
mit  Selbstbewußtsein  und  Vernunftgebrauch  bestehe:  diese  Frage  wird 
freilich  zuweilen  so  gestellt,  daß  man  dadurch  an  das  schneidende  Ent- 
iveder-Oder  des  Fichteschen  Ich  und  Nicht -Ich  erinnert  wird.  Gesetzt, 
einem  Reisenden  würde  die  Frage  vorgelegt,  ob  das  Land,  von  wo  er 
komme,  gebirgig  sei  oder  nicht:  so  möchte  er  vielleicht  antworten:  es  sieht 
weder  so  a?is  zoie  Holland  noch  so  wie  die  Schweiz.  Das  Selbstbewußtsein 
ist  nun  nicht  minder  vielförmig  als  ein  Gebirge  sein  kann;  und  mit  einem 
kurzen  Ja  oder  Nein  sind  die  dasselbe  betreffenden  Fragen  nicht  ab- 
gemacht, wofern  die  Antwort  mehr  bedeuten  soll,  als  etwa  dies:  der 
Mensch  lag  in  Ohnmacht  oder  nicht.  Kein  Selbstbewußtsein  umfaßt 
alles  das  auf  einmal,  wodurch  successiv  das  eigene  Selbst  ist  bezeichnet 
worden;  am  allerwenigsten  aber  beschränkt  es  sich  jemals  auf  eine  bloße, 
reine  Ichheit.  Und  wie  die  freien  Handlungen  des  Knaben  für  minder 
zurechnungsfähig  erachtet  werden,  als  die  des  reifen  Mannes,  so  gibt  es 
keine  menschliche  Freiheit,  die  nicht  noch  größer  und  vollständiger  bei 
einem  höhern  Wesen  könnte  gedacht  werden;  nirgends  aber  paßt  der 
falsche  Begriff  der  transzeiidoi/alen  Freiheit,  zu  welchem  Kant  verleitet 
wurde,  da  er  die  praktische  Idee  der  Freiheit  theoretisch  auffassen  wollte. 
Wer    an    diesem    unrichtigen  Begriffe   hängt,    dem    werden  Schwierigkeiten 


Joh.  Chr.  A.  Heinroth:    Über  die  Hypothese  der  Materie  usw.  187 

ohne  Ende,  nicht  bloß  in  der  Metaphysik  begegnen,  sondern  auch  in 
der  Erfahrung,  im  Leben  und  in  den  Geschäften.  Könnte  man  dem 
Knaben,  darum  weil  er  dem  reifen  Manne  noch  nicht  gleicht,  gar  nichts 
zurechnen,  so  hörte  die  Erziehung  auf;  könnte  man  dem  Wahnsinnigen 
und  Tobsüchtigen  nichts  zurechnen,  so  fiele  ein  bedeutender  Teil  der 
psychischen  Heilkunst  weg,  welcher  darin  besteht,  daß  man  .den  Irren 
als  einen  Halb- Vernünftigen  behandelt;  müßte  aber  darum,  weil  die  Zu- 
rechnung hier  nicht  gänzlich  aufhört,  volle  Zurechnung,  entweder  der  im 
Wahnsinn  begangenen  Handlungen,  oder  (wie  bei  Trunkenbolden)  des 
Versinkens  in  den  unfreien  Zustand,  geltend  gemacht  werden,  —  alsdann 
gäbe  es  keinen  Damm  mehr  gegen  Heinroths  Überspannung,  die  auch 
da  moralisiert  und  frömmelt,  wo  man  die  Kunst  und  die  Hilfe  des  Arztes 
erwartet  und  fordert,  soweit  sie  irgend  möglich  ist. 

Nirgends  aber  ist  das  Moralisieren  und  Frömmeln  übler  angebracht, 
als  in  der  Naturlehre;  daher  schlugen  wir  Hrn.  H.s  Buch  von  der  Materie 
mit  der  Erwartung  auf,  er  werde  sich  nun  in  Erklärungen  der  Tatsachen 
versuchen.  Wir  erwarteten  ihn  im  Gebiete  der  Physik,  Chemie  und 
Physiologie.  Von  seiner  historischen  Einleitung  ist  hier  genug  zu  sagen, 
daß  er  nicht  etwa  von  einer  Geschichte  der  Entdeckungen  und  Er- 
weiterungen unserer  Kenntnisse  der  Materie,  sondern  von  den  Ursachen 
der  materialistischen  Ansichten  handelt  und  sich  hiermit  sogleich  von 
der  Natur  abkehrt,  um  sich  in  den  Streit  der  Meinungen  zu  werfen.  Das 
stimmt  denn  auch  mit  der  ganzen  Anordnung  des  Buches,  worin  sechs 
Fragen  die  Abschnitte  bilden:  i.  Liegt  dem  Begrifife  der  Materie  eine 
wahre  Erkenntnis  zum  Grunde?  2.  Was  können  die  Gegner  unserer  Be- 
hauptung, daß  der  Begriff  der  Materie  bloße  Hypothese  sei,  einwenden? 
Wie  sind  ihre  Einwürfe  zu  widerlegen?  3.  Woher  stammt  der  Irrtum  im 
Begriff  der  Materie?  4.  Wohin  führt  dieser  Irrtum  in  Wissenschaft  und 
Leben?  5.  Wie  ist  dieser  Irrtum  samt  seinen  Folgen  zu  vermeiden? 
6.  Welche  Resultate  gewinnen  wir  auf  dem  wahren  Wege  der  Forschung? 
—  Wäre  es  darauf  angekommen,  eine  Predigt  einzuteilen,  so  würde  diese 
Anlage  des  Buches  ungemein  zweckmäßig  sein.  Eine  Abhandlung  aber, 
worauf  die  Naturlehrer  Gewicht  legen  sollten,  hätte  etwa  folgende  Fragen 
beantworten  müssen:  i.  Läßt  sich  der  allgemeine  Begriff  der  Materie 
a  priori  bestimmen?  2.  Läßt  sich  derselbe  a  posteriori  bestätigen?  3.  Welche 
Klassen  von  Natur -Erscheinungen  bleiben  noch  unerklärt  übrig?  4.  Wie 
läßt  sich  die  allgemeine  Theorie  näher  bestimmen,  damit  sich  ihre  An- 
wendbarkeit erweitere?  5,  Welche  Stufenfolge  der  größern  oder  geringern 
Wahrscheinlichkeit  zeigen  die,  nach  vorgängiger  systematischer  Unter- 
suchung erhaltenen  Erklärungen  der  Phänomene?  6.  Welche  Grundzüge 
der  Natur  bleiben  gänzlich  geheimnisvoll  und  lediglich  Gegenstände  des 
Glaubens?  —  Alle  diese  Fragen  fallen  offenbar  in  das  Gebiet  der  letzten^ 
vom  Verf.  aufgestellten  Frage;  und  man  könnte  glauben,  sie  dort  be- 
antwortet zu  finden.  Allein  der  letzte  Abschnitt  des  vor  uns  liegenden 
Buches  beginnt  mit  S.  207  und  endigt  mit  S.  226;  und  der  Verf.  benutzt 
diesen  engen  Raum  dazu,  gegen  einige  Aussprüche  des  Baco  von  Verulam 
zu  disputieren.  Wir  müssen  uns  demnach  schon  die  Lust  vergehen  lassen, 
etwas   von    der  Natur   zu   hören,    außer  insofern  die  anzuhörende  Predigt 


l88  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


wider  den  Materialismus  hier  und  da  einige  Punkte  der  Naturlehre  be- 
rühren wird;  auch  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  bei  dem  heutigen  Stande 
der  Wissenschaften  und  ihrer  Streitigkeiten  selbst  eine  solche  Predigt,  von 
der  in  der  Tat  sehr  gewandten  Feder  Heinroths,  immer  noch  einiges 
Interesse  behaupten  kann.  Um  dieselbe  nicht  ganz  ihres  Eingangs  zu 
berauben,  heben  wir  zuerst  folgende  Stelle  gegen  das  Ende  desselben 
hervor;  wiewohl  nur  fragmentarisch,  um  die  Predigt  und  ihre  Absicht  zu 
bezeichnen. 

,,Wir  können  uns  das  Bestreben  derer  erklären,  welche,  um  nichts 
Heiliges  anerkennen  zu  dürfen,  das  Werden  und  Bestehen  alles  Seins  und 
Lebens  auf  die  Materie,  als  den  Urgrund,  zurückführen,  und  sich  in 
dem  Gedanken,  daß  sie  selbst  nur  belebte  Materie  sind,  frei  von  aller 
Belästigung  des  sogenannten  Gewissens  —  einer  törichten  Erfindung 
furchtsamer  Seelen  —  berechtigt  finden^  den  Augenblick  nach  Herzens- 
lust zu  genießen.  So  kleidet  sich  der  neue  Zeitgeist  allmählich  in  den 
Naturalismus  und  Materialismus  ein.  Jener,  die  Anbetung  der  Natur,  der 
Kunst  und  des  Altertums,  ist  die  Religion  der  Stolzen,  die  wohl  etwas 
Göttliches  anerkennen,  aber  sich  ihm  nicht  opfern  mögen;  dieser,  der 
Sinnendienst,  ist  die  Religion  derer,  die  sich  dem  Genüsse  opfern.  Wollte 
man  hier  sagen :  du  ziehst  fremdartige  Dinge  in  deine  Betrachtting,  so  muß 
ich  antworten,  daß  wir  den  Ursprung  jener  theoretischen  Überzeugungen 
verfolgen,  wiefern  dieselben  durch  den  Zeitgeist  begründet  sind;  der  Zeit- 
geist spricht  aber  stets  die  Gesinnungen  und  Bestrebungen  der  Menge  aus ; 
er  geht  folglich  aus  praktischen  Motiven  hervor.  Wie  der  Mensch  gesinnt 
ist,  so  denkt  und  handelt  er."  Daß  eine  Abhandlung  über  die  Materie 
nicht  von  der  Menge  gelesen  wird,  weiß  der  Verf.  ohne  Zweifel;  daß 
Naturforscher  nicht  zur  Menge  zu  rechnen  sind,  daß  ihr  wissenschaftliches 
Streben  gerade  gar  nicht  von  praktischen  Motiven  geleitet  wird,  sondern 
lediglich  vom  theoretischen  Interesse;  daß  es  davon  ganz  allein  geleitet 
werden  nmß,  wenn  es  nicht  gleich  anfangs  die  Richtung  verfehlen  soll, 
dieses  weiß  er  hoftentlich  auch;  und  ist  demnach  vermutlich  daraufgefaßt, 
daß  diejenigen,  gegen  welche  er  predigt,  sich  nicht  einfinden  und  ihn  nicht 
hören  werden.  Für  wen  redet  er  denn?  Schwerlich  für  andere,  als  für 
einige  ängstliche  Beobachter  des  Wetters,  das  man  Zeitgeist  nennt.  „Der 
theoretische  Zeitgeist  will  zvenigstetis  die  Welt  begreifen,  die  er  nicht  besitzen 
kann,  und  den  Geist  zu  sich  herabziehen,  zu  dem  er  sich  nicht  erheben  kann. 
Daher  der  jetzt  iri  das  Grerizenlose  geratene  Stolz  der  Wissenschaft^  oder  viel- 
mehr derer,  die  sich  in  dem  eingebildeten  Besitz  derselben  selbst  ver- 
göttern." Fichte  hat  wohl  manches  hart  anklagende  Wort  gesprochen; 
doch  solche  Reden  gegen  harmlose  Naturforscher,  erinnern  wir  uns  nicht, 
von  ihm  vernommen  oder  gelesen  zu  haben,  und  der  Druck  der  Zeit, 
worin  er  die  Sündhaftigkeit  größer  sah  als  sie  war,  ist  jetzt  lange  vorüber. 
Hr.  H.  aber  spricht  Imite:  „Das  Forschen  nach  Wahrheit,  um  der  Wahr- 
heit willen,  ist  jetzt  außer  Kurs  gekommen.  Wenn  es  bloß  die  Philo- 
sophie wäre,  der  man  untreu  wird,  weil  sie  nie  hält,  was  sie  verspricht, 
so  möchte  dies  Verfahren  sogar  für  Weisheit  gelten;  denn  mit  Recht 
wendet  man  sich  nur  nach  der  Seite  hin,  wo  gehalten  wird,  was  man 
verspricht,    nach    der  Seite  der  echten  Religion;    allein  weder  Philosophie 


Joh.  Chr.  A.  Heinroth:    Über  die  Hypothese  der  Materie  usw.  igo 

noch  Religion  kommt  in  Anschlag  da,  wo  es  bloß  Beförderung  des 
selbstischen  Interesse  gilt,"  usw.  Wir  lassen  ihn  fortpredigen  und  über- 
schlagen auch  seinen  ersten  Abschnitt,  worin  er  seine  kleine,  oben  schon 
angeführte,  lateinische  Dissertation  auf  Deutsch  wiederholt,  folglich  auch 
wieder  Kantianer  ist,  und  die  alten  Reden  von  Kants  erstaunenswürdiger 
Kühnheit  u.  dergl.  aufs  neue  vernehmen  läßt.  Im  zweiten  Abschnitte,  dem 
längsten  im  Buche,  herrscht  eine  scheinbare  Gründlichkeit,  die  vielleicht 
manchen  der  Naturlehre  minder  Kundigen  wird  täuschen  können.  Zuerst 
werden  die  Physiker  mit  Inbegriff  der  Chemiker  und  Physiologen  redend 
eingeführt,  ja  selbst  den  Verf.  anredend  und  ihn  tadelnd;  und  als  ob  diese 
ihnen  in  den  Mund  gelegte  Rede  ein  authentisches  Aktenstück  wäre,  sind 
Zeichen  von  a  bis  zz  beigeschrieben,  damit  ebenso  viele  Noten  zum  Text 
nachfolgen  können,  worin  der  Verf.  sich  verteidigt.  Hiermit  nicht  zu- 
frieden, disputiert  er  noch  überdies  gegen  zwei  Philosophen :  gegen  Krug, 
weil  dieser  sich  zunächst  an  die  Physiker  anschließe,  und  gegen  Hegel,  weil 
dessen  Name  an  der  Tagesordnung  sei.  Man  sieht,  der  also  angeordnete 
zweite  Abschnitt  hätte  für  sich  allein  zu  einem  starken  Werke  anwachsen 
müssen,  wenn  es  dem  Verf.  darum  zu  tun  gewesen  wäre,  eine  ernstliche 
Arbeit  von  einigem  wissenschaftlichen  Werte  zu  liefern.  Er  hätte  sich 
alsdann,  was  die  philosophischen  Lehren  anlangt,  an  die  Quellen  gewendet, 
das  heißt  an  Kant  und  Schelling;  er  hätte  sich  erinnert,  daß  in  der 
Untersuchung  über  die  Materie  vor  allem  die  mathematischen  Physiker 
müssen  gehört  werden,  —  aber  freilich,  Mathematik  ist  nicht  nach  Hrn. 
H.s  Geschmack.  Wie  die  Sache  vorliegt,  ist  es  kaum  mögüch,  daß  wir 
einen  Bericht  darüber  erstatten.  Die  höchst  flache  Rede,  welche  den 
Physikern  als  die  ihrige  untergeschoben  wird,  bedeutet  gar  nichts;  das 
einzige  Interessante,  nämlich  Hrn.  H.s  Äußerung  über  seine  eigene  Natur- 
ansicht, ist  in  achtundvierzig  kurze  Anmerkungen  zerhackt,  anstatt  einer 
zusammenhängenden  Darstellung!  Daß  der  Verf.  wirklich  aus  den  alten 
Seelenvermögen,  Sinn,  Verstand  und  Einbildungskraft,  die  Materie  zusammen- 
zimmern will,  unbekümmert  um  die  schlechthin  unmögliche  Aufgabe,  auf 
diesem  psychologischen  Wege  teils  unsere  Vorstellungen  der  verschiedenen 
Materien  und  ihres  eigentümlichen  Verhaltens,  teils  die  Reihenfolge  der 
Entdeckungen,  der  Irrtümer  und  Streitigkeiten  zu  erklären:  auf  diese  weit 
verbreitete  idealistische  Verblendung  wollen  wir  uns  für  jetzt  nicht  ein- 
lassen. Auf  gut  Glück  in  die  angehäuften  kurzen  x\n merkungen  oder 
Noten  zum  Texte  hineingreifend,  heben  wir  einiges  heraus.  „Es  gibt  keine 
bessern  sinnlichen  Beweise  gegen  die  Materialität  der  sogenannten  Materie, 
als  die  aus  der  Chemie.  Woher  die  U)mva?idhinge?i  der  Körper?"  (Ge- 
nauer hieße  die  Frage :  woher  die  bestimmten,  für  jede  Art  von  Materien 
gesetzlich  wiederkehrenden  Umwandlungen  ?)  „Daß  z.  B.  das  Gold  nicht 
bloß  mechanisch  im  Königswasser  aufgenommen,  sondern  völlig  meia- 
viorphosiert  wird,  möchte  wohl  heutzutage  schwerlich  ein  Chemiker  leugnen." 
(Ist  denn  ein  solches :  mochte  züohl  nicht  leugnen,  und  zwar  nach  jetziger 
Mode,  ein  Beweis?  —  Doch  wir  unsererseits  wollen  bloß  fragen:  was 
bedeutet  denn  wohl  das  Wort:  metamorphosiert  oder  auf  Deutsch:  um- 
gestaltet? Sollen  wir  es  räumlich  oder  unräumlich  und  wahrhaft  innerlich 
verstehen?  Sollen  wir  dabei  an  etwas  Gesetzliches  oder  Zufälliges  denken?) 


jQQ  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


,,  Woher  also  die  völlige  Aufnahme  in  eine  andere   Wesenheit,  oder  die  völlige 
Annahme  eiiier  arideren    Wesenheil,    ivenn  nicht  die  Körper  ihre  Körperlichkeit 
ablegen,  ganz   eigentlich    lüie   ein    Gezvand?"    (Das  Gleichnis    wäre    passend 
genug,    wenn    der  Verf.    wüßte,    rvozu   es   paßt.     Denn    die   innere    Meta- 
morphose, das  Eintreten  eines  neuen  inneren  Zustandes,  welches  bei  jeder 
chemischen    Verbindung   wirklich    in   jedem    Elemente    vorgeht,    ohne    im 
geringsten    eine    Raumbestimraung    zu    sein    —    diese    Metamorphose    ist 
gerade    das   Gegenteil    von  Annahme  irgend   einer  andern   Wesenheit;    und 
das  Wort    oder  hat   sich    vollends   an    die  unrechte  Stelle  hin  verirrt,    in- 
dem die  Aufnahme  in  eine  andere  Wesenheit  jener  Metamorphose  gleich- 
gesetzt wird.     Doch  wir  wollen  von   Hrn.  H.   nun   schon   nichts  mehr  ver- 
langen, das  den  Namen  einer  Untersuchung  und  einer  wirklichen  Kenntnis 
der  Materie    verdienen   möchte,    wenn  nur  seine  eigenen  Gedanken  unter 
sich    zusammenhingen.      Aber    man    höre  weiter:)    „Was   wir  also   Körper- 
lichkeit oder  Stoffheit  nennen,  wäre  bloße  Form  und  nicht   die  Wesenheit 
des  Körpers.     Worin   bestände  aber  diese  Wesenheit?     Wir  haben  keinen 
andern  Ausdruck  für  das    Wesen  der  Körper,   als  das    Wort  Kraft.     Ist  dem 
so,    so    sind  die  Körper  sämtlich  nur  Kräfte  in  bestimmten   Formen  oder 
Beschränkungen,  welche  letztere   wir  fälschlich   für  ihr  Wesen  halten,   denn 
jede    Beschränkung   ist   nur   eine   Negation.     Beschränkungen   aber   lassen 
sich    durch  Einwirkung   anderer  Kräfte  aufheben  und  anders  modifizieren. 
Daher  die  mögliche  Auflösung  und  Reduktion  des  Goldes.    In  der  Atmo- 
sphäre findet  ein  beständiger  Umwandlungs-Prozeß  dieser  Art  statt.    Daher 
die  Möglichkeit    der  Entstehung    der  Aerolithen   aus  Luft."     Diese  Probe 
von  Naturphilosophie  verdient  doch  in  der  Tat,  daß  wir  sie  genauer  be- 
sehen.    Also   weil   Körperlichkeit  bloße  Form  ist  (und  das  dürfte  Hr.   H. 
nun  endlich  allenfalls  als  bekannt  und  von  den  meisten  zugestanden  vor- 
ausetzen),   darum  kann  es  erlaubt  sein,   die   Frage  nach  der   Wesenheit  des 
Körpers  in  eine  Frage  nach  Ausdrücken  und  nach  Worten  zu  verwandeln? 
Hätte  Hr.  H.    andere  Gedanken,    so    würde   er   um  Worte  nicht  verlegen 
sein;  denn  man  schafft  sich  Worte  zu  Begriffen,  sobald  man  wirklich  etwas 
gedacht    und    erforscht   hat,    welches   wert   ist,  Worte   zu  finden.     Daß  er 
sich  hier  an  das  alte  vieldeutige,  und  eben  deshalb  ohne  nähere  Erklärung 
ganz    unbrauchbare  Wort  Kraft  wendet,    ist   das  vollständigste  Bekenntnis, 
nicht   bloß   von  gänzlicher  Unkunde  dessen,   worauf  es  in  der  Lehre  von 
der  Materie  ankommt,  sondern  von  einer  Sorglosigkeit  ohne  Grenzen,  der 
man  es  erst  noch  sagen  muß,    daß  ein  tüchtiger  Denker  da,    wo  Begriffe 
fehlen,    die   Worte,    welche    etwa   sich   einstellen,    geflissentlich   verschmäht, 
weil    die    Frage,    solange    sie    nicht    wirklich    beantwortet   ist,    auch   nicht 
übertüncht   werden  darf.     Indessen  hat  es  der  Verf.  doch  nun  dahin  ge- 
bracht,   daß    uns   seine    Meinung   von    der  Materie   ziemlich   deutlich   ge- 
worden   ist.     Er   meint   nämlich,    es    gäbe    gewisse  Kräfte,    die    sich    ver- 
•  schiedentlich  beschränken  lassen;    die  Körperlichkeit  erscheine  infolge  der 
Beschränkung    und    wie    zufällig   diese,    so   zufällig   sei  auch  jene.     Daher 
kein  Wunder  in  der  Auflösung,  und  folglich  auch  keins  in  der  Reduktion! 
Treffliche  Schlüsse!    Warum    sollte   nicht   eine   gewisse  Beschränkung   sich 
ändern  und  dann  wiederkehren?  Nu  novi  sub  sole,  sagt  man  ja  auch  von 
menschlichen   Angelegenheiten,    wenn    die   Menschen   und  Staaten   sich   in 


Job.  Chr.  A.  Heinroth:    Über  die  Hypothese  der  Materie  usw.  igi 


neuerer  Zeit  ungefähr  auf  ähnlkhe  Weise  beschränken,  wie  bei  den  Alten; 
und  darum  ähnliche  Erscheinungen  darbieten.  So  nun  geschieht  auch 
nichts  Neues,  wenn  eine  gewisse  Kraft,  die  früher  als  Gold  erschien,  und 
später  vermöge  veränderter  Begrenzung  sich  unsern  Augen  in  Form  einer 
Auflösung  darstellte,  jetzt  abermals  die  Gestalt  des  Goldes  gewinnt,  weil 
wigefähr  auf  ähnliche    Weise  die  ältere  Beschränkung  sich   erneuert. 

Nun  versuche  doch  der  Verf.  diese  Theorie  von  zufälligen,  anders 
und  anders  modifizierten,  keiner  festen  Regel  unterworfenen,  in  unendlich 
mannigfaltigen  Abwechselungen,  wie  im  Winde  des  Zeitgeistes  dahin 
schwebenden  Beschränkungen  und  Erscheinungen,  den  Chemikern  an- 
nehmlich zu  machen;  damit  sich  dieselben  hieraus  die  genaue,  vollständige,, 
von  ihrem  Willen  abhängige  Reduktion  bestimmter  Metalle  durch  be- 
stimmte Reduktions-Prozesse  verständlich  machen.  Vielleicht  werden  die 
Männer  ihn  fragen,  ob  er  denn  meine,  daß  jemals  eine  alte  Zeit  für 
Menschen  sich  so  genau  zurückrufen  lasse,  wie  man  im  Schmelztiegel  die 
alten  Metalle  wiederfindet?  Sicherlich  werden  sie  nicht  um  seinetwillen  den 
ihnen  höchst  nötigen  Begriff  von  Substanzen,  von  deren  bestimmter  Qualiät, 
und  von  den  Verhältnissen  dieser  Qualitäten  (auf  welche  Verhältnisse  die 
Chemie  überall  hinweiset,  und  deren  die  Theorie  eigentlich  allein  bedarf),, 
einer  luftigen  Vorstellung  von  Beschränkungen  ohne  nachgewiesenes  Gesetz, 
zur  leichten  Beute  dahin  geben.  Um  jedoch  Hrn.  H.  nicht  unrecht  zu 
tun,  hätten  wir  ihn,  den  Arzt,  gern  in  einer  ihm  näher  liegenden  Wissen- 
schaft, der  Psychologie,  aufgesucht.  Allein  ob  dies  möglich  sei,  beurteile 
man  nach  einigen  Proben.  ,, Nicht  die  Pflanze  kommt  aus  dem  Kohlenstoffe, 
sondern  dieser  kom?nt  aus  der  Pflanze,  nachdem  die  Pflanze  verbrannt  ist." 
Woher  der  Stoff  des  Diamanten,  woher  die  Kohlensäure  im  Kalk,  woher 
die  Kohle  im  Graphit:  darüber  kein  Wort.  ,, Gestalt  und  Leben  aus  den 
Stoffen  abzuleiten,  ist  ein  absurdes  Unternehmen."  Ja  freilich,  wenn  man 
den  absurden  Begriff  des  Stoffes  einmal  aus  dem  ebenfalls  ungereimten 
Begriffe  der  Substanz,  so  wie  ihn  die  Kategorienlehre  darbietet,  ohne  alle 
weitere  Kritik  und  Untersuchung,  aufgenommen  hat.  ,,  Wenn  ivir  uns  nicht 
so  sehr  zerteilt.,  nicht  so  sehr  ein  Totes  vom  Lebeiidigen.^  ein  Passives  vom 
Tätigen,  tind  wiederum  ein  Selbsttätiges  vom  Einivirkenden  geschieden  hätten, 
so  würden  wir  wohl  mit  der  Natur  vertrauter  sein."  Warum  hat  denn 
Hr.  H.  das  alles  zerteilt,  entgegengesetzt,  geschieden?  Wer  hindert  ihn, 
seine  metaphysischen  Studien  von  vorn  wieder  vorzunehmen,  um  ein- 
zusehen, daß  diese  Scheu  vor  dem  Toten  und  Passiven  eine  wahre  Ge- 
spensterfurcht, die  Einbildung  von  Kräften  in  der  Materie  aber  um  nichts 
klüger  ist?  Wie  es  mit  seiner  Metaphysik  steht  das  verrät  uns  schon  seine 
Äußerung  über  Kant,  dessen  Beweise  für  die  Subjektivität  des  Raums 
schlagend  sein  sollen!  Wenn  Hr.  H.  Bücher  über  philosophische  Gegen- 
stände schreiben  will,  so  sorge  er  dafür,  mit  der  Zeit  fortzugehen.  Es 
ist  längst  gezeigt,  daß  an  der  ganzen  Kantischen  Lehre  über  Raum  und 
Zeit  nur  ein  einziger  Punkt  wahr  ist;  dieser  nämlich,  welcher  sich  von 
jeher  hätte  von  selbst  verstehen  sollen,  daß  in  der  unmittelbaren  sinn- 
lichen Empfindung  (der  Farben,  Töne  usw.)  weder  Raum  noch  Zeit  ge- 
geben wird.  Alles  andere,  von  der  notwendigen  Vorstellung  a  priori,  bis 
zu  den  unendlichen  Größen,  als  welche  Raum  und  Zeit  vorgeblich  sollen 


IQ2  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


vorgestellt  werden,  ist  längst  widerlegt;  und  es  war  Hrn.  H.s  Sache,  diese 
Widerlegung   zu   kennen;    so   wie   es    ihm  jetzt  überlassen  bleibt,    sie  auf- 
zusuchen.    Die  Nachsicht,    welche    man   mit   älteren  INIännern   hat,    wenn 
sie    sich    um    neuere  Untersuchungen   nicht   bekümmern,    paßt,    soviel  wir 
wissen,    auf   ihn   nicht;   auch    ist  hier  gar  nicht  einmal  nötig,   ihm  irgend 
eine  Beschwerde,    etwa    von  Rechnungen,    die  freilich  zur  psychologischen 
Theorie   des  Raums   unentbehrlich  sind,   anzumuten.     Zwar  findet  er  sich 
genötigt,    „den  Raum   als   ein    ivirkliches  Etivas^   als  einen    Gegenstaiid  außet 
utis,    zu   denken".     Aber  das  wird  wohl  nicht  sein  Ernst  sein.     Der  bloße 
Raum   ist    leer;    das  Leere   ist   nichts;    ein    wirkliches  Etwas   aber  ist  das 
Gegenteil  des  Nichts,  mithin  das  Gegenteil  des  Raums.    Die  Schwierigkeit 
der   Untersuchung   betrifft   nicht   gerade    den  Raum,    sondern    das  Räum- 
liche,  was    in   bestimmten  Gestalten  gegeben   wird.     Daß  die  Bestimmtheit 
der  Gestalt,    worin    sich   jedes  Ding   zeigt,    uns   mit   der  Empfindung   der 
Farbe  und  des  Tastens  zugleich  aufgedrungen  wird,  daß  sie  offenbar  von 
der  Empfindung  abhängt,   und  daß^   wenn  dies  Abhängen  der  wahrgenommenen 
Gestalt  von  der  Empfindung  nicht  wäre,   alsdann  gar  keine  Beobachtung,  keilte 
Messung,   keine  Sinnes- Erkenntnis   stattfätide :    dies    ist    der   Fragepunkt    der 
Psychologie,  auf  welchen  es  ankommt,  und  der  gerade  deshalb,  weil  keine 
Empfindung    unmittelbar    die    Raum-    und    Zeit -Bestimmung    enthält   noch 
enthalten   kann,   rätselhaft  aussieht.     Je  mehr  nun  einer  von  dem  unend- 
lichen leeren  Räume,   der  unendlichen  leeren  Zeit,  der  eingebildeten  Not- 
wendigkeit   dieser  Vorstellungen    a  priori  usw.    zu    reden   liebt:    um  desto 
deutlicher   sieht   man,    daß   ein  solcher    —    sei  es  nun  Kant  oder  sei  es 
Hr.   Heinroth    —    den   wahren  Fragepunkt    verkennt  und  verfehlt.      Wir 
erwähnen    dieses  Umstandes    hier,    um    einen  Rückblick   auf  das  Vorher- 
o-ehende  zu  veranlassen.     Die  Bestimmtheit  der  chemischen  Reduktionen, 
durch  welche  ein  gewisses  Metall  gerade  als  dasselbe,  was  es  war,  wieder 
zum  Vorschein  kommt,  blieb  unbeachtet,  als  der  Verf.  von  Kräften  redete, 
die,  man  weiß  nicht  wie  und  warum?  sich  beschränkt  finden  sollten.    Das 
Problem,    was    die    Natur    aufgibt,    war    mit    halben    Gedanken    aufgefaßt 
worden.    Ebenso  ist's  der  Frage  nach  dem  Ursprünge  unserer  Anschauungen 
der  Dinge  im  Räume  gegangen.     Über  den  Raum,  das  leere  Nichts,  hat 
man  viel  unnütze  Worte  geredet;  die  gegebenen,  wahrgenommenen,  räum- 
lichen   Gestalten    sind    vergessen    oder   kurz    abgefertigt;    ins    Allgemeine, 
Unbestimmte,    Unendliche   hat   man  sich  verioren,   die  Bestimmungen  hat 
man  beiseite  gesetzt.     So  nun  ist's  überall  in  der  Spekulation  geschehen; 
daher  die  zahllosen  leichtfertigen  Deuteleien,  womit  Nebler  und  Schwebler 
von   allen  Farben   neuerlich,    so   wie   in  altem  Zeiten,    die  Metaphysik  in 
undurchdringliches    Dunkel    hüllten.     Solche    Manier    des    Philosophierens 
kann    heutigestages    nicht    länger    bestehen.      Wir    wollen    hier    nicht   von 
Hegels  scharfem  und  schroffem  Wesen  reden,  welches  eine  entgegengesetzte 
Schärfe   herbeiführen  wird;    Rez.  ist  nicht  berufen,   sich  als  Hegels  Lob- 
redner darzustellen.     Aber  ]\Iathematik  und  Naturwissenschaft  wirken  all- 
gemein dahin,  eine  Präzision  des  Denkens  hervorzurufen,  vor  welcher  die 
Metaphysik  verschwinden  müßte,  wenn  sie  nicht  in  sich  selbst  Mittel  genug 
besäße,  um  sich  von  innen  heraus  zu  reformieren.     Noch  weiter  zurück- 
blickend,   erinnern    wir    uns    der  Freiheitslehre.     Auch   diese  ist  von  ahn- 


Joh.  Chr.  A.  Heinroth:    Über  die  Hypothese  der  Materie  usw.  ig^ 


lichem  Nebel    umzogen,    wie  jene   chemischen   (und   wir   können   sogleich 
hinzusetzen,    wie   die   organischen)  Umwandlungen   der  Materie,    und  wie 
die  räumlichen   Wahrnehmungen.     Mit  halben  Gedanken  hat  man  Bruch- 
stücke   von    innerer   und    äußerer  Erfahrung   mythologisch    ausgeschmückt, 
statt  für  ganze  Erfahrungen   und  ganze  Gedanken  Sorge  zu  tragen;   hinten- 
nach   meint   man   durch   hartnäckige  Streitigkeiten   sich  Verdienste    zu  er- 
werben, anstatt  für  gesunde  Begriffe  zu  sorgen,  die  in  der  Politik,  in  der 
Pädagogik,  in  der  psychischen  Heilkunde  brauchbar  seien.    Aus  derjenigen 
freien    Richtung    der    Aufmerksamkeit,    aus    der   Freiheit    des    Überlegens, 
Urteilens   und  Handelns,   welche   der   gesunde,   erwachsene  und  moralisch 
erzogene  oder  irgendwie  gebildete  Mensch  in  sich  findet ;  aus  seiner  Fähig- 
keit,   mit   sich  ins  Gericht  zu  gehen,    sich  selbst  anzuklagen,    sich  reuevoll 
der  Anklage   hinzugeben,   sich   zu  bessern  und  zu  läutern,    —   hätte  man 
Veranlassung   genug    nehmen    können,    den    psychologischen   Prozeß,    der 
dabei  jedesmal  vorgeht,  genauer  in  sich  und  teilweise  auch  in  andern  zu 
beobachten.     Man   würde   bald   die  verschiedenen  Gedankenreihen  haben 
sondern   können,   welche   in  solchen  Fällen  sich  abwechselnd  im  Bewußt- 
sein heben  und  senken;    man  würde  sogleich  begriffen  haben,   daß,   wenn 
entweder  die  Gedankenreihen  fehlen,  wie  beim  Kinde,  oder  einen  falschen 
Inhalt  haben,  wie  beim  konsequenten  Egoisten  und  beim  Fanatiker,  oder 
nicht  im  gehörigen  Verhältnisse  stehen  wie  bei  gemeiner  Genußsucht,  oder 
vermöge  irgend  eines  physiologischen  Hindernisses  nicht  zur  vollen  Wirk- 
samkeit  gelangen    können,    wie    in    Traum    und   Wahnsinn,    alsdann  jene 
Freiheit    für  so  lange,    bis   der  Fehler  gebessert  ist,    nicht  stattfindet,    wie- 
wohl sie  bei  dem  zweiten  dieser  Fälle  früherhin  irgend  einmal   mag  statt- 
gefunden haben;  ähnlich  dem  Falle  des  Betrunkenen,  der  mit  mehr  oder 
weniger  Freiheit  sich  dem  Rausche  hingab,  welchen  er  voraussehen  mußte. 
Statt   aller   dieser  Betrachtungen  verwandelt  man,   die  Augen  zudrückend, 
die  Freiheit,    welche    in   gewissen   Gemütszuständen    erfahrungsmäßig   ihren 
Sitz  '  hat,    lieber   in    ein   Seelenvermögen.     Damit    geht   alle    Bestimmtheit 
dessen,    was    man    wirklich    in    sich    und    in    andern  wahrnahm,    verloren; 
folglich    verliert   sich   auch   die   Sorgfalt,    welche   der  geistigen    Gesundheit 
stets  gebührt;   denn  man  rechnet  darauf,  ein  Seelenvermögen  könne  nicht 
aus  der  Seele  verschwinden;   folglich  fordert  man,   mit  Hrn.  H.,  die  Freiheit 
am  Ende   selbst  vom  Wahnsinnigen  und  könnte  sie  mit  gleichem   Rechte 
vom    kleinsten    Kinde    fordern,    indem    es    ja    sogleich,    wie  Minerva    aus 
Jupiters  Kopfe,  mit  voller  Besinnung  an  das  vollständigste  Moralsystem  zur 
Welt   kommen    müßte,    wofern    es  nur  die  Freiheit  gebrauchte,    die  es  ja 
besitzt!  Alle  diese  —  und  wie  viele  andere  Absurditäten  vermögen  nicht, 
diejenigen    zur  Besinnung    zu    bringen,    die    einmal    an    den   schädlichsten 
Vorurteilen  kleben,  welche  ihnen  freilich  als  die  wohltätigsten  vorkommen. 
So   unfrei  ist  ihr  Denken.     Sie  haben  damit  angefangen,    ihre  Innern  Er- 
fahrungen,   welche    den    Standpunkt    ihrer    Gesundheit,    ihrer    Altersreife, 
ihrer  Ausbildung   bezeichneten,   loszureißen   aus   dem  größern  Ganzen  der 
psychischen  Erfahrung   an  Menschen   auf  andern  Standpunkten;   und  daß 
vollends    ein    weithin   laufendes  Band   selbst  bis  zu  den  Tieren  sich  fort- 
zieht,   welches    der    gründliche   Psycholog    durchaus    nicht    vernachlässigen 
darf,    hieran,    meinen    sie,    könne  niemand  wagen,    sie  zu  erinnern.     Die 

Herbarts  Werke.    XIII.  ^3 


IQA  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 

falsche  wissenschaftliche  Form,  welche  das  Wort  psychische  Anthropologie 
aussagt,  ist  sogar  für  eine  Verbesserung  gehalten  worden;  und  man  über- 
legt nicht  einmal  soviel,  daß  nun  die  psychischen  Beobachtungen  an  Tieren 
um  desto  sicherer  den  Physiologen  und  ihrer  bekannten  Neigung  zum 
Materialismus,  anheimfallen.  Warum  hat  denn  Hr.  H.,  der  ja  doch  des 
Franzosen  Flourens  erwähnt,  in  einer  so  langen  Strafpredigt  wider  den 
Materialismus  sich  gar  nicht  darauf  eingelassen,  sich  gegen  die  Zerstreuung 
der  Seelenvermögen  in  verschiedene  Gehirnteile  zu  erklären,  oder  wenigstens 
gegen  Mißdeutung  der  vorhandenen  Experimente  zu  warnen?  Meint  er 
etwa,  das  Vermögen  der  Anfnierksamkeit^  welches  den  allermeisten  Tier- 
klassen notwendig  muß  zugeschrieben  werden,  wenn  man  überhaupt  noch 
von  Vermögen  reden  will,  könne  füglich  den  Erklärungen  oder  Behauptungen 
der  Physiologen  preisgegeben  werden,  ohne  daß  die  Freiheit  des  mensch- 
lichen Willens  dabei  in  Verdacht  gerate?  Was  bleibt  denn  von  der  Freiheit, 
wenn  die  Aufmerksamkeit,  ohne  gehörige  Unterscheidung  ihrer  sehr  ver- 
schiedenen Arten  und  Gründe,  der  Materie  des  Gehirns  anheimfällt? 
Wird  sie  etwa  minder  gefesselt,  minder  determiniert  sein,  wenn  wir  anstatt 
der  bisherigen  Materien  die  Kräfte  des  Hrn.  H.  und  deren  Beschränkungen 
annehmen?  —  Solange  zerrissene  Erfahrungen  und  halbe  Gedanken  für 
ganze  gelten,  kann  in  alles  dies  Dunkel  kein  Licht  fallen.  Allein  man 
darf  hinzusetzen:  die  physiologische  Beobachtung  selbst  kommt  demjenigen 
zu  Hilfe,  der  einmal  den  ganzen  Begriff  der  Materie  —  eine  innige  und 
notwendige  Verbindung  der  räumlichen  Konstruktion  mit  den  unräumlichen 
innern  Zuständen  der  Elemente  —  gehörig  begriffen  hat.  Denn  es  ist 
wiederum  nur  eine  Zerstückelung  der  Erfahrung,  die  Materie  für  eine 
bloße  Äußerlichkeit  zu  halten.  Selbst  der  roheste  Stein  hat  sein  Gefü^re 
und  seine  Cohärenz;  und  das  ist  schon  weit  mehr,  ja  etwas  ganz  anderes, 
als  bloße  Lagerung  von  Teilen  nebeneinander,  samt  allgemeiner  Gravi- 
tation. So  wenig  nun  mit  Kantischer  Attraktion  und  Repulsion  anzufangen 
sein  würde,  die  nicht  einmal  den  niedrigsten,  viel  weniger  den  höheren 
Bildungen  der  Materie  genügt:  so  halten  wir  uns  dennoch  berechtigt,  die 
sämtlichen  animalen  sowohl  als  chemischen  und  mechanischen  Erscheinungen 
der  Körperwelt  insoweit  für  etwas  vollkommen  Begreifliches  zu  erklären, 
als  nötig  ist,  um  sich  über  deren  Mannigfaltigkeit,  und  die  zwischen  ihnen 
vorkommenden  Übergänge  nicht  mehr  zu  wundern.  Was  insbesondere 
die  Lebens -Erscheinungen  anlangt,  so  muß  man  sich  nur  davor  hüten, 
das  Leben  nicht  auf  ähnliche  Weise  wie  etwas  aus  der  Fremde  hinzu- 
kommendes darzustellen,  wie  die  Anhänger  der  transzendentalen  Freiheit 
sich  etwa  diese,  samt  der  Vernunft,  als  eine  besondere  Zugabe  zu  den 
untern  Seelenvermögen  denken.  Alle  diese  Gegenstände  hängen  in  der 
wahren  Theorie  ebenso  innig  zusammen,  wie  sie  sich  in  der  Erfahrung 
verbunden  zeigen.  Und  so  kann  jenem,  oben  angeführten  Gegner  des 
Hrn.  H.  vollkommen  Genüge  geleistet  werden;  indem  weder  zwischen  der 
materialen  Basis  und  der  Lebenskraft,  noch  zwischen  animalem  und 
physischem  Leben  eine  totale  Zweiheit  eintritt,  vielmehr  alles  sich  ver- 
knüpft und  zusammenpaßt,  ohne  sich  zu  verwischen.  Hierbei  aber 
setzen  wir  voraus,  der  Naturforscher  kenne  seine  Schranken.  Er  ist 
nämlich,  als  solcher,  nicht  Richter.    Gerade  so  wenig,  als  es  Hrn.  H.  ge- 


Joh.  Chr.  A.  Heinroth:    Über  die  Hj^DOthese  der  2»Iaterie  usw.  ig^ 


lingen  kann,  das  Schwert  der  Gerechtigkeit  den  Wahnsinnigen  furchtbar 
zu  machen:  läßt  sich  wirkHche  Verschuldung  des  besonnenen  Menschen 
durch  irgend  eine  Theorie  vermindern.  Das  praktische  Urteil  wartet 
durchaus  nicht  auf  spekulative  Erklärungen;  es  ist  absolut,  und  trifft 
seinen  Gegenstand,  sobald  derselbe  tatsächlich  vorhanden  ist.  Allein 
wir  halten  uns  verpflichtet  anzunehmen,  daß  verständige  Ärzte,  wo  sie 
unternahmen,  begangene  Verbrechen  zu  entschuldigen,  im  Grunde  nichts 
anderes  beabsichtigten,  als  die  Tatsache  der  vorhandenen  Besonnenheit 
in  Zweifel  zu  stellen;  und  hierin  mag  die  Wahrheit  wohl  öfter  auf  ihrer 
Seite  sein,  als  zuweilen  die  Richter,  welche  mit  dem  Wechsel  mensch- 
licher Gemütszustände  minder  vertraut  sind,  leicht  finden  zu  glauben. 
Verhält  es  sich  so:  dann  streitet  man  nicht  um  das  praktische  Urteil, 
sondern  um  die  Beschaffenheit  des  vorliegenden  Gegenstandes.  Andrer- 
seits leuchtet  ein,  daß  Hr.  H.  in  solchem  Streite  Veranlassung  finden 
konnte,  von  dem  sehr  bekannten  und  nicht  seltenen  Übergange  der  tadelns- 
wertesten Leidenschaften  in  Wahnsinn  und  Tobsucht  als  von  einer  in 
Hinsicht  des  Wahnsinns  allgemeinen  Regel  zu  sprechen,  und  die  Ereignisse 
dieser  Art  als  natürliche,  ja  als  göttliche  Strafen  zu  betrachten.  Jede 
wirkliche  oder  doch  anscheinende  Übertreibung  auf  der  einen  Seite  pflegt 
entgegengesetzte  Übertreibung  zur  Folge  zu  haben.  Einmal  in  Eifer  ge- 
raten, sucht  er  nun  auch  in  dem  vorliegenden  Buche  (als  ob  es  jetzt  noch 
Zeit  wäre,  gegen  den  veralteten  französischen  Materialismus  zu  Felde  zu 
ziehen)  von  theoretischen  Irrtümern  im  Begriff  der  Materie  den  Grund 
in  dem  ,,gottvergessenen  Herzen".  Er  redet  weiter  von  der  Wissenschaft, 
die  sich  dermalen  zur  Despotie  über  alles  aufwerfe,  was  nur  Gegensta?id 
heiße.  Über  diesen  Punkt  nähert  freilich  Rez.  sich  der  Meinung  des 
Hrn.  Hr.  und  findet  in  der  Tat,  daß  man  hier  und  da  der  Wissenschaft 
die  Miene  gibt,  als  hätte  sie  „festzustellen,  ob  und  wie  Gott  sein  und 
wirken  solle".  Allein  es  gibt  Übel,  die  schlimmer  werden,  wenn  man 
viel  davon  redet,  die  hingegen  von  selbst  aufhören,  wenn  ihr  Grund  sich 
ändert.  Und  wie  könnten  wir  über  die  Frage,  wie  der  Irrtum  zu  ver- 
meiden sei?  mit  dem  Verf.  übereinstimmen?  Er  tadelt  das  wissenschaft- 
liche Denken  als  ein  eigenmächtiges  und  vermessenes;  er  spricht:  zueg  mit 
der  Wissenschaß,  die  dem  Absoluten  nachläuft,  ivie  der  Knabe  dem  Regen- 
bogen. Rez.  dagegen  ist  der  Bleinung,  daß,  wenn  niemals  einer  dem 
Regenbogen  nachgelaufen  wäre,  man  sich  auch  nie  deutlich  überzeugt 
haben  würde,  er  schwebe  zu  hoch,  um  ergriffen  zu  werden.  Die  ver- 
geblichen Versuche  sind  am  Ende  immer  belehrend.  Daß  aber  die  Materie, 
welche  uns  überall  zum  Anschauen  dargeboten  ist,  auf  jede  Weise  unter- 
sucht wird,  dies  liegt  ja  wohl  so  sichtbar,  als  irgend  etwas,  im  Kreise  der 
göttlichen  Veranstaltungen;  und  so  gewiß  dem  Verf  seine  theoretischen 
Mißgriffe  in  dieser  Sache  nicht  moralisch  übel  gedeutet  werden  dürfen, 
ebensowenig  wird  sein  Beruf,  andere  von  schärferen  Untersuchungen  des 
nämlichen  Gegenstandes  abzuschrecken,  bei  denkenden  INIännern  An- 
erkennvmg  finden. 


13  = 


IQÖ  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Mehring,    G.,     Über    philosophische     Kunst.      Erstes    Heft:    Eine 

historische  Vorfrage.   —   Stuttgart,    bei  Gebr.  Franckh,    1828.     XXVI 

und    102   S.    8.     (18  Gr.) 

Gedruckt    in:    Halliscbe    Literatur -Zeitung    E.    Bl.    (Ergänzungsblätter    zur    Hallischen 
Allgemeinen  Literatur-Zeitung)   1830,  Nr.  34.     SW.  XIII,  S.  616. 

„Nicht  ohne  Scheu  (sagt  der  Verf.)  lege  ich  einstweilen  meinen  Ver- 
such dem  Publikum  vor,  von  seinem  Urteile  wird  es  zum  Teil  abhängen, 
ob  ich  diese  Untersuchungen  fortsetzen  darf."  Philosophische  Schriftsteller, 
die  so  auftreten,  pflegen  sich  gern  von  mehreren  Seiten  zu  zeigen;  und 
so  hat  denn  auch  diese  kleine  Schrift  eine  besondere  Vielseitigkeit,  welche 
wir,  aufrichtig  gesagt,  bedauern,  weil  eine  ausgezeichnet  reine  Schreibart 
uns  begierig  macht  nach  einem  festen  Kern,  den  wir  nicht  finden  können. 
Was  versteht  der  Verf.  unter  philosophischer  Kunst?  Meint  er,  diese 
Kunst  sei  einfach  und  für  alle  Teile  der  Philosophie  nur  eine  und  die- 
selbe? Hält  er  sie  für  ein  Eigentum  des  Genies,  wofür  es  kein  Lehren 
und  Lernen  gibt?  Soll  die  historische  Vorfrage  wohl  dahin  weisen,  ein 
vergangenes  goldenes  Zeitalter  der  philosophischen  Kunst  aufzuspüren?  — 
Solche  Fragen  dringt  uns  der  Titel  auf.  Das  Büchlein  sagt:  „Vielleicht 
hätte  ich  statt  philosophische  Kunst  auch  philosophische  Methode  setzen 
können;"  und  nun  folgen  unzulängliche  Bemerkungen  über  das  Wort 
Methodenlehre,  woraus  wir  nichts  anderes  schließen  können,  als  daß  der 
Verf.  wirklich  den  Ausdruck  Methode  anstatt  Kunst  hätte  gebrauchen 
sollen.  „Mein  Standpunkt  (sagt  er)  ist  ganz  am  Anfange  der  Philosophie; 
der  des  kritischen  Beobachters  ihrer  Genesis!''-  Damit  stimmt  folgende 
spätere  Äußerung  zusammen:  ,,Der  Boden,  auf  dem  die  Philosophie 
wurzelt,  aus  dem  sie  ihre  Sätze  zieht,  auf  dem  sie  allein  ihre  Systeme 
bauen  kann,  ist  der  menschliche  Geist,  und  es  ist  deswegen  auch  im- 
bestritten  anerkannt  und  oft  wiederholt  worden,  daß  die  Philosophie  von  der 
psychologischen  Untei  sucJmng  über  den  Menschen  anfangen  müsset  Freilich 
ist  das  oft  genug  wiederholt,  selbst  bis  zur  Erschöpfung  der  Geduld;  aber 
unbestritten  anerkannt  ist  es  nicht.  Glauben  konnte  dieser  unrichtige 
Gedanke  so  lange  finden,  als  man  von  den  Schwierigkeiten  der  Psycho- 
logie keinen  Begriff  hatte;  und  bedecken  konnte  man  den  Fehler  so  lange, 
als  man  gegen  alle  Regeln  einer  tüchtigen  Erfahrungswissenschaft  (welche 
das  Gleichartige  zusammenzustellen  gebieten)  die  Beobachtung  der  Menschen 
von  der  Beobachtung  der  Tiere  losriß,  ja  sogar  die  innere  Selbst-Aiischatamg^ 
welche  allemal  individuell  ist,  für  gleichgeltend  mit  Menschen-Beobachtung 
hielt  und  darin  die  Quelle  der  psychischen  Anthropologie  finden  wollte. 
Merkwürdig  ist  aber  nun  die  Wendung,  wodurch  der  Verf.  sich  den 
Schwierigkeiten  der  Psychologie  entzieht.  Um  sich  an  den  äußersten 
Rand  der  Philosophie  zu  stellen  und  deren  Genesis  zu  beobachten,  ver- 
wechselt er  mit  der  Wissenschaft  die  Geschichte  derselben,  und  während 
wir  nun  der  Vorrede  gemäß  erwarten,  er  werde  bei  der  Sinnlichkeit  an- 
fangend die  bekannte  Leiter  der  Seelenvermögen  bis  zur  Vernunft  hinan- 
steigen, erblicken  wir  ihn  im  Buche  selbst  beschäftigt  mit  den  sieben 
Weisen,  insbesondere  mit  dem   Thales.     Statt   der    angekündigten  Probe 


G.  Mehring:  Über  philosophische  Kunst.  igy 


von  philosophischer  Kunst  empfangen  wir  eine  Probe  von  Gelehrsamkeit, 
von    Belesenheit   im    Platon  usw.      „Damit   man   erfahre   (sagt   die    erste 
Seite  des  Buchs),   welches  die  Aufgabe  der  philosophischen  Kunst  sei,  muß  es 
daran  liegen,  zu  untersuchen,  wie  sich  die  Forderungen  des  menschlichen 
Geistes  unter  den   verschiedensten   Umständen  ausgesprochen  haben,    um 
durch   Indiiklion   der  verschiedenen  Aufgaben  sowohl  als  ihrer  Lösung,   die 
apriorische    Disjunktion    derselben    zu    bestätigen   und   ihr   gleichsam    eine 
Kontrolle  aufzustellen."     Also,  schließen  wir,   befindet   sich  die  erwähnte, 
einer  Kontrolle  zu   unterwerfende    Disjunktion   schon  in  den  Händen  des 
Verf.;  und  die   große    Zuversicht    der   sogenannten   psychischen   Anthropologie, 
auf  deren  Boden  er  sich  stellen  will,  läßt  uns  nicht  lange  zweifelhaft,  zu 
welcher  Schule  wir  ihn  rechnen  sollen.     Die  Unbefangenheit,    womit  von 
„der   Kritik  des  Y.x\^xm\xi\%vermögens,  welche  die  philosophischen  Aufgaben 
und   die    Hauptarten   ihrer   möglichen    Auflösung    deduzieren  sollen,"   ge- 
sprochen wird    —  als   ob    diese    Meinungen   noch    heutigestages    die    un- 
angefochtene   Basis   und  den    INIittelpunkt    des   philosophischen    Forschens 
und  Streitens    ausmachte    — ,  gibt   dem    Büchlein    das    Ansehen,  als  wäre 
es   vor    zwanzig    Jahren    geschrieben    und    käme    nun    zufällig   ans   Licht. 
Wahrscheinlich  lebt  der  geistreiche  und  gelehrte  Verf.  zu  sehr  abgesondert 
von  literarischen   Kreisen,    um   mit    dem    jetzigen  Stande    der    Philosophie 
bekannt  zu  sein ;  oder  es  müssen  ihn  die  zurückstoßenden  Kräfte,  welche 
leider !  zu  sehr  in  der  heutigen  Spekulation  wirksam  sind,  stärker  als  billig 
afKziert  haben.      Doch   ganz    allein    hieran   liegt  es   bei   ihm   nicht.     Man 
sieht  vielmehr    auch    eine  positive    Kraft    des  Vorurteils  für    Tatsachen  bei 
ihm    geschäftig,    welche    an   den    Platz    der   Gedanken   treten   sollen.      Er 
meint,  die  Geschichte  der  Wissenschaft  sei  für  keine  andere  Wissenschaft 
so   wichtig,  als  für  die  Philosophie ;  und  erst  aus  der  Summe  aller  möglichen 
Systeme  könne  das  System   der  objektiven  Philosophie  konstrjiiert  werden.     Wer 
so  sprechen   kann,    dem  raten    wir   geradezu,    von   philosophischer   Kunst 
zu  schweigen.     Denn  offenbar  fehlt   ihm    der  eigentliche   Nerv  des  Philo- 
sophierens,    das     kräftige     Erzeugen     eigner     philosophischer     Gedanken, 
welches  von  jeder,   irgendwie  denkbaren  Benutzung  vorhandener   Systeme 
toto   genere    verschieden    ist.      Hiermit  aber    wollen    wir    den    Verf.    nicht 
abschrecken  vom  Schreiben.     Nicht   unter  den  eigentlichen  Denkern,  aber 
wohl   unter  den    Gelehrten  kann  er  einen  anständigen   Platz  erlangen.     Mit 
diesen    mag    er    überlegen,    was    die    oo^iu.     in    der    Urzeit    griechischer 
Spekulation    gewesen    sei.       Sie    werden  ihm    gern    glauben,    daß    Lexiko- 
graphie im   historisch- pragmatischen    Sinne,   worin   aus  der  Geschichte  ge- 
wisser   Wörter    die     Bildung    der    Völker    und    Wissenschaften    aufgeklärt 
werden    soll,    etwas    höchst   Verdienstliches   sei;    nur    mit   philosophischer 
Kunst   hat   ein  so    gelehrtes  Geschäft  wenig  gemein. 


jgg  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Hegel,  Dr.  Ge.   Wilh.  Fr.,   ord.  Prof.  d.  Philos.  an  der  Univ.  zu  Berlin, 
Encyklopädie  der  philosophischen  Wissenschaften  im  Grund- 
risse.     Zum     Gebrauche     seiner    Vorlesungen.       2.  Ausg.    — 
Heidelberg   1827. 
Gedruckt  in:    Hallische  Literatur-Zeitung   1831,  Nr.   1—4.     Kl.  Sehr.  III,  S.  719. 

SW.  Xn,  S.  664. 

Bei  öffentlichen  Disputationen  pflegt  wohl  der  Opponent  seinen  Vor- 
trag  mit   Ehrenbezeugungen   für   den  Mann,    dessen  Sätze   anzugreifen   er 
im  Begriff  steht,    einzuleiten;    eine  Sitte,  welche  hier  füglich  könnte  nach- 
o-eahmt  werden.    Allein  statt  unbestimmter  Lobreden  auf  Hegels  Scharf- 
sinn   mag    derselbe  sich  sogleich  durch  seine  eigenen  Worte  verkündigen; 
der   Leser    weiß    alsdann    auf    der    Stelle,    wovon    die  Rede    sei.     §    123: 
„Die    Existenz    ist    die    unmittelbare    Einheit   der    Reflexion    in    sich    und 
der   Reflexion    in    anderes.     Sie    ist    daher   die   unbestimmte   Menge    von 
Existierenden,  als  in  sich  reflektierten,  die  zugleich  ebensosehr  in  anderes 
scheinen,    —    relativ   sind,    und    eine    Welt  gege7iseitiger  Abhängigkeit   und 
eines    unendlichen    Ztisamnmihangs    von     Gmnden    und    Begiündeten    bilden. 
Die  Gründe    sind   selbst  Existenzen,    und    die  Existierenden  ebenso  nach 
vielen  Seiten  hin  Gründe  sowohl  als  Begründete.''    §  124:  „Das  Existierende 
enthält     die    Relativität    und    seinen    mannigfaltigen    Zusammenhang    mit 
andern   Existierenden    an    ihm    selbst    und  in   sich   als    Griind  reflektiert. 
So   ist  das  Existierende  Ding.     Das  Ding-an-sich,  das  in  der  Kantischen 
Philosophie   so   berühmt   geworden,    zeigt   sich   hier   in  seiner  Entstehung, 
nämlich   als    die   abstrakte  Reflexion   in   sich,    an  der  gegen  die  Reflexion 
in    anderes   und  gegen  die  unterschiedenen  Bestimmungen  überhaupt  fest- 
gehalten   wird,    als    der    leeren   Grundlage   derselben."     §    131    und    116: 
„Das  Wesen   muß   erscheinen.     Es   ist    nur  reine  Identität  und  Schein  in 
sich  selbst,  als  es  die  sich  auf  sich  beziehe7ide  ^^'^?i\\v\\JäX,  somit  Abstoßen 
seiner  von   sich   selbst   ist.      Das  Wesen    ist   daher  nicht  hinter  oder  jenseits 
der  Erscheinung,  sondern  dadurch,  daß  das  Wesen  es  ist,  welches  existiert, 
ist    die    Existenz    Erscheinung."     §    137:    „Die    Kraft   ist    als    das   Ganze, 
welches  an  sich  selbst  die  negative  Beziehung  auf  sich  ist,  dies.,  sich  von 
sich    abstoßen    und    sich  zu  äußern.     Aber  da  diese  Reflexion-in-anderes, 
der   Unterschied    der    Teile  .^    ebensosehr  Reflexion  -  in  -  sich   ist,    so   ist   die 
Äußerung    die    Vemittlung,    wodurch    die  Kraft  in  sich  zurückkehrt.      Ihre 
Wahrheit  ist  das  Verhältnis,  dessen  beide  Seiten  nur  als  Inneres  und  Äußeres 
unterschieden   sind.     Das  Innere  ist  —  die  leere  Form  der  Reflexion  in 
sich;  das  Äußere  die  leere  Form  der  Reflexion  in  anderes.    Ihre  Identität 
ist  die  erfüllte,  der  Inhalt,  die  selbst  in  der  Bewegung  der  Kraft  gesetzte 
Einheit   der  Reflexion   in    sich  und  der  Reflexion  in  anderes;    beide  sind 
dieselbe  eine  Totalität,  und  diese  Einheit  macht  sie  zum  Inhalt."    §    139: 
„Was    innerlich,    ist    auch   äußerlich.      Die    Erscheinung   zeigt   nichts,    was 
nicht  im   Wesen  ist;    und  im  Wesen  ist  nichts,  was  nicht  manifestiert  ist. 
Anstatt: 

Ins  Innre  der  Natur  dringt  kein  erschaffner  Geist, 
Zu  glücklich  wenn  es  nur  die  äußere  Schale  weist, 


Dr.  G.  W.  F.  Hegel:    Encyklopädie   der   philos.  Wissenschaften  im  Grundrisse.      igg 


hätte  es  heißen  müssen:  eben  dann,  wenn  ihm  das  Wesen  der  Natur  als 
Inneres  bestimmt  ist,  weiß  er  nur  die  äußere  Schale."'  §  248:  „Die  Natur 
ist  an  sich,  in  der  Idee,  göttlich;  aber  wie  sie  t'sl,  entspricht  ihr  Sein 
ihrem  Begriffe  nicht;  sie  ist  vielmehr  der  unaufgelöste  Widerspruch.  Die 
Natur  ist  auch  als  der  Abfall  der  Idee  von  sich  selbst  ausgesprochen  worden, 
indem  die  Idee  in  dieser  Gestalt  der  Äußerlichkeit,  in  der  Unangemessenheit 
ihrer  selbst  mit  sich  ist.  /;/  der  Natur  hat  das  Spiel  der  Formen  nicht 
nur  seilte  ungebundene.,  zügellose  Zufälligkeit,  sondern  jede  Gestalt  für  sich 
entbehrt  des  Begriffs  ihrer  selbst.  Das  Höchste,  wozu  die  Natur  es  in 
ihrem  Dasein  treibt,  ist  das  Leben,  aber  als  ?iur  natürliche  Idee  ist  dieses 
der  Unvernunft  der  Äußerlichkeit  hingegeben,  und  die  individuelle  Lebendig- 
keit ist  in  jedem  Momente  ihrer  Existenz  mit  einer,  ihr  andern,  Einzeln- 
heit  befangen ;  dahingegen  in  jeder  geistigen  Äußerung  das  Moment  freier 
allgemeiner  Beziehung  auf  sich  selbst  enthalten  ist."  §  381 :  „Der  Geist  hat 
für  uns  die  Natur  zu  seiner  Voraussetzung,  deren  Wahrheit,  und  damit 
deren  absolut-erstes  er  ist.  In  dieser  Wahrheit  ist  die  Natur  verschwunden, 
und  der  Geist  hat  sich  als  die  zu  ihrem  Für-sich-sein  gelangte  Idee  er- 
geben, deren  Objekt  ebensowohl  als  das  Subjekt  der  Begriff  ist.  Diese 
Identität  ist  absolute  Negatiintät,  weil  in  der  Natur  der  Begriff  seine  voll- 
kommene äußerliche  Objektivität  hat,  diese  seilte  Entäußerung  aber  auf- 
gehoben, und  er  in  dieser  sich  identisch  mit  sich  geworden  ist.  Er  ist 
diese  Identität  somit  zugleich  nur,  als  Zurückkommen  aus  der  Natur. 
Das  Wesen  des  Geistes  ist  deswegen  formell  die  Freiheit,  die  absolute  Nega- 
tivität  des  Begriffs  als  Identität  mit  sich."  §  554:  „Der  absolute  Geist  ist 
ebensowenig  in  sich  seiende  als  in  sich  zurückkehrende  und  zurückgekehrte 
Identität." 

Solches  Philosophieren  ist  als  Tatsache  vorhanden ;  es  gibt  aber  auch 
entgegengesetzte  Tatsachen.  Der  Unterzeichnete  wird  zwar  an  diesem  Orte, 
über  die  angeführten,  aus  ihrem  Zusammenhange  gerissenen  Stellen,  noch 
keine  Gegenbemerkungen  machen;  vielmehr  muß  zuerst  jetzt  die  Inhalts- 
anzeige des  Buches  folgen,  damit  eine  Übersicht  des  Ganzen  möglich  sei; 
hierbei  aber  sollen  Erinnerungen  Platz  finden,  jedoch  vorläufig  nur  solche, 
wie  sie  demjenigen,  der  das  Lehrgebäude  von  außen  betrachtet,  sich  dar- 
bieten können.  Man  gedenke  der  Kantischen  Eleganz  in  der  Dreiteilung 
der  Kategorientafel;  damals  war  die  Eleganz  noch  nicht  Gesetz;  es  gab 
vier  Titel  in  jener  Tafel;  es  gab  zwei  Formen  der  Sinnlichkeit.  Selbst 
Fichte,  mit  seinen  drei  Grundsätzen  der  Wissenschaftslehre,  und  der  daran 
nachgewiesenen  Fortschreitung  durch  Thesis,  Antithesis  und  Synthesis, 
wuchs  noch  nicht  fest  hinein  in  die  Dreiheit;  sondern  suchte  sich  im 
Denken  jedesmal  so,  wie  der  Gegenstand  es  mit  sich  brachte,  zu  bewegen. 
Aber  seit  Schellixg  wurde  die  Trichotomie  zur  Systemfessel.  Hegel 
teilt  so:  Logik,  Naturphilosophie  und  Philosophie  des  Geistes.  Dann  zerfällt 
die  Logik  nach  folgendem  Schema: 

Erste  Abteilung.  Lehre  vom  Sein.  A.  Qualität,  a)  Sein,  b)  Dasein, 
c)  Fürsichsein.  B.  Quantität,  a)  Reine  Quantität,  b)  Quantum,  c)  Grad. 
C.  Maß. 

Ziveite  Abteilung.  Die  Lehre  vom  Wesen.  A.  Das  Wesen  als  Grund 
der    Existenz,     a)  Reine    Reflexionsbestimmungen:    Identität,    Unterschied, 


200  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 

Grund,  b)  Existenz,  c)  Ding.  B.  Die  Erscheinung,  a)  Die  Welt  der 
Erscheinung,  b)  Inhalt  und  Form,  c)  Verhältnis.  C.  Die  Wirklichkeit, 
a)  Substantialität.     b)  Kausalität,     c)  Wechselwirkung. 

Dritte  Abteilung.     Die  Lehre  vom  Begriff.     A.  Der  subjektive  Begriff. 

a)  Begriff  als  solcher,  b)  Urteil,  c)  Schluß.  B.  Das  Objekt,  a)  Mechanis- 
mus, b)  Chemismus,  c)  Teleologie.  C.  Die  Idee,  a)  Leben,  b)  Er- 
kennen,    c)   Absolute  Idee. 

Daß  hier  die  Logik  durch  eine  verkümmerte  Metaphysik  (die  sogar 
Raum  und  Zeit,-  nicht  etwa  an  die  Psychologie,  sondern  an  die  Natur- 
philosophie abgeben  mußte)  weit  über  ihr  natürliches  INIaß  angeschwellt 
wurde,  das  darf  diejenigen  nicht  wundern,  welche  sich  Kants  tran- 
szendentale Logik  haben  gefallen  lassen;  denn  dort  ist  der  Anfang  der 
Verwirrung.  Aber  wie  konnte  Existenz  und  Ding  vom  Sein  und  Dasein 
getrennt  werden?  Warum  wird  vom  Quantum,  dem  Grade  und  Maße, 
eher  als  von  Erscheinungen  geredet?  Wie  kommen  Begriff,  Urteil,  Schluß, 
in  die  Mitte  hinein  zwischen  Wechselwirkung  und  Mechanismus,  die  aufs 
engste  verbunden  sind?  Wie  kann  von  der  Teleologie,  bloß  als  dem 
dritten  Gliede  zu  Mechanismus  und  Chemismus,  etwas,  wir  wollen  nicht 
sagen.  Genügendes,  aber  nur  einigermaßen  Angemessenes,  geredet  werden? 
Und  nachdem  diese  Gegenstände  der  Logik  zugewiesen  waren,  welche 
Scheidung  ist  nun  noch  zwischen  ihr  und  der  Naturphilosophie  möglich;  und 
wie  kann  hierbei  der  Tadel  selbst  der  gemeinstert  Logik  vermieden  werden  ? 
Damit  der  Leser  selbst  eingeladen  werde,  sich  hierauf  eine  Antwort  zu 
suchen,  stellen  wir  den  Abriß  der  Naturphilosophie  vor  Augen. 

Erste    Abteilung.      Die    Mechanik.      A.    Raum    und    Zeit.      a)   Raum. 

b)  Zeit,    c)  Ort.    B.  Materie  und  Bewegung,    a)  Träge  Materie,    b)  Stoß. 

c)  Fall.     C.  Absolute  Mechanik. 

Ziveite  Abteilung.  Die  Plivsik.  A.  Physik  der  allgemeinen  Indivi- 
dualität, a)  Freie  physische  Körper,  b)  Elemente,  c)  Elementarischer 
Prozeß.  B.  Physik  der  besonderen  Individualität,  a)  Spezifische  Schwere, 
b)  Cohäsion.  c)  Klang,  d)  Wärme.  C.  Physik  der  totalen  Individualität, 
a)  Gestalt,  b)  Besonderung  des  individuellen  Körpers.  c)  Chemischer 
Prozeß. 

Dritte  Abteilung.  Organik.  A.  Geologische  Natur.  B.  Vegetabilische 
Natur.  C.  Tierischer  Organismus,  a)  Gestalt,  b)  Assimilation,  c)  Gattungs- 
Prozeß. 

Wenn  hier,  um  die  Dreiheit  zu  erreichen,  dem  Räume  und  der  Zeit 
noch  der  Ort  beigefügt,  aber  neben  dem  Orte  die  Lage  verschwiegen 
wurde:  so  mag  dies  etwa  ebenso  schicklich  Sein,  wie  Kants  Hinzufügung 
der  Wechselwirkung  zu  Substanz  und  Ursache,  wobei  Reizbarkeit  und 
Selbstbestimmung,  zwei  ebenso  wichtige  Kategorien  als  die  Wechselwirkung, 
—  vergessen  wurden.  Den  Fall  neben  den  Stoß  zu  stellen,  ist  wohl  nur 
in  einer  Naturphilosophie  möglich,  die  unter  allen  sogenannten  be- 
schleunigenden  Kräften  die  Schwere  als  vorgeblich  allgemeine  Eigenschaft 
aller  Materie  hervorhebt;  während  in  der  Tat  der  Fall  nur  Ein  Fall, 
und  zwar  ein  ganz  besonderer,  von  gleichförmiger  Beschleunigung  ist,  — 
der  Stoß  aber,  wenn  man  nicht  von  Atomen  als  harten  Körperchen  reden 
will,  schon  gebildete,  entweder  harte  oder  elastische  oder  weiche  oder  flüssige 


Dr.  G.  W.  F.  Hegel:   Encyklopädie   der    philos.  Wissenschaften  im  Grundrisse,      20I 


Massen  voraussetzt.  Warum  aber,  und  nach  welcher  Hypothese,  hat  sich 
hier,  als  ein  höchst  ungelegener  Fremdling,  die  Wärme  hinter  dem  Klange, 
—  oder  der  Klang  vor  der  Wärme  eingeschoben?  Denn  an  diesem  ein- 
zigen Punkte  finden  wir  die  sonst  so  künstlich  festgehaltene  Dreiheit  über- 
schritten ;  und  vermissen  nun  noch  obenein  das  Lidii^  welches  neben  der 
Wärme  seinen  Platz  zu  finden  pflegt,  vollends  aber  gemäß  der  jetzt  be- 
liebten Undulationstheorie  sich  vom  Klange  nicht  hätte  trennen  sollen, 
so  daß  wir  es  aus  doppeltem  Grunde  vermissen.  Was  aber  sollen  wir 
mit  Elementen  der  Körper  ohne  Cohäsion  —  oder  Repulsion?  Und  wie 
konnte  gar  der  chemische  Prozeß,  der,  wenn  irgend  einer,  die  Elemente 
trifft,  und  zugleich  Gestalt  und  Cohäsion  bestimmt,  sich  so  sehr  verspäten, 
als  ob  ohne  ihn  zu  fragen,  aus  elementarischen  Prozessen  wohl  fertige 
Körper  hervorgehen  dürften?  Die  Gestalt  aber  ist,  wie  es  scheint,  hier 
vollends  eine  Doppelgestalt;  denn  sie  kehrt  beim  tierischen  Organismus 
noch  einmal  wieder;  vermutlich  in  der  Meinung,  die  Gestaltung  der 
lebenden  —  nicht  bloß  Tiere,  sondern  auch  Pflanzen,  sei  etwas  ganz 
anderes,  als  diejenige,  wonach  etwa  Kristalle  gebildet  werden;  eine  Meinung, 
wobei  Holz  und  Leder  und  andere  Residuen  des  organischen  Lebens 
leicht  könnten  mit  Erden  und  Steinen  und  Erzen  in  Eine  Klasse  ge- 
worfen werden.  —  Doch  wenn  schon  diese  Naturgegenstände  sich  die, 
ihnen  aufgedrungene,  trichotomische  Form  wohl  schwerlich  auf  die  Länge 
dürften  gefallen  lassen:  so  ist  vollends  unbegreiflich,  wie  Hegel  es 
unternehmen  mochte,  das  Geisterreich  an  solche  Fesseln  zu  gewöhnen. 
Hier  ist's  am  nötigsten,  das  Faktum  vor  Augen  zu  stellen,  damit  nicht 
die  Treue  des  Berichts  durch  die  Unglaublichkeit  der  Sache  verdächtig 
werde. 

Erste  Abteilung.  Der  subjektive  Geist.  A.  Anthropologie,  a)  Natür- 
liche Seele,  b)  Träumende  Seele,  c)  Wirkliche  Seele.  B.  Phänomenologie, 
a)  Bewußtsein  als  solches,  b)  Selbstbewußtsein,  c)  Vernunft.  C.  Psycho- 
logie, a)  Theoretischer  Geist,  b)  Praktischer  Geist,  u)  Praktisches  Ge- 
fühl,    /j)  Triebe,      y)  Willkür  und  Glückseligkeit. 

Ziveite  Abteilung.  Der  objektive  Geist.  A.  Das  Recht.  a)  Das 
Eigentum.  b)  Vertrag.  c)  Das  Recht  an  sich  gegen  das  Unrecht. 
B.  Die  Moralität.  a)  Der  Vorsatz,  b)  Die  Absicht  und  das  Wohl,  c)  Das 
Gute  und  das  Böse.  C.  Die  Sittlichkeit,  a)  Die  Familie,  b)  Die  bürger- 
liche Gesellschaft.  «)  Das  System  der  Bedürfnisse,  ß)  Die  Rechtspflege, 
j')  Polizei  und  Korporation.  c)  Der  Staat.  a)  Inneres  Staatsrecht. 
ß)  Äußeres  Staatsrecht,     y)  Die  Weltgeschichte. 

Dritte  Abteilung.  Der  absolute  Geist,  a)  Die  Kunst,  b)  Die  ge- 
offenbarte Religion,     c)  Die  Philosophie. 

INIag  man  über  das  Verhältnis  der  Anthropologie  (welche  die  Tier- 
welt ausschließt)  zur  Psychologie  (welche  das  leibliche  Leben  beiseite  setzt) 
denken  wie  man  will:  so  wird  doch  schwerlich  irgend  jemand  die  Dis- 
junktion logisch  rechtfertigen  können,  nach  welcher  Phänomenologie  als 
zweites  Glied  zwischen  jenen  beiden  steht,  während  die  Phänomene,  die 
man  Tatsachen  des  Bewußtseins  nennt,  ein  schlechthin  unentbehrliches 
Material  der  Psychologie  und  Anthropologie  ausmachen,  das  nicht  außer 
ihnen    darf    hingestellt    werden     —     so    wenig    als    Vernunft    außer    dem 


202  J-  F,  Herbarts  Rezensionen. 


theoretischen  und  praktischen  Geiste  zu  suchen  ist.  Vollends  auffallend 
aber  ist  die  Gewalt,  welche  hier  die  Rechts-  und  Sittenlehre  erleidet,  die 
zwischen  sich  einige  leere  Formalbegriffe  unter  dem  Namen  der  Moralität 
hat  aufnehmen  müssen,  als  ob  daran  Ersatz  für  die  mangelnde  Unter- 
suchung der  Prinzipien  —  und  zwar  der  eigentümlichen,  ebensowenig 
psychologischen,  als  naturphilosophischen  und  logischen  Prinzipien  der 
praktischen  Werlbesiinimung  —  könnte  angebracht  werden.  Auf  allen 
Fall  tut  die  Sittenlehre  sehr  wohl  daran,  daß  sie  sich  wenigstens  einige 
Rechtsbegriffe,  unter  den  Namen  Rechtspflege  und  Staatsrecht,  trotz  der 
weiten  Trennung  und  gewaltsamen  Disjunktion,  wodurch  zwischen  ihr  und 
der  Rechtslehre  eine  Kluft  befestigt  war,  wieder  zueignet.  Wenn  aber 
dieser  ganze  Schematismus  einen  Wert  haben  sollte:  so  müßte  sich  in  allen 
Dreiheiten,  den  großen  wie  den  kleinen,  das  nämliche  Verhältnis  wieder- 
holen; und  zwar  nicht  obenhin,  sondern  genau.  Wer  mag  nun  sagen: 
lüie  Logik  zur  Naturphilosophie,  so  verhält  sich  Psychologie  (die  Lehre  vom 
subjektiven  Geiste)  znr  Ethik  (Lehre  vom  objektiven  Geiste)  —  und  gesetzt, 
einer  möchte  es  sagen,  wer  denn  mag  es  hören  und  ertragen?  Und  doch 
ist  dies  von  den  sehr  zahlreichen  Beispielen,  die  sich  aus  dem  angegebenen 
Schema  herausnehmen  lassen,  nur  ein  einziges.  Kurz:  wer  nicht  geiade 
zu  Hegels  Schule  gehört,  der  sieht  sogleich  hier  eine  fehlerhafte,  vor- 
urteilsvolle Architektonik,  wodurch  das  Lehrgebäude,  als  Gebäude  be- 
trachtet, völlig  unbrauchbar  wird.  Denn  jeder  Teil  der  Philosophie  gibt 
sich  seine  eigene  Gestalt  gemäß  der  Eigenheit  seiner  Gegenstände.  Einerlei 
Schema  für  Logik,  Metaphysik,  Anthropologie,  Naturphilosophie,  Rechts- 
und Sittenlehre,  —  ein  solches  Schema  ist  ein  Unding;  geradeso  als  ob 
einer  allen  Salzen  einerlei  Kristallform  aufdringen  wollte.  Der  Philosoph 
soll  den  vor  ihm  liegenden  Gegenständen  keine  Uniform  anziehen,  er  soll 
vielmehr  sie  erkennen  wie  sie  sind,  und  sie  in  der  Gestalt  auffassen  die 
sie  ihm  zeigen.  Dieser  Unterordnung  des  Forschers  unter  den  Gege7istand 
aber  luidersetzt  sich  der  böse  Geist  des  Idealismus;  der  älter  ist  als 
Hegels  Lehre;  und  dessen  Gewalt  über  sehr  scharfsinnige  Köpfe  wir 
leider  schon  längst,  aus  früheren  Zeiten  kennen. 

Als  ein  Kind  der  Zeit  hat  natürlich  Hegels  Philosophie  auch  manche 
Vorzüge;  namentlich  den,  daß  sie  nicht  durch  eine  Widerlegung  kann 
hinweggeschafft  werden,  vielmehr  aus  dem  Boden  der  vorhandenen  Lehr- 
meinungen und  der  in  Umlauf  befindlichen  Bücher  sich  in  vielen  Köpfen 
auf  ähnliche  Weise  von  selbst  erzeugt;  ferner  hat  sie  den  Vorzug  einer 
Soweit  gediehenen  Ausarbeitung,  wie  selten  einer  ohne  Vorarbeit  zu  er- 
langen vermag;  sie  hat  überdies  das  Recht,  beachtet  zu  werden,  wie  jede 
reif  gewordene  Frucht  langer  Jahre;  und  sie  gewährt  dem  aufmerksamen 
Beschauer  den  Vorteil,  daß  er  an  ihr  sehen  kann,  wohin  die  früheren 
Versuche  geführt  haben,  —  ein  Vorteil,  dessen  Wert  freilich  ganz  vom 
weitern  Nachdenken  abhängt.  Solche  Menschen,  die  zu  keiiiem  weitern 
Nachdenken  Lust  haben,  mögen  sich  wohl  einbilden,  Schelling,  Fichte 
und  zum  Teil  selbst  Kant,  hätten  mit  losgebundener  Willkür  sich  etioas  aus- 
gesonnen, das,  man  begreife  nicht  tvie  und  durch  luelchen  sonderbaren  Zufall, 
in  den  Besitz  eines  sehr  weit  verbreiteten  und  lang  anhaltenden  Beifalls  ge- 
raten  sei;   diese    mögen    denn   auch   wünschen,   daß  Hegels  Lehre   bald 


Dr.  G.  W.  F.  Hegel:    Encyklopädie   der  philos.  Wissenschaften  im  Grundrisse.      203 


spurlos  vorübergehend  vergessen  werde.  Aber  wer  es  einsieht,  daß  mit  einer 
Widerlegung  solcher  Theorien,  welche  einen  tiefen  historischen  Boden  haben, 
noch  lange  kein  Wegschaffen  derselben  verbunden  sein  kann  und  darf, 
der  wird  sich  zu  ganz  andern  Erwartungen  berechtigt  finden.  Wenn  mit 
neuen  Fehlern,  welche  die  natürlichen  Folgen  von  einer  ganzen  Reihe 
älterer  Fehler  sind,  zugleich  die  letztern  ans  Licht  kommen:  so  entstehen 
hieraus  neue  Motive  zu  besserer  Arbeit;  und  diese  Motive  werden  um 
desto  dringender,  wenn  zugleich  klar  wird,  daß  auch  in  den  altern  Fehlern 
natürliche  Triebfedern  wirkten,  deren  Erfolg  nur  darum  mißriet,  weil  sie 
noch  nicht  ihre  ganze  Spannung  erhalten  hatten.  Zur  Spekulation  sind 
einmal  nur  wenige  Menschen  geboren;  was  Wunder  denn,  daß  die  dahin 
gerichteten  Strebungen  nur  langsam,  nur  in  einer  Reihe  nacheinander 
lebender  Personen  diejenige  Spannung  gewinnen,  die  nötig  ist,  um  ein 
ganzes  und  befriedigendes  Werk  hervorzubringen?  Daß  aber  Hegel  aller- 
dings in  der  Reihe  dieser  Personen  einen  Platz,  und  zwar  einen  aus- 
gezeichneten Platz  habe,  dies  ist  schon  lange  nicht  mehr  zweifelhaft;  es 
wird  auch  durch  fernere  Untersuchung  nicht  zweifelhaft  werden. 

In  der  allgemeinen  Einleitung  sucht  Hegel  die  Philosophie  mehr 
zu  beschreiben,  als  zu  definieren;  wir  verdenken  ihm  das  keineswegs,  ob- 
gleich die  Angabe  des  Grundes  vielleicht  verschieden  von  seiner  Meinung 
lauten  könnte.  Gegen  die  vorläufige  Untersuchung  des  Erkenntnisver- 
mögens im  Geiste  Lockes  oder  Kants  sagt  er:  erkennen  zu  wollen  ehe 
man  erkenne,  gleicht  dem  Vorsatze,  schwimmen  zu  lernen,  ehe  man  sich 
ins  Wasser  wage.  „Näher  (fährt  er  fort)  kann  das  Bedürfnis  der  Philo- 
sophie dahin  bestimmt  werden,  daß,  indem  der  Geist,  als  fühlend  und 
anschauend,  Sinnliches  oder  Phantasiebilder  zu  Gegenständen  hat,  er  zum 
Unterschiede  hiervon,  über  das  gewöhnliche  Bewußtsein  sich  erhebend, 
auch  seiner  höchsten  Innerlichkeit,  dem  Denken,  Befriedigung  verschaffe,  und 
das  Denken  zu  seinem  Gegenstande  gewinne.  So  kommt  er  zu  sich  selbst ; 
denn  sein  Prinzips  seine  nnvermischte  Selbst heit  ist  das  Denken.'"'  Hegel 
möchte  es  übel  nehmen,  wenn  wir  ihn  hier  in  den  Verdacht  eines  un- 
vorsichtigen Klebens  an  —  empirischer  Psychologie  zögen.  Eher  möchte 
er  etwa  leiden,  wenn  wir  schon  hier  eine  Reminiscenz  an  das  Fichtesche 
/f/^  aufspürten ;  das  jedoch  selbst  von  empirischer  Psychologie  keines- 
weges  rein  losgekommen  war.  Gewitzigt  aber  ist  Hegel  durch  Fichte, 
denn  sogleich  fügt  er  hinzu:  „In  diesem  Geschäfte  geschieht  es,  daß  sich 
das  Denken  in  Widersprüche  verwickelt;  —  die  Einsicht,  daß  die  Natur 
des  Denkens  selbst  die  Dialektik  ist,  als  Verstand  in  das  Negative  seiner 
selbst,  in  den  Widerspruch  zu  geraten,  macht  eine  Hauptseite  der  Logik 
aus."  Und  weiterhin :  „Die  aus  dem  genannten  Bedürfnisse  hervorgehende 
Entstehung  der  Philosophie  hat  die  Eyfahrnng^  das  unmittelbare  und 
räsonnierende  Bewußtsein  zu  ihrem  /Ausgangspunkte.  Dadurch  als  durch 
einen  Reiz  erregt,  benimmt  sich  das  Denken  wesentlich  so,  daß  es  sich 
über  das  sinnliche  und  räsonnierende  Bewußtsein  erhebt,  in  das  unvermischte 
Element  seiner  selbst;  und  so  zunächst  sich  ein  negatives,  sich  entfernendes 
Verhältnis  zu  jenem  Anfange  gibt.  Es  findet  so  in  sich,  in  der  Idee 
des  allgemeinen  Wesens  dieser  Erscheinungen,  zunächst  seine  Befriedigung. 
Umgekehrt:    der  Reiz,    die  Form    der   Zufälligkeit   zu   überwinden,  worin 


204  J-  ^-  Herbarts  Rezensionen. 


die  Erfahrungsgegenstände  sich  darbieten,  reißt  das  Denken  aus  der  an 
sich  erhaltenen  Befriedigung  heraus,  und  treibt  es  zur  Entwicklung,  von 
sich  ans.  Dieses  ist  einerseits  ein  Aufnehmen  des  Inhalts  und  seiner 
vorgelegten  Bestimmungen,  andrerseits  aber  gibt  sie  demselben  die  Gestalt, 
frei  im  Sinne  des  ursprünglichen  Denkens,  nur  nach  der  Notwendigkeit 
der  Sache  selbst  hervorzugehen.''  In  dieser  Stelle  liegt  Verschiedenes, 
worüber  sich  Rez.  mit  Hegel  auseinandersetzen  muß.  Darüber,  daß  sich 
das  Denken  in  Widersprüche  verwickelt,  und  zwar  nicht  etwa  zufällig, 
oder  aus  Unbesonnenheit,  sondern  in  vielen  Punkten  unvermeidlich,  — 
sind  wir  einverstanden.  Aber  wenn  der  Grund  der  Widersprüche  in  der 
Natur  des  Denkens  gesucht  wird  —  als  ob  der  Verstand  ein  stehendes 
Seelen  vermögen,  mit  einem  angestammten  Übel  behaftet  wäre  — ,  dann 
hört  schon  das  Einverständnis  auf.  Hinwiederum,  wenn  die  Erfahrung 
als  der  Ausgangspunkt  jenes  philosophischen  Bedürfnisses  bezeichnet  wird, 
so  sind  wir  darin  einig.  Hingegen  kann  nicht  zugegeben  werden,  daß  die 
Erfahrung  dem  subjektiven  räsonnierenden  Bewußtsein  gleich  gesetzt  werde, 
während  sie  oft  genug,  und  gerade  dann,  wann  der  Mensch  sich  zu  dem 
Bekenntnisse:  er  habe  Erfahrungen  gemacht^  genötigt  sieht,  die  Fäden  des 
Räsonnements  geradezu  abschneidet.  An  die  Stelle  des  räsonnierenden 
Bewußtseins  kann  hier  nichts  anderes  treten,  als  die  treue  Analyse  des 
Vorgefundenen;  diese  ist's,  welche  unerwartet,  und  dem  Verstände  ganz 
ungelegen,  auf  Widersprüche  stößt.  Eine  Erhebung  über  die  Erfahrung 
zu  suchen,  ist  nun  zwar  die  notwendige  Folge  hiervon  allein  woher  Hegel 
alsdann  ein  ,,un vermischtes  Element  seiner  selbst"  nehme,  und-  wie  in  sich 
soviel  heißen  könne  als  i7i  der  Idee  des  allgemeinen  Wese?2S  der  Erscheinungen., 
das  mag  er  selbst  wissen.  Die  große  Geläufigkeit  der  Rede  an  diesem 
Punkte  zeugt  von  alter  Gewohnheit;  schwerlich  aber  läßt  sich  hier  eine 
andere  Gewohnheit  finden,  als  die  des  Idealismus,  der  freilich  in  dem 
eingebildeten  reinen  Ich  noch  immer  eine  Zuflucht  zu  haben  meint,  trotz 
den  Widersprüchen,  die  ihm  den  Weg  dahin  ein  für  allemal  hätten  ver- 
schließen sollen.  Mit  Einem  Worte:  selbst  hier,  wo  die  Widersprüche 
anerkannt  werden,  ist  immer  noch  das  Gewicht  derselben  nicht  empfunden; 
die  Folgen,  die  sie  als  Motive  des  fortschreitenden  Denkens  haben  müssen, 
sind  nicht  erwogen;  man  bleibt  auf  der  alten  Stelle,  weil  man  nicht 
glauben  will  an  die  Notwendigkeit,  sie  zu  verlassen.  Und  das  ist  die 
Wurzel  des  Übels  bei   Hegel  wie  bei  seinen  Vorgängern. 

Aber  es  ist  schon  viel  gewonnen,  wenn  nur  diese  Wurzel  des  Übels 
deutlich  zu  Tage  kommt.  Hegel  hat  mit  einer  Offenheit,  die  ihm  persön- 
lich, und  mit  einer  Bestimmtheit,  die  seinem  Scharfsinne  Ehre  macht, 
das  hingestellt,  ivas  herauskommt,  wenn  man  die  Widersprüche  behält.^ 
anstatt  ihr  gerades  Gegenteil  zu  ergreifen,  und  dies  mit  der  Erfahrung  in 
Einklang  zu  bringen.  Dafür  muß  er  dulden,  daß  man  ihn  auf  der  einen 
Seite  anstaunt,  auf  der  andern  sich  mit  Befremdung  von  ihm  abwendet. 
Ist's  ein  Wunder,  wenn  er  unter  solchen  Umständen  gelegentlich  einen 
Laut  der  Ungeduld  hören  läßt?  Nicht  einmal  darüber  dürfen  wir  uns 
wundern,  daß  die  Widersprüche  nicht  so  wie  sie  gegeben  sind,  in  ihrer 
ursprünglichen  Form,  sondern  in  einer  künstlich  erworbenen  Zusammen- 
ziehung   und    Ausdehnung   auftreten,    die   den   mancherlei    systematischen 


Dr.  G.  W.  F.  Hegel:   Encyklopädie   der  philos.  Wissenschaften  im  Grundrisse.      205 


Forderungen  am  besten  zu  entsprechen  scheint.  Jedoch  dieser  Umstand 
ist  desto  mehr  zu  bedauern,  je  natürlicher  mit  ihm  der  Irrtum  des  Systems 
zusammenhängt. 

In  den  drei  Erklärungen:   Logik  ist  die    Wissenschaft  der  Idee  an  und 
für  sich;  Naturphilosophie  ist  die  Wissenschaft  der  Idee  in  ihrem  Anderssein; 
Philosophie  des    Geistes  ist    Wissenschaft  von   der   Idee,   die  aus  ihrem  Anders- 
sein in  sich  zurückkehrt,    erkennen    wir   jene    Fichtesche  Thesis,    Antithesis 
und  Synthesis,  die  zu  den  jetzt  veralteten    drei  Grundsätzen  der  Wissen- 
schaftslehre paßt,    worin    erstlich    das  Ich  sich  setzte,    als  ob    es  für  sich 
bestehen  könne,    dann   sich    auf  ein  entgegenstehendes  Nicht-Ich    besann, 
hierauf  aber   mit   diesem    Nicht- Ich    erst    kapitulierte,    um    es    demnächst 
desto  sicherer  zu  besiegen.    Was  aus  der  ganzen  Fichteschen  Untersuchung 
am   ersten  und  deutlichsten  hervorleuchtete,  war  dies,  daß  ein  Ich,   welches 
sich  setze  als  setzend  ein  Nicht-Ich,  kein  Ich  sei;   und  daß,   wenn  es  dennoch 
sich  so  setze,  hier  ein  gegebener  Widerspruch  vorliege.     Ebenso  ist  es  mit 
der  Idee  in  ihrem  Anderssein ;   sie  kann  in  ihrem  Anderssein  nicht  bleiben, 
sondern  muß  in  sich  zurückkehren ;  aber  anstatt  daß  hier  der  Fehler  und 
dessen  Korrektur   bloß    im  Denken  vorkommen  sollten,  ist  es  leider!    die 
im    Werden   befangene  Natur  selbst,    welche   als    Idee    in    ihrem  Anderssein 
—  wenigstens  erscheint;  so  daß   hierin  der  Widerspruch  sich  belegt  und 
gerechtfertigt  durch  die  Erfahrung  selbst    darstellt.     „In  der  Natur,"  sagt 
Hegel,  „ist  es  nicht  ein  Anderes,  als  die  Idee,  welches  erkannt  würde,  aber  sie 
ist  in  der  Form  der  Entäußerung,  so  wie  im  Geiste  als  an  und  für  sich  seiend 
und  an  und  für  sich  werdend."  —  Eine  andere  Ähnlichkeit  zwischen  Fichte 
und  Hegel  wollen  wir  sogleich  neben  der  vorigen  bemerken.    Mit  Beziehung 
auf  Kants    Kritik   des   ontologischen    Beweises    vom    Dasein    Gottes    sagt 
Hlgel:  „Es  müßte  sonderbar  zugehen,  wenn  das  Innerste  des  Geistes,  der 
Begriff,  oder  auch  luenn  Ich,  oder  vollends  die  konkrete  Totalität,  welche 
Gott  ist,  nicht    einmal    so  reich    wäre,    um  eine  so    arme  Bestimmung  wie 
Sein  ist,   ja  welche   die    allerärmste^   die   abstrakteste  ist,    in    sich    zu    ent- 
halten."    Allein    so   wichtig    auch   die  Einwirkungen    Fichtes   auf  Hegel 
sind,  so  geben  sie  uns  doch  nicht   allein    den  zulänglichen  Schlüssel  zur 
Lehre  des  letztem.     Und    so  zweckmäßig   auch  der  Vorbegriff  zur  Logik 
(§  19  —  83)  sich  nacheinander  über  die  alte  Metaphysik,  über  Empirismus 
und   Kritizismus,    endlich    über   Jacobis    Ansichten    erklärt;    wodurch  un- 
streitig Kegel  selbst    das   Verstehen   seines  Buches   sehr    erieichtert  hat: 
so  klagt  man   dennoch  allgemein  über  Unsicherheit  und  große  Schwierig- 
keit des  richtigen  Verstehens;  und  wer  etwa  diese  Klage    für  übertrieben 
hielte,  dem  dürften  wir  nur  die  ersten  besten  paar  Seiten  aus  den  hintern 
Teilen  des   Buchs  abschreiben,   um    ihn    zu  der  Überzeugung  zu  bringen, 
daß  diese  Schwierigkeit    wirklich    vorhanden    ist.     Es    ist   dies  ein  Punkt, 
bei  dem  wir  vor  aller    weitern  Betrachtung  Ursache   haben    zu  verweilen. 
Eigentlich    sollte    ein    System    von  der    oben   angezeigten  Form  sehr 
leicht  zu  verstehen  sein.     Denn    bei  der   großen   Gleichförmigkeit,  womit 
aus  jedem    Punkte    drei  Glieder   hervorgehen,   muß   man   ein  allgemeines 
Gesetz  annehmen,  wonach  diese  Glieder  sich  bilden ;  alsdann  braucht  man 
nur  ein-  für  allemal  das  Verhältnis  derselben  scharf  aufzufassen  und  fest 
im  Auge  zu  behalten,   so  muß   wenigstens   die  Konstruktion  der  Begriffe, 


2o5  J'  F-  Herbarts  Rezensionen. 


welche  das  System  herbeiführt   (was   wir  dessen  synthetischen  Teil  nennen 
würden),  hinreichend  faßlich,  • —  ja  weit  leichter  sein,  als  dies  anderwärts 
möglich  ist,  wo  die    Regel    der    Synthesis   nach  der   Eigentümlichkeit   der 
Gegenstände   verschieden  ausfällt.      Nun  könnte    zwar  die   Einführung  der 
in    der    Erfahrung    gegebenen,    oder    aus    andern    Systemen    herüber    ge- 
nommenen Gegenstände    (was  wir    den  analytischen    Teil    nennen  würden, 
der  freilich  bei  Hegel  nicht    abgesondert   vom  synthetischen    hervortritt), 
noch  immer  schwer  zu    verstehen  sein:    dies    läge   aber    alsdann  nicht  im 
Ganzen,  sondern  im  Einzelnen,    und    wäre  an   verschiedenen    Stellen  ver- 
schieden:   es    könnte    also   nicht   wie    eine    Schwierigkeit,    die    das  Ganze 
drücke,   empfunden  werden.     Demnach   fanden    wir  uns  auf  jene  Art  von 
Trichotomie    zurückgewiesen,    welche    überall    wiederkehrt;    in    ihr    selbst 
muß    etwas    Verwickeltes    liegen,    das   der    Aufklärung   bedarf.     Vielleicht 
nähern    wir     uns     derselben     durch     historische     Bemerkungen,     die    sich 
leicht   noch   über   Fichte    hinausführen   lassen.     Es   ist   nämlich    bekannt, 
daß  in    der  Periode,    da    aus  Kants  Kritiken  schnell    ein    System  werden 
sollte,   wozu    die    Kritiken   selbst  bei    weitem    nicht  Stoff  genug  darboten, 
Spinoza    und    Platon   zu    Hilfe   gerufen    wurden.      Jener   gab   seine   ab- 
solute   Substanz    her;     Eins,    worin    zuvörderst    zwei    disparate    Attribute 
(Ausdehnung  und    Denken)    verbunden   sein   sollten,    damit    alsdann  jedes 
derselben  bereit  liegen  möge,  eine  unendliche  Fülle  von  Determinationen 
aufzunehmen.      Der   andere    hatte    von    dem    Verhältnis  des  Allgemeinen 
zum  Besondern  in  geheimnisvollen  Ausdrücken  geredet,  die  mit  der  großen 
Wichtigkeit    dieses    Verhältnisses    für    seine     Ideenlehre    zusammenhingen. 
Endlich  war  in  Kants  Kritik  der  Urteilskraft   von   einem  intuitiven    oder 
urbildlichen  Verstände  (nicht  dem  unsrigen!)  gesagt  worden:  er  gehe  vom 
synthetisch  Allgemeinen,   der    Anschauung    eines   Ganzen,  als   eines  solchen, 
zum  Besondern^  das  heiße,  vom  Ganzen    zu  den  Teilen  fort,    die  solcher 
Gestalt  nicht  zufällig  verbunden  sein    würden,    sondern  so,    daß    von  der 
Idee  des  Ganzen  die  Beschaffenheit  und  Wirkungsart  der  Teile  abhänge. 
Auf  diese  Weise,  meinte  Kant,  müßten  wir  uns  einen  organisierten  Körper 
vorstellen.     Sein    halber    Idealismus,    der    von    einigen,    noch    sehr  rohen, 
weder  zur  metaphysischen  noch  psychologischen  Theorie  zulänglichen,  mit 
großen    Irrtümern    vermischten    Anfängen    einer    Betrachtung    über    Raum 
und  Zeit  ausgegangen  war,  hatte  ihm  die  Teleologie,  wenn  nicht  geraubt, 
so  doch  verkümmert;    indem    es    seiner  Meinung   nach  am  Tage  lag,  daß 
wir  die    Räumlichkeit,   die  nun   einmal    keine    Eigenschaft    der    Dinge   an 
sich  sei,    auch    dann  aus   uns   selbst   in    die   Objekte    hineintrügen,    wenn 
dieselben  uns  zweckmäßig  gestaltet  erschienen.     Dabei  aber  war  er  dreist 
genug  gewesen,  die    teleologische    Betrachtungsart    auf   das  Nattirganze  als 
System  auszudehnen;    obgleich    sie  eigentlich    zuerst  nur  an  Pflanzen  und 
Tieren  ihre  Gegenstände  findet,  und  gerade  durch  diese  Beschränkung  bei 
der  mindesten  Vorsicht  bemerklich  werden  mußte,  daß  es  mit  dem  Hin- 
eintragen   der    Zweckmäßigkeit    aus    uns    in    die    Dinge    unmöglich    seine 
Richtigkeit  haben  könne,   indem  sonst  das  Hineintragen  gerade   so  allgemein 
sein   lüürde,   wie  die  Form   des  Raums   selbst.      Allein  Kant   war  einmal  im 
Besitz,    nicht   bloß   gehört,    sondern   behorcht   zu  werden.     Am  aufmerk- 
samsten horchten  die,  welche  aufgeklärt  sein  wollten,    auf  gewisse    Dinge, 


Dr.  G.   W.  F.  Hegel:    Encyklopädie   der   philos.  Wissenschaften  im  Grundrisse.      207 

die  ihnen  am  Ende  der  Kritik  der  Urteilskraft  nicht  so  ganz  deutUch 
gesagt,  sondern  mehr  vertraulich  mitgeteilt  wurden.  Jener  intellectiis  arche- 
typus  ließ  sich  zwar  vortrefflich  mit  der  gewöhnlichen  Ansicht  von  der 
platonischen  Ideenlehre  vereinigen.  Aber  nicht  einmal,  daß  ein  inteüectus 
archetvpiis  möglich  sei,  sondern  nur,  daß  wir,  in  der  Dagegenhaltung  unseres, 
der  IBilder  bedürftigen,  Verstandes  auf  die  Idee  jenes  urbildlichen  Ver- 
standes geführt  werden,  dies  allein  braucht  man  nach  Kant  zu  wissen. 
Ihm  liegt  nur  daran,  „daß  ein  gemeinsajnes^  übersinnliches  Prinzip,  einer- 
seits der  mechanischen^  andrerseits  der  teleologischen  Ableitung,  der  Natur 
als  Phänomen  untergelegt  werde."  Nun  behauptete  zwar  Kant,  von 
einem  solchen  Prinzip  könnten  wir  uns  nicht  den  mindesten ,  theoretisch 
affirmativen  Begriff  nehmen.  Allein  durch  bloße  Worte  ließ  sich  der 
einmal  aufgeregte  Gedanke  nicht  beschränken.  Der  Gegensatz  zwischen 
unserem  —  vermeintlich  ganz  besonders  eingerichteten  —  Verstände,  und 
einem  möglichen  andern^  ja  gar  einem  urbildlichen  Verstände  war  einmal 
da;  zu  dem  Versuche,  uns  einmal  in  einen  andern  Verstand,  der  nicht 
der  unsrige  sei,  hineinzudenken,  hatte  Kant  selbst  das  Beispiel  gegeben ; 
und  solche  Beispiele  bleiben  nicht  unbefolgt!  Was  war  die  Folge?  Man 
forderte  und  setzte  Ein  Prinzip,  welches  zugleich  Spinozas  Substanz,  ein 
platonisches  Allgemeines,  und  ein  Kantischer  gemeinsamer  Ursprung  der 
sowohl  mechanischen  als  zweckmäßigen  Technik  der  Natur  sein  sollte. 
Dies  Prinzip  mußte  zuerst  an  sich  sein,  dann  als  Naturnotwendigkeit  er- 
scheinen, endlich  als  Geist  seiner  selbst  inne  werden.  Aber  Spinoza, 
Platon  und  Kant  sind  in  Ansehung  ihres  ganzen  Gedankenkreises  so 
weit  voneinander  verschieden,  daß  ein  Wunder  hätte  geschehen  müssen, 
wenn  diejenigen,  die  sich  in  ihrem  Nachdenken  von  so  abweichenden 
Reminiscenzen  zugleich  treiben  ließen,  auf  klare  und  stets  gleichförmige 
Begriffe  von  ihrer  Thesis,  Antithesis  und  Synthesis  hätten  kommen  sollen. 
Der  Unterzeichnete  hat  längst  anderwärts  die  nötigen  Entwicklungen  hier- 
über gegeben;  und  darf  nicht  in  große  Weitläufigkeiten  eintreten.  V7as 
Spinoza  anlangt,  so  paßt  der  Ausdruck  ,,Akosmis7mis"  auf  dessen  Lehre 
ebensowenig,  als  es  erlaubt  ist,  ihn  mit  dem  Parmenides  und  Zeno  zu- 
sammenzustellen; hingegen  diesen  Alten  kann  man  mit  Recht  Akosmismus 
beileo-en.  Von  der  hohen  Reinheit  der  Moral  werde  man  sich,  meint 
Hegel,  ohne  Zweifel  überzeugen,  wenn  man  nur  in  Spinozas  Ethik  die 
drei  letzten  Teile  nachlese;  sollen  wir  etwa  hier  noch  einmal  den  Satz: 
cnm  ma.xime  unusquisque  homo  suum  sibi  titile  qiiaent,  ttmi  maxime  homines 
snnt  sibi  invicem  idiles  (Eth.  P.  IV,  prop.  35,  coroll.  2),  oder  gar  das 
saubete  Naturrecht  des  tract.  polit.  in  Erinnerung  bringen?  Etwa  tract. 
polit.  cap.  II,  §  4:  per  ins  naturae  intelligo  ipsam  naturae  potentiavi, 
atque  adeo  totins  naturae  et  conseqiieyiter  uniuscuiiisque  individiii  naturale  ijis 
eo  usque  se  extendit,  quo  eins  potentia ;  und  zur  Erklärung  den  trefflichen 
Zusatz:  et  consequenier  quicquid  unusquisque  homo  (jeder  kleine  und  große 
Napoleon)  ex  legibus  suae  natwae  agit ,  id  sunimo  naturae  iure  agit ; 
tantumque  in  naturam  habet  iuris,  quantum  potentia  valet.  Das 
Prinzip  hiervon  ist  allerdings  den  Worten  nach  die  Liebe  Gottes;  wie  aber 
Hegel  dazu  komme,  von  einer  lauteren  Liebe  Gottes  in  Bezug  auf 
Spinoza  zu  reden,  das  mag  er  selbst  wissen,  oder  auch  nach  seiner  Weise 


2o8  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


erklären;    besser    wäre   es,    er   lese  einmal  den  Spinoza  von  neuem  ohne 
Brille.     Des    Platon    wollen    wir    hier   gar    nicht    weiter    erwähnen;    statt 
dessen  aber  eine  Probe  geben,  wie  schnell  sich  unter  Hegels  Feder  das 
Allgememe   ausbreitet  und   verwandelt.     §   20:    „das  Produkt  des  Denkens, 
die  Form  des  Gedankens,  ist  das  Allgemeine,  Abstrakte  überhaupt.     Das 
Denken,    als   die    Tätigkeit^    ist  somit  das  tätige  Allgemeine;   und   zwar  das 
sich  betätigende,  indem  die  Tat  das  Allgemeine  ist."    Und  §  23 :  „In  dem 
Denken    liegt  unmittelbar  die  Freiheit   (wie    ist    das   möglich?),    lueil  es  die 
Tätigkeit    des    Allgeineinen    (solches    tätige  Allgemeine    ist    doch    wohl    kein 
logisches  abstraktes,   Allgemeines?)    ein  hier  mit  abstraktes  Sich- auf -sich- Be- 
ziehen,  ein  nach  der  S?d>jektivität  bestimmungsloses  Bei-sich-sein  ist,   das  7iach 
dem  hihalte  zugleich  nur  in  der  Sache  und  deren  Bestimmungen  ist."    Gerade 
umgekehrt.     Das  willkürlose  Denken,  welches  bei  der  Sache  ist,   und  von 
ihr    bestimmt   wird,    findet    seine  Ergebnisse   mit  Notwendigkeit;    und  das 
ist   kein  freies  Finden;    sondern    man    muß   sich   drein  ergeben;    man  muß 
die  Dinge  nehmen,  wie  man  sie  findet.    Es  ist  auch  kein  abstraktes  Sich- 
auf-sich -Beziehen,    denn    es    ist    kein    leeres    Brüten;    sondern    eine    Sache 
wird    vorausgesetzt,    welche    gegeben,    oder    anstatt    eines    Gegebenen    ge- 
nommen werden  muß;    auf  dieses  Gegebene,    nicht  aber  auf  sich,  bezieht 
sich  das  Denken.     Was  hat  aber  dies  alles  mit  dem  Allgemeinen  zu  tun; 
und   wohin    sind  wir  durch  ein  konfuses  Gedankenspiel  geraten?    Begriffe 
sind  allgemein,  nämlich  in  gewissem  Grade  der  Abstraktion;  aber  Begriffe 
sind    kein   Tätiges,    und    kein  Freies,    und    kein  Bei-sich-sein;    zvenn    aber 
dieselben    sich    beziehen    auf   andere   Begriffe.,    so    ist   solches   Beziehen    ein 
besonderes  Verhältnis,  und  jede  Beziehung  erfordert  ihre  eigene  und  be- 
sondere   Untersuchung;     das    &'c-^- auf -.«V/z -Beziehen     endlich    gehört    ins 
Fichtesche   Ich!    Was    wollte    denn  Hegel   eigentlich   mit   seinem   tätigen 
Allgemeinen,  welchem  vermutlich  ein   u?itätiges  Besonderes  gegenüber  stehen 
würde?    ,,  Wenn    die    Deinut    oder   Bescheidenheit    darin    besteht.,    seiner   Sub- 
jektivität  nichts  Besonderes   von  Eigenschaft   und  Tun    zuzuschreiben,   so  zuird 
das    Philosophieren    von  Hochnmt  frei  zu   sprechen   sein.,    indem    das   Denken 
dem  Inhalte    nach    insofern   nur  wahrhaft  ist,    als  es  in  die  Sache  vertieft 
ist,   und   der  Form   nach  nicht  ein   besonderes  Sein   oder  Tun,  sondern  eben 
dieses  ist,  daß  das  Bewußtsein  sich  als  abstraktes  Ich,  als  von  einer  Parti- 
kularität    sonstiger  Eigenschaften,    Zustände  u.  s.   f.    befreites    verhält;    und 
nur   das  Allgemeine    tut.,    in    welchem    es   mit   allen  Lidividuen    identisch  ist." 
Vortrefflich!  Hegel  wird  künftig  die  rt!//^,?;;z^zV/<?  Sprache  reden;  zum  Danke 
dafür    wird    man    ihm    keinen    besondern    Scharfsinn    mehr    zuschreiben.    — 
Aber  wir  wollen  ihm  den  Ruhm  des  Scharfsinns  gern  lassen.    Wenn  nur 
die  Schärfe  nicht  zuweilen  schartig  wäre!   Nicht  bloß  Spinozas  vermeinter 
Akosmismus,  nicht  bloß  die  Allgemeinheit  der  Begriffe,  sondern  auch  das 
Eigene    der  Kantischen  Antinomien   ist   ungenau   aufgefaßt.     Wahres   und 
Falsches    durcheinandermengend   sagt   er   §  48:    „die  Kategorien  für  sich, 
sind    es,    welche   den  Widerspruch   herbeiführen."     (Welchen  Widerspruch 
denn?  Gibt  es  etwa  nur  einen?  Gewiß  aber  nicht  die  KzXegon&nßir  sich; 
diese  würden  überall  nichts  bedeuten,  ja  gar  nicht  zum  Vorschein  kommen, 
wären  sie  nicht  der  Ausdruck  gegebener  Formen  der  Erfahrung.)    „Dieser 
Gedanke,  daß  der  Widerspruch,  der  am  Vernünftigen  (?)  durch  die  Ver- 


Dr.  G.  W.  F.  Hegel:    Encyklopädie    der   philos.  Wissenschaften  im  Grundrisse.      209 

Standesbestimmungen    (??)    gesetzt    wird,    wesentlich  und  yiotwendig  ist   (soll 
heißen:    unvermeidlich   beim  Ursprünge   unseres  Wissens  aus  unserer  Er- 
fahrung), ist  für  einen  der  wichtigsten  Fortschritte  der  neueren  Philosophie 
zu    achten.     (Der    neuern?    Wir   haben   ja    nur   wiedergefunden,    was   die 
Eleaten  und  Platon  deutlich  genug  sahen  und  sagten.)    Die  Ermangelung 
einer   tiefern   Betrachtung   der   Antinomie   veranlaßte,   daß    Kant   nur  vier 
Antinomien    aufführt.      Hierbei   ist   hauptsächlich    zu   bemerken:    daß  tiicht 
mir  in  den   vier  besondern,   aus  der  Kosmologie  genommenen  Gegenständen   die 
Antinomie  sich  befindet,  sondern  vielmehr  in  allen  Gegenstäfiden  aller  Gattungen^ 
in  allen    Vorstelhingen,   Begriffen  und  Ideen."    Darin  liegt  eine  große  Wahr- 
heit; Hegels  Verdienst,  indem  er  sie  ausspricht,  muß  anerkannt  werden; 
und'  das    um    desto    ausdrücklicher   und   lauter,   je   gewisser   noch   immer 
die    Mehrzahl    selbst    der    Philosophierenden,    vollends    aber    der    Natur- 
forscher, vor  den  gegebenen  Widersprüchen,    von  denen  kein  Gegenstand 
der    äußern    und    Innern    Erfahrung    frei    gefunden    wird,    gewaltsam    die 
Augen  zudrückt;    in  der  Meinung  vermutlich,   was  man  nicht  sehe,  brauche 
man  nicht  zu  fürchten.    Aber  was  sollen  hier  die  Kantischen  Antinomien? 
Sind   es   widersprechende    Begriffe   und  Gegenstände?    Lehrsätze   sind    es, 
versehen    mit    Beweisen;    von    denen   jeder    gleich    gut    erscheint    wie   der 
andere.    Jeder  würde  also  für  sich  gelten,  träte  ihm  nicht  der  andere  mit 
gleichen  Ansprüchen  entgegen.     Das  ist  nicht  '^xd.Qxspruch  —  im  Innern, 
sondern,    wie  Kant   selbst  sich  ganz   richtig  ausdrückt,  Widerst? eit    —    von 
außen.     Diese    Unterscheidung    ist    für    die  Untersuchung    selbst   von    der 
höchsten  Wichtigkeit.    Streitende  Parteien  mit  gleichen  Ansprüchen  weiset 
man  beide  zurück;  und  so  macht  es  auch  Kant.    Widersprüche  wirft  man 
weg,   wenn   man  kann;   —   wenn  man  es  aber  nicht  kann,  so  beginnt  eine 
weit  ernstlichere  x\rbeit,  an  die  Kant  bei  seinen  Antinomien  weder  dachte 
noch    denken    konnte;    und    die    man  von  ihm  gar  nicht  lernen,    und  aus 
ihm    um    desto    weniger    erläutern    kann,    weil    seine  Antinomien  nur  seine 
Ansichten  von  der  Kausalität,  die  er  in  die  Zeit  geworfen  hatte,  und  von 
der  Materie,  die  er  gänzlich  aus  dem  Ratmie  begreifen  wollte,  charakterisieren; 
so  daß  der  blendende  Schein  der  für  Kants  Zeiten  sehr  ausgezeichneten 
Darstellung  (denn  weiter  ist  es  nichts)  mit  Aufhebung  jener  irrigen   Vor- 
stellung  von  Kausalität    und  INIaterie   dem    größten  Teile  nach  von  selbst 
verschwindet.    Hegel  aber  leitet  den  Leser,  der  an  Kants  Schriften  ge- 
wöhnt   ist,    auf   eine    ganz  falsche   Bahn,    indem  er  den  Antimonien   einen 
Stempel    aufdrückt,    der    zu    ihnen    nicht    paßt.      Bei    dieser    Gelegenheit 
müssen  wir  auf  den  vorigen  Punkt,  auf  das  Zusammenschmelzen  des  All- 
gemeinen  mit   der  Freiheit,   und   auf  die   bescheidene  Verzichtleistung  in 
Ansehung    besonderer   Vorzüge    zurückkommen.      Schon    bei    Kant,    und 
zwar  in  dem  so  wichtigen  kategorischen  Imperative,  zeigt  sich  die  wunder- 
liche Wertbestimraung,  das  Allgemeine  sei  das  Sittliche,  und  das  Besondere 
(wenn  jemand  Ausnahmen    für   sich   verlange)  sei  das  Schlechte.     Hegel 
hat  in  seinem  Naturrecht  (§  135)  über  den  leeren  Formalismus,  der  hierin 
liegt,    treffend    gesprochen;   und    er  hätte  leicht  finden  können,   daß    zuerst 
die  ursprünglichen  Wertbestimmungen  vorhanden  und  bekannt  sein  müssen, 
bevor    dann   ziveitens   aus   ihnen  nach   Möglichkeit  allgemeine  Vorschriften 
abo-eleitet  werden,  welchen  zuwider  für  sich  etwas  Besonderes  zu  verlangen 

Herbarts  Werke.     XIIL  ^"l- 


2JO  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


drittens  Gegenstand  eines  Vorwurfs  ist.    Die  ursprüngliche  Wertbestimmung 
aber  kümmert  sich  um  den  Unterschied  des  Allgemeinen  und  Besonderen 
so  wenig,  daß  vielmehr  in  der  wirklichen  Welt  sowohl  das  Beste  als  das 
Schlechteste  zu  den  Seltenheiten  gehört,  das  Allgemeine  aber  sehr  häufig 
bei   dem  Gemeinen  angetroffen  wird,    ohne  demselben  einen  Wert  geben 
zu    können.     Warum    nun  Hegel   dennoch  das  Allgemeine  durchgehends 
als  einen  Titel  des  Lobes  behandeln  möge?  —  Fast  möchte  man  glauben, 
auch   hier   liege  eine  Kantische  Reminiscenz,    von  dem  kategorischen  Im- 
perative,   der   mit    der    Freiheit    zusammenhing,   im    Hinterhalte;   indessen 
kann  es  auch  bloß  ein   Rest  des  übel  angebrachten  Piatonismus  sein,  der 
mit  Spinozismus  verschmolzen  wurde.    Zu  einer  ausführlichem  Kritik  wäre 
die    Erörterung    dieser    Frage    von    Wichtigkeit;    denn   hätte   Hegel   beim 
Anfange   seines  Philosophierens  sich  weniger  den  Vorgängern  hingegeben, 
seine   eigene  Energie  würde  weit  mehr  geleistet  haben;    so  aber,   wie  die 
Arbeit  vorHegt,    muß  sie  größtenteils  aus  den  Vorgängern  erklärt  werden. 
Die  oanze  Hegeische  Philosophie  ist  überall  nichts  anderes  als  ein   merk- 
würdiger Durchgangspunkt  für  die   Geschichte  der   Wissenschaft.     Sie  hat  gar 
keinen  Anfang  in  sich,  sondern  ist  Fortsetzung  von  etwas  Früheren;  und 
Moment  für  etwas  Künftiges.     Wer  das  nicht  glauben  will,  der  fange  an, 
wenn   er   kann,    beim  Anfange   der  Logik.     „Das  Sein  ist  der  Begriff  nur 
an  sich,  die  Bestimmungen  desselben  sind  seiende,  in  ihrem  Unterschiede 
andere    gegeneinander,     und    ihre    weitere    Bestimmung,     die    Form    des 
Dialektischen,   ist   ein  Übergehen   in  Anderes.     Diese  Fortbestimmung  ist 
in    Einem    ein    Heraussetzen    und    damit  Entfalten    des    an   sich    seienden 
Begriffs,    und   zugleich    das  Insichgehen   des  Seins,   ein  Vertiefen  desselben 
in    sich    selbst.      Die    Explikation    des    Begriffs    in    der   Sphäre    des   Seins 
wird  ebensosehr  die  Totalität  des  Seins,  als  damit  die  Unmittelbarkeit  des 
Seins  oder  die  Form  des  Seins  als  solchen  aufgehoben  wird.''     So  lautet 
der  erste  Paragraph  der  ersten  Abteilung  der  Logik.    Ist  es  möglich,  daß 
irgend   jemand   hier  anfange.,   etwas   zu   verstehen?    —    Aber   wir   können 
helfen.      Beginnen  wir  einmal  beim  §   213;  überschrieben:  die  Idee.    Hier 
lesen    wir:    ,4ie  Idee   ist   das    Wahre   an    und  für  sich,    die  absolute  Einheit 
des  Begriffs  und  der  Objektivität."    Da  erkennen  wir  sogleich   Fichtes  Ich. 
Weiter:  „die  Idee  ist  die  Wahrheit;  denn  die  Wahrheit  ist  dies,  daß  die 
Objektivität    dem    Begriffe    entspricht,    —    nicht   äußerliche    Dinge   meinen 
Vorstellungen;    dies   sind   nur   richtige  Vorstellungen,    die  Ich  Dieser  habe. 
In    der  Idee    handelt    es   sich    nicht   um  Diesen,    noch   um  Vorstellungen, 
noch    um    äußerliche    Dinge.''      Da    erkennen    wir    den    Notbehelf,    womit 
man  der  Frage  von  eben  Jenen  „richtigen  Vorstellungen,''  und  dem  Ursprünge 
ihrer  Richtigkeit,   auszuweichen  gedachte.     Ferner:    „das  einzelne  Sein  ist 
irgend   eine  Seite   der  Idee."     Da   haben   wir  das  Spinozistische  quatenus ; 
und   wenn    wir    nun    nach    Anleitung    des    wohlbekannten   Satzes:    ordo   et 
connexio    idearum    idem    est   ac  ordo  et  connexio  reruni,    in  die   von  Spinoza 
angenommene    Einheit    des    Denkens    und    der    Ausdehnung    uns    hinein- 
versetzen,  so   werden   schon   manche  der  beigefügten   Erläuterungen  über- 
flüssig;   und    es   findet    sich,    daß    die   Stelle    gegen    das   Ende   der   Logik 
weit   leichter  verständlich  ist,   als  der   —    wie  es  scheint,   in  einiger  Ver- 
legenheit wegen  des  Anfangens  niedergeschriebene  Anfang.    Überdies  finden 


Dr.  G.  W.  F.  Hegel:    Encyklopädie   der   philos.  Wissenschaften   im  Grundrisse.     21I 

wir  eben  dort  ein  paar  Behauptungen  Hegels,  die  uns  von  vornherein 
den  Fortschritt  erleichtern  können.  Wir  sehen  z.  B.  gleich,  daß  er  selbst 
den  historischen  Weg,  auf  weichem  er  zu  seinen  Gewöhnungen  gekommen 
ist,  nicht  deutlich  vor  Augen  hat;  so  gibt  er  uns  von  dem  schon  vorhin 
erwähnten  Primat  des  Allgemeinen  im  Verhältnis  zum  Besondern  den 
allerwunderlichsten  Beleg,  der  sich  ersinnen  läßt;  in  folgenden  Kraftworten: 
„der  Verstand,  welcher  sich  an  die  Idee  macht,  verkennt  selbst  die  schon 
ausdrücklich  gesetzte  Beziehung,  er  übersieht  sogar  die  Natur  der  Copiila 
im  Urteil,  ivelche  vom  einzelnen,  dem  Subjekte,  aussagt^  daß  das  Einzelne 
ebensosehr  nicht  Einzelnes,  sondern  Allgemeines  ist."  Dabei  sollen  wir  ohne 
Zweifei  denken  an  die  gewohnten  affirmativen  Urteile,  a  ist  b,  wo  b  ein 
weiterer  Begriff  ist  als  a.  Was  machen  wir  nun  mit  den  negativen,  a  ist 
nicht  b;  oder  mit  den  partikulären:  einiges  b  ist  a?  Ohne  Rücksicht  auf 
diese  Frage  liegen  die  gemeinen  Urteilsformen  so  offenbar  in  der  Sphäre 
des  gemeinen  Verstandes,  daß  es  etwas  anmaßend  ist,  diesen  Verstand 
über  seine  Meinung,  die  er  auf  seinem  gewohnten  Standpunkte  habe,  und 
durch  seine  Redensarten  ausspreche,  erst  noch  belehren  zu  wollen;  viel- 
mehr ist  es  der  Philosoph,  der  hier  den  gemeinen  Verstand  gewaltsam 
mißdeutet,  um  einen  Vorwand  für  seinen  Irrtum  zu  erkünsteln.  Ferner 
sehen  wir,  daß  der  Widerspruch,  der  in  einem  Augenblicke  den  Sitz  der 
Wahrheit  selbst  einnehmen  soll,  gleich  im  nächsten  Augenblicke  als  Zeichen 
der  Unwahrheit  und  als  Triebfeder  des  Übergehens  in  das  Gegenteil 
benutzt  wird.  §214:  „Wenn  der  Verstand  zeigt,  daß  die  Idee  sich  selbst 
widerspreche,  —  so  zeigt  vielmehr  (!)  die  Logik  das  Entgegengesetzte  auf, 
daß  nämlich  das  Subjektive,  welches  nur  subjektiv,  das  Endliche,  welches 
nur  endlich,  das  U?iendliche,  das  nur  tmendlich  sein  soll,  und  so  ferner, 
keine  Wahrheit  hat.^  sich  widerspricht  und  in  seiti  Gegenteil  übergeht; 
womit  dies  Übergehen  und  die  Einheit,  in  welcher  die  Extreme,  als  auf- 
gehobene, als  ein  Scheinen  oder  Momente  sind,  sich  als  ihre  Wahrheit 
offenbart."  Hegel  weiß  also  sehr  gut,  das  Widersprechende  habe  keine 
Wahrheit,  sondern  gehe  über  in  sein  Gegenteil!  Was  tut  denn  die  Idee? 
Je  nun,  sie  widerspricht  sich;  darum  unterläßt  sie  auch  nicht,  überzugehen 
in  ihr  Gegenteil!  Mit  größter  Offenheit  sagt  Hegel:  „Der  Verstand  hält 
seine  Reflexion,  daß  die  mit  sich  identische  Idee  das  Negative  ihrer  selbst, 
den  Widerspruch  enthalte,  für  eine  äußerliche  Reflexion,  die  nicht  in  die 
Idee  selbst  falle."  (Gewiß!  Denn  es  versteht  sich  von  selbst,  daß  die 
Widersprüche  nicht  in  den  Dingen,  sondern  nur  in  unserer  mangelhaften 
Auffassung  derselben  liegen  können.  Aber  anders  will  es  Hegel.  Er 
fährt  fort:)  „In  der  Tat  ist  dies  aber  mcht  eine  dem  Verstände  eigene 
Weisheit,  sondern  die  Idee  ist  selbst  die  Dialektik,  welche  ewig  das  mit 
sich  Identische  von  dem  Dififerenten,  das  Subjektive  vom  Objektiven,  das 
Endliche  vom  Unendlichen,  die  Seele  von  dem  Leibe,  ab-  und  unter- 
scheidet, und  nur  insofern  ewige  Schöpfung,  ewige  Lebendigkeit  und  ewiger 
Geist  ist.  Indem  sie  so  selbst  das  Übergehen  oder  vielmehr  das  sich 
Übersetzen  in  den  abstrakten  Verstand  ist,  —  ist  sie  ebenso  ewig  Ver- 
nunft; sie  ist  Dialektik,  welche  dies  Verständige,  Verschiedene,  über  seine 
endliche  Natur  und  den  falschen  Schein  der  Selbständigkeit  seiner  Pro- 
duktionen   wieder    verständigt    und    in    die   Einheit   zurückführt."     Ist   sie 

14* 


212  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


denn    nun    fertig?    —    Nein,    hier   ist   kein   Ende,   denn:    ,,indem  diese  ge- 
doppelte  Beiüegung  nicht   zeitlich^   noch   auf  irgend  eine    Weise  getrennt   und 
unterschieden    ist  —   sonst  wäre  sie  wieder  nur  abstrakter  Verstand   — ,  ist 
sie  das  ewige  Anschauen  ihrer  selbst  im  andern ;  der  Begriff,  der  in  seiner 
Objektivität  sich  selbst  ausgeführt  hat ;  das  Objekt,   das  i7i7iere  Zxveckmäßigkeit, 
(nach  der  Kritik  der  Urteilskraft!)  wesentliche  Subjektivität  ist."    Wer  nun 
das  noch  nicht  versteht,  der  wird  freilich  in  dieser  Sphäre  nie  etwas  ver- 
stehen.   Die  Idee  hat  keine  Wahrheit;  darum  geht  sie  über  in  ihr  Gegen- 
teil;  dieses  Gegenteil  hat  auch  keine  Wahrheit,  darum  stellt  sich  die  Idee 
wieder   her.     Diese   doppelte   Univahrheit   ist   ewig,    und   es  existiert  überall 
nichts  als  der  im  ewigen  Zirkel  sich  selbst  suchende  und  fliehende  Wider- 
spruch.    Man  könnte  glauben,  Hegel  gefalle  sich  in  dem  Zentrum  eines 
so    argen   Zirkels;    aber    man   würde   ihm   unrecht   tun;    er   hat   allerdings 
ein  Gefühl    von  Anstrengung;    nur   freilich    strengt   er  sich  nicht  dazu  an, 
herauszukommen,    sondern    vielmehr  sich   an  dem  Punkte,    wohin  die   Ge- 
schichte der  Philosophie  ihn  gestellt  hat,  zu  halten.    Er  spricht  an  mehreren 
Stellen    von    Härte;    z.   B.    gleich    §    88:    „der   Satz,    Sein    und  Nichts    ist 
Dasselbe,    ist   in   der  Tat   von    dem  Härtesten,    was   das  Denken   sich  zu- 
mutet;"  und   §   159:    „der  Übergang   von  der  Notwendigkeit  zur  Freiheit 
oder    vom    Wirklichen    in    den    Begriff  ist    der   härteste;"    aber    ehe   man 
sich's  versieht,   sind  die  Fesseln  gesprengt;  „das  Denken  der  Notwendig- 
keit   ist    die   Auflösung   jener  Härte;    denn    —    das  Denken   ist    das  Zu- 
sammengehen seiner  im  andern  mit  sich  selbst,  und  hiermit  die  Befreiung." 
Und  nun  findet  sich  auf  der  Stelle  Freiheit,  Ichheit,    Liebe  und  Seligkeit 
beieinander;  alle  Knoten  sind  gelöst,  alles  Harte  ist  erweicht,  alles  Feind- 
liche versöhnt;  aber  leider!  auf  den  fünften  Akt  des  Stücks  folgt  wiederum 
der  erste!   Oder,  noch  schlimmer!   Beide  Akte  fallen  in  Eins. 

Nun    wohl    (möchte    jemand    sagen),    wenn    auch    nach    dem    Vor- 
stehenden Hegels  Lehre  weder  Anfang  noch  Ende  hat,  so  steht  sie  um 
desto  gewisser  in   der  wahren  Mitte  der  Philosophie.   —    Wer  so  spräche, 
der   würde   uns    die  Darstellung   dessen,    was   noch  zu  entwickeln  ist,    er- 
leichtern.    Wir    würden  ihm  nämlich  kurz  erwidern:    Hegels    Vortrag  hat 
allerdings   keinen  Anfang;    doch    dieser   läßt   sich   aus    der  Geschichte  er- 
gänzen;  was  ferner  das  Ende  des  nämlichen  Vortrags  anlangt,  so  erscheint 
derselbe  nur  zu  sehr  als  abgeschlossen,  anstatt  daß  er  Aussichten  auf  weitere 
Untersuchungen  oluie  Ende  eröffnen  sollte.     In  der  Mitte  der  Philosophie 
aber   steht   seine  Lehre   (zusammengefaßt  mit  der,  ihr  gebührenden,   histo- 
rischen Ergänzung)   gar  nicht;    sondern    ihre  ganz  bestimmte  Stelle  ist  der 
Anfa7ig    der  Metaphysik.      Für    alle   andern    philosophischen  Disziplinen    ist 
sie   von   gar   keiner   unmittelbaren  Bedeutung;    sie  kann  in  dieselben  nur 
insofern  einfließen,  als  der  Metaphysik  mit  Recht  oder  Unrecht  ein  Anteil 
daran   beigelegt   wird.     Nun   ist   aber   die  Philosophie  schon  in  alter  Zeit 
zerfallen   in    drei  Wissenschaften    von   durchaus  verschiedenem  Charakter: 
in    die   Wissenschaft   von   der   Zusammenordnung   der   Begriffe   überhaupt 
—    Logik;    von    den    Erkenntnisbegriffen    —    Metaphysik;    und    von    den 
Werbestimmungen    —    Ethik,    und,    ganz    allgemein    genommen,    Ästhetik. 
Unter   diesen    drei  Wissenschaften  gibt  es  nur  Eine,    die  sich  auf  Wider- 
sprüche   einlassen    muß;    diese   Eine    ist    die   Metaphysik.      Hingegen    die 


Dr.  G.  W.  F.  Hegel :    Encyklopädie   der   philos.  Wissenschaften  im  Grundrisse.      2 1 3 

Logik   betrachtet   den  Widerspruch   nicht   bloß  als  etwas  Hartes,    welches 
das  Denken   sich   noch  allenfalls  zumuten  könne,    sondern  als  das  absolut 
Harte,  welches  man  verwerfe,  in  der  ]\I einung,  es  sei  weiter  nichts  damit 
anzufangen.    Derjenige,  welcher  im  §  115  den  Satz  der  Identität,  A  =  A.  für 
ein  wahres  Denkgesetz  nicht  will  gelten  lassen,   sondern  ihn  für  aufgehoben 
durch    vorgebliche   „andere  Denkgesetze"    erklärt,    und    den  Satz  des  aus- 
geschlossenen  Dritten   geradezu   leugnet,    hätte,   um   die   wahre   Lage    der 
Dinge  vor  Augen  zu  stellen,  nicht  seiner  Lehre  den  Namen  Logik  beilegen, 
auch  nicht  von  Denkgesetzen  reden  sollen,  denen  jede  Spur  des  Beweises 
fehlt,   und    denen   vielmehr   die   seit  Jahrtausenden   allgemein   anerkannten 
Denkgesetze    im    Wege    stehen;    ebensowenig    war    es    passend,    mit    der 
nackten  Paradoxie  vom  reinen  Sein,  welches  nichts  sei,  anzufangen:  denn 
die  zwischen   eingeschobene   Bemerkung,    es  sei  die  reine  Abstraktion^   taugt 
hier  gar  nichts,  weil  Abstraktionen  nicht  fähig  sind,  Widersprüche  zu  ent- 
schuldigen.     Sondern    Hegel    muß    sich    gerade    auf  das   Gegebene,    das 
heißt,    auf    die    Erfahrung   berufen,    welche    allen    Erkenntnisbegriffen   zum 
Grunde    liegt.      Den  Dingen^    die    wir   kennen   oder  zu  kennen  glauben,    klebt 
das    Werden   und  das  Scheinen  an.     Hiervon  ausgehend,  als  von  einer   Tat- 
sache^   konnte    er    unternehmen,    sich    gegen    die   Logik    in    Opposition   zu 
stellen.      Denn    diese    Opposition    zwischen    dem    Gegebenen    und  der  Logik  ist 
7uirklich    vorhanden;    und   die   Kenntnis    derselben    ist    der   A7ifang    der  Meta- 
physik.     Keineswegs    aber    ist    es    die    Mitte   der    Philosophie.      Zuvörderst 
behält    die    Logik    ihre    eigentümliche   Evidenz;    das  Gegebene    samt   den 
ihm    angehörigen   Erkenntnisbegriffen  mag    sein,    was  es  will.      Ferner,    die 
gesamten    Wertbestimmungen,   die   ganze  Ethik   und  Ästhetik,    haben    sich 
seit  ein  paar  Jahrtausenden  durch  ihre,  ihnen  selbst  innewohnende  Evidenz 
von    der   Metaphysik    losgerissen;    und    es   ist   ein    völlig   vergebliches   Be- 
ginnen,   sie    unter    die  Botmäßigkeit    der   letztem   irgendwie,    vollends   gar 
durch  den  falsch  gebrauchten  Namen  Logik,  zurückführen  zu  wollen.    Die- 
jenigen,   welche   solchen     Verkehiiheiten    anhängen,    können    nur    bloß  sich    und 
der  Philosophie,    in    deren   Namen    sie   sprechen,    das    öffentliche  Zutrauen    ent- 
ziehen ;   denn  Logik   und  Ethik  sind  schon   längst  Gemeingut  geivorden,   dessen 
Verwaltung    gar    nicht    von    den    Schulen    der    Philosophen    abhängt.      Dieses 
nicht    einsehen    zu    wollen,    heißt   bloß,    die    eigene   Unklugheit    zur  Schau 
stellen.     Dagegen  nun  sind  zwar  Naturphilosophie  und  Psychologie  aller- 
dings,  wissenschaftlich   genommen,    von   der   Metaphysik   abhängig.      Aber 
es  gibt  noch  andere  Natur-  und  Seelenforscher,   außer  den  Metaphysikern. 
Diese  andern  wollen  Gegenstände  der  Erfahrung  erkennen;   und  kümmern 
sich   nicht   um    widersprechende    Begriffe.      Die   natürliche    Folge    ist,    daß 
Hegel   hier    zwei   sehr  mächtige  Gegenparteien  findet.     Wird  er  bei  den 
Naturforschern   etwas  ausrichten,  wenn   er,   der  aus  der  ,,trübe7i  Verwirrung 
in   Kants  Anfangsgründen  der  Natunvissenschaft"  (§  98)  gar  nicht  heraus- 
gegangen   ist    —    der  noch  immer  die   Repulsion  voranstellt,    noch  immer 
den  Fehler  in  der  Repulsion  durch  die  Attraktion  (von   der  vielmehr  aus- 
gegangen werden  mußte)  wieder  gut  machen,  eben  hiermit  aber  den  Wider- 
spruch zwischen  beiden  nicht  etwa  lösen,  sondern  recht  hervorheben   will 
— ,  weiterhin  sogar  (im   §  249)  die  Natur  einer  Ohnmacht  anklagt,  so  daß 
sie  den  Begriffsbestimmungen  nicht  getreu  bleibe,   und  ihre  Gebilde  nicht 


2  14  J-  ^'  Herbarts  Rezensionen. 


jenen  gemäß  zu  bestimmen  und  zu  erhalten  vermöge,  —  den  Physikern 
erzählt,  beim  Magnetisieren  eines  Eisenstabes  verliere  derselbe  sein  Gleich- 
gewicht, indem  der  eine  Teil,  ohne  sein  Volumen  zu  ändern,  schioerei 
werde  (§  293  steht  wörtlich:  „die  Blaterie,  deren  Maße  nicht  vermehrt 
worden,  ist  somit  spezifisch  schwerer  geworden"  —  nämlich  durchs  Magneti- 
sieren,  dessen  Wirkung  7iicht  an  die  Richtung  der  Schwere  gebunden 
ist,  wenn  es  schon  zufällig  mit  ihr  zusammentrifft!);  wenn  er  ferner  bei 
Gelegenheit  der  Bewegung  sagt:  ,,es  ist  dies  der  Widerspruch,  u?id  er 
existiert  hier  inateriell" ;  und  wieder  auf  die  Schwäche  des  Begriffs  in  der 
Natur  zurückkommend,  das  Tierleben  überhaupt  für  ein  krankes^  sowie 
sein  Gefühl  für  ein  unsicheres,  angstvolles,  unglückliches  erklärt  (als  ob 
alle  Tiere  in  den  Marterkaramern  der  Physiologen  eingesperrt  wären!); 
wenn  er  endlich  den  Ärzten  sehr  positiv  die  Lehre  gibt:  ,^Der  Haupt- 
gesichtspunkt, unter  welchem  die  Arzneimittel  betrachtet  werden  müssen  (die 
bekanntlich  bei  weitem  nicht  alle  in  den  Magen  kommen!),  ist  der,  daß 
sie  ein  Unverdauliches  sind"!  Was  werden  die  Naturforscher  mit 
solchen  tapfern  Behauptungen  anfangen?  Sie  werden  sagen:  wir  haben 
schon  genug  damals  vernommen,  als  wir  hörten,  die  Natur  sei  der  unauf- 
gelösete  Widerspruch. 

Nicht  im  geringsten  mehr  Hoffnung  aber  hat  Hegel,  bei  den  Psycho- 
logen durchzudringen.  Wir  wollen  hier  die  mathematische  Psychologie 
recht  gern  beiseite  lassen,  ganz  andre  Mächte  sind  zu  bezwingen.  Sokrates, 
Locke,  Kant,  und  wer  weiß  wie  viele  andere,  werden  als  Autoritäten 
aufgeboten,  um  eine  Psychologie,  oder  doch  eine  gewisse  Selbsterkenntnis, 
geltend  zu  machen,  welche  gegen  die  Metaphysik  gerade  so  tapfer  ist,  als 
Hegels  Metaphysik  gegen  die  Logik.  Diese  Psychologie,  die  noch  erst 
ganz  neuerlich,  in  sehr  verschiedenen  Formen  und  Schulen,  sich  selbst 
so  wenig  kennt,  daß  sie  sich  sogar  selbst  für  die  echte  Metaphysik  hält, 
—  ruhet  nicht  minder  als  ihr  Gegner  Hegel,  auf  historischem  Boden; 
daher  wachsen  auch  ihre  Meinungen,  aller  Widerlegung  trotzend,  immer 
frisch  hervor.  Was  gedenkt  denn  Hegel  dieser  Psychologie  entgegen- 
zustellen? Etwa  seinen  planetarisch  lebenden  Naturgeist;  oder  lieber  die 
besondern  Naturgeister,  welche  den  geographischen  Weltteilen  korre- 
spondieren, und  die  Verschiedenheit  der  Rassen  ausmachen;  oder  endlich 
die  Lokalgeister,  die  sich  in  Körperbildung  und  Beschäftigung,  in  den 
mancherlei  Tendenzen  der  Völkercharaktere  zeigen?  Wir  möchten  ihm 
raten,  sich  auf  dies  Geisterheer  nicht  zu  verlassen;  denn  hier  ist  geistige 
Natur ;  jene  Psychologen  übersteigen  aber  recht  geflissentlich  die  Natur; 
und  alles  Natürliche  im  Geistigen  ist  ihnen  ein  Greuel ;  draußen  im  Räume, 
so  lautet  ihr  Befehl,  soll  die  Natur  bleiben.  Also  wird  Hegel  nicht  die 
Geister^  sondern  den  Geist  zitieren,  von  welchem  er  rühmt:  ,,der  Geist  ist 
eben  dies^  über  die  Natur  und  natürliche  Bestimintheit  überhaupt  erhobe?i  zu 
seiti" ;  wobei  wir  der  Sicherheit  wegen  anzeigen  müssen,  daß  wir  jene 
Naturgeister  und  Lokalgeister  aus  §  393  und  394,  hingegen  diesen  über- 
natürlichen Geist  aus  §  440  (nicht  gar  weit  von  jenen)  abgeschrieben 
haben.  So  sehr  nun  der  letztere  den  erwähnten  Psychologen  willkommen 
sein  möchte :  so  erinnern  wir  uns  doch  noch  jener  schon  angeführten 
Aussage,  nach  welcher,  indem  die  Natur  verschwindet,   die  Idee  zu  ihrem 


Dr.  G.  W.  F.  Hegel:    Encyklopädie   der   philos.  Wissenschaften  im  Grundrisse.      215 


Fürsichsein   gelangt,   und   ihr  Objekt  ebensowohl  als  das  Subjekt  der  Be- 
griß  ist,  —   eine  Identität  eintritt,  welche  absolute  Negativität  ist,  dergestalt^ 
daß    diese    absolute    Negativität    hiniviedenim    die    Freiheit^    und   hiermit    das 
Wesen    des    Geistes    ist.      Wie    aber    könnten    doch   jene    Psychologen    die 
Freiheit  als  eine  Negation  begreifen?    Gerade  in  der  Freiheit  meinen  sie 
das   positive  Wesen,    des  An-sich   des  Geistes  zu  entdecken;    und  es  fällt 
ihnen  nicht  ein,  daß  man  zuerst  die  Natur  durchlaufen  müsse,  damit  der 
Geist,  als  zurückkommend  aus  der  Natur,  frei  sein  könne.    Wiewohl  nun 
hier  bei  Hegel  etwas  Wahres  zum  Grunde  liegen  möchte,  so  ist  es  doch 
in    seinem   Zusammenhange    viel    zu   schwach,    um   gegen    die  Psychologen 
brauchbar  zu  sein;  es  verrät  noch  immer  den  unaufgelöseten  Widerspruch, 
der,  wenn  er  einmal  in  der  Natur  festsitzt,  sich  durch  bloße  Redensarten 
nicht    mehr    austreiben    läßt.     Dagegen    aber   ist  Hegel   eine   der   besten 
und  stärksten  Autoritäten,   sobald  vom   Anfange  der  Metaphysik  die  Rede 
ist.       Belastet    mit    den    echten    metaphysischen    Problemen,    und    deren 
Schwere  wohl  empfindend,  aber  auch  rüstig  tragend,  steht  Hegel  wie  auf 
einer  Brücke;  es  scheint,  er  wolle  hinübergehen;   nur  schade,  man  merkt 
keine  Bewegung. 

Fassen  wir  nun  alles  zusammen:    so  finden  wir  weit  weniger  Grund 
zu    der  Besorgnis,    Hegel   werde   zu   stark   und    zu   tief  auf  das  Zeitalter 
einwirken,    als   zu   der   entgegengesetzten,    man    werde  sich  zu  leicht  über 
seine  Lehre  hinwegsetzen,  oder  auch,  man  werde  meinen,  neben  derselben 
vorbeischlüpfen   zu   können.     Jene   erste  Besorgnis   hebt  sich  gleich  durch 
die  untaugliche,  nicht  bloß  falsche,  sondern  auch  nicht  einmal  belehrende 
Form    seines  Systems.     Die  Dreizahl  täuscht  hier  und  da  einige  Jüngere; 
sonst    niemanden;    ebensowenig    als    die    Vierzahl    anderer.     Man    glaube 
nicht,  daß  es  damit  gehen  werde  wie  mit  Kants   Kategorientafel;    welche 
freilich    wie    ein    starres  Vorurteil    sich   in    die  Köpfe    eingrub,    und   noch 
heute   gar    manchen    aller   gründlichen  Untersuchung   unfähig   macht;    das 
rührt  bloß  daher,  weil  sie  leicht  auswendig  gelernt  wird,  und  eine  höchst 
bequeme  Topik  zum  Reden  ohne  Nachdenken  darbietet.    Hegels  System 
läuft    mit    seiner    Dreiteilung    ins    Unendliche;    daher    fehlt    bei    ihm    die 
täuschende    Bequemlichkeit    der    Übersicht,    das    heißt,    es  fehlt   bei    ihm 
Glücklicherweise    ein  großer  Fehler,    durch  welchen  bei  anderen  die   Wahr- 
heit  viel    wohlfeiler   käuflich  erscheint,   als  sie  ist.     Ferner:    Hegels  Idee 
erscheint,    da    sie   unmittelbar   auftritt,   als  Hypothese;    und   muß  sich  ge- 
fallen  lassen,    als  solche  geprüft  zu  werden.     Dies  wäre  nun  für  sie  kein 
besonderer  Nachteil  (denn  auch  die  sorgfältige   Spekulation  muß  sich  ge- 
fallen lassen,  daß  ihre  Notwendigkeit  nur  den  eigentlichen  Metaphysikern 
einleuchten  kann,   während  anderwärts  ihr  Verfahren  nur  als  ein   mögliches 
Denken,  ihre  Resultate  nur  als  Fragepunkte  für  Erfahrung  und  Beobachtung 
gelten);    wenn   nicht   Spinoza   so   nahe   bei  Hegel   stände,    daß   die  Ver- 
gleichung  nicht  ausbleiben  kann.     Nun  ist  offenbar  Hegels   ündulations- 
theorie    (nicht    kürzer    wissen   wir   das   Scheinen   in   sich   und   in   anderes, 
oder   die   Reflexion   dahin   und   dorthin,    zu   benennen)    sehr   viel   bunter, 
verwickelter,    schwerer    zu    fassen,    als   Spinozas   ruhig   liegende   Substanz, 
die  sich  begnügt,  die  Dinge  bloß  der  Möglichkeit  nach  zu  begründen,  als 
ob  sie  an  deren  Veränderungen  ganz  unschuldig  wäre.    Fragt  also  jemand 


2  1 6  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


nach  einer  bequemen  Hypothese;  so  kann  Hegeln  leicht  Unrecht  ge- 
schehen, indem  Spinozas  qnatenus  leichter  auswendig  zu  lernen  und  überall 
anzubringen  ist,  als  Hegels  künstliche  Reflexion  in  sich  und  in  anderes; 
mithin  der  Ruhm  der  Einfachheit,  der  bei  Hypothesen  bekanntlich  viel 
gilt,  wohl  unstreitig  auf  der  Seite  des  Spinoza  sein  dürfte. 

Nicht  bloß  wünschen,  sondern  der  Hegeischen  Schule  zu  ihrem  eignen 
Vorteil  raten  dürfte  man  daher,  daß  sie  diesen  hypothetischen  Schein 
ganz  von  sich  tun,  und  ihre  Lehre  geradezu  für  das  geben  möchte,  was 
sie  ist;  nämlich  —  Empirismus.  Natürlich  nicht  gemeiner,  unbefangener 
Empirismus,  wie  bei  Sammlern  und  Beobachtern  und  Experimentatoren; 
auch  nicht  staunender,  in  Prunkreden  sich  ergießender  Empirismus,  wie 
bei  Schelling,  Troxler,  Wagner  u.  a.  m.;  sondern  sc/iuldbeiutißter,  seine 
Innern  Widersprüche  laut  und  freimütig  bekeiinender  Empirismus !  Dadurch 
ist  sie  belehrend;  dadurch  ist  sie  die  wahre,  nicht  zu  umgehende  Vor- 
schule der  Metaphysik.  Eben  dadurch  auch  kann  sie  ihre  Überlegenheit 
behaupten  über  jene  Psychologen,  die  im  Grunde  ihre  stärkste  Gegen- 
partei bilden.  Denn  diesen,  die  das  Was  der  Seele  als  Urkraft  erkennen 
wollen,  und  zwar  als  Grundkraft  des  menschlichen  Lebens,  um  daraus 
die  GHederung  desselben,  die  Wirksamkeit  der  Seele  nach  allen  Seiten  zu 
begreifen  (Rez.  schreibt  diese  Ausdrücke  aus  einer  ihm  gerade  jetzt  zu 
Gesichte  kommenden  Literaturzeitung  ab)  kann  man  voraussagen,  daß  sie, 
die  mcht  einmal  Melaphysik  inid  Psychologie  z?i  unterscheiden  ivissen^  noch 
froh  sein  können,  wenn  sie  bei  der  Analysis  ihres  Begriffs  von  der  ver- 
meinten Seele  als  Grundkraft  des  menschlichen  Lebens,  darin  Hegels 
Sein  und  Nichts  und  Werden  und  Reflexion  in  sich  und  anderes  nach- 
zuzoeisen  vermögen.  Gar  mancher  Theorie  liegen  die  nämlichen  Wider- 
sprüche unerkannt  zum  Grunde,  welche  aufzudecken  und  anzuerkennen 
Hegel  scharfsinnig  und  aufrichtig  genug  gewesen  ist.  Um  aber  den 
Vorzug  der  Klarheit,  welcher  Hegeln  im  hohen  Grade  fehlt,  sich  an- 
zueignen, würde  der  erste  notwendige  Schritt  dieser  sein,  daß  er  das 
Problem  der  Veränderung,  welches  bei  ihm  vorherrscht,  zu  sondern  hätte 
von  denen  der  Inhärenz,  der  Materie  und  des  Ich.  Alsdann  würden 
die  Fesseln  des  Systems,  mit  denen  er  sich  unnützerweise  beladen  hat, 
von  selbst  springen;  und  die  einzelnen  Teile  der  Untersuchung  könnten 
sehr  bald  zu  ihrer  natürlichen  Bewegung  gelangen.  Von  den  Ansprüchen 
aber,  welche  das  System  noch  außerhalb  der  Metaphysik  macht,  ist  am 
besten,  zu  schweigen;  sie  werden  sich  von  selbst  berichtigen,  sobald  die 
Grundübel  gehoben  sind. 


Wörlein,  J.  W.,    Hauptlehrer   in    Happurg,    System  der  Pädagogik. 

Erster  Band.     Pädagogische  Grundlehren.  —  Nürnberg   1830. 

Gedruckt  in:    Hallische   Literatur-Zeitung    1832.     Willmann,  J.  F.  Herbarts  pädagog. 

Schriften  II.     S.   257. 

Hier  kommt    uns  als    Vorrede  ein  Leben    des  Verfs.  entgegen.     Hr. 
Wörlein  beruft  sich  auf  Lessing,   nach   welchem   eine   Vorrede  die  Ge- 


J.  W.  Wörlein:  System  der  Pädagogik.  217 


schichte  der  Entstehung  eines  Buches  sein  soll.    „Buch,  Autor  und  Leben 
desselben  fließen  aber  vielfach    ineinander  und  sind  nur  in  ihrer  Kausal- 
verbindung genetisch  erklärbar.     Dies  ist   vorzüglich  der  Fall  bei  Werken 
der  Autodidakten,  die    durch   sich    selbst    die   ihnen   innewohnende   Idee 
entwickelten  und  fast  alles    durch  eigne   Kraft   geworden  sind.     Auch  der 
Verf.    ist    ein    solcher    Autodidaktor ;    er    ist   in    der   literarischen    Bildung 
unter  schweren  Kämpfen  mit  dem   Schicksale  und  unter   hartem  Geistes- 
druck und  mannigfaltigen  amtlichen  Bedrängnissen  aus  sich  selbst  hervor- 
gegangen."     Die    Lebensgeschichte   beginnt    bei    dem   Jahre     1797,    dem 
Geburtstag    des   Verfs.     Die    Eltern    gehörten    der   niedersten   Volksklasse 
an,  sie  arbeiteten  sich  etwas  höher    empor.     Der   Verf.  war  ein  schwäch- 
liches Kind,  im  vierten  Jahre  lange  krank.    In  den  Schuljahren  hatte  ein 
seltner  pädagogischer    Poltermann    seine  liebe   Not   mit    ihm  und  erklärte 
ihn  für   den    dümmsten  Jungen   seiner  „Schule'^     Im  Kreise  der  Jugend- 
gefährten gewann  er  Vertrauen  und  Ansehen.     Ein  dunkler  Trieb  führte 
ihn    zu    den    Büchern.     Der    Dorfpfarrer    wurde    aufmerksam.      Stephan: 
wurde  später  sein  Ideal,    dann  sein  Gönner.     Er   bekam  eine  Anstellung 
als  Elementarlehrer,    Es  folgen  Leiden  mancherlei  Art  und  Liebe  —  und 
Bücher.     „Ich  las  nie  anders  als  mit    der  Feder  in  der  Hand;  auf  diese 
Weise  erhielt  ich  P^olianten  und  Quartanten  von  Exzerpten  und  Auszügen, 
von  Rezensionen  und  Lebensbeschreibungen  der  Gelehrten  nach  Tausenden, 
die  mir  später  bei  meinen  Arbeiten  treffliche  Dienste  leisteten."    Es  scheint 
fast    diese  Exzerpte  hätten   Hrn.  W.  gar  zu  viele  Dienste  geleistet.    Denn 
—  anstatt  daß  wir  von  einem   Autodidakten  Eigenes,   Selbsterdachtes  er- 
warteten, nötigt  uns  sein  Buch  manches  soeben  Gelesene  noch  einmal  zu 
lesen.     Kaum  haben  wir  Schwarz  und  Niemeyer  aus  der  Hand  gelegt, 
so  kommen  sie  in  diesem  Buche  wieder  herbei,  freilich  nicht  allein,   sondern 
in    starker   Begleitung    anderer    Schriftsteller.      Was    daraus    geworden    ist, 
mögen    einige    Proben    bezeichnen.      S.   7:  „Die    scharfsinnigen    Versuche 
Spinozas,  Fichtes,  Schellings  mußten  mißlingen."    Aber  kurz  zuvor  S.  6: 
,.Zum  Realprinzip    der  Wissenschaft   überhaupt  konstituiert   sich  das  Ich." 
Und   wieder    kurz    darauf   S.    12:    „die   ursprüngliche   Denkform    des    Ich, 
Thesis,    Antithesis,    Synthesis,    bestimmt    die    Form    des   Organismus    der 
menschlichen  Erkenntnis"  desgleichen  S.  18:  „das  Ich  als  Subjekt  —  Ob- 
jekt ist  das  einzige  Realprinzip  aller  Wissenschaft,  also  auch  der  Pädagogik."- 
Weiß   Hr.   W.   wirklich  nicht,    von  wem    diese  Sätze    stammen?    Er  hätte 
doch  Fichten  den  schuldigen  Dank    dafür    nicht   durch  die  Anklage  des 
Mißlingens  verderben   sollen,    wenn    er   selbst    noch   in   diesen  Meinungen 
befangen  ist.      Weiterhin  werden  wir  mit  pädagogischer  Literatur  reichlich 
versorgt.    Jedem  Büchertitel  ist  eine  kurze  Rezension  beigefügt.    Zur  Probe 
dienen    ein   paar   Zeilen    über    Niemeyek  :    „Was   ihn   am  entschiedensten 
über    die    Ausländer   erhebt,   ist  die    bestimmte,  sittliche   Tendenz   seiner 
Grundsätze,    dahingegen    bei    jenen    durchweg    rohe    Willkür    regiert,    um, 
kaum  gemildert    durch    ein    höchst   schwankendes    moralisches  Gefühl,    ein 
flaches  Sinnenleben  einzuleiten.''     Diese    Ausdrücke   kommen  dem  Unter- 
zeichneten in  Ansehung  Niemeyers    sehr  richtig,    in    Ansehung  der  Aus- 
länder zu  stark  und  zu  grell,  überdies   aber    bekannt  vor.     Nach  einigem 
Besinnen  fand  er  sie  wieder  in  seiner  eignen  allgemeinen  Pädagogik  vom 


2  1 8  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Jahre  1806  (S.  434)  und  benutzt  nun  hiermit  die  Gelegenheit,  nicht  Hrn. 
W.,  sondern  sich  selbst  darüber  zu  tadeln.  Bei  länger  entlehnten  Stellen 
hat  übrigens  Hr.  W.  die  Bücher,  aus  denen  er  abschrieb,  wohl  manch- 
mal und  vielleicht  mehrenteils  angeführt;  daher  wir  ihn  nicht  des  Plagiats 
beschuldigen  dürfen.  Wir  begnügen  uns  jetzt  die  Einteilung  des  Buches 
kurz  anzuzeigen.  Es  zerfällt  in  Elementarlehre  und  Methodenlehre.  Die 
erste  handelt  vom  Menschen  als  Naturwesen,  als  Geistes wesen,  dann  von 
der  Menschheit.  Die  zweite  von  pädagogischer  Ideologie  und  Teleologie, 
darauf  von  pädagogischer  Konstruktion  und  Formation.  Dies  zusammen 
soll  Fundamenial-Pädagogik  heißen.  Versprochen  wird  Derivativ-Pädagogik, 
umfassend  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre,  ferner  die  Beobachtung  des 
Schulwesens  und  die  Geschichte  der  Pädagogik.  Bevor  Hr.  W.  bis  zum 
neunten  Teile  seines  weitläufig  angelegten  Werkes  vorrückt,  wird  sich  ihm 
wohl  noch  mancherlei  zum  exzerpieren  darbieten;  er  mag  sorgen,  nicht 
die  Einheit  darüber  noch  mehr,  als  schon  geschehen  ist,  zu  verlieren. 
Besitzt  der  Mann  wirklich  eine  vorzügliche  Kraft  und  Tätigkeit,  so  wird 
seine  eigene  Bildung  nicht  stillstehen;  und  er  kann  bei  doppelt  soweit 
vorgeschrittenem  Alter  noch  das  Vergnügen  haben,  eine  zweite  Auto- 
biographie zu  schreiben,  die  reichhaltiger  sein  wird,  als  die  erste. 


Schwarz,  F.  H.  Ch.,  geh.  KR.  u.  Prof.  zu  Heidelberg,  Erziehungs- 
lehre. In  drei  Bänden.  2.  durchaus  umgearbeitete  Auflage.  — 
Leipzig   1829. 

Gedruckt   in:    Hallesche   Literatur  -  Zeitung   1832,   Nr.  21 — 24.     Kl.  Sehr.  HI,    S.   744. 

SW.  XH,  S.  686.  Willmann,  Pädag,  Schriften  H,  S.  229.  Richter,  Pädag. 
Schriften  II,  S.  399.     Bartholomäi-Sallwürk  II.  S.  347. 

NiEMEYER  begann  die  Nachträge,  welche  er  zuerst  im  Jahre  1806 
seinem  berühmten  Erziehungswerke  als  dritten  Teil  hinzufügte,  mit  folgenden 
Worten:  ,,Man  versteht  sich  über  eine  Menge  von  Gegenständen,  sobald 
man  sie  im  gewöhnhchen  Leben,  ohne  Rücksicht  auf  ein  gewisses  System 
behandelt,  über  die  man  sich  immerfort  mißversteht,  sobald  man  darüber 
zu  philosophieren  und  zu  spekulieren  anfängt.  Gewiß  ist  dies  auch  häufig 
der  Fall  bei  der  Erziehung."  Und  wir  dürfen  hinzusetzen:  die  päda- 
gogische Praxis  erteilt  allen  denen,  die  sich  lange  und  anhaltend  mit  ihr 
beschäftigen,  einen  Schatz  von  gleichartigen,  oder  doch  nahe  ähnlichen 
Erfahrungen  und  Belehrungen,  vermöge  deren  sie  einen  gemeinsamen 
Boden  haben,  auf  dem  sie  stehen;  wodurch  es  ihnen  selbst  bei  sehr  ab- 
weichenden Theorien  wenigstens  leichter  sein  muß,  sich  zu  verständigen, 
als  es  außerdem  sein  würde.  Nicht  aber  bloß  in  Erfahrungen,  sondern 
auch  in  ähnlichen  Gesinnungen  erkennen  sich  diejenigen,  denen  es  mit 
der  heiligen  Sache  der  Erziehung  redlicher  Ernst  ist.  Heftiges  Streiten 
ziemt  sich  nicht  auf  dem  Felde  der  Erziehungslehre.  Der  Standpunkt 
des  echten  Pädagogen  ist  so  hoch,  daß  er  alle  Streitigkeiten  auf  den 
Feldern  des  Wissens  und  Forschens  nur  als  ein  Zusammenwirken  für  die 


F.  H.  Ch.  Schwarz  :  Erziehungslehre.  2  1 9 


Bestimmung  der  Menschheit,  die  mitten  im  Streite  sich  selbst  erzieht  und 
emporringt,  kann  gelten  lassen.  In  solcher  Meinung  nun  legt  der  Unter- 
zeichnete die  metaphysische  Feder  einstweilen  beiseite,  und  ergreift 
wiederum  die  älteste,  die  er  vor  langen  Jahren  geführt  hat.  Dies  ge- 
schieht mit  der  angenehmen  Wahrnehmung,  welche  ihm  die  vorliegenden 
Erziehungswerke  verschaffen,  daß  sein  Name  unter  den  deutschen  Päda- 
gogen noch  nicht  verschollen  ist,  daher  keine  neue  Bekanntschaft  braucht 
angeknüpft  zu  werden. 

Bevor  jedoch  Hr.  Geh.  K.-R.  Schwarz  uns  in  die  Geschichte  der 
Pädagogik,  um  die  er  sich  so  große  und  längst  anerkannte  Verdienste 
erworben  hat,  tiefer  einführt,  sei  es  erlaubt,  einige  Griffe  in  dieselbe  zu 
tun,  welche  das  Folgende  erleichtern  können.  Zu  einer  Zeit,  die  uns 
jetzt   glücklicherweise    als   lange   verflossen   vorkommt   —    im   Jahre   1807 

,  sprach  Fichte   in    seinen,    für    ihn   ruhmvollen,    und    selbst   historisch 

merkwürdigen    Reden    att    die    deutsche   Nation,    folgendes,    fast    im    Beginn 
seines    Vortrags,    mit    bestimmter    Absicht,    den    Geist    desselben    zu    be- 
zeichnen: „Die  Erziehung  muß  die  wirkliche  Lebensregung  und  Bewegung 
der  Zöglinge,    nach  Regeln   sicher    und   unfehlbar   bilden   und  bestimmen. 
Wofern  jemand  einwendet,   der  Zögling  habe  freien  Willen,   so  antworte  ich 
(Fichte),   daß  gerade  in  dem  Rechnen  auf  einen  freien  Willen  der  erste 
Irrtum  der  bisherigen  Erziehung,  und  das  deutliche  Bekenntnis  ihrer  Ohn- 
macht und  Nichtigkeit  liege.    Sie  bekennt,  daß  sie  den  Willen,  die  eigent- 
liche Grundwurzel    des  Menschen,    zu   bilden   weder   vermöge   noch  wolle 
und   begehre.     Willst   du   über   den  Menschen  etwas  vermögen,    so  mußt 
du    mehr   tun    als    ihn    bloß    anreden,    —    du    mußt    ihn    machen,    ihn  also 
machen,    daß    er   gar    nicht   anders   wollen   könne,   als    du   willst,    daß  er 
wolle."     Und  Niemeyer,    sich  auf  Erfahrung  stützend,    sagt  sanfter,   doch 
deutlich   in    dem    oben    angeführten   Aufsatze:    ,,Es    ivard  ans    dem  Erfolge 
geiuiß^  daß  eine  Einwirkung  des  Menschen  auf  den  Menschen,  unbeschadet 
der  Freiheit  und  Selbständigkeit  des  Vernunftwesens,   möglich  sei,   welche 
zwar   nie   die  Natur   umschaffen   oder  vernichten,   aber  wohl  die  Art  und 
den  Grad  der  Ausbildung  der  natürlichen  Anlagen  und  Kräfte  bestimmen 
könne."     Gehen    wir    weiter    zurück    bis   auf   Rousseau   (welchem,    nebst 
Locke,    in   der  Vorrede    zu  Campes   großem  Revisionswerke  ausdrücklich 
der   Ruhm   des  Vorgängers  beigelegt  wird,  denn  es  heißt  dort  von  beiden : 
sie  machten  Bahn,   ivir  atidern  folgten),   so  findet  man,   statt  aller  Erwähnung 
der  Freiheit,  eine  dreifache  Erziehung,  durch  die  Natur,  durch  die  Gegen- 
stände und  durch  die  Menschen;  aus  deren  Vergleichungsich  das  Resultat 
ergibt,  daß  nach  der  erstem,  weil  wir  sie  nicht  in  unserer  Gewalt  haben, 
sich    die   beiden   andern  Erziehungen    richten    müssen,    damit  in  dem  Er- 
zogenen  kein  Widerspruch   entstehe.     ..  Chacun  de  nous  est  forme  par  trois 
sortes  de  maitres.     Le  disciple  dans  leqiiel  leurs  diverses  legons  se  contrarient, 
est    mal  eleve,    et   ne   sera  Jamals   d'accord  avec  lui-meme.      Celut   dans  lequel 
elles  tombent  toutes  siir  les  memes  points,    et  tendent  aux   meines  fins,   va  seul 
ä    son    hiä,    et    vit  conse'quemment.      Celui  lä  seul  est  bien   eleve.      Diese, 
an   das  Stoische  ot^ioloyor^uvoi^  Lf^v  geknüpfte  Erklärung  wird  jeden  Päda- 
gogen hinreichend  an  die  ferneren  Vorschriften  Rousseaus  erinnern,  nach 
welchen   an   die  Stelle   aller  Willkür   lediglich   die  Notwendigkeit   und  die 


2  20  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

unvermeidliche  Ergebung  in  sie,  treten  soll.  Wie  sehr  nun  auch  dies  mit 
FiCHTES  obiger  Forderung:  zu  kontrastieren  scheint:  so  sieht  man  doch 
immer  die  Bildsamkeil  des  Zöglings  vorausgesetzt,  ohne  rvelche  Voraussetzung 
kein  Erzieher  sein  Werk  angreifen  kann.  Alsdann  aber  knüpft  sich  an  dies 
erste  Postulat  bei  allen  Pädagogen  die  doppelte  Frage:  erstlich,  wozu  soll 
der  Zögling  gebildet  werden?  zweitens,  durch  welche  Mittel?  Das  heißt, 
die  Pädagogik  ruft  einerseits  die  Ethik,  andrerseits  die  Psychologie  zu 
Hilfe.  Nach  den  verschiedenen  Meinungen,  welche  in  diesen  beiden 
Wissenschaften  herrschen ,  kommen  nun  die  verschiedensten  Ansichten 
hervor;  wiewohl  oft  die  Verschiedenheit  mehr  in  der  Schulsprache  jedes 
Zeitalters,  als  in  der  wirklichen  Geistesrichtung  der  Pädagogen  liegt;  daher 
man  sich  leicht  versucht  finden  kann,  die  Differenz  größer  zu  schätzen 
als  sie  ist.  Durchgehends  (schon  von  Platon  an  gerechnet)  sieht  man 
die  Pädagogen  sich  vorzugsweise  gegen  die  auffallendsten  Verkehrtheiten 
ihrer  Zeit  stem.men;  denn  gerade  diese  wollen  sie  durch  bessere  Erziehung 
gehoben  wissen.  Dabei  aber  nehmen  sie,  wie  sie  nun  eben  können,  die 
Zeitphilosophie  zu  Hilfe.  Zwar  erinnern  wir  uns  nicht,  bei  älteren  Päda- 
gogen die  Behauptung  gelesen  zu  haben,  „(//^  Psychologie^  als  eigne  Doctrin 
müsse  gänzlich  wegfallen,  und  sie  müsse  künftig  nur  einen  Abschnitt  der 
Physiologie  bilden"  (man  sehe  die  zu  Innsbruck  herauskommende  medizinisch- 
chirurgische Zeitung,  i.  Bd.  vom  Jahre  183 1,  S.  46);  allein  was  irgend 
an  verschiedenen  Meinungen  zwischen  diesem  Extrem  einerseits  und  dem 
Fichteschen  Idealismus  oder  auch  der  platonischen  Ideenlehre  und  der 
Leibnizschen  Monadologie  andrerseits  in  der  Mitte  liegen  kann,  das  ist 
ohne  Zweifel  irgend  einmal  von  Einfluß  auf  die  Ansicht  der  Pädagogen 
gewesen ;  und  heutigestages  müssen  wir  darauf  gefaßt  sein,  auch  einmal 
zur  Abwechslung  einen  Physiologen  als  Erziehungslehrer  auftreten  zu  sehen, 
der  uns  zeige,  durch  welche  diätetische  INIittel  man  vom  Gehirn  ausgehend, 
oder  gar  von  den  Nerven  der  Extremitäten  und  von  den  Lebensfunktionen 
der  Haut  anfangend,  den  Willen  der  Zöglinge  so  regulieren  müsse,  wie 
die  obige  Forderung  Fichtes  es  vorschreibt.  Die  Folge  solcher  zum  Er- 
schrecken weit  auseinander  gehenden  Theorien  ist  immer  die,  daß  die 
Praktiker  sich  in  ihren  Eifahrungskreis  zurückziehen,  und  die  fremdartigen 
Ansprüche,  welche  draußen  erschallen,  nach  Möglichkeit  ignorieren.  Nur 
kann  der  praktische  Erzieher  niemals  bloßer  Empiriker  werden;  das  ver- 
hindert die  Natur  seines  Geschäfts.  Hat  er  mit  der  Zeitphilosophie  ge- 
brochen, so  sucht  er  seine  Zuflucht  nicht  lediglich  bei  der  Erfahrung, 
sondern  zugleich  bei  der  Religion. 

Die  Beziehung  dieser  Vorerinnerungen  auf  das  berühmte  Werk  des 
Hrn.  Schwarz  würde  von  selbst  klar  sein,  wenn  Hr.  Schw.  auch  nur  in 
dem,  sehr  mäßigen,  Grade  Empiriker  wäre,  wie  Niemeyer  es  war.  Allein 
solche  Männer,  die  in  der  Pädagogik  etwas  Ausgezeichnetes  leisten,  werden 
immer  wenigstens  die  Gemächlichkeit  des  bloßen  Empirismus  als  etwas 
ihrer  kaum  Würdiges  betrachten.  Von  Hrn.  Schw.  sowohl  als  von  dem- 
jenigen Vorgänger,  dem  er  sich  am  liebsten  anzuschließen  scheint,  dem 
unvergeßlichen  Verfasser  der  Levana  (welcher  sogar  der  ersten,  mathe- 
matisch-psychologischen Abhandlung  des  Unterzeichneten  eine  überraschende 
Aufmerksamkeit   zuwendete)    ist    es   bekannt  genug,    mit   welcher    Sorgfalt 


F.  H.  Ch.  Schwarz:  Erziehungslehre,  221 


er  die  philosophischen  Systeme,  deren  Wechsel  er  erlebte,  beobachtet, 
und  teilweise  zu  benutzen  versucht  hat.  Wieviel  er  jedoch  auch  andrer- 
seits seinem  Leser  an  empirischen  Hilfsmitteln  darbietet,  dies  wird  aus 
dem  Berichte  über  das  Werk  deutlich  hervorgehen;  so  daß,  von  Gemäch- 
lichheit weit  entfernt,  vielmehr  ein  äußerst  vielseitiges  Bemühen,  die  Päda- 
gogik mit  jedem  möglichen  Lichte  zu  erhellen,  dem  Werke  zum  Ruhme 
gereicht. 

Die  ersten  beiden  Bände  (die  zwar  nur  als  Ein  Band  gezählt  sind, 
aber  doch  zusammen  die  größere  Hälfte  des  Ganzen  ausmachen)  be- 
schäftigen sich  mit  der  Geschichte  der  Erziehung.  So  ist  in  dieser  um- 
gearbeiteten Auflage,  was  früher  das  Letzte  war,  in  den  Vordergrund  ge- 
stellt worden;  ohne  Zweifel  deshalb,  weil  der  Verf.  in  dieser  empirischen 
Masse  ein  Stütze  für  seine  Theorie  gewinnen  wollte.  „Wir  müssen  erst 
sehen  (sagt  die  Vorrede),  was  bis  jetzt  geschehen  ist,  und  wie  wir  zu 
unserer  Bildung  gelangt  sind,  bevor  wir  erkennen,  was  wir  zu  tun  haben, 
um  unsere  Kinder  gut  zu  bilden  und  zu  erziehen.  Nach  dieser  Ein- 
richtung wird  auch  manches  abgekürzt,  indem  in  der  Lehre  selbst  nur 
auf  das  verwiesen  zu  werden  braucht,  was  sich  in  der  Geschichte  vor- 
findet." Hierauf  folgt  sogleich  eine  Erklärung  in  Ansehung  des  eigent- 
lichen Lehrvortrages.  „Der  zweite  Band  soll  nicht  in  strengem  Sinne 
Svsteni  heißen;  denn  das  ist  in  einer  solchen  Erfahrungswissenschaft  und  Kunst 
nicht  möglich,  sondern  bedurfte  nur  einer  mehr  wissenschaftlichen  Ein- 
teilung, welche  das  Einzelne  möglichst  an  seinen  rechten  Ort  stellt,  und 
hiermit,  zugleich  auf  das  in  der  Geschichte  Angegebene  sich  beziehend^  kürzer 
wird  als  vorher,  ohne  gerade  schwächer  oder  ärmer  zu  werden."  Un- 
geachtet dieser  Erklärungen  wollen  wir  uns  aber  doch,  zum  Vorteile  des 
Verfs.,  daran  erinnern,  daß  er  bei  der  ersten  Ausarbeitung  dieser  Ge- 
schichte der  Erziehung,  sie  nicht  darauf  eingerichtet  hatte,  an  der  Spitze 
des  Ganzen  stehend  dem  Hauptvortrage  eine  Stütze  zu  gewähren;  denn 
wäre  das  letztere  ursprünglich  beabsichtigt  worden,  so  möchte  wohl  der 
Zuschnitt  der  Arbeit  merklich  anders  ausgefallen  sein.  Es  erzählt  uns 
nämlich  der  erste  Teil  mancheriei  Vorweltliches,  Indisches,  Chinesisches, 
Persisches  usw.,  was  teils  anderwärts  her  bekannt,  teils  wie  natüriich  höchst 
unvollständig  ist,  weil  man  eben  nicht  mehr  davon  weiß;  ja  dies  geht 
großenteils  auch  noch  bei  Griechen  und  Römern  so  fort,  wo  z.  B.  Achill 
und  Astyanax  aus  der  Ilias  als  Zögling  und  Sohn  in  Betracht  kommen. 
Bei  den  Römern  ist  die  Rede  von  Ehegesetzen,  von  der  patria  potestas  usw. 
in  einer  Ausführiichkeit,  die  gerade  nicht  unwillkommen  sein  mag,  doch 
aber  zur  Entscheidung  oder  auch  nur  Beleuchtung  heutiger  pädagogischer 
Fragen  nichts  beitragt.  Im  zweiten  Teile  muß  man  sich  durch  alleriei 
wenig  anmutige  Dinge,  wie  von  fahrenden  Schülern,  Bacchanten,  trivium 
und  quadrivium  u.  dergl.  hindurch  arbeiten,  die  ihr  historisches  Interesse 
haben,  auch  wohl  ein  gerechtes  Vergnügen  über  den  heutigen  bessern 
Zustand  des  Unterrichts  und  der  Erziehung  gewähren;  aber  nicht  zu 
unserer  Belehrung  da,  wo  wir  in  pädagogischen  Zweifeln  befangen  sind, 
helfen  können.  Rez.  hoffte  gegen  das  Ende  des  zweiten  Teils  die  höchst 
wichtige  Periode  seit  Locke  ausführlich  behandelt,  die  historische  Fort- 
bildung   der    bedeutendsten     Meinungen,     und     eine    möglichst    gerechte 


2'>2  J-  F.  Herbarts  RezensioDen. 


Charakteristik  der  einflußreichsten  Pädagogen  entwickelt  und  aufgestellt  zu 
sehen;  weil  hier  endlich  dasjenige  an  die  Reihe  kommt,  was  noch  unter 
uns  fortwirkt;  aber  hier  möchte  doch  in  der  Tat  selbst  eine  billige  Er- 
wartung unbefriedigt  bleiben.  Blicken  wir  nun  in  den  zweiten  (eigentlich 
dritten)  Band  hinein:  so  kommt  uns  eine  andere  empirische  Masse  ent- 
gegen ;  Hr.  Schw.  hat  nämlich  von  den  Physiologen  manches  entlehnt, 
namentlich  von  Rudolphi  ;  aber  auch  hier  ist  die  Hauptfrage:  tvozu  dient 
das  dem  Erzieher?  In  welchem  Verhältnisse  steht  es  zu  den  praktisch  wichtigen 
Fragen,  die  dem  Erzieher  nnd  Schulmann  jeden  Augenblick  vorkommen?  Hilft 
es  uns,  die  Zeit  für  eine  nötige  Lektion  richtiger  zu  ivählen  ?  Tröstet  es  uns, 
oder  auch^  warnt  es  luis,  tvenn  hier  langsaine  Fortschritte  des  Schülers,  dort 
verspätete  Kindereien  des  Jünglings,  anderwärts  wohl  gar  bösartige  Züge  an- 
statt reiner  Kindlichkeit,  eine  Gefahr  anmelden,  deren  Größe  zu  schätzen  uns 
schwer  wird?  Und  Hr.  Schw.  redet  noch  auf  S.  123  dieses  Bandes  von 
Atmen,  Gähnen,  Seufzen,  Weinen,  Lachen,  Wimmern  {vagitus),  Zittern, 
Niesen,  Räuspern  der  kleinen  Kinder!  Man  möchte  fragen,  ob  er  jenen 
Physiologen,  welche  auf  Eroberung  der  Psychologie  ausziehen,  etwa  auch 
die  Pädagogik  habe  zuführen  wollen?  —  Allein  dem  ganzen  Zusammen- 
hange gemäß  kann  eine  so  nachteilige  Auslegung  nicht  Ernst  sein;  es  ist 
nur  eine  gewisse  Unverhäitnismäßigkeit  zu  bemerken;  und  (damit  nichts 
verfehlt  werde)  ein  mißlingendes  Bestreben,  durch  einen  angehäuften  Reich- 
tum des  empirisch  Gegebenen  Ersatz  zu  schaffen  für  mangelnde  psycho- 
logische Untersuchung.  Das  aber  ist  eben  das  Unglück,  daß  die  größte 
Fülle  der  bloß  empirischen  Gelehrsamkeit  uns  stets  arm,  und  bei  der 
pädagogischen  Praxis  in  Verlegenheit  läßt,  solange  es  uns  nicht  gelingt, 
durch  richtige  Begriffe  in  die  Tiefe  der  Gemüter  hineinzuschauen.  Ob 
die  am  Ende  des  Werks  hinzugefügten  Belege  (Entwicklungsgeschichten  usw.) 
mehr  helfen,  muß  Rez.  wenigstens  bezweifeln.  Möge  aber  das  gesamte 
empirische  Material  für  andere  noch  so  interessant  sein,  wir  können  hier, 
da  für  die  Hauptsache  der  Raum  zu  sparen  ist,  nur  ganz  kurz  folgendes 
davon  sagen. 

In  der  Einleitung  wird  der  beiden  Grundansichten  der  Geschichte 
der  Menschheit  gedacht,  deren  eine  nur  Verschlechterung,  die  andere  nur 
Veredlung  sehen  will.  Beide  sind  einseitig.  Die  Menschheit  ist  nicht 
etwa  ein  dem  Uriichte  entquollener  Strom,  der  immer  weiter  in  tieferer 
Dunkelheit  erlischt,  noch  ein  aus  dem  Urschlamme  aufgärender  Licht- 
quell ;  sondern  sie  steht  durchaus  in  der  Hand  der  ewigen  Liebe,  welcher 
der  letzte  Mensch  so  nahe  ist  als  der  erste.  Aus  dem  dunkeln  Alter- 
tume  scheinen  bildende  Stämme  hervor.  Der  Charakter  der  Modernen 
ist  Trennung,  hingegen  der  des  Altertums  ungeschiedene  Größe.  Bildung 
war  anfangs  meist  das  Eigentum  eines  Stammes  oder  Standes;  später 
wurde  sie  Gemeingut.  Daher  erst  geschlossene,  dann  freigegebene  Bildung. 
Erziehung  ferner  setzt  einen  gewissen  Zustand  schon  vorhandener  Bildung 
voraus;  dieser,  aus  dem  ganzen  Volksleben  zu  erkennende  Zustand  muß 
überall  zuerst  betrachtet  werden.  Daher  folgende  Anordnung.  Erster 
Teil,  alte  Welt.  Erste  Abteilung:  geschlossene  Bildung.  Hier  von  den 
bekannteren  Völkern  Asiens  und  Afrikas.  Überall  zuerst  von  der  Bildung, 
dann  von  der  aus  ihr  hervorgehenden  Erziehung;  denn  die  Jugend  wächst 


F.  H.  Ch.  Schwarz:  Erziehungslehre.  223 


in  der  Nationalbildung  heran.  Ziüeiie  Abteilung:  eröffnete  Bildung.  Hier 
von  den  Israeliten,  als  dem  Offenbarungsvolke.  Bei  ihm  war  das  Band 
zwischen  Eltern  und  Kindern  vorzüglich  fest  geknüpft;  die  Volkserziehung 
erwuchs  aus  der  häuslichen,  und  war  durchaus  religiös.  Von  den  Propheten- 
schulen ist  zu  wenig  bekannt.  Sie  waren  Privatanstalten;  an  dem  pytha- 
goräischen  Bunde  findet  sich  etwas  Ähnliches.  Nach  dem  Exil  gab  es 
eigentliche  Gelehrtenschulen,  aber  auch  mit  Verschiedenheit  der  Sekten. 
Nach  der  Zerstörung  Jerusalems  blüheten  mehrere  hohe  Schulen  an  ver- 
schiedenen Orten.  Nun  folgen  die  Griechen:  „Athen  ist  auch  unsere 
Studienstadt,  der  ionische  Himmel  unsere  Erheiterung."  Die  griechischen 
Bildungskreise     werden    bezeichnet    durch     ihre    Vorsteher:     i.    Homer, 

2.  Lykurg,  3.  Pythagoras,  4.  Solon,  5.  Sokrätes,  6.  Platon,  7.  Ari- 
stoteles. Endlich  von  den  Römern;  natürlich  bei  weitem  kürzer  als 
der  vorige  Abschnitt.  Anhangsweise  noch  von  der  Musik,  als  dem  höchsten 
Bildungsmittel  der  Alten.  So  weit  der  erste  Band.  Der  zweite  Band 
zerlegt  die  Betrachtung  der  christlichen  Welt  in  zwei  Hauptperioden;  das 
Eindringen  der  christlichen  Bildung;  und  das  Ireiicerden  derselben.  Die 
erste  Periode  befaßt  14  volle  Jahrhunderte;  in  ihr  ist  bald  Vermischung 
des  Christentums  mit  der  früheren  Bildung  zu  bemerken,  bald  Scheidung 
der  beiden  Elemente.  Hier  werden,  analog  der  Anordnung  des  ersten 
Teils,  erst  die  höheren  Bildungsanstalten,  dann  das  Erziehungswesen  in 
der  christlichen  Kirche  abgehalten.  Demnach  zuvörderst  i.  von  der 
Katechetenschule  in  Alexandria,   2.  episodisch  von  der  Bildung  der  Araber, 

3.  von  den  Kaiserschulen  und  den  Universitäten.  Darauf  von  dem  Be- 
ginnen des  Christentums  im  Volksleben,  von  der  Jugenderziehung  in 
Britannien,  bei  Ost-  und  Westgothen,  in  Deutschland  und  Frankreich;  und 
von  dem  Schulwesen  nebst  der  pädagogischen  Literatur  in  diesen  Ländern. 
Wir  können  uns  nicht  dabei  aufhalten;  aber  ein  paar  Worte  aus  dem 
Eingange  zur  zweiten  Abteilung  dieses  Bandes  mögen  den  Eindruck  be- 
zeichnen, den  die  Bearbeitung  jener  Zeitwüste  auf  Hrn.  Schw.  selbst  ge- 
macht hat.  „Alles  Menschliche  ist  dem  Naturgesetze  unterworfen,  nach 
welchem  der  Zeitgeist  das,  was  er  hervorbringt,  auch  wieder  mitnimmt. 
Der  beliebte  Gedanke  von  einet  Kindheit^  einem  Jiinglingsalier  und  der  Ver- 
nunftreife des  menschlichen  Geschlechts  schmeichelt  uns,  weil  wir  uns  da 
natürlich  in  die  letztere  erhoben  sehen,  abet  er  ist  tticht  richtig,  nicht  an- 
wendbar auf  die  Menschen  wie  sie  sitid.  Es  ist  nun  einmal  Böses  im 
Menschen;  und  sein  Naturgesetz  ist  mit  seinem  Freiheitsgesetze  nicht  im 
reinen  Einklanoe.  Darum  findet  sich  in  der  Geschichte  der  Menschheit 
nicht  jene  Einheit  oder  Einfalt,  welche  die  freundliche  Begeisterung  gern 
darin  schaut.  Das  Ewige  in  der  Menschheit,  das  Göttliche  gibt  derselben 
ihre  Geschichte,  aber  ihr  Exponent  ist  ein  höherer  als  das  Naturgesetz, 
weil  er  in  dem  geistigen  Leben  liegt.  Weil  aber  dieses  in  seiner  Ent- 
wicklung durch  die  Sünde  gestört,  und  durch  die  Erlösung  wieder  her- 
gestellt wird,  so  betrachtet  die  Geschichte  mit  Recht  Christum  als  den 
Mittelpunkt,  und  wir  würden  vergeblich  einen  Aufschluß  über  das  Rätsel 
unsers  Geschlechts  suchen,  wenn  uns  diese  Sonne  nicht  aufgegangen  wäre. 
Ohne  ihn  erneuerte  sich  immer  nur  die  alte  Tragödie."  Müßten  wir  nur 
nicht  hinzusetzen:  selbst  mit  ihm  hat  sie  sich  seit  achtzehnhundert  Jahren 


2  24  J-  ^-  Herbarts  Rezensionen. 


oft  genug  erneuert!    —    Gerade    dieser    Umstand    kann    Hrn.    Schw.  ent- 
schuldigen,   daß    er    an  diesevi  Orte    in    den  falschen    Gegensatz  zwischen 
Naturgesetz  und  Freiheitsgesetz  verfällt;  wobei  die  allererste  Voraussetzung 
der    Pädagogik,    nämlich    die    Bildsamkeit    des    Zöglings    vergessen    wird. 
Naturgesetze  sind    keineswegs    bildsam,    sondern    starr   wie    das   Gesetz   der 
Schwere,   das  sich  nicht  ändern  läßt;  Freiheit  \.'\yid.^  stets  wandelbar  h\€\\i&x\\ 
auf  sie  zu  rechnen  ist  nicht  klüger,  als  Buchstaben  ins  Wasser  schreiben. 
Aber   die    Bildsamkeit   ist   Tatsache.      Vollständiger   aufgefaßt   ist    sie   Be- 
weglichkeit des  Menschengeist  CS,  wovon  die  Geschichte,  in  allem  ihren  Auf- 
steigen und  Absteigen,  das  Schauspiel  darbietet.    Diese  Beweglichkeit  mit 
Lob    oder    Tadel   begleiten,    heißt   noch   keinesweges,   ihr    wahres    Wesen 
studieren;  dazu  gehört  eine  ganz  kühle   —   und  zwar  mathematische  Be- 
trachtung.    Aber  der   Verf.    stand  an    einem    Punkte  der  Geschichte,   wo 
es  schwer  ist,  kühl    zu    bleiben,    und    wo  es    dem  Historiker    nicht   kann 
und    darf   zugemutet    werden.     Rückblickend    auf  Karls    des    Großen  und 
Alfreds  Bemühungen,  das  gute  Prinzip,    nämlich  das  Christentum  in  Ver- 
bindung mit  klassischer  Literatur,  in  rohe  Völker  hineinzuptianzen;  trauernd 
über  den  teils  mangelhaften,  teils  vergänglichen  Erfolg,  berichtet  Hr.  Schw.: 
„von    guten    Schulen    läßt    sich    seit    dem    elften    Jahrhunderte    bis    zum 
sechzehnten  gar  nicht  mehr    reden;   —  das   gemeine  Schulwesen   versank 
aufs    allertiefste,    —    es    kam    schnell   im    Verfalle    des    Schulwesens    aufs 
äußerste;  —  die  Geistlichen   konnten   oder   mochten   nicht   mehr  helfen." 
—    Wer    einen   solchen    Bericht   über   so    lange   Jahrhunderte   ohne    Teil- 
nahme abstatten    würde,    der    wäre    nicht,    wie  es  sein  muß,    kühl    durch 
Selbstbeherrschung   in    wissenschaftlicher    Abstraktion,    sondern    kalt    und 
herzlos  in  seinem  innersten  Wesen.     Das  vorliegende  Werk  aber  hat  die 
rechte  Lebenswärme,  die  einer  historischen  Darstellung  natürlich  inwohnt, 
und    eine   Probe    ihrer    Gesundheit   ausmacht.      Noch    um    eines    andern 
Umstandes  willen  haben  wir  die  obige  Stelle  ausgehoben.    Es  zeigen  sich 
darin  die  Vorboten  des  Streits    zwischen    Hrn.  Schw,   und    einem    großen 
pädagogischen    Schriftsteller,    der    auf  seine    Leser  einen   sehr  tiefen  Ein- 
druck   zu    machen    pflegt,    nämlich    Rousseau.      Dieser    beginnt    mit  den 
berühmten  Worten:   „Tout  est  bien,  soiiant  des  mains  de  Cauteur  des  choses, 
tont  de'ge'nere  entre  les  mains  de  rho?iime:  tl  ne  veut  rien  tel  qiie  Va  fait  la 
nature,  pas  mime  Vhomme."      Hier    wird    die    Natur    als    das   gute    Prinzip 
betrachtet,  hingegen  die  freie  Willkür   des  Blenschen   als  das   Prinzip  des 
Bösen.     Man  glaube    nicht,    daß  der   Gegensatz  zwischen  beiden   Schrift- 
stellern sich  heben  ließe,  indem  man  die  Natur  auf  den  Schöpfer  zurück- 
führte, und  dagegen  das  Freiheitsgesetz   von   der  Willkür    schiede.     Viel- 
mehr ist  das  Freiheitsgesetz  (anstatt  der  praktischen  Ideen)  ein  Kantianis- 
mus,  der  Hrn.  Schw.  ebenso  gewiß  zu  seinem  Schaden  anklebt,  als  dem 
Rousseau  die  falsche  Voraussetzung,  alles  Natürliche^  also  auch  die  Kinder, 
seien   von    selbst   gut,    und  man   brauche    nur    äußern    Zwang    und  äußere 
Künstelei  wegzunehmen,  um  sie  gut  heranwachsen  zu  sehen.    Ja  es  scheint, 
Hr.  Schw.  sei  oranz  auf  dem  Wege  sich  die  Freiheit  im  Ä^w/ischen  Sinne 
als  die  wahre,    eigentliche,    innere    Natur  des  Menschen  vorzustellen;    und 
diese  würde  ihn  der  Meinung  Rousseaus  gerade  in  die  Hände  geliefert 
haben,   wenn  nicht  die  Theologie  ihn  gewarnt  hätte  durch  ihre  Lehre  von 


F.  H.  Ch,  Schwarz:  Erziehungslehre.  2  2 


der  Sünde.  Aber  eine  solche  Warnung  hätte  in  diesem  Punkte  nicht 
nötig  sein  sollen;  der  richtige  Begriff  von  der  Bildsamkeit  ist  nicht  nur 
den  gewöhnlichen,  sondern  auch  den  Kantischen  Freiheitsbegriffen  so 
durchaus  entgegen,  daß  sogar  Fichte,  der  strengste  Freiheitslehrer,  in  dem 
Augenblicke,  da  er  von  Pädagogik  schreiben  wollte,  zu  der  Äußerung 
getrieben  wurde,  die  wir  gleich  anfangs  schon  anführten.  Und  da  nun 
einmal  eine  hier  fremdartige  Warnung  nötig  wurde,  so  drang  sie  wohl  zu 
tief  ein,  wie  wir  sogleich  mit  mehrerem  zeigen  werden;  sie  macht  Hrn. 
Schw.  etwas  zu  streng  gegen  Rousseau  und  gegen  alles,  was  ihm  an- 
hängt. Jedoch  in  diesem  Falle  ist  Strenge,  selbst  wenn  sie  hin  und  wieder 
an  Ungerechtigkeit  streifen  sollte,  immer  noch  besser,  als  die  verderbliche 
Nachgiebigkeit  und  Befangenheit  in  Rousseaus  pädagogischen  sowohl  als 
politischen  Vorstellungsarten,  womit  man  den  geistreichen,  auf  der  Ober- 
fläche hellsehenden  Mann,  so  oft  als  einen  eigentümlichen  Denker  und 
Forscher  geachtet  und  dargestellt  hat. 

Nachdem  der  Verf.  aus  der  Zeit  vor  der  Reformation    teils  von  der 
italienischen,    teils    von    der    niederländischen    Bildungsschule    gesprochen 
(dort  von  Petrarca,  hier  von  Geert  Groote  beginnend,  und  die  Schule 
von  Deventer  mit  ihren  Sechsmännern  ausführlicher  beschreibend),  folgt  nun, 
wie  natürlich,  Luther,    dann   Zwinget   und    Melanchthon;   und  nächst 
diesen  empfangen  Sturm  und  Trotzendorf  ihre  Ehrenplätze.    Bei  Sturm 
finden   wir   nun   schon    mehr   pädagogisch    Interessantes.     Er  hatte   seine 
Schule  in   zehn   Decurien   geteilt,    und   zum    Durchlaufen    einer  jeden   eiri 
/fl//r  bestimmt;  Sprach-  und  Sachkenntnisse  wurden  verbunden;  dramatische 
und  dialogische  Stücke  wurden   (wie  es  Sturm    schon    in  Löwen  gesehen 
hatte)  von  den  Schülern  theatralisch    gesprochen;    die  statarische  Lecture 
der  Klassiker  zugleich  mit  der  kursorischen  betrieben ;  der  Homer  wurde 
gelesen;    es  gab  schriftliche  Übungen  im  Griechischen.     Sturm  hatte  für 
alles   Methodenbücher   gemacht.     Er  ging  vom  Anschaulichen  zum  Begnffe, 
von  ■  der  Sache  zum '  Worte,   und  durch    das    Wort   wieder  tiefer   in   die  Sache. 
Aber  —   er  klagte,  daß  ihn  das  Zeitalter  nicht  verstehe.    Trotzendorfs 
Schule  hatte,    wie   es    scheint,    mehr   künstliche    Belebung;    sie    war   eine 
römische  Republik,  mit  Konsuln.  Senatoren,  Zensoren,  er  selbst  war  dictator 
perpetuus.     Es  gab  nur  sechs  Klassen;  aber  jede  war  in  ttibus  geteilt,  mit 
Quästoren    an    der    Spitze.     Hätte    man    den   großen    Methodiker  Sturm   in 
neuem  Zeiten  studiert  (sagt  der  Verf),    so   konnte  der  Streit  über  Humanis- 
mus und  Philanthropinismus  kaum   entstehen;   denn   Sturm  hatte  Grundsätze 
vorgelegt,    wie  sich    Realien    und  Idealien    im    Knaben-   und    [ünglitigsunt er- 
richte   verbinden]    ob    sie  gleich    nie    auf  befriedigende    Art    sind    ausgeführt 
zvorden."      Möchte    doch    der    Hr.    Verf.    sich    hierüber-  weitläufiger    aus- 
gelassen haben;   besonders    mit  Berücksichtigung  des  Umstandes,    daß  im 
sechzehnten    Jahrhunderte    durch    die    Klassiker    eine    erneuerte    Geistes- 
bildung   erst   mußte   geschaffen   werden;   und    daß    dagegen   jetzt    Mathe- 
matik   und    Naturlehre   unermeßlich    sind    erweitert    worden,    ja    daß    die 
Geschichte    selbst  nicht   bloß   gewachsen    ist,  sondern  einen   ganz  andern 
Anblick  gewährt  als  damals.    Was  würde  der  große  Methodiker  heutiges- 
tages   anordnen?    Welches    Leben   würde    fiun    durch    ihn    in    die   Schule 
kommen?     —     Weiterhin     werden    Neander,     Rhodomann,     Heyden, 

Herbarts  Werke.     XIII.  '■S 


220  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Camer ARius,    Eoban,    Hesse,    Muretus    u.  a.   gerühmt,    aber    nur    als 
Methodiker  für  Gelehrtenschulen;  und  Hr.  Schw.  bemerkt  gegen  das  Ende: 
„man  verarge  es    jenen   Schulmännern   nicht,    wenn   sie    den  Weg    (durch 
die  alte  Literatur)  in  ihrer  Begeisterung  noch  zu  einseitig  ins  Auge  faßten. 
Erst  die  Sache;  dann  die    Reflexion;    das  ist    die  Methode  der  Natur  in 
der    Entwicklung   der    Menschheit."   —    Weiter    werden    Benediktiner   und 
Jusuiten  rühmlich  erwähnt.      „Der    Schüler    durchlief  im    Kollegium    sieben 
Klassen,  jede    auf  eifi  Jahr  berechnet.      Eine    ,,nicht   tinpäda^ogische''   Idee 
war,  daß  immer  ein  Gegenstand  zur    Hauptsache    gemacht  wurde.     (Rez. 
ist  überzeugt,   daß  dies  zwar  nicht   durchweg,    aber   in  manchen  Punkten 
der  einzig  mögliche  Schlüssel  zu  einer  richtigen  Zeiteinteilung  des  Jugend- 
unterrichts ist.)    Auch  hier  kommen  übrigens  Senatoren,  Prätoren,   Könige 
und    ein    Kaiser    unter   den   Schülern    vor.      Selbst    Baco   von   Verulam 
verwies  auf  Jesuitenschulen  als  auf  Muster;  treffliche  Bemerkungen  dieses 
berühmten  Schriftstellers  sind  hier  eingewebt.    Z.B.:  „Es  gibt  zwei  Haupt- 
methoden ;  die  eine  geht  vom  Leichtern  zum  Schwerern,  die  andere  übt  die 
Kraft;   dort  schwimmt  man  auf  Schläuchen,  hier  tanzt  man  mit  schweren 
Schuhen;    beides   ist    zu   verbinden.     Der  Lehrer  muß  das  Individuelle  des 
jungen  Menschen   genau    kenyien^'  usw.      Mit    eben    diesem   Baco   tritt  aber 
auch  die  Klage  hervor:    „daß  man   sich   zuviel  mit  Sprachen   beschäftige, 
und  darüber  die    Sachkenntnisse,   und    was  fürs    Leben   wichtig    sei,   ver- 
nachlässige;  daß  die  Philosophie,    statt  nach  Wahrheit  zu  suchen,  in  den 
scholastischen     Unfug    geraten    sei"    usw.      Nach     Baco    folgen    Ratich, 
Comenius,  Montaigne,  Locke.    Hier  beginnt  das  Streben  nach  besserem 
Unterrichte  in  der,  über  dem  Latein  vernachlässigten  Muttersprache;  nach 
Abschaffung  der  Gedächtniskrämerei,   nach  Erleichterung  durch  Methoden. 
Über   Comenius    urteilt    Hr.    Schw.:    „was    er   zuerst   in    der    Form    einer 
modernen    Zeit    ausgesprochen,    sichert    ihm   seine    Stelle    im  Tempel  des 
Ruhms  unter  den  Bildnern  der  Menschheit.    Die  neue  Zeit  hat  nun  ein- 
mal alles  vereinzelt;    und    bedurfte   nicht  bloß   eines    neuen  methodischen 
Encyklopädismus,  sondern  auch  einer  encyklopädischen  Methodik."    Minder 
günstig  urteilt  derselbe  über  Montaigne;   er  findet  bei  ihm  das  moderne 
Aufklärungsprinzip:    Alles    komme    auf   Verstandeskultur    an.      Ob    dieser 
Schriftsteller  so  merklichen  Einfluß  auf  Locke  gehabt  habe,  wie  Hr.  Schw. 
anzunehmen  scheint,  möchte  Rez.  so  lange  bezweifeln,  bis  die  bestimmten 
Nachweisungen  vorliegen.     Einem  so  schlichten  Manne,    wie  Locke,  sieht 
man  die   wirkliche    Selbständigkeit,    die    teilweise   wohl   Tiefe   heißen  darf, 
so  leicht  nicht  an;  und  man  kann  ihm   unrecht  tun,  ehe  man  es  merkt. 
Rez.  hat  sich  selbst  früher   in    diesem    Falle    befunden.      Und   Hr.   Schw. 
spricht:    Locke  wurde   dem   neuen  Sinne   ein    willkommener  Lehrer,    der 
alles   auf  dem  Boden   des   gemeinen   Lebens  suchen,    und   die  Erhebung 
zum  Idealen  als  Schwärmerei  fliehen  wollte!    Das  nächste,  was  uns  hier- 
bei einfällt,  ist,  daß  Locke  als  anfangender  Greis  schrieb,  in  einem  Alter, 
worin  der  ehrwürdige    Mann   sich    nicht   mehr    zu  erheben    brauchte,  denn 
er  hatte  sich  erhoben;   und  daß  er,  wie  Hr.  Schw.  selbst  sagt,  als  christ- 
lich-religiöser Mann,  mitten  im    Bibelstudium  starb;    aber  nach  allem,  was 
wir  von  ihm  wissen,    hat  er  nicht    nötig   gehabt,  sich  zu  bekehren;  seine 
Schriften  tragen  ganz  vorzüglich  das  Gepräge  der   innern  Ruhe  und  Ein- 


F.  H.  Ch.  Schwarz:  Erziehungslehre.  22  7 


heit  mit  sich  selbst;  er  starb,  wie  er  gelebt  hatte.  Hr.  Schw.  aber  hat, 
wenn  wir  seine  Äußerung  recht  verstehen,  nicht  Locke,  sondern  ,^den 
neuen  Sinn"  beschuldigen  wollen,  der  LocKES  Lehren  vom  Ursprung 
unserer  Begriffe  mißdeutete  und  mißbrauchte;  und  dagegen  ist  nichts  ein- 
zuwenden; außer  vielleicht,  daß  ein  solcher  Sinn  nicht  neu  ist,  sondern 
mit  geringer  Abwechslung  stets  unter  den  Menschen  anzutreffen.  —  Je- 
doch hier  kommen  wir  nun  an  die  Stelle,  wo  unser  Hr.  Verf.  uns  vieles 
zu  wünschen  übrig  läßt.  Er  begnügt  sich  in  etwa  zwanzig  Nummern, 
die  nicht  viel  mehr  sind  als  Theses^  einen  kurzen  Auszug  aus  Lockes 
Werk  zu  geben;  seine  eignen  abweichenden  Urteile  fügt  er  in  noch 
kürzern  Parenthesen  hinzu;  und  dies  Verfahren  nennt  er  dergestalt  aus- 
führlich, daß  er  sich  in  der  Folge  bei  den  neuen  Erziehungsweisen  nur 
darauf  zu  beziehen  brauche.  Späterhin  behauptet  er:  die  Pädagogik  und 
Didaktik  der  neuen  Zeit  ist  die  Lockesche,  mehr  oder  weniger  folgerecht. 
Gesetzt,  dem  sei  also,  alsdann  war  doch  wohl  Grund  genug  vorhanden, 
Lockes  Lehren  erstlich  genau  zu  erörtern,  und  zweitens  sie  in  ihren  späteren 
Sprößlingen  bestimmt  zu  verfolgen.  So  aber  lernen  wir  nicht  mehr,  als 
daß  Hr.  Schw.  und  Locke  über  manches  Einzelne  verschiedener  Meinung 
sind ;  und  wenn  etwa  der  Leser  sich  mehr  auf  Lockes  Seite  neigt,  so 
ist  hier  wenigstens  nichts  getan,  um  dies  zu  verhindern.  Freilich  kann 
der  Historiker  die  altern  Zeiten  weit  unbefangener  beurteilen,  als  die 
neuern,  in  denen  er  selbst  Partei  wird ;  wer  aber  die  Geschichte  benutzen 
will,  um  seiner  eignen  Lehre  dadurch  Licht  zu  geben,  der  ist  eben  nicht 
Historiker,  sondern  er  hat  seine  Sache  im  Angesichte  seiner  Gegen- 
parteien durchzuführen.  Oder  will  Hr.  Schw.  als  Autorität  gelten:  so  be- 
streiten wir  zwar  dieses  ihm  keinesweges;  allein  es  ist  nicht  zu  vergessen, 
daß  Lockes  Autorität  in  der  andern  Wagschale  liegt!  Die  Sache  wird 
um  desto  bedenklicher,  da  der  Verf.  durch  die  Behauptung:  Rousseau 
habe  sein  System  aus  den  Grundsätzen  des  Montaigne  und  Locke  ent- 
wickelt (zwar  mit  Zurückweisung  der  Anschuldigung  von  Plagiaten),  nun 
noch  den  vielgeltenden  Rousseau  in  die  andere  Wagschale  wirft,  in  welche 
am  Ende  auch  Campe  und  die  Erziehungsrevisoren  hineinkommen!  Hier 
wäre  es  doch  wirklich  sehr  ratsam  gewesen,  den  Streit  der  Autoritäten  zu 
vermeiden,  der  sich  niemals  lösen  läßt,  weil  die  großen  Männer  der 
frühern  Zeit,  wenn  wir  sie  nicht  durch  Gründe  beschwichtigen,  immer 
wieder  von  neuem  ihre  gewichtvollen  Stimmen  aus  dem  Grabe  hervor- 
tönen lassen. 

Von  den  Streitpunkten,  die  Hr.  Schw.  allerdings  in  höchst  gemäßigten 
Ausdrücken  mehr  andeutet  als  berührt,  wollen  wir  hier  nur  einen  einzigen 
sehr  einflußreichen  hervorheben,  nämlich  Lockes  Empfehlung  der  häus- 
lichen Erziehung  vor  der  öffentlichen.  Der  Tadel  des  Hrn.  Verfs.  be- 
schränkt sich  auf  den  Vorwurf  der  Einseitigkeit  und  des  Gegensatzes 
mit  öffentlichen  Anstalten,  wie  Locke  sie  nun  eben  in  England  in  seiner 
Umgebung  vorgefunden  habe;  allein  das  klärt  die  Sache  nicht  auf  Man 
vergißt  bei  diesem  Fragepunkte  nur  zu  leicht,  daß  öffentliche  Schulen 
noch  mehr  zu  tun  haben,  als  zu  erziehen.  Sie  sollen  lehren.  Sie  sollen 
einen  großen  Vorrat  von  Kenntnissen  erhalten  und  für  künftigen  amt- 
lichen Gebrauch  austeilen.    Dies  höchst  nötige  Geschäft  wird  sich  niemals 

15* 


228  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


den  pädagogischen  Betrachtungen  ganz  unterwerfen.  Nicht  aller  Unter- 
richt ist  erziehend;  nicht  aller  Unterricht  kann  sich  den  Wunsch,  zu  er- 
ziehen, als  seinen  Hauptzweck  vorsetzen.  Da  nun  dies  ein  frommer 
Wunsch  war  und  blieb:  so  mußten  die  Pädagogen,  um  ihre  Sphäre  zu 
finden,  in  das  Familienleben  zurückkehren.  Und  da  fand  Locke  mit 
sehr  richtigem  Blicke  nicht  etwa  sogleich  den  Hauslehrer,  sondern  den 
Hausvater.  An  diesen  wendet  sich  seine  Rede;  ihm  weiset  er  eine  Stellung 
an,  durch  welche  der  Erziehungsgehilfe,  wenn  er  jung  ist,  selbst  noch 
wird  miterzogen  und  vollends  ausgebildet  werden ;  denn  es  liegt  nicht  in 
LocKES  Anweisungen,  daß  man  demselben  alles  ohne  Kontrolle  über- 
lassen, wohl  aber,  daß  man  den  Erfolg  seines  Wirkens  nicht  nach  der 
Summe  der  Kenntnisse,  sondern  nach  der  gewonnenen  persönlichen  Bildung 
des  Zöglings  schätzen  solle.  Dieses  Aufmerken  auf  das  Individual- Persön- 
liche eines  bestimmten  Zöglings;  dieses  Überlegen  dessen,  was  aus  dem 
einzelnen,  zur  Erziehung  dargebotenen  Subjekte  werden  oder  nicht  werden 
könne,  ist  sehr  verschieden  von  dem  Wirken  auf  die  Masse  in  Schulen, 
und  auf  die  Nation  durch  Schulen.  Im  letztern  Falle  kommt  es  nur 
darauf  an,  Kenntnisse  und  Ideen  darzubieten ;  wer  sie  sich  aneignet ,  ist 
gleichgültig,  wenn  sie  sich  nur  verbreiten.  Aber  solches  Bestreben  ist 
nicht  das  eigentlich  pädagogische;  es  erfordert  kein  genaues  Studium  der 
Zöglinge,  der  Erfolg  im  Ganzen  genügt.  Hingegen  Lockes  und  Rousseaus 
Zögling  ist  ein  einzelner  Knabe.  So  mußte  der  Standpunkt  genommen 
werden,  wenn  das  Eigentümliche  der  Pädagogik,  gegenüber  der  Sittenlehre, 
sein  bestimmtes  Gepräge  zeigen  sollte.  Wird  nun  dieser  Umstand  nicht 
gehörig  beachtet:  so  entsteht  ein  Schein  des  Streits  zwischen  disparaten 
Dingen.  Welche  Pädagogik  ist  besser,  die  eines  Sturm  und  Trotzen- 
dorf oder  die  eines  Locke  und  Rousseau?  Eine  solche  Frage  darf 
nicht  erhoben,  sie  darf  nicht  veranlaßt  werden;  denn  sie  führt  auf  Ver- 
gleichung  ungleichartiger  Werte.  Jede  ist  vielleicht  recht  an  ihrer  Stelle; 
nur  die  zweite  entspricht  dem  Begriff  der  Pädagogik  genauer  als  die  erste; 
und  ohne  die  zweite  wäre  das  wahre  Wesen  der  Erziehung  nie  zu  Tage 
gekommen.  Rousseau  hat  die  Idee  der  öffentlichen  Erziehung  nicht  ver- 
gessen, er  hat  sie  wissentlich  beiseite  gesetzt.  Er  verweiset  auf  Platons 
Republik,  als  auf  das  vortrefflichste  Erziehungswerk,  was  es  gebe.  Aber 
bei  seinem  Widerwillen  gegen  moderne  Staaten  wählte  er  den  rein  päda- 
gogischen Standpunkt,  jedoch  mit  der  sehr  tadelnswerten  Abweichung  von 
Locke,  daß  er  seinen  Emile  als  Waisen  darstellt,  wodurch  die  Stellung 
in  der  Familie,  und  die  vorzugsweise  von  ihr  ausgehende  Schätzung  des 
persönlichen  Werts  verdunkelt  wird.  —  Bei  Hrn.  Schw.  steht  am  Ende 
der  Relation  über  Locke,  eine  Frage,  die  schwer  ins  Gewicht  fällt.  „Ist 
nicht  etwas  unsern  Augen  entschwunden?  Wir  erblicken  nicht  mehr  jene 
schön  auf  knospende  Blüte,  worin  sich  Geist  und  Gemüt  zu  entfalten 
strebte.  Hierzu  war  das  klassische  Altertum  und  das  Evangelium  eröffnet." 
Könnte  Locke  diese  Stelle  lesen,  würde  er  wohl  dazu  schweigen?  Er 
würde  sich  durch  einen  hochgeehrten  deutschen  Pädagogen  hart  angegriffen 
finden;  und  an  einer  für  ihn  gewiß  empfindlichen  Stelle.  Vielleicht  aber 
hat  sich  die  Frage  bloß  verirrt;  stände  sie  dort,  wo  von  Rousseau  die 
Rede  ist:    dieser   möchte   wohl    eher    Mühe    haben,    darauf  zu  antworten. 


F.  H.  Ch.  Schwarz:  Erziehungslelire.  229 


Unsererseits  wünschen  wir  bloß,  aufmerksam  zu  machen  auf  die  Not- 
wendigkeit, in  einer  Geschichte  der  Pädagogik  auch  die  feineren  Unter- 
schiede genau  zu  beachten.  Und  möge  hiermit  wieder  gut  gemacht 
sein,  was  der  Unterzeichnete  vor  vielen  Jahren  selbst  gegen  Locke  ver- 
fehlt hat! 

Spener,  Fenelon,  Franke,  Zinzendorf  u.  a.  m.,  dann  Cellarius, 
Gesner,  Heyne  und  neuere  Philologen,  werden  so  rühmlich  erwähnt, 
daß  man  von  ihnen  mehr  lesen  möchte;  von  Rousseau  aber,  wiewohl 
als  Diener  eines  egoistischen  Zeitgeistes  dargestellt,  war  wenigstens  genug 
von  eigentlich  pädagogischem  Inhalte  zu  sagen.  Hiermit  sich  nicht  be- 
gnügend, erzählt  der  Verf.  auch  die  Hauptzüge  von  Rousseaus  Lebens- 
geschichte. Wollte  er  sich  hierauf  einlassen,  so  lag  es  doch  wahrlich 
ganz  nahe,  an  den  Hauptpunkt  zu  erinnern,  den  man  bei  der  Beurteilung 
des  Mannes  nie  vergessen  darf,  nämlich  die  Verdorbenheit  des  Zeitalters, 
in  welchem  er  lebte.  Hier  muß  doch  etwas  wenigstens  von  dem  schwarzen 
Hintergrunde  der  Sitten  und  Meinungen  erwähnt  werden,  auf  dem  R. 
hervorglänzt.  Denn  sein  ganzes  Wesen  ist  nur  als  Negation,  als  Stemmen 
und  Sträuben  gegen  das  Schlechte,  als  Retten  aus  dem  Abgrunde,  zu 
verstehen.  Wie  aber  konnte  ihn  Hr.  Schw.  einen  „Verächter  höherer 
Bildung"  nennen?  Anstatt  sich  zu  wundern,  daß  ein  solcher  Verächter 
die  neue  Heloise  habe  schreiben  können,  hätte  er  doch  lieber  geradezu 
die  Heloise  als  das  redende  Zeugnis  des  tiefen  Gemütes  und  des  plastischen 
Genius  ansehen  sollen,  welches  beides,  aber  gehemmt  und  verstimmt,  in 
ihm  wirkte.  Aber  mit  unserm  Hm.  Verf.  hat  es  Rousseau  durch  einen 
wesentlichen  Punkt  verdorben,  den  Hr.  Schw.  selbst  in  folgender  Zu- 
sammenstellung berichtet:  „Die  Kinder  sollen  nichts  auf  Auktorität  an- 
nehmen. Die  Phantasie  ist  die  Quelle  alles  Unheils.  Die  äsopische  Fabel 
taugt  nichts  für  Kijider.  Und  vollends  der  Religionsunterricht  für  Kinder 
ist  Unsinn."  Der  eine  wesentliche  Punkt  ist  natürlich  nicht  die  äsopische 
Fabel,  sondern  der  den  frühen  Kinderjahren  versagte  Religionsunterricht, 
nämlich  in  den  Augen  unseres  Hrn.  Vfs.  Lieset  man  hingegen  den 
Emile,  so  sieht  man  sogleich  die  weitläufige  Polemik,  womit  Rousseau 
gegen  die  äsopische  Fabel  zu  Felde  zieht,  in  der  Meinung,  sie  werde  von 
den  Kindern  durchaus  mißdeutet  auf  eine  Weise,  welche  dem  Zwecke  des 
Erziehers  zuwiderlaufe.  Hätte  nun  einer  dem  Eiferer  gegen  die  Fabel 
das  Übertriebene  begreiflich  machen  können,  was  darin  Hegt,  sich  vor 
Mißdeutungen  zu  fürchten,  die,  wenn  sie  ja  vorkommen,  eine  frühere 
Verdorbenheit  voraussetzen:  so  würde  Rousseau,  geheilt  von  seinem 
Wahn  in  Ansehung  der  Fabel,  auch  andern  Begriffen  vom  Religions- 
unterricht zugänglich  geworden  sein.  Was  aber  den  letztern  anlangt,  so 
gibt  es  hoffentlich  keinen  einzigen  deutschen  Pädagogen,  der  die  Not- 
wendigkeit desselben  auch  schon  für  die  frühen  Kinderjahre  nur  im 
mindesten  bezweifelte.  Die  Frage  für  uns  ist  nur:  wieviel  Rousseaus 
Emile  dadurch  an  Brauchbarkeit  für  uns  verliere,  daß  die  Vorschriften 
für  den  frühen  Religionsunterricht  darin  fehlen;  —  oder,  um  es  anders 
auszudrücken,  ob  man  die  ersten  beiden  Bände  des  Emile  noch  lehrreich 
finden  werde,  wenn  man  sich  um  den  dritten  nicht  bekümmert?  —  Und 
gesetzt,    es    lege    ein    anderer    auf    die    ganze    pädagogische    Darstellung 


230  J.  y.  Herbarts  Rezensionen. 


RoussEAUS  eben  nicht  viel  mehr  Wert,  als  Hr.  Schw.:  ob  der  eigentliche 
Grund  davon  in  dem  Mangel  solcher  Vorschriften  liegen  müsse,  die  be- 
kannt genug  sind,  und  die  man  sehr  leicht  ergänzend  hineindenken  kann? 
—  Unstreitig  hat  Rousseau  ebensowohl  auf  die  deutschen  Pädagogen 
als  auf  die  Politiker  in  vieler  Hinsicht  sehr  nachteilig  gewirkt;  aber  worin? 
und  wie?  Das  läßt  sich  nicht  auf  einen  Punkt  reduzieren;  er  liegt  hier 
und  da  und  dort.  Von  einem  Werke  nun,  wie  das  vorliegende,  worin 
die  Pädagogik  selbst  gelehrt,  und  um  sie  lehren  zu  können,  durch  ihre 
Geschichte  erleuchtet  werden  soll,  dürfte  man  erwarten,  es  werde  so  genau 
als  möglich  das  Campesche  Revisionswerk,  worin  vorzugsweise  jene  Wirkungen 
sich  zeigen  müssen,  mit  Rousseaus  Vorschriften  verglichen.  Hätte  Hr. 
Schw.  sich  dies  Verdienst  erworben :  wir  hätten  ihm  dafür  gern  den  ganzen 
ersten  Band  seines  Werks  geschenkt,  von  dem  wir  in  der  Tat  kaum 
einen  praktischen  Nutzen  absehen  können.  Sollte  Rez.  den  Hauptfehler 
Rousseaus  kurz  bemerklich  machen,  so  würde  er  dazu  einen  Punkt 
wählen,  dessen  Hr.  Schw.  sogar  rühmend  erwähnt,  und  der  an  sich  auch 
recht  gut  ist:  ,,/;/  der  Geometrie  lasse  ftian  die  Kinder  alles  selbst  erfi?ideti.^' 
Wir  wollen  ihnen  die  Erfindungen  gern  gönnen,  die  sie  machen  werden; 
es  ist  nur  schade,  daß  die  meisten  nichts  erfinden;  und  daß  selbst  die 
Klügsten  mit  dem  Alles,  was  sie  erfinden,  soviel  wie  nichts  von  der 
Mathematik  wissen,  die  man  lernen  muß,  weil  sie  in  erstaunenswerter 
Größe  schon  erfunden  ist.  Kurz:  überall  (denn  hier  ist  die  Geometrie 
nur  ein  Beispiel)  erwartet  Rousseau,  und  erwarten  die  ihm  folgenden 
Pädagogen  viel  zu  viel  von  den  Kindern  selbst;  und  dabei  unterscheiden 
sie  viel  zu  wenig  die  verschiedenen  Naturen  der  Zöglinge.  Das,  worauf  die 
Erziehung  beruhet,  nämlich  die  Bildsamkeit  der  Zöglinge,  ist  nicht  genau 
untersucht  worden;  es  erscheint  den  Pädagogen  bald  zu  groß,  bald  zu 
klein;  es  ist  nicht  einmal  erfahrungsmäßig  nach  seinen  Gesetzen,  Grenzen, 
Bedingungen,  Verschiedenheiten,  gehörig  beschrieben.  Darum  ist  das 
Verhältnis  zwischen  dem  Höheren.,  was  dem  Zöglinge  gegeben  werden  muß, 
und  zwischen  der  Empfänglichkeit,  die  man  in  ihm  voraussetzen  dürfe, 
im  Dunkeln  geblieben. 

Von  der  Unzufriedenheit,  welche  Hr.  Schw.  mit  den  spätem  Päda- 
gogen äußert,  nur  noch  wenige  Proben.  Basedow  ist  nach  ihm  ein 
Halbgebildeter;  sein  Streben  nach  gemeinnütziger  Sachkenntnis  und  nach 
Weltbürgersinn  wird  ihm  zum  Vorwurf  angerechnet.  Ertrug  denn  (müssen 
wir  fragen)  Basedows  Zeit  den  höhern  Staatsbürgersinn  ?  Hr.  Schw.  be- 
kennt selbst:  das  Zeitalter  habe  kaum  verstanden,  sein  Werk  historisch 
zu  würdigen.  Salzmanns  Institut  wurde  in  der  Einseitigkeit  des  Philan- 
thropinismus niedergehalten.  Gab  es  etwa  keine  andere,  gegenüberstehende 
Einseitigkeit?  Campe  wirkte  durch  seinen  willkommenen  Pedantismus,  wo- 
mit er  den  Erwerbfleiß  über  alles  setzte.  Über  alles?  Wenn  über  Poesie, 
dann  etwa  auch  über  Religion?  So  kennen  wir  Campe  nicht!  Pestalozzi 
war  zu  sehr  der  egoistischen  Denkart  des  Zeitalters  hingegeben  indem  sie 
den  einzelnen  Menschen  in  einer  von  dem  Ganzen  losgerissenen  Kraft  zw 
Freiheit  erheben  ivollte.  Diese  Äußerung  fürchtet  Rez.  nicht  einmal  zu 
verstehen.  Das  Ganze  besteht  aus  den  Einzelnen,  und  durch  ihre  Zu- 
sammenwirkung.    Der    Erzieher    ist   nicht   Staatsmann;   seijie    Wirkung    ist 


F.  H.  Ch.  Schwarz :  Erziehungslehre.  2^1 

desto  richtiger,  je  mehr  sie  zunächst  auf  Individuen,  mittelbar  aber  auf 
das  Ganze  geht.  Pestalozzi  endlich  hatte,  nach  dem  eignen  Zeugnisse 
des  Hrn.  Verfs.  (welches  der  Unterzeichnete  aus  persönlicher  Bekannt- 
schaft mit  dem  merkwürdigen  Manne  bestätigen  muß),  seine  Idee  unter 
dem  Einflüsse  des  Christentums  zu  der  umfassendsten  Liebe  für  die  ge- 
samte Menschheit  gesteigert.  Wie  paßt  dazu  der  obige  Vorwurf?  Aber  Hr. 
Schw.  macht  sich  deutlicher.  Durch  die  Elementarmethode  wurde  das 
Kind  ganz  in  die  Selbstkraft  erhoben,  um  aus  sich  selbst  zu  lernen,  und 
alles  Dargebotene  sich  in  höchster  Freiheit  anzueignen.  Das  trieb  die 
egoistische  Erziehungsweise  auf  die  Spitze.  So  war  Pestalozzi  der  Nach- 
folger des  Genfer  Pädagogen.  Aber  da  schlug  die  Sache  auch  um.  — 
Gab  es,  fragen  wir,  nicht  andere  Gründe  des  Umschlagens?  Rez.  hat  sich 
oft  genug,  aufs  allerbestimmteste,  gegen  die  falschen  Lehren  von  der  Frei- 
heit, der  Selbstkraft  usw.  erklärt,  aber  aus  theoretischen  Gründen.  Wie- 
wohl nun  hiermit  die  theologische  Ansicht  des  Hrn.  Verfs.  zum  Teil  zu- 
sammentrifft, so  dürfte  doch  nötig  sein  zu  erinnern,  daß  früher,  wo  von 
Spener  und  von  Franke  die  Rede  ist,  die  Geschichte  selbst  Hrn.  Schw. 
zu  folgender  Äußerung  vermocht  hat  (S.  440) :  „Es  war  nun  einmal  das 
Schicksal,  dem  auch  das  Beste  nicht  entgeht,  daß  die  gute  Sache  der  Frömmig- 
keit durch  die  einseitige  Richtung  litt."  Endlich  kommt  noch  Fichte  an 
die  Reihe.  „Die  Ichheit  war  freilich  dem  Zeitgeiste  lieb."  Ist  es  wohl 
passend,  bei  einem  ursprünglich  reinspekulativen  Irrtum,  der  nur  durch 
strenge  metaphysische  Untersuchung  kann  hinweggeschafft  werden,  vom 
Zeitgeiste  zu  reden?  Es  ist  sehr  schlimm,  wenn  irgendwie  der  Zeitgeist 
sich  in  Dinge  mischt,  von  denen  er  durchaus  nichts  versteht ;  in  Probleme, 
die  gleich  den  mathematischen,  für  alle  Zeit  genau  die  nämlichen  bleiben. 
- —  Pflichtmäßig  müssen  wir  nunmehr  den  ausgehobenen  tadelnden 
Äußerungen  des  Verfs.  die  Bemerkung  hinzufügen,  daß  dieselben  eben 
nur  ausgehoben  sind,  aus  einer  Menge  von  Beweisen  der  willigsten  An- 
erkennung großer  Verdienste  und  trefflicher  Ansichten  seiner  Vorgänger. 
Ebenso  ist  nun  auch  der  Unterzeichnete  von  den  besten  Gesinnungen 
des  Hrn.  Verf.  vollkommen  überzeugt;  allein  zugleich  davon,  daß  Ein- 
seitigkeit des  jetzigen  Zeitgeistes  dem  vorliegenden  Werke  nicht  fremd 
blieb;  und  daß  Mängel  des  bisherigen  spekulativen  Wissens  großenteils 
die  Schuld  von  Fehlern  tragen,  die  von  dem  Hrn.  Verf.  aus  ganz  andern 
Quellen  abgeleitet  werden. 

Im  dritten  Bande,  welchen  der  Verf.  den  zweiten  nennt,  wird  das 
System  der  Erziehung  vorgetragen.  Die  Anfangsworte:  „Erziehung  ist  die 
sich  entwickelnde  Menschheit,"  vollends  mit  dem  Zusätze:  „sie  ist  eine 
aus  sich  selbst  hervorgehende  Entwicklung,"  lassen  noch  gar  keine  Verlegen- 
heit besorgen;  vielmehr  sollte  man  glauben,  nichts  werde  bequemer  sein, 
als  dem  Hervorgehen  aus  sich  selbst  nur  ganz  ruhig  zuzuschauen.  Aber 
bald  trübt  sich  der  Himmel.  Den  Eltern,  die  das  Kind  seiner  Jugend 
froh  werden  lassen,  wird  bemerklich  gemacht,  daß  sie  wohl  etwas  Besseres 
zu  tun  hätten.  Auch  diejenigen  werden  getadelt,  welche  die  Bestimmung 
eines  jungen  Menschen  aus  der  Eigenheit  seiner  Anlagen  entnehmen. 
Schon  deshalb  nun  möchte  es  gut  gewesen  sein,  den  Anfang  zu  ändern, 
und   die   allzuwohlklingende   Rede   von   der   Kraft,    die  aus   dem  Kleinsten 


232  J-  f  •  Herbarts  Rezensionen. 


des  Keimes  bis  i^is  Unendliche  hin  sich  entfalte,  etwas  näher  zu  den  sehr 
mäßigen  Erwartungen  herabzustimmen,  daß  aus  den  meisten  Kindern 
wohl  nur  gewöhnhche  Menschen  werden  möchten.  Vollends  schlimm  aber 
wird  es  weiterhin,  wo  die  drei  Systeme  wieder  hervortreten,  auf  welche 
die  Geschichte  der  Pädagogik  geführt  hat;  das  pietistische,  das  humanistische 
und  das  philanthropinistische.  Denn  beim  ersten  werden  wir  auf  den 
Satz  getrieben:  „Heuchelei,  und  nicht  bloß  Kopfhängerei,  mönchisches, 
linkisches  Wesen,  geistlicher  Stolz  und  Verbildung  bis  zur  Karikatur  sind 
die  Folgen  eines  allzufolgerichiigen  Verfahrens  in  der  Denkart,  welche  aus 
dem  völlig  willenlosen  Kinde  ein  Gotteskind  zu  machen  wähnt."  Dem 
zweiten,  welches  die  Vernunft  von  der  Sprache  abhängig  macht,  dient 
zur  Bezeichnung  des  Punkts,  wohin  es  führe,  ein  kurzes  Gespräch:  also 
haltet  ihr  einen  Grammatikaifehler  für  größte  Sünde?  Rem  acu  tetigisti. 
Für  das  schlimmste  aber  erklärt  der  Verf.  das  philanthropinistische.  Diesem 
legt  er  den  Grundsatz  unter:  die  größte  Sünde  ist  der  Unverstand,  und 
das  höchste  Ziel  der  Bildung  ist  die  Klugheit.  Da  nun  alle  drei  Systeme 
verwerflich  befunden  worden:  so  fragen  wir  natürlich  nach  einem  vierten. 
Aber  der  Weg  ist  schon  im  voraus  gesperrt.  Denn  „die  Beziehung, 
worin  das  junge  Geschlecht  heranwachsen  soll,  ist  entweder  die  zu  Gott, 
oder  zu  dem  menschlichen  Geiste  in  seiner  idealen  Erscheinung,  oder  zum 
wirklichen  Menschenleben."  Damit  meint  Hr.  Schw.  die  drei  oben  an- 
gegebenen Systeme  genau  zu  treffen;  eine  Genauigkeit,  die  nun  freilich 
gar  sehr  dürfte  bezweifelt  werden.  Der  Schluß  aber,  welcher  nicht  aus- 
bleiben dürfte,  würde  so  lauten:  soll  es  Erziehung  geben,  so  führt  sie 
auf  eins  von  den  Systemen  ö,  b,  c;  nun  ist  a  verwerflich;  b  desgleichen; 
und  c  am  allermeisten;  folglich  soll  es  i^/«^  Erziehung  geben.  Stattdessen 
begnügt  sich  Hr.  Schw.,  jene  drei  Erziehungsweisen  eijiseitig  zu  nennen. 
Es  hat  nicht  geholfen,  daß  schon  zwei  höchst  gewichtvolle  Stimmen  ihn 
auf  das  Mangelhafte  seiner  Grundlegung  zur  systematischen  Pädagogik 
aufmerksam  machten.  Schleiermacher  sagt  ihm,  er  werde  öfter  in  die 
Ethik  zurückgehen  und  diese  selbst,  wenn  auch  zerstückelt,  mit  hervor- 
bringen müssen.  Niemeyer,  in  dem  gleich  anfangs  angeführten  Aufsatze, 
bittet  ihn,  er  möge  nicht  gegen  seine  eigene  frühere  Ansicht  ungerecht 
werden.  Er  aber  antwortet  ihnen:  „Das  Wahre  ist,  daß  nur  diejenige 
Erziehung  den  Namen  der  sittlichen  verdiene,  welche  die  wahrhaft  bildende 
ist."  Er  klagt  über  ,,hohle  Phrasen  von  Freiheit,  Recht,  Pflicht,  Schicklich, 
Sittlich  usw.  Was  darüber  zu  sagen  wäre,  ist  anderwärts,  und  ganz  neuer- 
lich wohl  deutlich  und  selbst  stark  genug  gesagt.  Hier  begnügen  wir 
uns  mit  einem  Worte  von  Leibniz,  welches  weit  mehr  auf  die  Pädagogen 
als  auf  die  Philosophen  paßt :  f  ai  trouve  que  la  plüpart  des  sectes  ont 
raiso7i  dans  une  bonne  partie  de  ce  qu'elles  avancent ,  mais  non  pas  tant  en 
ce  qu'elles  nient.  Wir  können  nur  bedauern,  daß  die  vorhandenen  Systeme 
der  praktischen  Philosophie  auf  Hrn.  Schw.  den  Eindruck  der  Unbrauch- 
barkeit  gemacht  haben;  und  müssen  für  den  Augenblick  unentschieden 
lassen,  inwiefern  auf  der  einen  oder  der  andern  Seite  die  Schuld  ge- 
legen habe.  Jedoch  gibt  es  einen  Punkt,  auf  welchen  wir  des  Folgenden 
wegen  genauer  eingehen  müssen.  Schleiermachers  obige  Erinnerung 
veranlaßt  Hrn.  Schw.,  die  Forderung,  Pädagogik  durch  Ethik  zu  begründen, 


F.  H.  Ch.  Schwarz:  Erziehungslehre.  233 


mit  den  Worten  zurückzuweisen:  „</«  ?nöckie  leicht  der  Fall  auch  umgekehrt 
gelten."  Nun  ist  offenbar,  daß  diese  Umkehrung,  wenn  sie  möglich  wäre, 
noch  weiter  gehen  würde.  Soll  Pädagogik  ihre  Hilfswissenschaften,  anstatt 
sie  vorauszusetzen,  vielmehr  selbst  hervorbringen:  so  gilt  dies  nicht  bloß 
von  der  Ethik,  sondern  auch  von  der  Psychologie;  ja  von  der  letztern 
sogar  vorzugsweise.  Denn  was  die  Ethik  anlangt,  so  ist  der  schwerste 
und  weitläufigste  Teil  derselben,  nämlich  was  man  gewöhnlich  Naturrecht 
nennt,  also  Rechts-  und  Staatslehre,  gar  nicht  in  der  Hand  des  praktischen 
Erziehers,  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  er  sich  mit  Unmündigen  be- 
schäftigt. Ganz  anders  verhak  sich's  mit  der  Psychologie,  wenigstens  von 
ihrer  empirischen  Seite  betrachtet.  Hier  liegt  der  allergrößte  und  be- 
deutendste Teil  des  Erfahrungskreises  gerade  nur  in  der  Sphäre  dessen, 
der  viele  und  verschiedene  Kinder  zu  Jünglingen  und  Männern  heran- 
wachsen sieht.  Denn  um  von  dem  allmählichen  Entstehen  unserer  Vor- 
stellungsarten, sammt  Gefühlen  und  Begierden,  Rechenschaft  zu  geben, 
also  um  zu  einer  genetischen  Darstellung  zu  gelangen,  muß  der  Psycholog 
stets  zu  den  Kindern  zurückschauen.  Deshalb  vorzüglich  verlangte  der 
Unterzeichnete  schon  vor  vielen  Jahren  (in  seiner  allgemeinen  Pädagogik), 
die  einheimischen  Begriffe  der  Pädagogik  möge  man  selbständig  kultivieren, 
und  sie  zum  Mittelpunkte  eines  Forschungskreises  machen.  Aber  dazu 
gehört  reine  Beobachtung,  fern  von  Erschleichungen.  Von  Keimen,  die 
sich  erst  künftig  entwickeln  sollen,  erfährt  der  Erzieher  nichts.  Das 
Künftige,  was  man  in  die  Kinder  hineindenkt,  ist  nicht  das  Gegenwärtige, 
was  man  erfährt.  Die  Gründe  der  Wirksamkeit  wollen  tiefer  erforscht, 
sein.  Unser  Verf.  selbst  scheint  in  der  Zurückweisung  vereinzelter  Seelen- 
vermögen (nach  seiner  Äußerung  auf  S.  28)  mit  dem  Unterzeichneten 
einverstanden.  Daran  ließe  sich  vieles  knüpfen,  was  sich  auf  die  im 
zweiten  Abschnitt  aufgestellten  Vorbegrifife  bezieht,  und  wovon  hier  nicht 
ohne  große  Weitläufigkeit  könnte  geredet  werden.  Wozu  auch  würde  es 
dienen,  hier  z.  B.  über  die  Polarisierung  zu  sprechen,  welche  §  20  dem 
Grundtriebe  beilegt?  Wir  wollen  dies  gern  als  eine  Aufmerksamkeit  be- 
trachten, welche  Hr.  Schw.  der  Philosophie,  wie  sie  nun  ist  oder  war, 
erwiesen  hat;  er  drückt  sich  überdies  behutsam  genug  aus,  indem  er  sagt: 
der  imbekannte  Qx\yci^\x\۟  scheine  sich  zu  zerspalten.  Und  indem  er  diese 
Zerspaltung  benutzt,  um  die  Verschiedenheit  des  Naturells  zu  bestimmen, 
wählt  er  sogleich  anstatt  des  Plus  und  Minus  weit  passendere  Ausdrücke; 
er  unterscheidet  die  Aufgeiveckten  und   die   Stillen. 

Wir  nähern  uns  hier  demjenigen  Teile  des  Werks,  der  vielleicht 
unter  allen  am  meisten  hervorglänzt.  Denn  unter  der  Überschrift:  Ent- 
wicklung, hat  der  Verf.  eine  weitläufige,  fast  nur  anthropologische,  Ab- 
handlung den  Artikeln  Bildung  und  Erziehung  vorangeschickt;  worin  von 
der  Entstehung  des  Menschengeschlechts  anfangend  der  Mensch  bis  zum 
Alter  des  Erwachsenen  hin  beschrieben  wird,  dergestalt,  daß  eine  bei 
Pädagogen  wohl  seltene  Gelehrsamkeit  in  den  hierher  gehörigen  Teilen  der 
Naturwissenschaft,  und  überdies  ein  feiner  Beobachtungsgeist,  verbunden 
mit  dem  Streben  nach  wahrer  Psychologie,  sich  nicht  verkennen  läßt.  Es 
würde  ein  vergebhcher  Versuch  sein,  den  Leser  damit  auszugsweise  auch 
nur  einigermaßen  bekannt  zu  machen;    und  bei  einem  Werke,    was  in  so 


2  34  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


vielen  Händen  ist,  könnte  man  eher  kritische  Bemerkungen  als  einen 
Auszug  verlangen;  allein  der  Versuchung,  über  Einzelnes  weitläufig  zu 
werden,  müssen  wir  widerstehen.  Verlangt  man  eine  Probe  des  vor- 
herrschenden richtigen  Blicks,  so  mag  die  Stelle  über  den  Willen  (S,  178) 
dazu  dienen:  „Der  Wille  des  Kindes  ist  ganz  dasselbe,  was  vorher  als 
freier  Naturerguß  erschien,  jetzt  nur  zum  Gefühl  der  Freitätigkeit  ent- 
wickelt. In  dem  Willen  eine  neue  Kraft  anzunehmen,  welche  sich  dem 
Geiste,  man  weiß  nicht  wie,  zugesellt  hätte,  wäre  doch  nichts  anderes,  als 
die  Annahme  eines  Wunders,  und  zwar  eines  sehr  ungöttlichen;  und  sie 
(diese  Annahme)  könnte  unmöglich  so  verbreitet  sein,  wie  sie  es  wirklich 
ist,  wenn  sie  nicht  mit  einer  Trägheit  in  der  Nachforschung  der  Menschen- 
natur,  und  zugleich  mit  einer  ganz  nichtigeii  Furcht  vor  einem  unseligen 
Fatalismus  zusammenhinge.''  Und  S.  214:  „Mit  dem  verstärkten  Selbst- 
gefühle kommt  die  Vergleichung  seiner  selbst  gegen  andere.  Rousseau 
meint,  daß  das  Böse  des  Kindes  von  der  Zeit  anfange,  da  es  sich  mit 
andern  vergleiche.  Was  soll  doch  das  heißen  ?  Eben  als  ob  jetzt  das 
Böse  auf  einmal,  der  Himmel  weiß  wie,  und  woher,  in  das  Kind  hinein- 
geflogen käme,  in  dem  Augenblicke,  als  es  den  Fortschritt  gewonnen  hat, 
daß  es  messen  kann.  Warum  nicht  lieber  ein  Dämon?  Die  Sache  ist 
vielmehr  nur  die,  daß  das  Böse  als  solches  jetzt  entschiedener  in  die 
Augen  fällt.  Es  war  früher  schon  da;  der  Egoismus  nur  noch  verdeckt. 
Das  edle  dreijährige  Kind  hat  die  Tugenden  der  Kindlichkeit  entwickelt. 
Es  ist  fromm,  frohsinnig,  folgsam.  Das  ist  aber  schon  Bildung.''''  Ferner 
S.  209:  „Wenn  das  Kind  nun  sagt:  Ich,  so  meint  es  sich  freilich  noch, 
wie  es  da  steht  und  geht,  Leib  und  Seele  ungetrennt;  ja  es  meint  sich 
noch  mehr  von  Seiten  des  Leibes,  weil  es  sich  selbst  darin  erscheint."  — 
Dagegen  findet  sich  eine  auflfallende  Probe  von  Ungenauigkeit  —  während 
doch  das  Hervorheben  so  wichtiger  Punkte  wiederum  ein  richtiges  Streben 
bezeugt  —  gleich  anfangs,  wo  der  Takt  mit  der  Aufmerksamkeit  zwar 
nicht  ohne  Grund,  aber  viel  zu  allgemein  verbunden  wird.  S.  134  nämlich 
heißt  es:  ,,Das  Taktmäßige  ist  nichts  anderes  als  die  Aufmerksatnkeit."  Be- 
liebe doch  der  Verf.  in  die  Lebensbeschreibung  des  berühmten  Chemikers 
Davy  (Zeitgenossen,  III.  Bd.,  2.  Hft.,  S.  8)  hineinzuschauen!  Davy  besaß 
schon  als  fünfjähriger  Knabe  eine  so  wundervolle  Aufmerksamkeit,  daß 
er  Bücher  las  und  ihren  Inhalt  faßte,  während  er  sie  nur  zu  durch- 
blättern schien;  aber  —  es  fehlte  ihm  gänzlich  der  Sinn  für  Takt  und 
Musik;  so  sehr,  daß  er,  in  ein  Korps  Freiwilliger  eingetreten,  vergebens 
sich  bemühte.  Schritt  halten  zu  lernen.  Die  Abhandlung  des  Unter- 
zeichneten de  attentionis  mensum  zu  kennen,  darf  man  ohne  Zweifel  Hrn. 
Schw.  nicht  zumuten;  aber  trotz  der  dortigen  weitläufigen  Rechnungen 
ist  für  das  weit  schwerere  Problem  von  der  Auflfassung  gleicher  Zeitteile 
noch  nichts  weiter,  als  eine  entfernte  Vorbereitung  vorhanden.  Wozu  es 
dienen  solle,  den  Einfall  von  Hemsterhuis  —  Wallungen  des  Blutes  in 
der  Nähe  des  Ohrs  anzuführen,  ist  gar  nicht  abzusehen.  Es  kommt  nicht 
darauf  an,  Empfindungen  dessen,  was  taktmäßig  geschieht,  nachzuweisen 
—  denn  solcher  finden  sich  genug  — ,  sondern  darauf  zu  erkennen,  was 
in  jedem  Augenblicke  während  der  ganzen  Zeit,  worin  wir  das  Taktmäßige 
wahrnehmen    oder    erzeugen,    in    uns    vorgehe;    denn   die   Auffassung   des 


F.  H.  Ch.  Schwarz:  Erziehungslehre.  235 

Takts  ist  dauernd;  sie  faßt  in  jedem  Augenblick  das  rhythmisch  Wechselnde 
zusammen  und  ist  bereit,  es  fortzusetzen.    Allerdings  aber  sind  beide  hier 
berührte  Punkte,  die  Aufmerksamkeit  überhaupt,  und  die  rhythmische  Auf- 
fassung   insbesondere,    höchst    wichtig    für   den   Erzieher,    dem    daran  liegt 
und  liegen  soll,  die  verschiedenen  Naturen  der  Zöglinge  genauer  als  bisher 
zu  unterscheiden;  und  dafür  hat  der  Verf.  in  seinem  ganzen  Werke  eine 
Sorgfalt    bewiesen,   die,    wiewohl  noch  lange  nicht  auf  die  letzten  Gründe 
zurückgehend,  doch  schon  den  Dank  der  Leser  in  hohem  Grade  verdient. 
So  sehr  wir  mit  dem  Verf.  über  die  äußerste  Wichtigkeit  der  frühesten 
Erziehung   einverstanden   sind:    so   befremdet  es  uns  doch,   ihn  weit  über 
die  Mitte  des  Bandes  hinaus  noch  mit  dem  dreijährigen  Kinde  beschäftigt 
zu    finden.     Wahr   ist,    was   er  sagt:    das  dreijährige  Kind  hat  sein    Gemüt. 
Aber   sehr   unsicher   ist   die    bald   folgende  Behauptung:    sei7i    Charakter  ist 
begründet.     Campe,    mit    dem    wir   in   anderer  Hinsicht  den  Verf.   zu  ver- 
söhnen wünschten,  scheint  in  der  Überschätzung  der  frühesten   Erziehung 
einen   nachteiligen,   vielleicht   ganz  unbewußten  Einfluß  auf  ihn  gehabt  zu 
haben.     Was    in    der   Periode    der  Revisoren    am  meisten   schadete,    das 
war  der  Mangel  an  Einsicht  in  die  Wichtigkeit  dessen,  was  als  ein  Höheres 
der  Jugend  muß  gegeben  werden.    Man  erwartete  zuviel  von  innen;  man 
dachte  überdies  zu  wenig  an  das  Individuelle  des  Innern,  was  keine  Er- 
ziehung  umschaffen    kann.      Hr.    Schw.,    der    mit   Recht    weniger    auf   die 
gute  Natur,   und   weit   mehr  auf  Erhebung  durch  den  Unterricht  rechnet, 
hätte  um  so  weniger  schreiben  sollen:    ,,wie  das  Kind  sich  findet,    so  hat 
es   sich;    wie    es   zum   ersten  Male   sein  Ich   ausspricht,    so    geht  das  Ich 
die   ganze  Lebensbahn   hindurch.'^     WirkHch?    Was   hatte  denn  die  obige 
Aussage  zu  bedeuten,  das  Ich  meine  sich  bei  dem  Kinde  noch  mehr  von 
Seiten  des  Leibes,  weil  es  sich  selbst  darin  erscheine?  —   Und  zu  welchem 
Zweck    sind    S.  209    die    Untersuchungen    des  Unterzeichneten    gerade    in 
diesem   Punkte,    als    nicht   tvidersprechend  der  vorliegenden  Erziehungslehre, 
angeführt   worden,    wenn   die    allmähliche   Veränderung    des    Ich,    welches 
späterhin    sich    von    der  Vorstellung    des   Leibes,    und    dessen    was    daran 
hängt,  ablöst,  unberücksichtigt  bleiben  sollte?    In  dem  dreijährigen  Kinde 
ist   das  Ich  zwar  angefangen,   aber  keineswegs  vollendet;    und  es  ist  über- 
haupt ein   durchgreifender   Griindfehler  umvahrer  Zeitphilosophie,    sich   das  Ich 
als  einen   festen  Mittelpunkt .,  als  ein  schlechthin  selbständiges.,   abgeschlossenes 
Fertiges,    das  nicht  weiter  berichtigt  werde7i  könnte  und  müßte  und  sollte.,   — 
zu  denke7i.     Hätte  doch  Hr.  Schw.  diesen  Irrtum  des  Idealismus  dort  ge- 
lassen, wo  er  die  himmelstürmende  Naturphilosophie  vom  Weltorganismus 
gelassen   hat,    fern    von   der  Pädagogik!    Sehr   wahr   sagt   der  Verf.   selbst 
S.  63 :  „Manchmal  wird  ein  Kind  für  dumm  gehalten,  welches  doch  vor- 
züglichen Verstand    entwickelt;    so   wird   aus  denen,    die  frühe  schon  sehr 
bestimmt    sind,    oft    nicht   soviel,    als   aus    denen,    die    länger  unbestimmt 
bleiben."    Das  ist  ebensowohl  der  pädagogischen  Erfahrung  als  der  .speku- 
lativen Psychologie    gemäß;    daher  darf  man  nicht  einmal  wünschen,    daß 
die  Ichheit  sich  in  dem  Kinde  schon  frühzeitig  bestimme;  und  der  Verf., 
als  ein  erfahrener  praktischer  Erzieher,   wird  sich  unmöglich  der  Täuschung 
hingeben    können,    als    wäre    bei   dem    dreijährigen    Kinde   die    Gemütsart 
entschieden,  eine  stolze   Täuschung  für  die  Mutter,  die  so  schnell  glauben 


2:>6  J-  ^-  Herbarts  Rezensionen. 


könnte,    das  Wesentliche  geleistet  zu  haben;    eine  trostlose  Täuschung  für 
den  Erzieher   der   späteren  Jugendjahre,   wenn   er  nun  glaubte,    schon  zu 
spät    zu   kommen.      Kein  Teil  der  Erziehung,  den  Jahren  nach  gerechnet, 
ist  wichtiger  als  der  andere.    Eine  Pädagogik,  die  wie  der  Kalender  nach 
den  Monaten,  so  nach  den  Altersstufen  fortschreiten  will,  muß  wenigstens 
gleichmäßig  über  das  gesamte  Jugendleben  sich  verbreiten;  eigentlich  aber 
ist  es  überhaupt  sehr  mißlich,  so  chronologisch  fortzugehen;   denn  bei  dem 
Frühesten  muß  man  schon  das  Späteste,  beim  Spätesten  noch  das  Früheste 
im  Auge    haben.     Das   große  Übergewicht,   welches  bei  unserm  Verf.  die 
ersten  Kinderjahre  bekommen  haben,  zeigt  sich  sogar  in  der  Hauptsache, 
nämlich    der   sittlichen  Bildung,    an   dem  ganz  unbedingten  Verwerfen  des 
Räsonnierens    mit    Kindern.      Die    Stimmen    aller    eigentlichen    Pädagogen 
werden    hier   aufgerufen;    sie   sollen    sich   sämtlich   dagegen  erklärt  haben. 
Diese   Stimmen    sind    uns   keineswegs    unbekannt;    die    Erfahrung,    welche 
noch  lauter  dagegen  warnt,    —    nämlich  wenn  es  am  unrechten  Orte  ge- 
schieht, würden  wir  selbst  geltend  machen,  wenn  es  keiner  vor  uns  getan 
hätte;    aber    alles    dessenungeachtet    durfte   nicht   vergessen    bleiben,    daß 
die  späteren  Knaben-  und  Jünglingsjahre  das  Räsonnieren  ebenso  bestimmt 
nötig  haben,  als  die  früheren  Kinderjahre  es  nicht  vertragen.    Die  Stufen- 
folge   dessen,   was  die  Charakterbildung  erfordert,    die  verschiedenen   Teile 
dessen,    was   sie   successiv   bedarf,    finden  wir  selbst  bei  der  ausführlichen 
Betrachtung    über    Unarten   und    deren  Heilung   nicht   gehörig    entwickelt. 
Wenn    praktische  Erzieher   das   vorliegende  Werk   als   ihren  Ratgeber  ge- 
brauchen   wollen    —    ein    Werk,   dessen    Wichtigkeit   wir   vollkommen   an- 
erkennen — ,  wenn  diese  praktischen  Erzieher  nun  Kinder  vorfinden,  denen 
bis  zum  Aher  von  drei,  von  sechs,  von  neun,  von  zwölf  Jahren  diejenige 
Behandlung,  welche  der  Verf.  vorschrieb,  unglücklicherweise  nicht  zu  teil  ge- 
worden ist,  was  sollen  sie  tun  ?  Wo  ist  nun  Rat  und  Hilfe  für  die  große 
Verlegenheit,  worin  sie  sich  in  unzähligen  Fällen  befinden  werden?  Sollen 
sie  der  Meinung  preisgegeben  werden,    alles  sei  verloren?    Sollen  sie  (um 
nur  das  schon  Erwähnte  als  einzelnes  Beispiel  statt  vieler  anderer  Punkte 
anzuführen)    nicht  räsonnieren   mit  älteren   Knaben,    die  oftmals  selbst  sehr 
viel  und  sehr  falsch  räsonnieren  ?  Die  bloße  Negation  wenigstens  wird  dem 
positiven    Übel    sicher    nicht    abhelfen.      Was    nützen    die    schönsten    Be- 
schreibungen  einer  regelrechten   Erziehung  von  früh  auf,  in  dem  gewöhn- 
lichen Leben,    wo    die  Normalerziehung   die   größte  Seltenheit   ist?    Hätte 
doch  wenigstens  der  Verf.  diejenige  Rückkehr  in  das  reinere,  mehr  kind- 
liche Wesen    beschrieben,    welche    man   da   bemerkt,    wo   auf  schlechtere 
Erziehung  eine  bessere  folgt,  —  gleichsam  einen  verspäteten  Frühling,  der 
in  manchen  Fällen  das  Versäumte  nachholen  hilft,  wenn  auch  der  Schaden 
nie   ganz  ersetzt  wird.      Hätte  er  von  der  so  notwendigen  Beugung  einer 
schon  verwilderten  Natur  unter  männliche  Autorität,  von  ihrer  Erweichung 
durch    milde    Behandlung    gesprochen;    und    die    Phänomene    bezeichnet, 
welche  man  dabei  beobachtet!  Das  wäre  doch  mindestens  ebenso  wichtig 
gewesen,    als   jene    ausführliche    Anthropologie    für    das    unmündige    Kind. 
Moralische  Heilkunde    ist   zwar   der   schwächste  Teil  der  Pädagogik,   aber 
für    den    täglichen    Gebrauch    der    notwendigste    und    von    seiten    dessen, 
welcher   in    ihren   schwerern  Fällen   guten  Rat   zu  erteilen  weiß,    der  ver- 


F.  H.  Ch.  Schwarz:  Erziehungslehre.  237 


dienstlichste.  Ist  aber  hier  guter  Rat  teuer  (und  er  ist  es  nur  zu  gewiß), 
so  lag  es  doch  nahe,  sich  in  den  Fall  einer  Witwe  hineinzudenken,  die 
ihren  Sohn  bis  zum  achten,  neunten,  zehnten  Jahre  sorgfältig  gehütet,  und 
nach  ihrer  Art  erzogen  hat,  jetzt  aber  fragt,  ivie  nun  weiter?  Sollte  wohl 
Hr.  Schw.  sich  begnügen  zu  antworten:  in  die  Schule!  und  in  die 
Kirche  — ?  Gibt  es  weiter  nichts  zu  bedenken?  Bedarf  die  Einwirkung 
von  Schule  und  Kirche  keiner  Beobachtung,  keiner  Berichtigung?  Und 
manche  Väter  zeigen  sich  fast  ebenso  ratlos  als  eine  solche  Witwe. 

Doch  wenn  wir  an  einem  ausgezeichneten,  geist-  und  gemütvollen 
Werke  etwas  vermissen:  so  kann  der  Verf.  uns  erwidern,  man  solle  es  nur 
länger  auf  sich  wirken  lassen,  sich  recht  hineinlesen,  es  wiederholt  und 
auf  verschiedene  Anlässe  von  neuem  benutzen  (welches  allerdings  mehr 
sagen  will,  als  es  rezensieren),  so  werde  sich  gar  vieles,  was  nicht  mit 
ausdrücklichen  Worten  darin  steht,  dennoch  darin  finden;  da  jedes  be- 
deutende Werk  immer  nur  die  Probe  eines  weit  größeren  Gedankenreich- 
tums sein  könne.  Eine  solche  Antwort  in  Ansehung  des  dritten  Bandes 
vorauszusetzen,  wird  uns  eben  nicht  schwer;  nur  würden  wir  etwas  mehr 
Mühe  haben,  sie  auch  auf  den  letzten  Teil  auszudehnen,  welcher  die 
Unterrichtskunst  auf  etwa  300  S.  in  einem  zwar  nicht  lästig  breiten,  doch 
auch  gewiß  nicht  kompendiarischen  Stile  dergestalt  behandelt,  daß  Grund- 
sätze der  Lehrkunst  (betreffend  den  Zögling,  den  Gegenstand  und  das 
Lehrgeschäft)  in  einer  gewissen  Allgemeinheit  vorangehen,  die  sich  selten 
über  das  Bekannte  und  leicht  Zugestandene  erhebt,  dann  die  eigentliche 
Didaktik  in  Ansehung  bestimmter  Gegenstände  vorgetragen  wird,  und 
endlich  noch  zu  allgemeinen  Reflexionen  über  die  Einheit  der  Erziehung 
und  des  Unterrichts  Raum  übrig  bleibt.  Bedenkt  man  nun,  wie  mannig- 
faltige Fragen  und  Zweifel  die  heutige  große  Vielartigkeit  und  Vielförmig- 
keit  des  Unterrichts  nach  den  verschiedenen  Forderungen  und  Bedürf- 
nissen des  Zeitalters  aufgeregt  hat;  so  wird  man  es  kaum  passend  finden, 
wenn  nun  wieder  der  mittlere  Teil,  den  man  wohl  als  den  Hauptteil  der 
Abhandlung  ansehen  muß,  sich  anfangs  lange  mit  den  einzelnen  Sinnen 
aufhält,  mithin  uns  wieder  in  die  frühe  Kindheit  zurückftihrt,  wovon 
späterhin  die  natürliche  Folge  ist,  daß  die  Lehrmethode  für  die  klassischen 
Sprachen  auf  ein  paar  Blättern  abgehandelt  wird.  Und  dabei,  als  ob  es 
darauf  ankäme,  uns  in  Streitfragen  zu  verwickeln,  werden  wir  zum  Ersatz 
des  Mangelnden  auf  Niethammer  und  Thiersch  verwiesen;  zwei  sehr 
achtungswerte  Schriftsteller,  die  jedoch  teils  durch  Rücksicht  auf  das  Eigne 
ihrer  Umgebung  bestimmt  zu  sein  scheinen,  teils  gar  zu  oft  unwillkürlich 
an  das:   audiatur  et  altera  pars!  erinnern. 

Anstatt  nun  in  Ansehung  des  letzten  Teils  uns  in  allerlei  Zweifel 
zu  vertiefen,  betrachten  wir  lieber  noch  einmal  das  Werk  im  ganzen. 
Sichtbar  ist,  daß  es  nicht  auf  einmal,  sondern  zu  sehr  verschiedenen 
Zeiten  geschrieben,  und  von  neuem  überarbeitet  wurde.  Den  Verf.  zog 
anfangs  die  Philosophie  an;  später  stieß  sie  ihn  ab.  Beide  Bewegungen 
(die  uns  nicht  befremden,  und  die  er  mit  vielen  gemein  hat)  entfernten 
ihn,  wenn  schon  auf  verschiedene  Weise,  von  dem  pädagogischen  Ge- 
dankenkreise seiner  Vorgänger.  So  entstand  zwischen  ihm  und  Niemeyer 
(der   mehr    den    Erziehungs-Revisoren    angehört)    eine   merkliche   Distanz, 


238  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

über  welche  er  natürlich  vermieden  hat,  uns  Rechenschaft  zu  geben.  Was 
wird  nun  weiter  geschehen?  Hr.  Geh.  K.-R.  Schw.  bezeichnet  das  Evan- 
gelium als  den  einzig  festen  Punkt  für  die  Pädagogik.  Sollte  er  nicht 
daran  gedacht  haben,  daß  die  theologischen  Streitigkeiten,  deren  Feuer 
noch  weit  mehr  in  der  Tiefe  brennt  als  das  der  philosophischen,  einen 
ihm  unwillkommenen  Einfluß  erlangen  könnten?  Er  selbst  warnt  vor  all- 
zustrenger Konsequenz;  aber  wie  leicht  können  andere  ihm,  dem  Freunde 
des  Humanismus,  seinen  Mangel  an  Konsequenz  vorrücken!  Wie  oft 
schon  hat  das  Heidnische  der  klassischen  Alten  Bedenken  erregt;  wie 
leicht  ist  es,  diesem  Bedenken  durch  Hervorhebung  mancher  Einzelnheiten 
Gewicht  zu  geben;  wie  schwer,  durch  die  Wirkungen  des  gewöhnlichen 
philologischen  Studiums  den  einmal  dagegen  Eingenommenen  eine  schlagende 
Antwort  zu  geben!  —  Von  den  meisten  Pädagogen  aber  werden  ohne 
Zweifel  beide  Werke  von  Niemeyer  und  von  Schwarz  zugleich  benutzt. 
Die  Wirkung  würde  gewinnen,  wenn  beide  sichtbarer  zusammenstimmten. 
Und  gar  leicht,  unseres  Erachtens,  hätte  dafür  gesorgt  werden  können, 
wenn  Hr.  Schw.  von  dem  Vorurteil,  die  Grundbegrifite  vom  Sittlichen  seien 
hohle  Begriffe,  frei  geblieben  wäre.  Hätte  er  den  wahren  Inhalt  dieser 
Begriffe  erkannt;  er  würde  den  Geist  der  christlichen  Sittenlehre  wohl 
nicht  darin  vermißt,  oder  wenigstens  demselben  nicht  fremd  geglaubt  haben. 
Alsdann  möchte  er  auch  gegen  die  Erziehungs-Revisoren  mehr  Gerechtig- 
keit geübt  haben,  in  deren  freundlichen  Bund  nicht  bloß  Trapp  und 
ViLLAUME,  sondern  auch  Gedike,  Ehlers,  Resewitz  aufgenommen  waren. 
Und  wie  oft  hat  gerade  auch  Campe  gegen  die  Frivolität  seiner  Zeit  ge- 
eifert; und  wieviel  Ursache  haben  wir,  es  in  Rechnung  zu  bringen,  daß 
niemals  einer  von  den  Fehlern,  die  er  selbst  dem  Zeitalter  vorrückt,  ganz 
frei  zu  bleiben  pflegt!  Wieviel  Tadel  wird  noch  von  der  Nachwelt  das 
junge  neunzehnte  Jahrhundert  erfahren,  was  sich  so  gern  recht  selbst- 
gefällig dem  achtzehnten  entgegenstellt!  Wäre  Pädagogik  ein  philosophisches 
System:  alsdann  würde  der  Unterzeichnete  auf  strenge  Losreißung  von 
früheren  Irrtümern  dringen;  aber  sie  ist  eine  praktische  Wissenschaft, 
welcher  es  wichtig  ist,  daß  man  die  Kontinuität  ihrer  Fortbildung  stets 
anerkenne,  damit  kein  unnötiges  Mißtrauen  ihr  entgegenwirke.  Allein  für 
die  Pädagogik  gibt  es  eine  andere  Kontinuität,  die  ihr  noch  wichtiger 
ist,  als  jene  historische;  nämlich  die  psychologische.  Um  sich  diese  zu 
sichern,  hat  Hr.  Schw,  gleich  anfangs  die  gesonderten  Seelenkräfte  ins 
Gebiet  der  Abstraktionen  verwiesen;  „nur  die  gewöhnliche  Täuschung 
(sagt  er  mit  Recht)  nimmt  die  Abteilungen  der  Gemütsvermögen  als 
wirklich  im  Wesen  des  Geistes  vorhanden  an;  indem  sie  das  Denken  über 
dieses  Wesen  mit  demselben  selbst  verwechselt.^'  Mit  dieser  Erklärung  (die 
schon  mancher  leichtsinnig  ausgesprochen  hat,  als  ob  die  bloße  Negation 
eine  wirkliche  Leistung  wäre)  übernahm  Hr.  Schw.  die  Verpflichtung,  das 
Mannigfaltige  im  menschlichen  Geiste  als  ein  Ztisaitimenhängendes  ^  und 
von  der  Erziehung  vielfach  Abhängeiides ,  durch  sie  Beivegliches,  darzustellen. 
Ob  er  das  Gewicht  dieser  Verpflichtung  ganz  empfunden  habe,  lassen  wir 
dahingestellt;  allein  mit  Vergnügen  bezeugen  wir,  daß  er  dieselbe  weniger 
verletzt,  ja  in  Erfüllung  derselben  es  merklich  weiter  gebracht  hat,  als 
man  es  sonst  gewohnt  ist,  und  als  bei  seinen  doch  immer  unzulänglichen 


F.  H,  Ch.  Schwarz:  Erziehungslehre.  239 


Hilfsmitteln    zu    vermuten    war.      Nur    durch    eine    besonders    auf  diesen 
Punkt   gerichtete   Sorgfalt,    verbunden   mit   langer  Erfahrung,    genauer  Be- 
obachtung, ausgebreiteter  Belesenheit,  vielfach  erneuerter  Forschung,  kann 
er   es   erreicht   haben,   bei    zahllosen  Ungenauigkeiten    im  einzelnen,   doch 
ein  im  ganzen  so  ähnliches  Bild  des  menschlichen  Geistes  hervorzubringen, 
dessen  Gesamteindruck  dem  praktischen  Erzieher  wesentliche  Erleichterung 
in   seinem   schwierigen  Geschäfte   gewähren   kann.     Wir   erinnern  hier  an 
die  gleich  anfangs  erwähnten  zwei  Seiten  der  Pädagogik ;  die  ethische  und 
die   psychologische.     Von  der  ethischen  Seite  betrachtet,   möchte  wohl  in 
manchen  Punkten  Niemeyer  vor  Schwarz  einen  Vorzug  in  Hinsicht  der 
Form   und    der    deutlichen  Aussage  behalten;    —    der  gute  Geist  ist  beiden 
gemein,  und  es  wird  wohl  niemandem  einfallen,  hierin  zwischen  den  beiden 
ehrwürdigen    und    hochverdienten    Männern    einen    Unterschied    aufweisen 
zu   wollen.     Indessen   ist   die  Form    insofern   wichtig,    als   sie  demjenigen, 
der   Rat    sucht,    es    erleichtert,    eine  Antwort   auf  seine  Frage   zu   finden; 
und    da    möchte  Niemeyer,    besonders   auch   wegen   der  Gleichförmigkeit 
in    der  Ausarbeitung  aller  Teile  seines  Werkes,    wohl  seltener  in  den  Fall 
kommen,    den   Anfragenden    ohne   Bescheid    zu    entlassen;    wiewohl    nicht 
unbemerkt    zu   lassen   ist,    daß   Niemeyrs   Erfahrungskreis   einer  Zeit   an- 
gehört,   die  uns  allmählich  fremder  zu  werden  beginnt,  je  weiter  wir  uns 
von    ihr    entfernen.     Hr.  Schw.    verlangt   mehr,    daß   sein  Leser   sich   erst 
gewöhne,  mit  ihm  zu  denken,  und  von  seinem  Standpunkte  den  mensch- 
lichen Geist   zu   betrachten.     Und   von   der  psychologischen  Seite  möchte 
wohl   unleugbar   der    Vorzug   anzuerkennen    sein,    den   sich  Hr.  Schwarz 
erworben  hat.     Aber  der  Wahn,  als  ob  wir  nun  schon  durch  die  beiden 
trefflichen   Männer    eine    zidätigliche   Pädagogik   besäßen,    muß    noch    weit 
und  lange  entfernt  bleiben.    Wer  praktischer  Erzieher  ist,  kann  in  diesen 
Wahn  gar  nicht  geraten;  unser  Wissen  läßt  uns  zu  oft  im  Stich,  als  daß 
wir  über  seine  Unvollständigkeit  uns  täuschen  könnten;  höchstens  können 
wir  mit  den  Ärzten,  denen  es  nicht  besser  geht,  uns  trösten.    Auch  teilte 
bekanntlich  Jean  Paul  Richter  seine  Levana  nicht  in  Abschnitte,  sondern 
in    Bruchstücke,    damit    durch    das   ganze    Buch    eine    Erinnerung    an    das 
Mangelhafte    hindurchlaufen    möge.      Und    eine    solange    fortgesetzte    Be- 
scheidenheit  wird  niemand  für  erkünstelt  halten;   sie  war  notwendig,  und 
ging   aus   der  Sache   hervor.     Gleichwohl   hat   eben   diese  Sammlung   von 
Bruchstücken  ein  ganz  vorzügliches  Ansehen  bei  den  Pädagogen  gewonnen ; 
welches    nicht  möglich  gewesen  wäre,   wenn  sie  schon  etwas  Vollständiges 
und  Zulängliches   gehabt   hätten.     Wir   müssen   also   auch  hier  willig  sein 
zu    dem    Bekenntnisse:    unser    Wissen    ist  Stückwerk.      Allein    Bekenntnisse 
dürfen    nicht    leichtsinnig   abgelegt   werden,    wie   wenn  es  nun  damit  gut, 
und  genug  wäre.    Das  verbietet  uns  gerade  die  Pädagogik  mit  dem  größten 
Nachdruck;  denn  die  Erziehung  geschieht  fortdauernd  und  muß  geschehen; 
wir  können  und  dürfen  in  ihr  nicht  ruhen.    Und  die  Erziehung  ist  ein  großes 
Ganze,  an  welchem  kein  Teil  fehlen  darf.    Frühere  Mängel  müssen  bei  ihr 
nach  Möglichkeit  ersetzt,  gute  Erfolge  müssen  aufrecht  erhalten  werden ;  dazu 
gehört  eine  mannigfaltige  Geschicklichkeit,  um  die  verschiedenen  Alter,  die 
verschiedenen  Individuen  richtig  zu  behandeln.    Oft  genug  tritt  es  hervor, 
daß    einer    das    Kind    richtig    erzogen,    in    den   heranwachsenden   Knaben 


240  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


sich  aber  nicht  zu  finden  weiß  und  ihn  falsch  behandelt.  Oft  taugt  ein 
anderer,  Jünglinge  zu  fördern,  der  den  kleinen  Knaben  nicht  zu  berühren 
versteht,  und  ihn  abstößt,  anstatt  ihn  lenken  zu  können.  Oft  arbeitet 
eine  Reihe  von  Lehrern  sich  müde,  um  aus  einem  Individuum  etwas  zu 
machen,  was  nicht  daraus  werden  kann.  Ein  andermal  ist  ein  Knabe 
ganz  unlenksam,  bis  der  rechte  Mann  ihn  beim  ersten  Griffe  faßt.  Nicht 
selten  belohnt  sich  die  geduldig  verlängerte  Sorgfalt  allmählich,  wo  längst 
die  Zuschauer  alle  Hoffnung  aufgaben.  Manchmal  scheint  auf  einmal  die 
Frucht  einer  langen  Mühe  verschwunden;  und  später  wirken  dennoch 
die  empfangenen  besseren  Eindrücke  nach;  der  Gefallene  steht  auf  und 
geht  seinen  Weg  wie  ein  anderer.  Umgekehrt  wandert  manches  Indi- 
viduum immerfort  auf  der  vorgezeichneten  Bahn  und  gelangt  doch  nur 
bis  zu  einer  unerfreulichen  Mittelmäßigkeit.  Hr.  Schw.  selbst  spricht  von 
Erfahrungen,  welche  das  Kreuz  der  Erziehungslehrer  sind  (S.  2"]  des 
3.  Bandes),  indem  auf  der  einen  Seite  aus  Kindern,  die  „vor  den  Gästen 
das  Fleisch  vom  Tische  nahmen  und  unter  dem  Tische  verzehrten,"  doch 
gute  Menschen  wurden;  auf  der  andern  Seite  „Kinder  mißraten,  welche 
man  nach  dem  durchdachtesten  Plane  behandelte".  Hier  vereinigen  sich 
Zeugnisse  von  Schwarz  und  Niemeyer,  wir  könnten  ähnliche  aus  eigner 
Erfahrung  hinzusetzen.  Läge  nicht  in  solchen  Anomalien  die  dringendste 
Aufforderung,  den  menschlichen  Geist  genauer  zu  studieren,  wie  hätte  der 
Unterzeichnete  dazu  kommen  sollen,  sich  über  Psychologie  gegen  alle 
Vorurteile  des  Zeitalters  in  Streit  zu  setzen?  Es  war  ja  vorauszusehen, 
daß  manche  mit  größter  Dreistigkeit  streiten  würden,  ohne  nur  die  nötigsten 
Vorkenntnisse  dazu  mitzubringen.  Es  stand  zu  erwarten,  daß  selbst  die 
Besten  und  Behutsamsten,  sich  doch  nicht  des  Einflusses  erwehren  würden, 
welchen  die  einmal  gewohnte  Reminiscenz  an  das  Fichtesche  Ich  da  ausübt, 
wo  alles  darauf  ankommt,  sich  ihr  auf  das  Bestimmteste  entgegenzusetzen. 
Hai  das  Treiben  imd  Tun,  das  Reflektieren  und  Wollen  jenes  idealistischen 
Ich  den  praktischen  Pädagogen  auch  nur  das  Geringste  geholfen  ?  Hat  es  die 
Erfahrungen  begreiflich  gemacht,  die  sich  ihnen  täglich  aufdringen?  —  Wo 
nicht:  so  mögen  wenigstens  die  Pädagogen  sich  hüten,  jene  Reminiscenz 
da  einzumengen,  wo  auf  der  einen  Seite  von  der  Substanz  der  Seele,  auf 
der  andern  von  Vorstellungsreihen  und  Vorstellungsmassen  die  Rede  ist, 
die  einander  in  der  einen  Seele  unmittelbar  gegenwärtig  sind,  und  die 
mit  allen  ihren  mannigfaltigen  Bewegungen  nur  dahin  streben,  alle  zu- 
sammen in  einen  einzigen  ungeteilten  Zustand  der  Seele  überzugehen;  wozu 
sie  jedoch  aus  einem  zwiefachen  Grunde  nicht  gelangen  können,  teils 
nämlich  wegen  ihrer  gegenseitigen  Hemmungen,  teils  wegen  der  ihnen 
fremdartigen  Hemmung  von  Seiten  des  Leibes.  Denn  auf  diese  letztere 
ist  im  voraus  gerechnet:  dergestalt,  daß  sich  die  Einwürfe  der  Physiologen 
nur  in  Bestätigungen  verwandeln  können.  Ein  einziges  Beispiel  mag  hier 
Platz  finden;  es  ist  von  Abercrombie.  Ein  Wundarzt  fällt  vom  Pferde,  er 
behält  Besinnung  genug,  um  die  ihm  nötige  Behandlung  anzuordnen; 
aber  weiß  nichts  mehr  von  Frau  und  Kindern;  hieran  besinnt  er  sich  erst 
am  dritten  Tage  nach  wiederholtem  Aderlaß.  Kein  Wunder!  dem  Arzte 
vergegenwärtigen  sich  beim  eignen  Unfälle  zuerst  die  medizinischen  Ge- 
danken;   ihnen   folgsam,   nimmt   das   Gehirn    den   entsprechenden   Zustand 


F.  H.  Ch.  Schwarz:  Erziehungslehre.  24 1 

an;  ebenso  folgsam  würde  ein  gesundes  Gehirn  bei  der  Erinnerung  an 
Frau  und  Kinder  sich  dem  dazu  gehörigen  Affekte  anbequemt  haben;  aber 
das  kranke  versagt  die  Veränderung,  de7i  Übergang;  mithin  muß  die  hier- 
durch bedingte  Vorstellungsmasse  gehemmt  bleiben,  solange  bis  der  Aderlaß 
den  Druck  des  Blutes  hinweggenommen,  und  dem  Gehirn  seine  Beweg- 
lichkeit zurückgegeben  hat.  Nicht  weit  hiervon  sind  die  bekannten  Historien 
von  den  Wahnsinnigen.  Zwar  bei  diesen  wechseln  meistens  die  Vor- 
stellunssmassen  ihren  Platz  im  Bewußtsein;  aber  die  fixe  Idee  führt,  so 
oft  sie  eintritt,  ihren  Affekt  mit  sich,  und  der  hiermit  verbundene  Zustand 
des  Gehirns  ist  insoweit  starr  geworden,  daß  er  nicht  in  den  entgegen- 
gesetzten übergehen  kann,  welchen  die  Widerlegung  des  Irrtums  durch 
Veränderung  in  der  Konstruktion  der  nämlichen  Vorstellungsmasse  herbei- 
führen müßte.  Die  Folge  liegt  am  Tage:  auch  die  leichteste  Wider- 
legung kann  von  dem  Wahnsinnigen  nicht  verstanden  werden.  Leider 
sind  solche  Dinge  hier  nicht  fremd;  der  praktische  Erzieher  hat  nicht 
nötig,  dergleichen  von  den  Physiologen  zu  lernen.  Er  sieht  täglich  das 
partielle  Wirken  der  viel  zu  sehr  vereinzelten  Vorstellungsmassen  auch  in  den 
gesundesten  seiner  Zöglinge.  Geschmack  an  Kunst  und  Wissenschaft  bleibt 
aus,  weil  die  gewünschte,  erwartete  Durchdringung  der  Vorstellungen  bald 
in  diesem,  bald  in  jenem  Punkte  nicht  so  erfolgt,  wie  sie  soll,  und  wie 
sie  den  recht  guten  Köpfen  natürlich  ist;  die  besten  Vorsätze  bleiben 
unwirksam  in  dem  Leichtsinnigen,  welchem  das  fehlt,  was  Hr.  Schw.  uns 
erlaubt  Gedächtnis  des  Willens  zu  nennen.  Und  sehr  richtig  lehrt  Hr. 
Schw.  (S.  51),  man  solle  das  Kind,  was  sich  schon  in  einem  gereizten 
Zustande  befinde,  nicht  zugleich  in  einen  andern  gereizten  setzen.  So 
bricht  stellenweise  dem  praktischen  Erzieher  das  Licht  durch  die  Wolken, 
einzelne  Punkte  der  wahren  Psychologie  erhellend;  deren  Elemente  von 
unbefangenen  Köpfen  bald  weit  weniger  schwer,  als  jetzt,  würden  befunden 
werden,  wenn  sie  die  gehörige  mathematische  Vorübung  mitbrächten,  ohne 
welche  in  diesem  Felde  nun  einmal  kein  sicheres  Lehren  und  Lernen 
möglich  ist.  Da  man  jedoch  hierauf  gerade  bei  denen,  die  sich  in  päda- 
gogischer Absicht  an  Psychologie  wenden,  heutigestages  am  wenigsten 
zählen  darf:  so  ist  es  um  desto  mehr  erwünscht  und  erfreulich,  daß  in 
unserm  vorliegenden  Werke  solche  Darstellungen  enthalten  sind,  die  wenn 
nicht  streng  für  psychologisch,  dann  doch  für  anthropologisch  richtig 
können  genommen  werden.  Denn  bei  dem,  was  wir  hier  von  Keimen, 
Trieben  usw.  lesen  (den  Resten  einer  sogenannten  dynamisclmi  Philosophie), 
kann  es  dem  praktischen  Erzieher  ziemlich  gleichgültig  sein,  ob  dergleichen 
ursprünglich  in  der  Seele  oder  vielmehr  der  Wahrheit  gemäß  im  Leibe 
ihren  Sitz  haben;  welches  letztere  uns  die  Physiologen  sehr  gern  einräumen 
werden,  aber  schwerlich  ohne  ein  Mißverständnis  daran  zu  heften.  Genug, 
der  praktische  Erzieher  sieht  den  wirklichen  und  ganzen  Menschen  un- 
gefähr also  von  innen  getrieben,  aber  auch  von  außen  beweglich,  wie 
unser  Verf.  ihn  beschreibt.  Nur  müssen  wir  warnen,  beim  Gebrauche 
des  vorliegenden  Werkes  nicht  Einzelnes  herauszuheben,  um  es  mit  strenger 
Konsequenz,  gegen  die  Absicht,  zu  weit  zu  verfolgen.  Hr.  Geh.  K.-R. 
Schw.  hat  alle  die  mannigfaltigen  Studien,  die  nach  und  nach  auf  ihn 
Einfluß   hatten,    dergestalt   verknüpft,    und   durcheinander   beschränkt   und 

Hbrbarts  Werke.    XIII.  16 


2A2  J-  F«  Herbarts  Rezensionen. 


gemäßigt,  daß  sie  gleich  einer  wohl  zusammengesetzten  Arznei  gerade  in 
dieser  Verbindung  ihre  rechte  Wirkung  tun.  Emseitigkeit  ist  derjenige 
Fehler,  gegen  welchen  er  selbst  durchgehends  am  meisten  warnt;  und 
diese  Warnung  muß  sein  Leser  im  Auge  behalten. 

Im  Augenblicke,  da  diese  Rezension  sollte  geschlossen  werden,  nahm 
der  Unterzeichnete  noch  die  christliche  Ethik  des  Verfs.  zur  Hand,  mit  der 
Hoffnung,  einen  Punkt  in  dem  Vorstehenden  mit  Überzeugung  abändern 
zu  können.  Zum  Zeichen  hiervon  sollen  wenige  Worte  daraus  hergesetzt 
werden.  Kant  hat  seinen  kategorischen  Imperativ  in  mehreren  Formeln 
abgefaßt,  um  in  die  an  sich  leere  Form  eine  Füllung  zu  bringen"  (S.  127). 
Natürlich  sucht  man  nun  nach  der  Füllung.  Und  S.  165  lesen  wir:  „In 
dem  Gewissen  offenbart  sich  Gott  jedem  Menschen.  Insofern  ist  es  un- 
trüo-lich  Aber  es  ist  insoferti  nur  erst  die  Form.  Der  Inhalt  seiner  Aus- 
Sprüche  beruht  auf  dem  Vernehmen  und  Nachdenken  der  Menschen.  Da 
nun  ein  jeder  nach  seiner  Individualität  die  Stimme  der  ewigen  Wahrheit 
aufnimmt,  so  ist  insofern  das  Gewissen  trüglich.''  Hiermit  war  die  er- 
wähnte Hoffnung  verscheucht.  Hätte  der  Verf.  das  Vernehmen  von  dem 
Nachdenken  wenigstens  sorgfältig  getrennt,  so  ließe  sich  noch  eine  entfernte 
Möglichkeit  denken,  ihm  von  der  moralischen  Seite  näher  zu  kommen. 
Statt  dessen  findet  sich  S.  171  die  Behauptung,  der  Mensch  lerne  zuerst 
sein  Gewissen  kennen,  wenn  er  etwas  Böses  begangen  hat.  Das  sei  genug. 
Die  Erziehungslehre  des  Hrn.  Schw.  ist  darum  nicht  weniger  schätzbar,  wenn 
man  auch  über  systematische  Formen  und  Begründungen  anders  denkt  als 
er;  und  die  Sittenlehre  wird  durch  ihn  nicht  trüglich  werden,  wenn  es  auch 
scheint,  als  hielte  er  das  Gewissen  für  einen  Gerichtshof  ohne  Gesetzbuch. 
Die  Grundzüge  der  wahren  Ethik  könnten  wir  ihm  leicht  in  seiner  eigenen 
Erziehungslehre,  soweit  sie  hinein  gehören,  wirklich  nachweisen,  wenn  der 
Raum  es  erlaubte. 


Drobisch,  Moritz  Wilhelm,  Professor  der  Mathematik  an  der  Uni- 
versität zu  Leipzig,  Philologie  und  Mathematik,  als  Gegen- 
stände des  Gymnasial-Unterrichts  betrachtet;  mit  be- 
sonderer Beziehung  auf  Sachsens  Gelehrtenschulen.  — 
Leipzig  bei  Knobloch,  1832.  VII  und  103  S.  8  (14  Gr.). 
Gedruckt  in:    Hallische  Literatur-Zeitung  1832,  Nr.   150,   151.     SW.  XII.  S.   714. 

Die  Gymnasien,  in  ihren  jetzt  gewöhnlichen  Verhältnissen,  erscheinen 
als  Behausungen,  die  allmählich  zu  eng  geworden  sind  für  die  verschiedenen 
Einwohner,  die  sich  darin  angesiedelt  haben.  Jene  Zeit,  da  die  Philologen 
allein,  dem  Latein  das  Griechische  weit  nachsetzend,  gemächlich  darin 
wohnten,  läßt  sich  schwerlich  zurückführen;  sie  selbst  machen  größere 
Ansprüche  an  Vollständigkeit  und  Genauigkeit;  und  neben  der  Philologie 
macht  die  Geschichte  sich  wichtiger  als  vormals,  die  Naturwissenschaft 
interessanter,  die  Mathetnatik  notwendiger.  Alles  ermahnt  uns,  zu  be- 
denken, wie  vergeblich  es  sei,  irgend  eine  Vergangenheit  wieder  in  Gegen- 
wart verwandeln  zu  wollen.      Nun  leuchtet  zwar  ein,  daß  die  Anzahl  von 


Moritz  Wilhelm  Drobisch:  Philologie  und  Mathematik.  243 


Lehrstimden,  deren  jeder  bedarf,  von  zweien  Bedingungen  abhängt,  nämlich 
von  den  Fälligkeiten  der  Schiller  und  von  den  Methoden  der  Lehrer;  wo- 
bei noch  überdies  die  Familien  -  Erziehung  hinter  dem,  was  in  der  Schule 
als  Empfänglichkeit  des  Schülers  erscheint,  verborgen  liegt.  Allein  solange 
die  Gymnasien  unbedingt  zugänglich  sind  --  solange  dem  Bedürfnisse 
solcher  Familien,  die  für  ihre  Kinder  vielmehr  Bildung  als  Gelehrsamkeit 
suchen,  nicht  zweckmäßiger  abgeholfen,  solange  der  mögliche  Fall  eines 
späteren  Eintritts  im  Gymnasium  nicht  genauer  berücksichtigt  wird  — ,  so- 
lange also  auch  für  die  Gymnasien  keine  Auswahl  stattfindet,  nach  den 
Fähigkeiten  und  nach  dem  Grade  ihrer  Entwicklung:  dürfte  es  wohl  un- 
vermeidlich bleiben,  daß  jede  Beratung  verschiedener  Gelehrten  über 
Lehrpläne  (wie  Rez.  es  aus  mancher  Erfahrung  weiß)  auf  den  Wunsch 
führt,  der  Tag  möchte  achtundvierzig  Stunden  haben.  Solche  Schüler, 
welche  im  stillen  die  Uniform  oder  das  Landleben  oder  das  Comptoir 
im  Auge  festhalten,  in  Verbindung  mit  andern,  deren  Entwicklung  sich 
verspätet,  verrücken  zu  sehr  den  Maßstab^  nach  welchem  die  mittlere  Ge- 
schwindigkeit der  Fortschritte  geschätzt  wird,  als  daß  man  unter  den 
jetzigen  Umständen  auf  Erfahrungen  hoffen  könnte,  die  im  stände  wären, 
den  Streit  der  Wissenschaften,  welche  sich  in  die  Schulstunden  teilen 
wollen,  zu  schlichten  oder  auch  nur  zu  besänftigen.  Im  Gegenteil,  die 
Ansprüche  von  allen  Seiten  sind  fortdauernd  im  Wachsen  begriffen;  und 
es  läßt  sich  nicht  vorhersehen,  mit  welchem  Glücke  man  in  diesem 
Falle  das  alte  Recht  gegen  die  neuen  Forderungen  wird  behaupten  können. 
Das  juste  milieu  aber  pflegt  nun  vollends  in  solchem  Streite  keine  vor- 
teilhafte Stellung  zu  gewähren. 

Die  vortreffliche  Schrift,  welche  hier  angezeigt  worden,  entbehrt  zwar 
auch  des  oratorischen  Vorteils,  der  äußersten  Rechten  oder  Linken  an- 
zugehören. Sie  spricht  vielmehr  mit  Nachdruck  für  beide  Parteien  zu- 
gleich; und  verlangt  zu  Gunsten  derjenigen  Seite,  woher  sie  kommt,  im 
Grunde  nichts  weiter  als  das  schon  Zugestandene.  Jedoch  erwähnt  die 
Vorrede  deutlich  der  Pflicht,  im  Kampfe  gegen  Vorurteil  und  Trägheit 
nicht  müde  zu  werden.  Der  Verf.  findet  sich  veranlaßt,  „unumwundener 
zu  sprechen,  als  es  seiner  friedliebenden  Gesinnung  sonst  natürlich  ist;" 
er  fordert,  daß  auf  den  Gymnasien  Mathematik  mit  den  alten  Sprachen 
gleich  gestellt  werde,  —  wobei  wir  jedoch  zu  bemerken  haben,  daß  die 
geforderte  Stundenzahl  für  Mathematik,  nämlich  wenigstens  vier  und 
höchstens  sechs  Stunden  wöchentlich,  uns  keine  der  Philologie  irgend 
lästige  Beschränkung  anzukündigen  scheint.  Die  ganze  Abhandlung  zer- 
fällt in  vier  Abschnitte.  Der  erste  stellt  philologisch  -  historische  und 
mathematisch  -  physische  Wissenschaften  einander  gegenüber  nach  Ver- 
schiedenheit ihres  Ursprungs,  ihrer  Richtung,  Methode,  ihres  Einflusses. 
Der  zweite  betrachtet  Philologie  und  Mathematik  als  Grundlagen  des  ge- 
lehrten Unterrichts.  Der  dritte  schildert  den  Zustand  des  mathematischen 
Gymnasial-Unterrichts  im  Königreiche  Sachsen;  woraus  die  lokalen  Ver- 
anlassvmgen  der  ganzen  Schrift  (und  solche  muß  man  gar  oft  bei  Schriften 
über  das  Schulwesen  im  Auge  behalten,  um  sie  nicht  unrichtig  auszulegen) 
nur  zu  deutlich  erhellen.  Der  vierte  Abschnitt  endlich  enthält  die  Vor- 
schläge zu  Verbesserungen.    Im  ersten  Abschnitte  tritt  eine  etwas  scharfe 

16* 


244  J"  ^'  Herbarts  Rezensionen. 


Rüge  der  ungleich  verteilten  Sorgfalt  hervor,  womit  die  Philologen  an  die 
alten    Autoren    gehen.     „Was    zur    Herausgabe    der   griechischen    Mathe- 
matiker   geschehen    ist,    das   haben   fast   allein    des    Griechischen    kundige 
Mathematiker  getan."    Hier  wird  eine  Stelle  aus  Ruhnkens  elogium  Hem- 
sterhusii    angeführt,    worin    es    heißt:    Veteres    hoc    humanitatis    Studium 
sapientissimo  consilio  tam  late  patere  voluerunt,  ut  et  mathematicas  artes 
et  philosophiam    omnem   complecteretur.      Verum    brevi    post   exorti   sunt 
literatores^  qui,  finibus   illis  latioribus  per   summam   ignaviam   contrahendis, 
sibi    servarent   grammaticos,   oratores,    poetas,    historicos;    valere   iuberent 
mathematicos    et     philosophos.       Indessen    möchte     eine    Philologie,     die 
sich  als  solche  der  Mathematik,    nämlich   ausschließlich    der  alten  Mathe- 
matik   zuwenden    würde,    Hrn.     Prof.    Drobisch     selbst    nicht     genügen. 
Er  sagt  von  der  Philologie:    „zu  dem  Sachwert,    den  Kunst  und   Wissen- 
schaft   bestimmen,    legt    sie    noch    den    Wert    des    Altertümlichen   in    die 
Wagschale.      Ihr    Ziel   ist,    ein    möglichst   anschauliches    Bild    vom  Leben 
des    Altertums    zu   gewinnen,    sich   geistig   zuriickzuleben    nach  Latium    und 
Hellas.     Die   mathematisch -physischen   Wissenschaften  dagegen    sind    auf 
die  Zukunft  gerichtet."    Wollten  wir  hier  auf  pädagogische   Betrachtungen 
eingehen  (die  ohne  Zweifel  dem  Verf.  zu  fern  lagen),   so  könnten  wir  es 
gelten  machen,  daß  dem  Knabenalter  ein    ruhiges  Verweilen   in  der  Ver- 
gangenheit  im   ganzen  besser  zusagt,    als  ein  beschleunigtes  Hinausschauen 
in  die  Zukunft.      Heutiges   Leben,    wie    in    der    Gesellschaft,    so   auch  in 
Wissenschaft   und    Kunst,    ist   selbst  dem  Jünglinge,    vollends    aber    dem 
Knaben,    noch    großenteils    ein    Geheimnis.     Für   denjenigen   Blick   in  die 
Zukunft,    dessen    sich    der  Meister    erfreut,    hat    der    Schüler    noch   kein 
Analogon;    ihm  ist  Zukunft,   was  jenem   Gegenwart.     Wenn    aber  freilich 
die    Philologen    bemüht    sind,    sich    geistig    zurückzuleben :    so    muß    man 
wünschen,   daß  sie  nicht  auch    den  Knaben   und    den  Jüngling  rückwärts 
ziehen;    denn    die   Richtung    der  Bewegung   geht   im  Jugendalter  jederzeit 
vorwärts ;  nur  der  jedesmalige  Standpunkt  des  Knaben  und  Jünglings  liegt 
noch  in  der  Vergangenheit,    weil  er  noch  nicht  da,    wo  sich  die  heutige 
Generation  der  Erwachsenen  befindet,  anlangen  konnte.    Allerdings  möchte 
eine  schärfere  Überlegung  dieses    Umstandes  nicht   ohne  Einfluß   auf  die 
Art  des  Gymnasialstudiums  sein;  jedoch  würde  der  Mathematik  so  wenig 
als    der   Philologie   dadurch   Eintrag   getan   werden,    wenn    beide   gemein- 
schaftUch    zwar    den    Standpunkt   des    Gymnasial- Unterrichts    in    der  Ver- 
gangenheit, aber  die  Richtung  des  Blicks  in  die  Zukunft  hinaus  annehmen. 
Da  nun  hiermit  dem  Verfasser  keineswegs  widersprochen  wird,  so  lassen 
wir,    das   vorige    beiseite  setzend,   nunmehr  Hrn.  Prof.  Drobisch  im  Zu- 
sammenhange  reden:    „Die    Philologie    rühmt    sich,    nach    der    sternlosen 
Nacht  des  Mittelalters  zuerst   wieder  das  Licht   der  Wissenschaften  durch 
das  Studium    der   Alten   entzündet,   später    in    der   Zeit   der    Reformation 
durch    gründliche   Sprachkunde   die    hellere    Fackel    entflammt    zu    haben; 
und  so  der   mächtigste    Hebel    der  Denkfreiheit   geworden    zu  sein.     Wir 
sind  sehr  bereit,  diese  Verdienste  mit  gewisser  Beschränkung  anzuerkennen. 
Womit  anders  als  mit  dem  Studium   der   frohen    und   freien    Alten   hätte 
in  der  Zeit  des  Feudalsystems,  des  Papst-  und  Mönchtums,  die  Wieder- 
herstellung der  Wissenschaften  beginnen  sollen?  Aber  auch  nur  begin7ien\ 


Moritz  "Wilhelm  Drobisch:  Philologie  und  Mathematik.  245 


Auch  war  hier  nicht  vom  Sprachstudium  als  Zweck  an  sich  die  Rede, 
sondern  als  Mittel,  sich  den  Inhalt  der  alten  Schriften  bekannt  zu  machen 
und  anzueignen.  Fortsetzen,  was  die  Alten  abgebrochen,  erweitern  und 
vollenden,  was  sie  nur  angefangen  hatten,  darauf  kam  es  an,  wenn  die 
Wissenschaften  blühen  sollten.  Dazu  hatten  in  der  Mathematik,  Astro- 
nomie, Arzneikunde,  die  Araber  bereits  einen  Anfang  gemacht;  und  erst 
dann,  als  ein  Regiomontan  und  Purbach,  ein  Baco,  ein  Boyle,  Coper- 
Nicus,  Keppler,  Galilei  u.a.  im  15.,  lö.  und  17.  Jahrhunderte  in  den 
mathematischen,  physischen,  astronomischen  Wissenschaften  mehr  geleistet 
hatten,  als  die  Griechen,  Römer  und  Araber,  konnte  man  die  Wissen- 
schaften als  wiederhergestellt  betrachten.  Nicht  anders  war  es  in  den 
Zeiten  der  Reformation.  Die  frei  werdende  Vernunft  übte  sich  zuerst 
an  dem  Stoffe  der  heil.  Schrift ;  und  dazu  bedurfte  sie  der  Sprachen,  die 
Luther  mit  Recht  pries  und  als  den  kräftigsten  Zauberbann  gegen  den 
Fürsten  der  Finsternis  anempfahl.  Aber  der  gelehrtere  Melanchthon  schon 
wußte  neben  den  Sprachen  die  Real  Wissenschaften  zu  schätzen,  und  an 
vielen  Stellen  seiner  Schriften  finden  sich  die  eindringlichsten  und  wärmsten 
Ermahnungen  zum  Studium  besonders  der  mathematischen  Disziplinen. 
—  Unaufhaltsam  und  unaufgehalten  haben  sich  in  den  letzteren  zwei 
Jahrhunderten  Mathematik  und  Naturwissenschaften  zu  einer  früher  un- 
geahneten  Höhe  emporgearbeitet,  und  eine  reale  Solidität  und  Klassizität 
erlangt,  die  sich  mit  der  ästhetischen  Klassizität  der  alten  Literatur  messen 
kann."  Nach  solcher  Vorbereitung  treten  wir  in  den  zweiten  Abschnitt 
ein,  den  wir  als  den  wichtigsten  betrachten.  „Ein  Weltmann  (heißt  es 
dort),  etwa  ein  gebildeter  Bürger  der  vereinigten  Staaten,  wenn  er  zu 
uns  nach  Deutschland  käme  und  in  Erfahrung  gebracht  hätte,  wie  all- 
seitig wir  es  mit  der  Gelehrsamkeit  nehmen,  würde  nun  etwa  meinen, 
auf  Gymnasien  und  Universitäten  würden,  abgesehen  von  Brot  Wissen- 
schaften, im  ganzen  dieselben  Wissenschaften  betrieben,  nur  mit  Ver- 
schiedenheiten dem  Grade  und  Geiste  nach.  Bekanntlich  ist  dem  nicht 
also.  Philologische  Lehrer  schmähen  auf  den  Real-Unterricht;  sie  reden 
von  philanthropischen  Unternehmungen,  die  zur  Seichtigkeit  führen.  Aber 
bei  aller  Richtigkeit  der  Maxime:  multum,  non  multa!  kann  doch  andrer- 
seits das  Zuviel  in  der  Philologie  nicht  abgeleugnet  werden,  wobei  ent- 
weder für  andere  Dinge  keine  Zeit  übrig  bleibt,  oder  der  Schüler  so  ab- 
gemattet die  U?iiversität  bezieht,  daß  er  tief  aufatmend  den  Entschluß  faßt, 
sich  dafür  nun  ein  paar  Jahr  durch  ein  lustiges  Studentenleben  —  aus 
dem  im  unglücklichen  Falle  ein  wüstes  wird  —  zu  erholen.^'  Nun  folgen 
Warnungen  gegen  jenes  Zuviel;  zunächst  gegen  kritische  und  poetische 
Aufgaben.  Die  ersten  erzeugen  einen  mikroskopischen  Kleinigkeitsgeist, 
der  vor  lauter  Subtilität  nicht  von  der  Stelle  kommt.  Die  Geometrie  ist 
gewiß  auch  genau;  aber  sie  weiß  darin  Maß  zu  halten,  sonst  wäre  sie 
nicht  über  den  erstem  Lehrsatz,  geschweige  denn  über  die  Parallelen- 
theorie hinausgekommen.  Übungen  im  Lateinschreiben  sind  zwar  not- 
wendig; auch  die  akademischen  lateinischen  Disputationen  sind  nicht  über- 
flüssig; sie  geben  Gelenkigkeit,  eine  allgemeine  Gelehrtensprache  ist  not- 
luendig,  und  der  französischen  Eitelkeit  soll  nicht  geschmeichelt  werden. 
Aber    Griechisch  -  Schreiben  ist    sehr    entbehrlich.      Den    formalen    Nutzen 


246  J-  ^-  Herbarts  Rezensionen. 


gewährt  schon  das  Latein;  zur  völligen  Aneignung  der  fremden  Sprache 
wird  man  das  Schreiben  bald  auch  in  Hinsicht  des  Hebräischen,  ja  des 
Sanskrit  fordern,  wenn  man  keine  Grenzen  kennt.  Aber  die  Eitelkeit 
mancher  Lehrer  prunkt  mit  solchen  Dingen;  während  pädagogische  Schul- 
männer die  Bestimmung  des  Gymnasiums  im  Auge  haben,  allgef}ietne  Ge- 
lehrteiischule,  nicht  Pflanzschule  der  Philologie  zu  sein.  Die  Theologen  waren 
weniger  einseitig.  Es  ist  Tatsache,  daß  in  der  Philologie  häufig  von 
liberalen  und  vielseitigen  Lehrern  steife,  einseitige,  intolerante  Schüler 
ausgehen.  Die  Regienmgen  sollten  es  den  Studierenden  zur  Pflicht  tnachen, 
das  erste  Jahr  der  akademischen  Laufbahn  ungeteilt  den  allge?neinen  Wissen- 
schaften zu  widmen,''  usw.  Doch  es  ist  nicht  des  Verfs.  Absicht,  allgemein 
zur  Entscheidung  bringen  zu  wollen,  was  auf  einem  Gymnasium  zu  lehren 
sei;  —  und  aufrichtig  gesagt,  wir  fürchten  fast,  er  sei  durch  besondere 
Erfahrungen  etwas  zu  sehr  gegen  die  Philologen  verstimmt,  um  nicht  in 
einzelnen  Äußerungen  das  Einverständnis  auch  seinerseits  zu  erschweren. 
Freilich  hat  er  es  selbst  erlebt,  daß  ein  Lehrer  in  zwei  und  einem  halben 
Jahre  zwei  Stunden  wöchentlich  damit  zubrachte,  die  ersten  310  Verse 
des  zweiten  Gesanges  der  Iliade  zu  erklären!  Freilich  erzählt  er  von 
einem  witzigen  Schüler,  der,  nachdem  eine  Stunde  zur  Rettung  eines 
für    unecht    gehaltenen    Verses   verbraucht    war,    an    die    schwarze    Tafel 

schrieb : 

O  Gott,  wie  muß  das  Glück  erfreun, 
Der  Retter  eines  Verses  sein  ! 

Freilich  lesen  wir  von  einem  Stadtrat  der  preußisch  gewordenen  Nieder- 
lausitz, der  auf  den  Antrag  des  Ministeriums,  einen  Lehrer  der  Mathe- 
matik an  der  Gelehrtenschule  des  Orts  anzustellen,  die  Antwort  gab:  sie 
wollten  auf  ihrer  Schule  keine  Feldmesser  bilden.  Ja  der  Verf.  kannte 
gar  einen  Gymnasiallehrer,  der  in  seinem  fünfzigsten  Jahre  noch  nicht 
wußte,  daß  die  FLxsterne  Sonnen  sind.  Aber  solche  Absurditäten  hört 
man  nicht  an  allen  Orten,  und  wir  wollen  uns  an  diejenigen  Punkte  halten, 
welche  allgemein  als  Momente  der  Entscheiduug  des  streitigen  Gegen- 
standes in  Betracht  kommen.  Dahin  gehört  nun  ganz  vorzüglich  folgendes: 
,,Dem  eigentlichen  Gelehrten  ist  die  Mathematik  schon  deswegen  uneiitbehrlich, 
weil  ohne  sie  ein  gründliches  Sttidium  der  Naturwissenschaften  völlig  unmög- 
lich ist.  Man  lasse  sich  nicht  irre  machen  durch  die  populären  Schriften 
über  Astronomie,  Physik,  Chemie  usw.,  die,  wenn  sie  Meister  zu  Ver- 
fassern haben,  dem  Laien  durch  INIitteilung  der  wichtigsten  Resultate  auch 
eine  Vorstellung  wenigstens  von  der  Möglichkeit,  wie  man  dieselben  ent- 
decken konnte,  und  somit  einen  Vorschmack  von  dem  geben,  was  die 
eigentliche  Wissenschaft  ist.  Paradieren  diese  Schriften  gleich  an  manchem 
Schreibtisch,  ja  selbst  mancher  Toilette,  werden  sie  auch  mit  Ernst,  Eifer, 
und  dem  guten  Willen  sich  zu  belehren,  gelesen,  man  kann  doch  kühn, 
aber  sicher  behaupten:  iver  so  unglücklich  war.,  niemals  wenigste?is  einen 
grilndlichen  Elementarunterricht  in  Aritlmietik  und  Geometrie  zu  genießen, 
wird  bei  aller  Anstrengimg  nicht  im  stände  sein,  zu  einem  vollkommen  klaren 
Verständnis  dieser  Lektüre  zu  gelangen.  Er  wird  dunkel  finden,  was  einem 
andern  trivial  ist.  Auch  bei  populären  Vorlesungen  über  Naturwissen- 
schaft, die  jetzt  in  der  Mode   sind,  kann  von  zusammenhängender     Auf- 


Moritz  Wilhelm  Drobisch:  Philologie  und  Mathematik.  247 

fassung  nicht  die  Rede  sein.  In  der  bunten  Laterna  magica  eines  blühenden 
Vortrags  ziehen  eine  Reihe  interessanter  Bilder  vorüber;  bhnkende  Apparate 
erhöhen  die  Magie  des  Eindrucks ;  einiges  prägt  sich  ein,  anderes  geht  ver- 
loren ;  weniges  wird  zu  Saft  und  Blut.  —  Aber  —  wirft  vielleicht  mancher 
ein  —  du  spriclist  unstreitig  nur  von  Lesern  und  Zuhörern,  denen  eine 
klassische  Bildung  abgeht;  wer  seinen  Tacitus,  seinen  Plato  versteht,  der 
muß  sich  in  eine  populäre  Astronomie  oder  Physik  mit  Leichtigkeit  finden 
können.  Mit  nichten !  Das  ist  es  eben,  was  am  stärksten  für  die  ab- 
solute Notwendigkeit  eines  gründlichen  mathematischen  Jugend- Unterrichts 
spricht,  daß  man  ein  sehr  gelehrter  Sprachkenner,  ein  umfassender  Poly- 
histor, ja  selbst  ein  schaifsinniger  dialektischer  Kopf,  aufgelegt  zu  allerlei 
Subtilitäten  und  Distinktionen  ^  sein  kanfi,  ohne  sich  in  irgend  eine  mathe- 
matische Vorstellnngsart  f7ide7i  zu  körnten.  Gelehrte,  die  von  der  Mathe- 
matik sich  wenig  Zusammenhängendes  angeeignet  haben,  wundern  sich, 
in  reifen  Jahren  noch  so  häufig  in  das  ihnen  fremde  Gebiet  der  Größen 
gestoßen  zu  werden;  sie  iüunde7-n  sich,  daß  ihre  Kenntnisse  nicht  zureichen^ 
sich  zu  orie7itiercn^  daß  ihre  Art,  wie  sie  es  anzugreifen  pflegen,  wenn  sie 
sonst  etwas  Neues  erlernen  und  prüfen  wollen,  hier  ganz  unzulänglich 
und  unpassend  ist;  und  so  kommen  sie  auf  den  sonderbaren  Gedanken, 
die  Mathematik  fordere  ganz  besondere  Anlage^i.  Aber  Mathematik  ist  keine 
auf  genialer  Individualität  beruhende  Kunst.  Zwar  Entdeckungen  in  ihr 
macht  nur  das  Genie;  hingegen  erlernen  läßt  sie  sich  so  sicher  und  ge- 
wiß, wie  irgend  eine  Erfahrungswissenschaft.''  Hier  hätte  nun  der  Verf. 
volles  Recht  gehabt,  sich  noch  weit  stärker  zu  äußern.  Es  war  noch  von 
der  Scheidewand  zu  reden,  wodurch  Kenner  und  Nichtkenner  der  Mathe- 
matik gesondert  sind,  als  wären  sie  ungleichartige  Wesen,  —  oder  viel- 
mehr von  der  unübersteiglichen  Mauer  zwischen  beiden,  die  kaum  ein 
rechtes  Wort  der  Verständigung  durchläßt.  Es  war  zu  reden  von  dem 
Grübelgeiste  derjenigen,  die  sich  nach  ihrer  Manier  ohne  Mathematik  Auf- 
schluß schaffen  wollen  über  Gegenstände,  die  von  Größen  Verhältnissen 
abhängen.  Solche  Leute  häufen  fortwährend  einen  falschen  Gedanken 
auf  den  andern ;  sie  meinen  eine  Stufe  der  Weisheit  nach  der  andern  zu 
erklimmen,  während  sie  auf  die  bedauernswürdigste  Weise  im  Gebiete  der 
Torheit  fortschreiten;  und  die  nüchterne,  einfache  Wahrheit  verschmähend, 
den  Rausch  des  Irrtums  für  die  rechte  Begeisterung  halten.  Aber  wir 
haben  an  diesem  Orte  andere  Zusätze  zu  machen,  nämlich  in  Ansehung 
der  besonderen  Anlagen,  welche  die  Mathematik  erfordern  soll.  Bei  weitem 
das  meiste  in  diesem  Punkte  ist  Täuschung,  aber  einiges  bedarf  einer 
besonderen  Auseinandersetzung.  Zuvörderst  gibt  es  unstreitig  bedeutende 
Verschiedenheiten  in  der  Art,  wie  im  frühen  Kindesalter  die  Vorstellungen 
des  Räumlichen,  Zeitlichen,  Zählbaren  sich  bilden.  Dieser  Ungleichheit 
kann  jedoch  um  die  Zeit  des  beginnenden  Unterrichts  noch  großen- 
teils abgeholfen  werden;  teils  durch  guten  Unterricht  im  Kopfrechnen, 
teils  durch  kombinatorische  Übungen,  teils  besonders  durch  das  sogenannte 
ABC  der  Anschauung,  dessen  Idee  von  Pestalozzi  ausging,  und  das 
unter  dem  Namen  der  Formenlehre  in  den  Schulen  verschiedene  Ge- 
stalten angenommen  hat.  Dem  Unterzeichneten  fehlte  es  nicht  an  Ge- 
legenheit, sich  durch  die  von  ihm  selbst  abgeänderten  Anschauungsübungen 


248  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

jüngere  Knaben  zum  mathematischen  Unterrichte  vorbilden  zu  lassen; 
diesen  alsdann  selbst  zu  erteilen  und  sich  von  der  hinlänglich  vorgebildeten 
Fassungskraft  zu  überzeugen.  Es  kommt  hierbei  bloß  darauf  an,  vor  aller 
irgend  schwierigen  Demonsttation  die  mathematischen  Elementar-  Vorstellwipen 
auf  empirischem  Wege  zur  nötigen  Energie  und  Bestimmtheit  zu  erheben; 
und  zugleich  an  einige  mathematische  Kunstworte  und  Bezeichnungen  zu 
gewöhnen.  Geschieht  dies,  so  wird  man  zum  mindesten  ebenso  viele 
Köpfe  für  Mathematik  tauglich  finden,  als  für  Philologie;  unterbleibt 
aber  diese  nötige  Vorbereitung,  so  geht  die  Demonstration  verloren, 
weil  der  Schüler  den  Gegenstand  derselben  nicht  festhält]  und  dann  er- 
scheinen die  tüchtigsten  Köpfe  als  Ausnahmen,  durch  Schuld  des  un- 
zweckmäßigen Unterrichts.  Nun  aber  folgt  eine  zweite  Betrachtung, 
oder  vielmehr  eine  zweite  Lehre  der  Eifahru?ig.  Einem  guten  mathe- 
matischen Vortrage  leicht  nachkommen  und  ihn  für  den  Augenblick 
richtig  auffassen,  das  gelingt  manchen;  schon  geringer  ist  die  Zahl  derer, 
die  ihn  eine  Zeitlang  behalten,  so  daß  nach  Wochen  und  Monaten  noch 
darauf  könne  fortgebaut  werden,  aber  weit  seltener  sind  die,  welche  in 
reiferen  Jahren  ihren  geistigen  Vorrat  sorgfältig  hüten,  verwalten,  ver- 
mehren. Vergebens  hofft  man,  der  bedeutende  Umfang  erworbener 
Kenntnisse,  der  Überblick  selbst  in  höhern  Teilen  der  Wissenschaft,  werde 
ein  dauerndes  Interesse  erzeugen.  Mancher  übt  ein  musikalisches  In- 
strument bis  zu  ausgezeichneter  Fertigkeit;  späterhin  weicht  diese  Lieb- 
haberei einer  anderen;  —  dasselbe  Schicksal  hat  die  Mathematik;  und  hier 
gerade  zeigt  sich  der  Vorrang  der  Philologie,  oder  wenigstens  eines  Teils 
derselben.  Theologen,  Juristen  und  Mediziner  dürfen  ihr  Latein  nicht 
vergessen!  Mathematik  aber  darf  von  den  meisten  vergessen  werden. 
Jetzt  machen  sich  die  Naturanlagen  gelten;  und  es  zeigt  sich,  daß  ins- 
besondere die  rei7ie  Mathematik  nur  wenigen  Köpfen  ein  wahres  geistiges 
Lebensbedürfnis  geworden  war. 

Ohne  Vergleich  mehr  Berührungspunkte  mit  den  Menschen  und  den 
Verhältnissen  wie  sie  sind,  hat  die  angeivandte  Mathematik  in  ihrer  viel- 
fachen Verzweigung;  daher  sehen  wir  uns  mit  Bedauern  der  Gelegenheit 
beraubt,  in  dieser  Hinsicht  über  die  Vorschläge  des  Hrn.  Prof.  Drobisch 
zu  berichten.  Ihm  freilich  als  akademischen  Lehrer  war  es  sehr  natürlich 
sich  zu  fragen,  wie  weit  und  auf  welche  Weise  wohl  seine  Zuhörer  vor- 
bereitet sein  müßten,  wenn  sie  ihm  und  seinem  ferneren  Unterricht  ge- 
hörig entgegenkommen  sollten.  Andere  akademische  Lehrer,  die  eine 
allgemeine  Kenntnis  der  Mathematik  voraussetzen  müssen,  würden  andere 
Forderungen  aufstellen.  Noch  anders  lauten  die  Erinnerungen  des  eigent- 
lichen Pädagogen.  Denn  während  jeder  Lehrer  der  höheren  Stufe  von  den 
Unterlehrern  die  strengste  Einübung  mechanischer  Fertigkeiten  der  niedem 
Stufe  verlangt  —  welches  freilich  für  den  fortschreitenden  Unterricht 
höchst  bequem  ist  • — ,  klagt  der  eigentliche  Erzieher  über  Mißhandlung 
des  früheren  Alters,  wenn  die  Empfänglichkeit  desselben  im  Einüben 
bloßer  Fertigkeiten  verbraucht  wird.  So  verschieden  sind  die  Gesichts- 
punkte der  möglichen  Beurteilung.  Indessen  ist  wohl  kaum  zu  bezweifeln, 
daß  die  große  Mehrzahl  der  Mathematiker  mit  dem  Verf.  vollkommen 
einverstanden  sein  wird,  indem  er  folgende  Forderungen  an  die  Gymnasien 


Moritz  Wilhelm  Drobisch:  Philologie  und  Mathematik.  249 

richtet:  Zuvörderst  die  Lehrstunden  vier  bis  sechs  wöchentlich,  sollen 
Morgenstunden  sein.  Ferner  das  Minimum  der  zu  durchlaufenden  Gegen- 
stände begreift  in  sich  die  gemeine  Arithmetik,  Buchstabenrechnung, 
Gleichungen  des  ersten  und  zweiten  Grades,  reine  Planimetrie  und  Stereo- 
metrie, arithmetische  und  algebraische  {nicht  analytische,  von  den  Figuren 
befreite)  Geometrie,  Goniometrie  und  Trigonometrie.  Das  Maximum  soll 
nicht  über  die  Einleitung  in  die  Analysis  hinausgehen;  doch  wird  der 
Reihenentwicklung  der  Funktionen,  der  Umkehrung  der  Reihen,  der  all- 
gemeinen Theorie  von  den  imaginären  Größen  der  Zugang  verstattet;  der 
Differential-  und  Integralrechnung  hingegen  der  Eintritt  ins  Gymnasium 
verweigert.  Auf  den  ersten  Blick  die  Sache  betrachtend,  möchte  jemand 
sagen,  das  letztere  verstehe  sich  von  selbst,  indem  die  erste  beste  nur 
einigermaßen  künstliche  und  nicht  sogleich  sich  darbietende  Integration 
soviel  Zeit  zur  Erklärung  an  jeden  nicht  völlig  Vorgeübten  erfordert,  daß 
der  Versuch,  so  etwas  auf  einem  Gymnasium  zu  lehren,  sich  selbst  auf- 
heben würde.  Eben  deshalb  nun  ist  hier  so  zuverlässig  jeder  Mißbrauch 
unmöglich,  daß  wir  um  so  mehr  bedauern,  auch  den  leichten  und  höchst 
nützlichen  Gebrauch  der  einfachsten  Elemente  dieser  Rechnungsarten  dem 
Gymnasium  verweigert  zu  sehen;  und  zwar  aus  Besorgnis,  es  könne  dem 
Lehrer,  falls  er  den  Geist  der  Differentialrechnung  nicht  richtig  aufgefaßt 
habe  (ein  Umstand,  der  leicht  eintrete,  —  aber,  wie  wir  hinzufügen 
müssen,  nicht  eintreten  sollte),  begegnen,  hierbei  den  Schein  einer  geringen 
Schärfe  und  Strenge  entstehen  zu  lassen.  Trauet  denn  der  Verf.  den 
Schülern,  die  bis  dahin  nach  seiner  Vorschrift  unterrichtet  wurden,  noch 
nicht  soviel  Übung  zu,  um  nötigenfalls  diesen  so  leicht  zu  berichtigenden 
Schein  selbst  bemerklich  zu  machen,  oder  sich  für  künftige  Berichtigung 
offen  zu  erhalten?  Und  hofft  er  im  Gegenteil,  die  strenge  Theorie  der 
imaginären  Größen  würde  es  durch  ihre  strenge  Gründlichkeit  vermeiden 
können,  den  minder  scharfsinnigen  Köpfen  als  ein  Spiel  mit  leeren  Worten 
und  Zeichen  zu  erscheinen?  Nach  des  Rez.  häufiger  Erfahrung  ist  hier 
weit  weniger  Gefahr  als  dort.  Der  wahre  Grund  des  Hrn.  Prof.  Drobisch 
aber  ist  wohl,  daß  er  die  Jugend  lange  mit  den  mehr  elementaren  Gegen- 
ständen (geometrie  descriptive  usw.)  beschäftigt  wünscht.  Gewiß  vortrefflich 
für  den  künftigen  Mathematiker  von  Profession;  dem  dasjenige,  was  den 
Elementen  nahe  steht,  nie  zu  geläufig  sein  kann.  Aber  es  verspätet  die 
Übersicht  über  das  Ganze  der  Wissenschaft;  und  wird  manche,  die  sich 
frühzeitig  von  ihr  abwenden,  gar  nicht  zur  letztern  gelangen  lassen.  Läge 
die  größte  Schwierigkeit  darin,  der  Mathematik  Eingang  in  die  Köpfe  zu 
verschaffen,  so  würden  wir  dem  Verf.  beistimmen;  aber  dieselbe  liegt 
vielmehr  am  anderen  Ende,  —  darin,  ihr  Dauer  zu  geben  durch  Über- 
zeugung von  ihrem  Weiie ;  und  dazu  hilft  nichts  von  dem,  was  späterhin 
der  Mann  von  Welt  oder  der  tiefere  Denker  als  bloßes,  wenn  auch 
witziges  Spiel  der  Jugend  hinter  sich  werfen  kann.  Der  leere  Raum,  die 
leere  Zahl  und  Zeit,  werden  oft  genug  —  öfter  vielleicht  als  die  Mathe- 
matiker geneigt  sind  zu  beachten  —  als  Spielwerke  einer  harmlosen 
Liebhaberei  gering  geschätzt.  Die  angewandten  Teile  der  Mathematik 
mögen  den  Männern  vom  Fache  als  Nebenwerk  erscheinen;  allein  außer- 
halb der  Schulen  sind  sie  es  gerade,  welche  Respekt  einflößen  und  fühlen 


2  CQ  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


lassen,  daß  hier  von  höchst  ernsten  Gegenständen  die  Rede  sei.  Wir 
dürfen  es  wiederholen:  die  Gesichtspunkte  sind  verschieden.  Allein  sehr 
willig  versetzt  sich  zum  Schlüsse  der  Unterzeichnete  auf  den  Standpunkt, 
welchen  der  Verf.  bei  der  Abfassung  seiner  Schrift  für  sich  wählte.  Ihm 
lag  für  diesmal  unstreitig  nur  daran,  der  Mathematik  einen  offenen  Ein- 
gang nicht  in  die  Köpfe,  sondern  in  die  Gymnasien  zu  verschaffen.  Von 
den  Schwierigkeiten,  die  ihm  in  dieser  Hinsicht  scheinen  im  Wege  zu 
stehen,  braucht  hier  nicht  die  Rede  zu  sein.  Möge  es  ihm  gelingen,  sie 
vollständig  zu  überwinden;  was  eine  kleine,  sehr  klare,  geistvolle,  unter- 
haltende, und  doch  ebenso  nachdrückliche  als  in  den  Gegenstand  ein- 
dringende Schrift  dafür  leisten  kann,  das  ist  ohne  Zweifel  hier  geleistet 
worden. 


Weisse,  Chr.  Herrn.,  Prof.  an  d.  Univ.  zu  Leipzig,  System  der  Aesthetik 

als  Wissenschaft  von  der  Idee  der  Schönheit.    In  drei  Büchern. 

I.  u.   2.  Th.  —  Leipzig   1830. 

Gedruckt  in:  Jenaer  Literatur-Zeitung   1832,  Nr.  121  — 123.     Kl.  Sehr.  III,  S.  775. 

SW.  XII,  S.  723. 

Bei  der  Anzeige  einer  Ästhetik  sollten  unsere  Blicke  auf  den  Parnassus 
gerichtet  sein;  aber  es  ist  mehr  als  bloßer  Zufall,  daß  sie  auf  flaches 
Land  sich  wenden,  auf  Belgien  und  Holland.  Nicht  allein  der  sehr 
prosaische  Vortrag  des  angezeigten  Werkes  stellt  uns  eine  mit  gleich- 
förmigem Fleiße  bearbeitete  Ebene  vor  Augen;  sondern  auf  dieser  Ebene 
sehen  wir  teils  eine  schon  ausgebrochene,  teils  eine  durch  innere  Gründe 
fortdauernde  Zwietracht.  Wenn  Ästhetik  und  Metaphysik  in  unnatürlich 
erzwungene  Verbindung  gesetzt,  wenn  die  erste  von  der  anderen  abhängig 
gemacht  wird,  so  paßt  darauf,  was  wir  soeben  irgendwo  von  Belgien  und 
Holland  lasen:  man  vereinte  zwei  Völker,  die  durch  verschiedenes  Interesse, 
verschiedene  Sitte  und  Sprache  getrennt,  beinahe  mißtrauisch  einander  seit 
langer  Zeit  beobachtet  hatten.  Jetzt  sollte  das  stärkere  dem  schwächeren 
gehorchen,  und  die  zahllosen  Schulden  desselben  übernehmen.  Wie  die 
Saat,  so  die  Frucht!  Ästhetik  ist  in  ihrer  heutigen  Geltung  unstreitig 
stärker  als  die  Metaphysik,  sie  ist  stark  durch  die  vorhandene  Bildung 
des  Geschmacks;  sie  ist  aber  nichts  anderes,  als  der  Ausdruck  dieses  Ge- 
schmacks, wie  er  durch  die  für  klassisch  erkannten  Kunstwerke  bestimmt 
und  gehalten  wird.  Kann  sie  sich  gefallen  lassen,  die  Schulden  der 
Metaphysik  zu  übernehmen?  —  Der  Verf.  des  angezeigten  Werkes  will 
sie  der  Hegeischen  Dialektik  unterwerfen.  Gesetzt,  die  Eroberung  wäre 
gelungen:  dennoch  würde  die  Hegeische  Schule  derselben  nicht  froh 
werden  können.  Denn  das  eroberte  und  ihr  zugeeignete  Land  wird  so- 
gleich wieder  gegen  sie  in  den  Zustand  der  Insurrektion  versetzt;  welche 
Insurrektion  um  desto  gefährlicher  ist,  da  jene  Schule,  wie  wir  glauben, 
weder  das  Werk  noch  dessen  Urheber  für  geringfügig  und  unbedeutend 
wird  erklären  dürfen.  Sie  selbst,  die  Schule,  ist  im  beständigen  Werden 
begriff'en;  die  Frage,  was  sie  wer  de  ^  fällt  mehr  ins  Gewicht,  als  die  Frage, 


C.  H.  Weisse:  System  der  Ästhetik  als  Wissenschaft  von  der  Idee  der  Schönheit.      25  I 

was   sie    sei.     Aber    was   denn   wird    aus  ihr  werden,   wenn  ihre  Methode 
sich  dazu  gebrauchen  läßt,  ihre  Ansprüche  an  wahren  Gehalt  des  Wissens 
zu   beschränken?    Einerseits  erkennt  man  das  Wappen  der  Schule  in  den 
streng   durchgeführten  Trichotomien,    welchen    alle  Teile  der  Ästhetik  sich 
beugen    müssen;    ferner   im   bekannten,    charakteristischen    Gebrauche    der 
Negation,    welche    aufgehoben    in    der    lebendigen    Wahrheit    liegen    soll; 
desgleichen  in  dem  Lobe  jener  absoluten  Idee,  welche  alle  anderen  Kate- 
gorien   aufgehoben   in    sich    trage.      Aber   andrerseits    wird    die    Hegeische 
Philosophie    getadelt,    weil    das    im    logischen    Sinne    absolut  Konkrete    ihr 
schon    für   den  Inbegriff  aller  Realität   überhaupt   galt.     Ungeachtet   ihrer 
Protestationen  getadelt  wird  ihr  logischer  Pantheismus.    Ja  wir  lesen  sogar: 
„Die   Ästhetik   beginnt   da,   wo  Hegels  System   aufhört;   indem    dies    alle 
die    Gegenstände,   welche   der  Ästhetik    —    und   welche    der   spekulativen 
Theologie  angehören,    nur  dem  Namen  nach,    aber  nicht  in  der  Tat  und 
Wahrheit    in   den  Bereich   seiner  Betrachtung   hineinzieht.      Was  wir  (der 
Verf.)    die  Ideeii    der   Schönheit   und   der    Gottheit  nennen,    kennt  Hegel   nur 
nach   der    Weise    ihrer  psychologischen    und  geschichtlichen   Erscheinung ;    es    ist 
iiim   Phänomen,    und  die    Wissefischaft  davon   ein    Teil  der  Phänoinenologie  des 
Geistes."     So  schafft  sich  diese  Schule  ihre  eigenen  Gegner.    Sie  bereitet 
sich  Erfahrungen,   die  sie  ganz  vergebens  suchen  wird,  mit  ihrer  gewohnten 
Kraftsprache  zu  Boden  zu  schlagen.    Aber  auch  Hr.  W.,  indem  er  Hegel 
überbietet,    scheint    nicht    zu   merken,    wie    er   sich    den   Grund   unter  den 
Füßen    aushöhlt.      Er    erklärt    Schönheit    für    aufgehobene    Wahrheit;    das 
Aufgehobensein  aber  bedeutet  bei  ihm  das  dialektische  Umschlagen  eines 
Begriffes    in   sein   Gegenteil,   dergestalt,    daß   der   umschlagende  Begriff  in 
diesem    seinem  Gegenteil    nicht   vernichtet,   sondern,    wenngleich  mit  einst- 
weiliger Verneinung    seiner  früheren  Art  zu  sein,    dennoch  seinem   eigent- 
liehen  Wesen    nach    erhalten    und   gleichsam  aufbewahrt  werde.      Darüber 
läßt  sich  nun  freilich  mancherlei  sagen.    Chemisch  gebundene  Stoffe  mögen 
wohl,    nach    einstweiliger  Verneinung  ihrer  früheren  Art  zu  sein,    dennoch 
bei    der   Reduktion    ihr    eigentliches  Wesen    gut   erhalten   wieder   an   den 
Tag    legen.      Und    die    Reproduktion    der    Vorstellungen,    welche    als    das 
Geschäft  des  Gedächtnisses  pflegt  angesehen  zu  werden,  mag  zeigen,   daß 
auf    ähnliche    Weise   auch    die    verschwundenen   Vorstellungen    keineswegs 
vernichtet,   sondern  mit  einstweiliger  Verneinung  ihrer  früheren  Art  zu  sein 
aufbewahrt  wurden,  um  wieder  hervorzutreten.    Nur  schade!  die  chemisch 
gebundenen   Elemente    sind    nicht   schön;    und   die   verschwundenen  Vor- 
stellungen   sind    auch    nicht    schön.       Etwas    von    Metaphysik    und    etwas 
anderes    von  Psychologie   ließ   sich    recht   füglich  denken  bei  den  Worten 
des   Verfs.,    —    wir    aber,    da    wir    sein    Buch    anschafften,    fragten    nach 
Ästhetik,  und  dachten  dabei  ebensowenig  an  Psychologie  und  Metaphysik, 
als  an  Hegeische  Dialektik.     Und  jetzt,  —  versetzen  wir  uns  sogleich  in 
den    zweiten   Teil    des    Werks,    zur   Poetik,    dem    bekanntesten   Teile    der 
Ästhetik,    um  dort  Proben  auszuwählen,    die  hier  hinreichen  müssen.     Da 
loegegnet   uns    der  Makrokosmus,   und    das  Wesen  des  weltgeschichtlichen 
Prozesses,    und    der  absolute  Geist,    dessen  historische  Gestalten,    um  nicht 
zu    geistlos    feststehenden    zu    werden,    umschlagen    müssen.      Daher    die 
Tragödie!  „Hegel  oder  dessen  Schüler  führen  das  gesamte  Interesse  der 


2^2  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

Tragödie  auf  die  Einsicht  in  die  Genesis  der  Gestaltung  des  Endlichen 
(Familie,  Staat,  Kirche  usw.)  zurück.  Es  fehlt  dieser  Theorie  durchaus 
der  Begriff  des  von  der  Spekulation  unabhängigen  Kunstideals."  (So  ist's! 
Nur  nicht  bloß  bei  Hegel,  sondern  auch  bei  Hrn.  W.)  „Die  Kunst, 
indem  sie  die  außerhalb  der  Schönheit  und  unabhängig  davon  bestehende 
Wirklichkeit  zu  ihrem  Inhalte  macht,  setzt  diese  ausdrücklich  als  schön, 
obgleich  dieselbe  als  eine  dem  Kunstideale  stets  unangemessene  gewußt 
wird.  Die  Gewaltsamkeit,  womit  alle  anderen  Kunstformen  diesen  Wider- 
spruch niederhalten  oder  zurückdrängen,  indem  sie  statt  der  vollen  Wirk- 
lichkeit stets  nur  eine  einseitige,  durch  das  Ideal  als  solches  ergänzte  Er- 
scheinungssphäre des  Wirklichen  geben,  fällt  bei  der  dramatischen  Dicht- 
kunst weg,  da  dieselbe  ausdrücklich  die  volle  und  allseitige  Erscheinung 
dieser  Wirklichkeit  als  den  Inhalt  ihrer  Schöpfung  vorzuführen  die  Aufgabe 
hat.  Hier  nun  muß  die  Kunst  notwendig  ihre  eigene  Schönheit  als  ein 
Attribut  dieser  Wirklichkeit  setzen,  d.  h.  dieselbe  nicht  etwa  nur  als  von 
außen  ihr  angehängt,  sondern  als  mit  dem  Wesen  der  Wirklichkeit  identisch. 
In  dieser  Identität  ist  sie  nicht  eigentlich  Schönheit,  sondern  eine  der 
Wirklichkeit  eingeborene  geistige  Absolutheit  oder  Göttlichkeit  überhaupt. 
Das  Geschäft  der  dramatischen  Kunst  wird  demnach  dieses  sein,  die  Ent- 
faltung dieses  eingeborenen  göttlichen  Keimes  zu  einem  der  objektiven 
Wirklichkeit  entsprechenden  und  in  ihr  enthaltenen  Makro-  und  Mikro- 
kosmus der  Erscheinung  aufzuzeigen.  In  diesem  Geschäfte  nun  ist  es, 
wo  sich  für  die  Kunst  der  Widerspruch  hervortut,  daß  die  Wirklichkeit, 
indem  sie  jenen  Keim  des  Göttlichen  zum  Dasein  ihres  eigenen  Lebens 
entfaltet,  demselben  zugleich,  weil  dieses  Leben  seinem  Begriffe  schlechthin 
unangemessen  ist,  notwendig  den  Untergang  bringt.  Die  Kunst  sieht 
sich  daher  genötigt,  für  die  wirkliche  Schönheit  dasjenige  zu  geben,  dessen 
Wesen  das  off"enbare  Widerspiel  der  Schönheit  ist.  Jene  Einbildung  des 
absoluten  Geistes  in  den  Stoff"  der  Endlichkeit,  welche  den  Begriff  aller 
Kunstschönheit  macht,  kündigt  sich  hier  als  dasjenige  ausdrücklich  an,  was 
sie,  an  sich,  in  der  Kunst  überhaupt  ist,  —  als  den  Untergang  jenes 
göttlichen  Geistes  in  einer  ihm  unangemessenen  Objektivität.  Die  un- 
mittelbare Gestalt  dieses,  an  sich  aller  Kunst  und  Schönheit  inwohnenden, 
aber  im  Drama  vollständig  objektiv  hervortretenden  Widerspruchs  macht 
den  Begriff"  des  Tragischen,  oder  als  besondere  Kunstform  gefaßt,  der 
Tragödie  aus." 

So  viele  und  so  starke  Ausdrücklichkeiten,  wie  hier  beisammen  sind, 
mögen  uns  fürs  erste  hinreichen,  um  einige  Bemerkungen  daran  zu  fügen. 
Zuvörderst  hat  der  Verf.  die  vorgebliche  Gewaltsamkeit  zurückzunehmen, 
womit  andere,  ja  gar  alle  anderen  Kunstformen  einen  Widerspruch  nieder- 
halten oder  zurückdrängen  sollen,  von  dem  sie  nichts  wissen.  Man  frage 
den  Epiker  und  Lyriker,  man  frage  den  Blusiker  und  Maler,  was  für  ein 
gewaltsames  Niederhalten  das  sei.  Sie  werden  die  Frage  nicht  verstehen. 
Man  sage  ihnen:  diejenige  Gewalt  sei  gemeint,  welche  bei  der  dramatischen 
Dichtkunst  wegfalle;  so  werden  zwar  die  anderen  noch  immer  nichts  be- 
greifen, aber  der  epische  Dichter  wird  sich  seiner  längst  anerkannten,  schon 
vom  Aristoteles  ihm  ausdrücklich  zugeschriebenen  Verwandtschaft  mit 
dem  Tragiker  erinnern,    und  weit  entfernt,   einzuräumen,    daß  seine  Kunst 


C.  H.  Weisse:  System  der  Ästhetik  als  Wissenschaft  von  der  Idee  der  Schönheit.      253 

durch  ein  Wegfallenlassen  in  die  tragische  übergehen  könne,  wird  er  im 
Gegenteil  sprechen:  u  /Liey  inonoiia  f/£<,  vnuQ/ei  rf^  roayojÖia-  a  §e  avxi], 
ov  nävra  Iv  rfj  Inonoiia.  Doch  nicht  bloß  um  dieser  Stelle  willen  haben 
wir  des  Aristoteles  Poetik  aufgeschlagen,  sondern  weil  es  nötig  ist,  fürs 
erste  diese  von  Lessing  so  hoch  gestellte  Autorität  der  vor  uns  liegenden, 
gewaltsam  verkünstelten  Ästhetik  gegenüber  treten  zu  lassen,  damit  hier 
niemand  individuelle  Streitigkeiten  suche.  Die  Wirklichkeit  als  schön  zu 
setzen,  das  war  der  Widerspruch,  welcher,  zw-ar  von  anderen  Künsten 
niedergehalten,  dagegen  in  der  dramatischen  Poesie  hervortreten  und  ins- 
besondere den  tragischen  Untergang  des  göttlichen  Keimes  herbeiführen 
sollte.  Was  nun  zuvörderst  den  tragischen  Untergang  betrifft,  so  kennen 
wir  ihn  alle.  Demnach  kann  auch  jedermann  sich  die  Frage  vorlegen: 
was  ist's,  das  da  untergeht?  Der  Keim  des  Göttlichen.?  Solches  bejaht 
und  behauptet  der  Verf.;  und  die  Notwendigkeit  dieses  Untergehens  ist 
der  Nerv  seiner  Theorie,  indem  die  „Darstellung  des  Untergangs,  welchen 
das  Schöne  unarißiörlich  in  der  geschichtlichen  Wirklichkeit  erleidet,"  nach 
ihm  das  Wesen  des  Tragischen  ausmacht.  Daß  Aristoteles,  welchen 
über  die  Tragödie  zu  Rate  zu  ziehen  unerläßliche  Pflicht  des  Ästhetikers 
ist,  sich  auf  alle  Weise  dieser  Irrlehre  entgegensetzt,  können  wir  leicht 
zeigen.  Erstlich  leugnet  Aristoteles,  daß  der  Keim  des  Göttlichen,  oder 
gar  das  Schöne  selbst,  dasjenige  sei,  dessen  Untergang  die  Tragödie  zeige. 
Zweitens  leugnet  er,  daß  die  unaufhörlich  fortgehende  geschichtliche  Wirklich- 
keit das  Tragische  sei.  Drittens  leugnet  er,  daß  überhaupt  die  Charakteristik 
dessen,  was  da  untergehe,  die  Hauptsache  in  der  Tragödie  ausmacht.  Den 
ersten  Punkt  hätte  der  Verf.  dort  wenigstens  erwähnen  sollen,  wo  er  die 
Aristotelische  a(.mQriu  nennt.  Es  müßte  ihm  doch  aufgefallen  sein,  daß 
von  der  a/.ia(}Tia  rwy  Iv  (.uyaf.ij  ÖoS.ij  oi'roiy  y.ul  evTv/i'a  die  Rede  ist,  und 
do'ia  und  evrv/i'u  wird  er  hoffentlich  nicht  für  das  Schöne  und  für  den 
Keim  des  Göttlichen  halten.  Ferner  müßte  ihm  aufgefallen  sein,  daß 
kurz  zuvor  von  einem  gewissen  f.iiuQov  und  von  dessen  Gegensatze  gegen 
das  cfoßaQOv  und  l'htuvov  gesprochen  wird.  Zu  welchem  Zwecke?  Um 
das  erste,  was  sich  von  selbst  versteht,  anzuzeigen.  Und  worin  besteht 
das?  ÜQonov  /uey  Ör^lov,  ori  ovxt  rovg  Initr/.Hg  ui'ÖQag  Öti  [.uTaßu/J.oviaQ 
q,ui'v(oS^ai  et  tvTv/i'ag  dg  övorv/Juv  ov  yuo  ffoßeQOt',  ovra  l'KtHvov  rovro, 
dl  AU  i^iiaQOv.  Das  war  der  erste  Hauptpunkt;  wir  kommen  auf  den 
zweiten.  Um  seine  Behauptung  historisch  zu  bekräftigen,  beruft  sich 
Aristoteles  auf  den  Gang  der  Kunst.  Früher,  sagt  er,  wählte  man  zur 
Tragödie  die  ersten  besten  Sagen.  Jetzt  aber,  nachdem  man  aus  den 
Versuchen  erkannt,  daß  nur  der  Fehltritt  eines  mehr  guten  als  schlechten 
Charakters  die  rechte  tragische  Wirkung  der  Furcht  und  des  Mitleids 
hervorbringt,  beschränken  sich  die  besten  Tragödien  auf  wenige  Häuser^ 
als  auf  das  des  Oedipus,  Orest,  Meleager  usw.  Das  heißt  mit  anderen 
Worten:  der  Geist  der  Tragödie  ist  keineswegs  allgemeiii  der  Geist  der  Ge- 
schichte, sondern  in  der  Geschichte  finden  sich  die  tragischen  Stoffe  nur 
hin  und  wieder,  und  man  soll  sie  mit  kluger  Sorgfalt  auswählen,  wenn 
man  Kunstwerke  hervorbringen  will.  Auch  über  den  dritten  Hauptpunkt 
spricht  sich  Aristoteles  sehr  deutlich  aus.  TMiyioxov  (unter  den  sechs 
Erfordernissen    der  Tragödie)   loxiv   r  xmv  jiQayi.idriov   oiaruoig.      H  yaQ 


1  r  I  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


TQuywdt'u   f.uf.ainig   Inxiv   oiy.    dvd^Qomtov,    dllu    ji^d'^i-oy.      Otxovv  otimq  t« 
]'id-)]  \iif.iriO(ovTai,    n()urTOvni',    dV.u  xd  i]d-^  nv^ineQiXuf.ißa,vovni  did  rüg 
TiQÜhig.     Ja,   fährt   er  fort,    es  kann  zwar  ohne  Handlung  keine  Tragödie 
geben,    wohl    aber    ohne    Charaktere.      Und    die    Anfänger   können    eher 
durch   Sprache    und   Charaktere    genügen,    als    die  Handlung   gehörig    an- 
ordnen! Hier  möchte  man  glauben,  seien  es  die  heutigen  Tragödien,  von 
denen    gesprochen    wird.      Denn    was    erblicken    wir    auf    der    tragischen 
Bühne?    Charaktere   und   Situationen.      Was    hören   wir?    Schöne    Reden. 
Aber   das  Beste,   was   wir   haben,   ist   auf  halbem  Wege  stehen  geblieben, 
als    eine    bestimmt   geformte,    die   Zeit   der   theatralischen    Darstellung   im 
rechten    Gange    und    Maße    ausfüllende    Handlung    daraus    werden    sollte. 
Und   unsere   Ästhetiker?    Diese    Herren,    von    denen    die  Probe   vor    uns 
liegt,    haben   sich    erst  einen  Begriff  von  der  Weltgeschichte  ausgesonnen, 
und  diesen  Begriff  wollen  sie  verkünden  und  lehren  von  der  Bühne  herab. 
So    wird    die  tragische  Poesie   bei  ihnen,   nach  ihrer  eigentlichen  Absicht, 
zur  didaktischen;  eine  Gattung,  die  sie  freilich  den  Worten  nach  verwerfen, 
während   sie   in    der  Tat   kaum    noch    eine  andere  kennen  und  begreifen. 
Daß  ein  solches  Wort  in  die  Trichotomien  des  Verfs.  nicht  paßte,  versteht 
sich    von    selbst.      Dagegen    gestattet    er    der   Kunst,    die    Geschichte    der 
eigentlich    spekulativen  Betrachtung   zu   entrücken,   und   zwar:    ,,indem    sie 
von  der  unendHchen  Reihe  jener  gleichsam  die  Summe  oder  die  Gleichung 
zieht."    Was  das  heiße :  eine  Gleichung  ziehen,   —   und  in  welchem  Sinne 
man    von    einer    Summe    oder    Gleichung   reden    könne,    das    verstehen    wir 
nicht;    bedauern   aber   freilich,    daß  die  spekulative  Betrachtung  angeblich 
wegfällt,  indem  von  der  Geschichte  die  Summe  gezogen  wird,  um  sie  dem 
Gebiete    der  Schönheit   einzuverleiben.     Wie   sehr  gegen  ein  solches  Ein- 
verleiben jeder  tüchtige  Historiker  protestieren  würde,  geht  uns  hier  eben- 
sowenig  an,    als    was    etwa  zu  jenen  Redensarten  ein  Mathematiker  sagen 
möchte,   wenn  er  ja  darauf  hörte.     Genug:   „der  Mikrokosmus  des  tragischen 
Kunstiverks  läßt  sich  recht  eigentlich  als  Weltgeschichte  im  Meinen  bezeichnen." 
Das  ist  der  feste  Punkt  des  Verfs.,  an  welchem  wir  für  unseren  ferneren 
Bericht  eine  Stütze  haben.     Und  jetzt  wird  es  nicht  bloß  nötig,    sondern 
auch    ziemlich  leicht  sein,  von  der  trichotomischen  Kunst  des  Verfs.    eine 
Probe  zu  geben ;  wobei  wir  jedoch  erinnern  müssen,  daß  die  Hegeische  Lehre 
überaus  geneigt  ist,   umzuschlagen  und  nochmals  umzuschlagen,  und  so  fort. 
Der   Tragödie    steht    die   Komödie    gegenüber,    die    bekanntlich   ihre 
besonderen  Schwierigkeiten  hat.    Unser  Verf.  verbirgt  hier  seine  Verlegen- 
heit  hinter    Kürze   und   Dunkelheit.     Dennoch   ist   er   dreist   genug,    auch 
hier  das   Göttliche  auftreten  zu  lassen:  nur  tritt  es  nicht  mehr  wie  in  der 
Tragödie    in    seiner   unmittelbaren   Gestalt,    sondern   als    ein    bereits  Auf- 
gehobenes   oder    Untergegangenes    auf.      Man    frage    nur    nicht,    wie    ein 
U^iter gegangenes    auftuten    könne;    es    folgt   sogleich    ein   größeres  Wunder: 
die  Aufhebung  des  absolut  Geistigen  hat  nämlich  die  glückliche  Bedeutung, 
daß   dadurch   sein   sonst   unvermeidliches  Umschlagen   in  Häßlichkeit  ver- 
hütet  wird.     Doch   das   komische  Pathos  steigt  noch  höher.     Der  Begriff 
der  Kunst  erringt  einen  Sieg,  und  zwar  durch   seine,  des  Begriffes,  Selbst- 
aufopferung; ja  er  erringt  diesen  Sieg  unablässig  über  die  Häßlichkeit,  die 
ihn  unablässig,  aber  vergebens,  in  ihren  Abgrund  hineinzuziehen  trachtet. 


C.  H.  "Weisse:  System  der  Ästhetik  als  Wissenschaft  von  der  Idee  der  Schönheit.      255 

Dieser  Sieg  wird  gefeiert,  indem  die  dramatische  Poesie  sich  in  die  komische 
Wirklichkeit  hineinbildet.  Wiewohl  wir  nicht  unternehmen,  diese  von  uns 
schon  in  kleinere  Teile  zerlegte,  sehr  dithyrambische  Stelle  pünktlich  zu 
erklären:  so  erhellet  doch  aus  den  Worten  und  aus  dem  ganzen  Zu- 
sammenhange, welch'  ein  höchst  wichtiges  Geschäft  es  sei,  Komödien  zu 
dichten,  ja  welche  Gefahren  des  Umschlagens  nicht  bloß  der  Einzelne, 
nicht  bloß  die  Familie,  nicht  bloß  der  Staat  laufen  würde,  sondern  das 
Göttliche  selbst,  —  wenn  es  keine  Komödien  gäbe.  Man  halte  das  ja 
nicht  für  Scherz;  man  höre  vielmehr  und  achte  auf  den  innigen  Zu- 
sammenhang zwischen  der  Tragödie  und  Komödie;  denn  mit  einem  bloßen 
Gegensatze  ist  es  hier  nicht  getan;  es  muß  auch  Verbindung  da  sein; 
man  muß  sehen  und  begreifen,  wie  sich  die  Komödie  —  mis  dem  Geiste 
der  tragischen  Kunst  erzeugt.  Folgendes  schreiben  wir  wörtlich  ab:  „Der 
Geist  der  tragischen  Kunst  wäre  der  offenbare  Geist  der  Häßlichkeit  tmd 
des  Bösen  selbst,  wenn  er  den  in  dieser  Kunst  gesetzten  Untergang  des 
Göttlichen  in  dem  Endlichen  als  ein  Letztes  festhalten,  d.  h.  wenn  er 
seine  absolut  geistige  Substantialität  dazu  mißbrauchen  wollte,  der  Macht 
des  Todes  und  der  Verwesung,  die  innerhalb  des  Reiches  der  Endlichkeit 
auch  das  Höchste  und  Beste  trifft,  Substanz  und  für  sich  seiende  Wesenheit 
zu  erteilen.  Daß  dies  nicht  sein  Beginnen  sei,  zeigt  er  —  eben  dadurch, 
daß  er  der  komischen  Weltbetrachtung  Eingang  in  die  dramatische  Poesie 
eröffnet."  Pafturiunt  montes !  Denn  nach  allem  Gerede  von  „dem  Ver- 
mögen des  komischen  Drama,  die  Schönheit  als  durch  ihre  Negation  sich 
mit  sich  selbst  vermittelnd,  und  aus  dem  Untergaiige  ihrer  selbst  zvieder- 
aiifstehend  einzuführen"  usw.,  kommt  nichts  anderes  heraus,  als  der  wohl- 
bekannte glückliche  Ausgang  im  Interesse  der  —  Geschlechtsliebe,  „weil 
nämlich  diese  in  der  Sphäre  des  Ideals  und  der  Kunst  überhaupt  für 
das  Fürsichsein  der  geistigen  Substanz  und  der  Idee  der  Schönheit  gilt" ! ! ! 
Der  gute  Mann  hat  rein  vergessen,  was  die  Konsequenz  von  ihm  forderte, 
und  der  Geist  der  Weltgeschichte  mag  ihn  in  schweren  Träumen  nach 
Verdienst  dafür  züchtigen.  War  der  Geist  der  Tragödie  die  Geschichte 
in  ihrer  Senkung,  so  erforderte  schon  eine  Art  von  Metrum,  daß  der 
Senkung  die  Hebung  folgte,  und  zwar  mit  festgehaltenem  Ernste  der 
historischen  Senkung  auch  die  historische  Hebung;  und  dem  Verf.  war  es 
durchaus  nicht  erlaubt,  vom  rechten  Wege  abspringend  der  Komödie,  — 
wir  wissen  nicht,  ob  der  edleren  oder  gemeinen,  da  jene  durch  nichts 
eigentümlich  bezeichnet  ist,  einen  höchst  unzeitigen  Besuch  abzustatten. 
Die  Geschichte  geht  nun  freilich  ihren  Gang  ohne  sein  Zutun;  sie  zeigt 
das  Wachsen  ebensowohl  wie  den  Verfall ;  —  unser  Ästhetiker  kümmert 
sich  jedoch  nur  um  die  vorhandenen  Kunstformen;  und  wenn  er  auf  die 
Tragödie  zunächst  die  Komödie,  dann  aber  das  gemischte  Drama  folgen 
läßt,  so  ist  seine  gesuchte  Trichotomie  fertig,  mögen  übrigens  die  Begriffe 
richtig  festgehalten  sein  oder  nicht.  Wir  erinnern  uns  dagegen  der  Stelle 
des  HoRAz,  welche  gerade  für  die  Komödie  das  Festhalten  dringend 
empfiehlt: 

—    —    habet  comoedia  tanto 
Plus  oneiis^   quanto   veniae  minus.      Aspice.,   Plautus 
Quo  pacto  partes  tutetur  atnantis  ephebi  usw. 


2^5  J-  F.  Herbarts  Rezeusionen. 


Es  möchte  ratsam  sein,  diese  Empfehlung  der  Konsequenz  von  der 
Komödie  selbst  auch  auf  die,  wohl  nicht  gar  leichte  Theorie  der  Komödie 
sorgfältig  zu  übertragen.  Wenn  man  freilich  das  dramatische  Schöne  von 
Anfang  an  entweder  ganz,  oder  doch  wesentlich  in  den  Charakteren  sucht; 
wenn  man  (gegen  jene  Weisung  des  Aristotelesj  unterläßt,  die  Hatid/img 
für  sich  allein  betrachtet  ästhetisch  zu  prüfen,  und  das  in  ihr  liegende 
Schöne  der  Zeichnung  anzuerkennen;  so  mag  man  nach  dem  richtigen  Be- 
griffe der  Komödie  vergebens  suchen.  Denn  in  den  Charakteren  selbst 
freilich,  auch  in  den  scharf  und  fein  gezeichneten,  findet  man  hier  nicht 
das  Schöne,  sondern  eher  das  Lächerliche;  und  eben  dies  gilt  oft  noch 
auffallender  von  den  Situationen.  Völlig  bekannt  (seiner  Meinung  nach) 
mit  dem,  worauf  es  hier  ankommt,  versichert  dagegen  der  Verf.:  ,,Der 
allgemeine  Begriff  der  dramatischen  Poesie  legt  seine  Schönheit  allein  in  die 
unendliche  Bewegung  der  in  die  Nichtigkeit  des  Endlichen  abwechselnd  ein- 
sehejideyi    und   aus    derselben    wieder    hervortauchenden    Substanz."      Darin    ist 

■o 

etwa    soviel    ästhetischer    Verstand,    als    naturphilosophisches    Nachdenken 
in   den  Theorien  der  Chemiker,    welche  den  Reichtum  ihrer  Wissenschaft 
in  den  Käfig  einsperren,  den  sie  aus   -\-  E  und  —  E  gebaut  haben.    Wie 
sollte  hier  von  dem  großen   Unterschiede  der  satirischen  Komödie,  welche 
das  Verkehrte   wegzuspotten   den  ernsten   Zweck  hat  (z.  B.  Tartuffe),    und 
des  heiteren  Lustspiels  (z.  B.  Krähwinkel)  die  gehörige  Entwicklung  zu  er- 
warten sein?   —  Die  Trichotomie  gebietet,  zum  gemischten  Drama  über- 
zugehen; wo  wir  uns  gern  mit  dem  Verf.  sogleich  an  Shakespeares  Kauf- 
mann von  Venedig,  als  eins  der  besten  Muster,    erinnern  möchten,  wenn 
nicht  eben  diese  Erinnerung  uns  sogleich  mit  ihm  entzweien  müßte.    Wird 
denn  jemand   dies  Werk   höher  stellen,    als  Hamlet,    Romeo,    Lear,    oder 
irgend    eine    sophokleische    Tragödie?    Und    doch    scheint    den   Verf.    der 
Gang    seiner    eigenen    Betrachtung    dahin    zu   nötigen.      Denn    er   beginnt 
wieder   mit  großem  Pathos,   als  sollten  wir  nun  endlich!    das  Allerhöchste 
der  Kunst   kennen    lernen;    nämlich:    auch    in    den    schroff esten    Gegensätzen 
des  Ideals  und  des  Lebens  die  wesentliche  Einheit  festzuhalten.     Das  soll  er- 
reicht  werden   durch   Verschmelzung   der   Elemente    des    Komischen   und 
des  Tragischen.     Und  nun  vollends  die  Erläuterungen  hierzu!  Da  kommt 
uns   noch   einmal    die  Geschichte  in  die  Quere;    aber  diesmal  die  Kunst- 
geschichte,   mit    der    aus    ihr    geschöpften    Unterscheidung    des    antiken, 
romantischen,    modernen  Drama.     War   denn   hier   dazu    der  Ort?    Reine 
Tragödien,    reine    Komödien,    und    die   Zusammensetzungen   beider   waren 
und  sind  zu  allen  Zeiten  möglich;  und  die  allgemeine  Ästhetik  soll  diese 
zeitlose  Möglichkeit  in  Begriffen  dartun.    Dann  aber  wird  sie  die  Mischung 
dessen,   was    ungleichartige    Affekten    erregt    —    des  Tragischen   und   des 
Komischen    —    dem   minder  geübten   Dichter   stets   widerraten,    während 
sie  dem  Meister,  z.  B.  einem  Shakespeare,  einräumt,  daß  er  an  Wahrheit 
gewinnt,  indem  er  den  häufigen  Wechsel  des  Lächerlichen  und  Traurigen, 
der   im   wirklichen  Leben    vorkommt,    auch   auf  der  Bühne   nicht   scheut; 
daß   er  die  Affekten  zu  erhöhen  oder  auch  zu  mäßigen  vermag,    wenn  er 
durch  Abwechslung  am  rechten  Orte  der  Ermüdung  und  der  Überspannung 
vorbeugt;  ja  sogar,  was  vielleicht  die  Hauptsache  sein  dürfte,  daß  er  die 
Gefahr  jener   schiefen  Auffassung,   die   selbst    das  Tragische   bei  geringem 


C.  H.  Weisse:  System  der  Ästhetik  als  Wissenschaft  von  der  Idee  der  Schönheit.      257 


Anlaß  gern  in  Lächerliches  verkehrt,  durch  starke,  komische  Effekte  wohl 
am  sichersten  vermeiden  könne.  Alle  diese  Betrachtungen  dienen  aber  nur, 
dem  Künstler  Freiheit  zu  gewähren;  keineswegs  bezeichnen  sie  einen  Vor- 
rang des  gemischten  Drama  vor  der  reinen  Komödie  oder  Tragödie. 
Aristoteles  möchte  noch  immer  sagen:  qv  nüau.r  dn  LijTcif  r^doviiy  dno 
jQuycodiug,  a/la  Tfjf  oixeiuy;  und  vielleicht  würde  er  selbst  von  Shakespeare 
den  Beweis  fordern,  daß  nicht  auf  anderem  Wege  die  gleich  starke  Wirkung 
mit  Gewinn  für  die  Reinheit  und  Reinigung  des  Affekts  hätte  können 
erreicht  werden,  als  auf  einem  solchen,  worauf  der  INIeister  sehie  Virtuosität 
freilich  desto  auffallender  zeigt,  je  leichter  die  Nachahmer  hier  ausgleiten, 
und  ihre  Unfähigkeit  verraten.  Der  Unterschied  dürfte  wohl  am  meisten 
darin  liegen,  daß  der  Meister  sein  Komisches  in  der  Tragödie  ganz  streng 
als  ein  Zeitliches  kommen  und  verschwinden,  also  es  aus  der  Handlung 
hervorgehen  läßt,  so  daß  es  zwar  auf  Augenblicke  den  Affekt,  jedoch  auf 
keine  Weise  die  Hauptauffassung  des  an  sich  tragischen  Ganzen  stören 
könne;  während  der  Nachahmer  den  Faden  zerschneidet,  um  bunte 
Lappen  hineinzufügen,  ja  wohl  gar  die  Hanptcharaktere  durch  komische 
Schwäche  verdirbt,  wodurch  der  Eindruck,  der  wie  ein  Wölkchen  vor- 
überziehen sollte,  sich  vertieft  und  bleibt.  Solche  Mißgriffe  erinnern  wieder 
an  das  obige  f.ituQ(y,  das  in  der  neuesten  Tragik  einen  gar  breiten  Platz 
zu  bekommen  scheint,  und  den  Werken  der  Kunst  den  Todeskeim  mit- 
gibt,  sie  mögen  nun  modern  sein  oder  nicht. 

Da  wir  gleich  anfangs  den  Faden  des  Verfs.  verließen,  so  müssen 
wir  den  unsrigen  nun  weiter  führen,  und  dabei  hat  uns  Aristoteles 
schon  geholfen,  indem  er  das  Epos  der  Tragödie  am  nächsten  stellte. 
Und  warum  sollte  er  nicht?  Homer  wenigstens  tritt  persönlich  so  gut 
als  ganz  zurück;  die  Macht  der  Dichtung  aber  bringt  uns  dahin,  daß 
wir  Handlungen,  als  geschähen  sie  gegemvärtig,  und  wären  eben  jetzt  in 
voller  Bewegung,  mit  anzuschauen  glauben;  der  Klang  des  Verses  über- 
nimmt die  Wirkung  auf  den  Sinn;  daher  die  Bühne  und  die  Musik  kaum 
noch  vermißt  wird.  Freilich  wenn  man  zum  Epos  den  Roman  mitrechnet, 
samt  der  Novelle  und  was  ihr  ähnlich  ist,  —  Erzählungen,  welche  gleich 
Biographien  von  der  Geburt  ihres  Helden  beginnend,  summarisch  die 
Hauptbegebenheiten  seines  Lebens  zusammenreihen,  und  durch  mancherlei 
gute  Lehren  uns  die  Autorität  des  Verfs.  empfinden  lassen:  dann  gerät 
man  ins  didaktische  Gebiet,  vollends  wenn  die  historische  Novelle  auch 
noch  einigen  Unterricht  in  der  Geschichte  damit  verbindet,  und  hier- 
durch sich  ganz   von   der  Tragödie  entfernt;  jenem  /.lay.uQioy  noirji-iu, 

—  —  il'ye  TiQfvTOv  Ol  Xoyoi 
vno    rujv  S^turiöv  doiv  iyycoQio^hvoi^ 
nQiv  y.ui   XIV    tineh',   wq  vnOf.ivrjOai  f,iovoy 
dei   Tov  noi}]rriv      Oldinovv  yuQ  uv  yt   (flu, 
T«  Ö^ülTJm   navT    ioaai. 
Diesen   Vorzug    hatte    zwar    auch    das    alte   Epos,    dessen    Inhalt    im    all- 
gemeinen jeder   voraus   wußte,   so   daß   die  Poesie   nichts   lehrte,   sondern 
nur   schmückte;    wie  jedes  klassische  Werk  auch  noch  heute  sich  verhält, 
indem   es   seine    eigentliche  Wirkung    erst   dann   beginnt,    wann    die   erste 
Neuheit  und    deren  Wirkung   schon   vorüber   ist.     Unser  Verf   ist  jedoch 

Herbarts  Werke.     XIII.  *■' 


2-8  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


ganz    anderer  Meinung.     Er  steht  keinesweges  an,    Selbstbiographien,    wie 
Goethes    Dichtung    und    Wahrheit,    auf   gleiche    Weise    mit    anderen    in 
ähnUchem  Geiste   abgefaßten  Geschichtswerken  der  epischen  Gattung  bei- 
zuzählen.    Er  hält  aber  scharf  darauf,  daß  der  Inhalt  des  Epos  ein    Ver- 
gaiioenes    sei,    und   als   vollendete   und   ruhende   Vergangenheit    erscheinen 
müsse;    und   er   scheint  es  fast  für  wesentlich  zu  halten,    daß  die  epische 
Kunst    den    idealen   Inhalt    ihrer  Darstellung   als   eineii    außerhalb    der  sub- 
jeklhmi    Tätigkeit   des  Dichters    bereits   vorhandetmi,   ja  sogar  dieser   Tätigkeit 
gegenständlichen    vorstelle.     „Indem    der   erzählende  Dichter   sich  nicht  für 
das,   was    er  in  Wahrheit  ist,   nämlich  für  den  Schöpfer,    sondern  für  das 
gleichgültige  Mittel    oder  Werkzeug   der  Offenbarung   einer   fremden  Sub- 
stanz  gibt,    —    so    ist   er  in  dem  Falle,    dieses  sein  eigenes   Geschöpf  als  den 
Gott   anzubeten,    der   seine    Darstellung    ohne    das    Verdienst    ihrer    Kunst    mit 
aller    Herrlichkeit    des   Ideals    erfüllt."     Wo    geschieht   denn    das?     Etwa    in 
den  paar  vorgeschriebenen  Worten:    i.u]viv  anÖi,  &eu?    oder  vielmehr  (da 
hier   nicht    einmal   die  Person   des  Dichters   gezeigt   wird)   in   dem  ayÖQu 
1.101   l'yyfm?   —   Wenn  es  dem  Verf.  beliebt,  auf  die  Eingänge  so  großes 
Gewicht  zu  legen:  so  mag  er  sich  nicht  wundern,  daß  wir  diese  Eingänge 
auffallend  kontrastieren  sehen  gegen  seine  fernere  Behauptung,  der  eigent- 
liche Gegenstand  des  Epos  sei  der  Held,  das  Persönliche  des  Charakters, 
hingegen    das   epische  Interesse   liege  in  den  Begebenheiten  nur  insoweit, 
als°dieselben    die    Freiheit    der    Charaktere    in   Taten    zeigen.      Wirklich? 
Was   war   denn  jene  .«'>'<?,   war  sie  ein  Tun  oder  ein  Unterlassen?    War 
sie   als   Charakterzug   der  Gegenstand   des  Gesangs,    oder   als  Grund    des 
Unglücks  der  Griechen:   IIoI'/mq  ö'  }(f>d^i^iovg  xpv/ug  äidi  TiQOiaxptv^  darum 
wird    sie    besungen.     Und  jener   dpi'iQ,    cg  f.iülu   nolla    nXuy/ß?],    kommt 
hier   nicht   mehr   als  Zerstörer   von  Troja   (das    war  vorbei!),   sondern  als 
der    7ioXtT)Mg    zum   Vorschein,    dessen   Tun    aus    dem    Leiden   folgt,    und 
dessen  Tatkraft    noch   obendrein   großenteils    in   seine  Schutzgöttin  verlegt 
wird,  ohne  Sorge,  er  werde  dabei  veriieren.    Während  wir  nun  nicht  ein- 
räumen,   daß    dem    Epos    eine    besondere    Kraft    beiwohne,    mehr    durch 
Charaktere,    als    durch    Begebenheiten    zu    interessieren,    vielmehr   gerade 
umgekehrt   behaupten   müssen,    daß,   je   länger  das  Epos,  desto    mehr  das 
Interesse   auf   der  Handlung   ruhen   wird,    da   der  Charakter   schon  durch 
seine  ersten  Proben  meistens  kenntlich  genug  ist;  und  vielleicht  drei  Viertel 
eines  Epos    nach  jener  Ansicht   sich   in  ein  überflüssiges  und  langweiliges 
Gerede    verwandeln    würden:     so    ist    andrerseits    ebensowenig    von    der 
Tragödie   einzuräumen,    daß   ihr,    weil   sie   Drayna   heißt,    die    Handlungen 
wichtiger    seien,    als    die  Charaktere;    vielmehr   ist   bei   ihr   die  Charakter- 
zeichnung intensiver,  weil  sie  kürzer  ist  als  im  Epos.     Das  ist  der  ganze 
Unterschied.     Wir    können  auf  keine  Weise  einen  spezifischen  Gegensatz 
zwischen  Epos  und  Tragödie  annehmen,  der  in  dem  Inneren,  dem  eigent- 
lich   ästhetischen  Wesen    beider,    beruhen   soll;    sondern   wir   finden    bloß 
Unterschiede   in   den  Vehikeln,    Bedingungen    und    Begrenzungen    der  Art 
und  Weise,   wie   eineriei  Schönes   von   der  Tragödie  und  dem  Epos  dar- 
gestellt   wird.      Wenn    aber   weiterhin    vom    Roman    wirkliche    Welt-    und 
Lebensweisheit  gefordert  wird,  so  bekennen  wir,  nun  freilich  in  eine  Gattung 
hinein    versetzt  zu  sein,    die  man  wenigstens  der  Vorsicht  wegen  von   der 


C.  H.  Weisse:  System  der  Ästhetik  als  Wissenschaft  von  der  Idee  der  Schönheit.      259 


Tragödie  weit  entfernt  halten  mag,  damit  nicht  das  Theater,  das  jetzt 
schon  oft  genug  nach  den  besten  Künsten  unser  Herz  zerreißt,  sich  gar 
in  eine  Art  von  Katheder  verwandle,  zu  welchem  man  lieber  am  Morgen 
als  am  Abend  würde  wallfahrten  wollen.  Kurz:  auch  hier,  wo  der  Verf. 
das  Epos  und  den  Roman  zusammenbringt,  um  beide  gemeinschaftlich 
dem  Drama  gegenüber  zu  stellen,  können  wir  unmöglich  der  Dialektik, 
die  solches  Verbinden  und  Sondern  hervorruft,  nachrühmen,  daß  sie  die 
eigentlichen  ästhetischen  Momente  ins  Klare  gesetzt  habe;  wenn  sie  auch 
mit  BouTERWEK  u.  a.  hierin  einigermaßen  zusammentrifft. 

Bevor  wir  zur  Lyrik  —  der  einzigen  noch  übrigen  poetischen  Haupt- 
gattung, welche  unser  Verf.  gestattet  —  übergehen,  ist  notwendig,  vom 
Rhythmus  samt  dem  Metrum,  und  vom  Reim  zu  reden,  da  man  wohl 
als  einleuchtend  sollte  voraussetzen  dürfen,  daß  lyrische  Poesie  wesentlich 
das  Spiel  des  Gedankens  mit  der  Sprache,  und  zwar  in  großer  Mannig- 
faltigkeit der  Formen,  in  sich  schließt;  und  daß  die  Auflösung  des  Ge- 
dichts in  Prosa  bei  keiner  Art  von  Gedichten  übler  als  bei  den  lyrischen 
angebracht  sein  würde.  Dieser  Umstand  ist  für  die  Lyrik  um  desto  mehr 
charakteristisch,  da  sich  im  Gegensatze  mit  derselben  die  epische  und 
dramatische  Poesie  gern  an  einerlei  Metrum  gewöhnt,  und  ohne  Schwierig- 
keit sich  hierin  fast  gleichmäßig  fortbewegt,  wie  auch  immer  der  Gegen- 
stand und  die  Empfindung  wechseln  mögen.  Doch  würden  wir  mit  Hrn.  W. 
nicht  darüber  streiten,  daß  er  noch  vor  der  Unterscheidung  der  poetischen 
Hauptgattungen  von  Rhythmus  und  Reim  redet;  während  freilich  der  Roman 
und  seine  Unterarten  sich  mit  einer  wohlklingenden  Prosa  begnügen,  die 
sich  in  die  gewöhnliche  gebildete  Sprache  ohne  bestimmte  Grenze  verläuft. 
Hätten  wir  nur  nicht  wiederum  hier  eine  höchst  ungelegene  Dialektik  zu- 
rückzuweisen. Aber  nach  dieser  Dialektik  wird  uns  zuvörderst  angesonnen, 
uns  zu  wundern  über  einen  merkwürdigen  Widerspruch,  nämlich  darüber, 
daß  die  Sprache  eben  da,  wo  sie  einen  höheren  und  reicheren  Geist  aus- 
drücken soll,  als  ein  Quantitatives  gezählt  und  gemessen  wird.  Wenn  der  Verf. 
sich  mit  dem  Quantitativen  ungern  beschäftigt,  so  würden  wir  ihm  raten, 
sich  nicht  damit  zu  plagen.  Man  braucht  ebensowenig  zu  zählen  und 
zu  messen,  um  den  Rhythmus  zu  empfinden,  als  man  nötig  hat,  Paganinis 
Griße  auf  der  Geige  zu  kennen,  um  sich  seinem  Spiele  hinzugeben. 
Freilich,  wenn  man  die  Geige  auch  nur  erträglich  spielen  will,  dann  muß 
man  ernstliche  Studien  an  das  Griffbrett  tmd  an  den  Bogenstrich  wenden; 
—  und  wollte  Hr.  W.  eine  Ästhetik  schreiben,  so  hatte  er  unstreitig  Ursache, 
den  Numerus  der  Prosa  wenigstens,  und  die  Bedingungen  eines  gefälligen 
Ausdrucks  genauer  zu  studieren,  als  von  ihm  scheint  geschehen  zu  sein. 
Es  hängt  nun  einmal  in  der  Welt  überall,  wohin  man  sich  auch  wenden 
möge,  ungemein  viel  vom  Quantitativen  ab;  —  soviel,  daß  diejenigen,  die 
sich  scheuen,  davon  zu  hören,  immer  Gefahr  laufen,  sich  in  einer  Traum- 
welt einheimischer  zu  machen,  als  in  einer  wirklichen.  Und  für  eine 
Ästhetik  hätte  es  sich  wohl  geschickt,  von  den  sehr  verschiedenen  Theorien 
über  Metrik  dem  Leser  etwas  zu  sagen;  —  wir  erwarteten  hier  wenigstens 
eine  Notiz  über  das  Streitige  zwischen  Apel,  Hermann,  Böckh  usw. 
Aber  was  finden  wir?  —  „Erst  nach  Zurückdrängung  der  gemeinen,  end- 
lichen Lebendigkeit,    indem   diese   als  das,   was  sie  ist,   als  Negatives  und 

17* 


200  J-  ^'  Herbarts  Rezensionen. 


Totes     ausdrücklich    gesetzt"    (von    wem    denn    wohl    gesetzt?    etwa    vom 
HoRAZ  oder  noch  früher  von   Pindar?)    ,,und  demgemäß  behandelt"  (etwa 
gezüchtigt?  oder  gar  mißhandelt?)  „wird,  kann  das  höhere  Leben  des  ab- 
soluten Geistes  in  Erscheinung  übergehen;  in  eine  solche  Erscheinung,   in 
welcher    von    der    gemeinen  Erscheinung   eben   nur   dasjenige   beibehalten 
wird,    was   an   ihr   das  Element   der  Äußerlichkeit   ist;    was  aber  ihr  Für- 
sichsein und  ihre  Substantialität  ausmachte,  entweder  beiseite  gelegt,  oder 
ausdrücklich    zur    erscheinenden   Äußerlichkeit    verarbeitet  wird.     Die  Stelle 
übii"etis^    ruelche    der   Rhythmus    in    der  Dichtkunst   ein?iimmt ,    ist   eine  ganz 
nnaloi^e    mit  jener,    welche    ihm    in    der    Tonkunst    zukommt."'      Vortrefflich ! 
Damit    ist    der   Streit    entschieden,    ob,    wie   jede   Zeile    des    sapphischen 
Metrums  fünf  Füße    in    sich  faßt,    so  auch  in  der  Musik  von  fünfteiligen 
Taktarten  Gebrauch  könne  gemacht  werden.    Da  hätten  wir  an  dem  Verf. 
einen    Mitstreiter,    wenn    irgendwie    sein    Buch    dazu   taugte,    als  Autorität 
angeführt   zu   werden.     Allein  es  ist  Zeit,    den  Verf.  über  lyrische  Poesie 
reden  zu  hören.     ,,Da  das    Wesen  und  Beioußtsein  der  epischen  Poesie  ganz 
in  die    Voraussetzung  des  Ideals  aufgegangen   war:  so  zeigt  sich  die   Wahi'heit 
dieser   Voraussetzung    in  der  lyrischen  Poesie."      (Wie  denn  zu  der  Zeit,    da 
es  noch  keine  lyrische  Poesie  gab?    Wenn  das  Epos  weit  älter  ist,  wenn 
an    ihm   die   poetische  Sprache   zuerst  ausgebildet  werden  mußte,    ehe  sie 
den  kunstreicheren  lyrischen  Experimenten  sich  fügen  konnte:  so  - —  zeigte 
sich    damals    noch    nicht    die    Wahrheit    der    Voraussetzung    des    Ideales?) 
„Z?a.y    Vorausgesetzte,    dessen   Schönheit  7mmittelbar  in   die  Erzähbmg   übergehen 
sollte.,    bleibt   in    der   Tat    dieser  fern   und  entfremdet ;"  (also  die   Erzählung 
hätte   die  Schönheit,    die   ihr  zugedacht  war,  nicht  empfangen  ?    das  Epos 
wäre   von  ihr  nicht  durchdrungen?    es  wäre  —  in  der  Ilias  und  Odyssee 
mißraten??    Aber    weiter:)    ^.^das   subjektive    Tim    der  Kunst,    das   sich    dieser 
Efitfremdting    beivißt   7uird^'   (die    Frage,    woher    denn    wohl    solches   Be- 
wußtsein  komme,    ist   dem  Verf.,    wie   es   scheint,    nicht  eingefallen),    ^,ver- 
ivandelt   sich    in    den    Ausdruck    der    Erinnerung.,    der  Seimsucht ^    kurz'"''    (der 
lyrischen  Begeisterung?   noch   nicht  sogleich,  sondern  fürs  erste)  .,.,des  bald 
ausdrücklich  gesetzten,   bald  wiederum   durch  Annähemiig  aufgehobenen    Gegen- 
satzes   zu    dem   Ideale.      Eben    durch    diesen    Gegensatz    aber   behommt  die  dem 
Ideale   gegenübe^'stehende  Subjektivität    und  Einzelheit   eine    absolute  Bedeutung, 
und    wird  zum   eigentlichen    hihalte   der  Kujist'-''    (daß   subjektive    Einzelheit 
jemals  eine  absolute  Bedeutung  gewinnen,    oder  durch  einen  Machtspruch 
des  Hrn.  W.  bekommen  könne,    dies  leugnen  wir,  beiläufig  gesagt,   durch 
einen  entgegengesetzten  Machtspruch  für  diejenigen,  die  es  nicht  von  selbst 
einsehen),    „der  Kunst.,   die  sich   tiinunehr  durch   Zersplitterung   ihres  epischen 
Gesamtkörpers  in   eine   Unendlichkeit  kleiner  Kunstindividuen,  und  durch  Ein- 
gehen  in  die  strengsten  und  die  kunstreich  vei'wickeltsten  Tonnen  des  Rhythmus 
und  des  Reimes  als  übergegangen   in   die  Gestalt  dieser  Subjektivität  des  Etnp- 
findens  und  Begehrens,  und  als  entäußert  an  dieselbe  kund  gibt.^^     Man   darf 
hier  Glück   wünschen,    denn  der  Verf.  ist  am  Ziele.     Die  kleinen  Lieder, 
Oden,    Canzonen,  Sonetten,  Elegien,  und  wie  diese  glänzenden  poetischen 
Insekten  weiter  heißen  (denn  gemessen  mit  dem  Maße  eines  homerischen 
Epos,    oder   gar   eines   bändereichen  Romans,    sind   sie  unstreitig  alle  sehr 
kleine   Kunstindividuen!),   kommen,    vermöge  seiner  Dialektik,    auf  ähnliche 


C.  H.  Weisse:  System  der  Ästhetik  als  Wissenschaft  von  der  Idee  der  Schönheit.      26 1 

Weise  zur  Welt,  wie  die  Welt  selbst  entstanden  ist,  nämlich  durch  Zer- 
splitterung einer  Gesamtheit,  —  von  der  wir  bloß  bewundern,  daß  es 
gerade  eine  epische  Gesamtheit  ist.  Da  bekanntlich  der  Analysis  die 
Synthesis  entspricht,  so  hätte  der  Verf.  unternehmen  sollen,  aus  den 
Splittern  das  Ganze  rückwärts  zu  konstruieren,  damit  man  den  horazischen 
oder  klopstockischen  Oden  doch  irgendwie  ansehen  möge,  sie  seien  Frag- 
mente eines  ehemaligen  größeren  Ganzen.  Bei  den  Astronomen  kommt 
eine  Hypothese  vor,  die  neu  entdeckten  kleinen  Planeten  seien  Fragmente 
eines  zersprengten  größeren  Weltkörpers.  Das  kann  man  nun  freilich  diesen 
Sternchen  nicht  ansehen,  —  und  die  Folge  hiervon  ist,  daß  die  Astronomen 
sich  hüten,  ihre  Hypothese  mit  solcher  Zuversicht  auszusprechen,  als  wäre  es 
eine  bewiesene  Theorie.  Aber  freilich:  für  Oden  und  Lieder  braucht  man 
keine  Femröhre;  daher  muß  man  sich  wundern,  daß  nicht  längst  jemand  den 
epischen  Gesamtkörper  entdeckt  hat,  den  wir  wohl  noch  lange  suchen  werden. 
Denn  welcher  ist  es?  Weder  die  Ilias  noch  die  Odyssee,  weder  die  Äneide 
noch  die  Messiade!  Denn  diese  sind  nicht  zersplittert,  sie  liegen  dergestalt 
vor  uns,  daß  niemand  für  sie  eine  Zersplitterung  in  lyrische  Individuen 
besorgen  wird.  Also  wohl  gar  die  platonische  Idee  des  Epos!  Das  wäre 
ein  Unglück ;  denn  alsdann  verdienten  die  vorgenannten  Epopöen  nicht 
einmal  mehr  diesen  ihren  Namen,  der  ihre  Ähnlichkeit  mit  ihrem  Urbilde 
rühmend  anzeigt.  Oder  ein  Rest  der  Sagendichtung,  dem  die  epische 
Ausbildung  nicht  mehr  zu  teil  geworden  war^  Aber  davon  ist  die  Emp- 
findung^ welche  aus  dem  Gemüt  des  Lyrikers  hervorbricht,  gar  weit  ver- 
schieden. Wenn  übrigens  Hr.  W.  von  einem  ,,riclitigen  Instinkte"'  spricht, 
welcher  die  ästhetischen  Theoretiker  darauf  geleitet  habe,  die  Lyrik  als  das 
Mittelglied  zwischen  der  Epik  nnd  der  Dramatik  anzusehen:  so  besorgen 
wir,  daß  anstatt  eines  richtigen  Instinkts  hier  bloß  ein  unzulässiger  Seiten- 
blick auf  die  Geschichte  anzunehmen  sei;  und  zwar  auf  Geschichte 
der  Kunst  bei  den  Griechen.  Wir  aber  verlangen  von  einer  Ästhetik, 
daß  sie  auf  die  neuere  Zeit,  ja  auf  den  heutigen  Tag  ebensogut  passen 
soll,  als  auf  das  Altertum.  Daß  große  Epopöen  jetzt  der  Vergangenheit 
anzugehören  scheinen,  weil  sie  für  den  Dichter  einen  Kreis  von  Zuhörern 
voraussetzen,  wie  er  ihn  heute  nicht  mehr  finden  würde,  —  dies  ist 
schlechterdings  kein  Grund,  die  beiden  objektiven  Gattungen,  Epos  und 
Drama,  auseinander  zu  sperren,  und  die  subjektive,  lyrische,  in  klarer  Un- 
ordnung dazwischen  zu  schieben.  Es  wird  lyrische  Poesie  immer  und 
überall  geben,  wo  menschliche  Gemüter  eine  gebildete  Sprache  vorfinden, 
um  sich  darin  zu  ergießen  und  mitzuteilen.  Dramatische  und  epische 
Poesie  dagegen  sind  offenbar  abhängig  von  der  Empfänglichkeit  eines 
großen  Publikums;  denn  für  sich  allein  wird  niemand  an  große  poetische 
Kunstwerke  seinen  Fleiß  wenden. 

Der  Verf.  hat  sich  wohl  gehütet,  die  Auflösung  des  knotigen  Ge- 
spinstes, womit  er  alle  bekannten  Gattungen  der  Künste  umwob,  leicht 
zu  machen.  Seine  Poetik  geht  nicht  ins  Einzelne.  Von  der  Sphäre  der 
eigentlichen  Kunstkenner,  die  sich  in  der  Beurteilung  des  Einzelnen  weit 
sicherer  fühlen,  als  im  Anordnen  und  Ableiten  allgemeiner  Begriffe,  und 
die  eben  deshalb  vor  Theorien,  die  sie  nicht  verstehen  und  deren  Ur- 
sprung sie   nicht  kennen  —  mit  Respekt  zurückzuweichen  pflegen,  —  ist 


2  02  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


er  weit  genug  entfernt  geblieben;  daher  es  keineswegs  leicht  ist,  ihn  bei 
solchen  Punkten  zu  fassen,  wo  eine  Autorität,  wie  jene  des  Aristoteles, 
ihm  stark  und  bestimmt  entgegentrete.  Vielmehr  gibt  er  Einzelnes,  das 
für  ihn  bestechen,  und  auch  den  befremdendsten  Reden  das  Vorurteil, 
als  ob  großer  Tiefsinn  dahinter  verborgen  wäre,  erobern  kann.  Dahin 
gehört  die  Unterscheidung  zwischen  Sagendichtting  und  Poesie,  von  welcher 
an  mehreren  Stellen,  und  gleich  in  einem  der  ersten  Paragraphen  des 
zweiten  Bandes,  gesprochen  wird.  Der  Verf.  erklärt  es  für  Mißverstand 
und  Verwechselung,  den  Rhapsoden -Gesang,  welcher  von  einer  ganzen 
Volksmasse  ausgehen  konnte,  für  den  immittelbaren  Ursprung  der  großen 
Gedichte  Homers  zu  halten.  Rez.  war  schon  von  der  ersten  Zeit  an, 
da  die  Wolfsche  Hypothese  bekannt  wurde,  fest  überzeugt,  daß  dieselbe 
niemals  ein  bleibendes  Übergewicht  erlangen  würde  über  den  Gesamt- 
eindruck, welchen  die  Ilias  und  noch  mehr  die  Odyssee  auf  den  Un- 
befangenen machen;  zudem,  da  sich  für  einzelne  Anomalien  Entstehungs- 
gründe genug  denken  lassen,  ohne  daß  man  zu  mehreren  Urhebern  seine 
Zuflucht  nehmen  müßte.  Hr.  W.  ist  übrigens  dreist  genug  zu  sagen:  er 
müsse  jene  Hypothese  für  eittschiedenes  Mißverständnis  erklären;  und  für 
Verwechselung  zweier  durch  den  Begriff  selbst  durchaus  unterschiedener 
Gestaltungen  der  geistigen  Schönheit.  So  genau  weiß  der  Mann  das,  was 
er  meint ;  und  es  fehlt  bloß,  daß  er  die  Güte  habe,  uns  vermöge  seiner 
divinatorischen  Dialektik  nunmehr  bestimmt  und  pünktlich  anzuzeigen,  wer 
denn  Homeros  gewesen,  welche  Stufe  der  Bildung  in  der  Sagendichtung 
er  vorgefunden,  welche  Übungsschule  er  durchlaufen,  ob  er  die  Ilias 
früher  als  die  Odyssee  geschaffen,  in  welcher  Ordnung  er  die  einzelnen 
Gesänge  gedichtet,  umgearbeitet,  ausgefeilt  habe;  kurz,  wie  das  zwiefache 
Wunder  der  beiden  mit  höchster  Leichtigkeit  und  Kunstfertigkeit  hin- 
gegossenen, in  den  großen  Umrissen,  wie  in  den  kleinsten  Einzeln- 
heiten vortrefflichen,  untereinander  so  ähnlichen  und  doch  bestimmt  ver- 
schiedenen Werke  zu  erklären  sei.  Aber  solche  Ausführlichkeit  würde  die 
so  entschiedene  Erklärung  leicht  kompromittiert  haben;  klüger  war  es 
unstreitig,  sich  nicht  tiefer  einzulassen,  sondern  beim  Allgemeinen  stehen 
zu  bleiben. 

Bevor  wir  die  Poetik  ganz  verlassen,  wollen  wir  nunmehr  dem  Verf. 
seine  Anordnung  als  sein  Eigentum  wieder  zurückgeben,  indem  wir  daran 
erinnern,  daß  bei  ihm  die  epische  Poesie  den  vorderen  Platz  einnimmt, 
die  lyrische  darauf  folgt,  und  die  dramatische  den  Beschluß  macht.  Da- 
mit mag  nun,  wer  Lust  hat,  die  Trichotomie  der  bildenden  Kunst  ver- 
gleichen, nämlich  Baukunst,  Skulptur,  Malerei.  Die  Kürze,  in  welche  wir 
uns  von  jetzt  an  einschließen  müssen,  macht  uns  geduldig  gegen  die  längst 
bekannte  gefrorene  Musik;  desgleichen  gegen  die  echt  dialektische  Natur 
des  Gegensatzes,  „die  ja  allenthalben  nicht  in  einem  abstrakten  Aus- 
einanderhalten der  entgegengesetzten  Glieder,  sondern  darin  besteht,  daß 
die  Negation,  die  in  dein  einen  verborgen  oder  unbewußt  schon  enthalten 
ist,  in  dem  anderen  ausdrücklich  gesetzt  wird;"  ferner  gegen  die  Schlau- 
heit, womit  der  Forderung,  die  ganze  sichtbare  Umgebung  in  ein  schönes 
Kunstwerk  umzuwandeln  (hiermit  wäre  freilich  die  schöne  Gartenkunst 
neben     die    Baukunst    gestellt,     und    die    Trichotomie    verdorben!),    aus- 


C.  H.  Weisse:  System  der  Ästhetik  als  Wissenschaft  von  der  Idee  der  Schönheit.      263 


gewichen    wird    durch   die   heroische  Erklärung:    diese  Kunst  könne  ihren 
Beruf    nie    erfüllen,    sondern    ihre    Werke    seien    nia    Bruchstücke;    —    ja    wir 
erstrecken  unsere  Geduld  sogar  auf  das  unerhörte  dialektische  Kunststück, 
womit    die    Abhängigkeit    der    Architektur    von    den    Zwecken    der    Gebäude 
(hierdurch    tritt    sie    bekanntlich    in  den  niederen   Rang  der  verschönernden 
Künste    zurück)    auf    einmal    beseitigt    wird,    —    nämlich    vermöge    eines 
Dekrets,   welches  wörtlich  also  lautet:   wir  (der  Verf.)   müssen  infolge  dieser 
Betrachüing   (die  leider  hier  zu  weitläufig  wäre)  den  Ausspruch  tun,  daß  die 
eigentlich  schöne   Baukunst  jederzeit  und  unter  allen   denkbaren  geschichtlichen 
Bedifigungen    die   Tempel-   und  Kircheribaukunst  ist.      Zu   einigem  Ersatz  für 
die  fehlenden  Gründe  dieses  wichtigen  Spruchs  setzen  wir  die  Anfangsworte 
des  §  53   hierher:  „Wie  die  sichtbare  Natur  die  Bestimmung  hat,  Wohtiutig 
d.  h.    zunächst   nicht   unmittelbarer   Ausdruck   oder   Erscheinung,    sondern 
einerseits  nur  die  sein  allgemeines  Wesen  aufnehmende  Ruhestätte,  andrer- 
seits  der  Schauplatz   der  Wirksamkeit  des  endlichen  Geistes  zu  sein:    auf 
gleiche  Weise  ist  die  Bedeutung  der  Baukunst  diese:    Wohnungen  oder  Häuser 
zu    bauen  für   den    göttlichen    Geist.''     So    ist    denn    „die    religiöse    Bedeut- 
samkeit  nicht    von    der  Schönheit   abgetrennt,    sondern  dem  Begriffe  nach 
in    dieser   enthalten."     Könnte   man    doch   Begriffe    in  Steine   verwandeln; 
wie    leicht,    wie  wohlfeil  würde  dann  das  Bauen!    Nun  wundere  sich  nie- 
mand mehr,  daß  dem  Architekten  eine  neue  Würde  erteilt  wird,  nämlich 
—   die  Würde  des  Propheten.    „Keine  andere  Kunst  vermag  so  sehr,  selbst 
der   geschichtlichen  Vollendung   vorauseilend,    den  Geist  derselben  voraus 
zu  verkündigen,  im  Dienste  derjenigen  Religionen,  welche,  noch  nicht  bis 
zur    Durchbildung    vorgeschritten,    nur    die    Allgemeinheit    des    göttlichen 
Geistes    noch    in  Form    der    Naturelemente    offenbaren.      Daher   die    un- 
bestreitbar hohe  Würde  der  orientalischen  Baukunst  im  hohen  Altertum." 
Genug  von  der  Baukunst.     Wir  kommen  zur  Skulptur.      ,fndem   der  Geist 
einem   räumlichen  Körper  sich  einbildet,   wird  er  zu  einem  individuellen.    Diese 
Bestimmung    aller    bildenden    Kunst,    die    an    der   Architektur    unbewußt    und 
gleichsam    latent   vorhanden    ivar,    ivird  ausdrücklich  gesetzt  in   der  plastischen 
Kunst;    deren     Werke    die    Gestalt    der    natürlichen    Lebendigkeit   haben,    und 
zivar  vorzugsweise  die    Gestalt  der  ?}ienschlichen   Persönlichkeit,    als  die  eigent- 
liche   des    Geistes.''     (Auf  anderen    Planeten    sehen   die    Geister   also    auch 
aus,   wie    Menschen,    ungeachtet   der   dort  ganz   anderen  Verhältnisse    der 
Schwere,  der  Wärme,  der  Atmosphäre?)  „Aus  der  Stellung  eines  absoluten 
Gegensatzes,    welche    die    Skulptur    annimmt,    indem    sie    nicht,    wie    die 
Architektur,    das   Ideal   von   der  Seite   seiner  Einheit   mit   der   räumlichen 
Welt,  sondern  von  der  Seite  seines  Widerspruchs  zu  dieser  darstellt,  sind 
nun  ihre  vornehmlichsten  Eigenschaften  abzuleiten;''  —  allein,  wir  haben 
genug    von    der  Skulptur.     Es   folgt   die  IMalerei,   welche  „statt  der  räum- 
lichen Masse  selbst  nur  den  Schein  der  Masse  gibt,  nämlich  das  im  Lichte 
schwimmende  Farbenbild  derselben;  welcher  Schein  aber  als  reine  Qualität 
in    der   Tat    die  Wahrheit    der   räumlichen  Materie,    nämlich  ihr  Sein  für 
die  zeitliche  Wahrnehmung  und  Erkenntnis  lebendiger  und  geistiger  Wesen, 
und    in  dieser  Wahrnehmung  und  Erkenntnis  ist."     Solchen  idealistischen 
Scharfsinn  nach  Gebühr  bewundernd,  bemerken  wir  nur  noch  den  Unter- 
schied   der   historischen  Malerei,    welche  unmittelbar  das  Höchste,    nämlich 


2  54  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


das  im  Wechsel  miwandelbare ,  tmd  rastlos  sich  selbst  erhöhende  Göttliche, 
darzustellen  unternimmt,  —  von  der  Genre-Malerei,  um  die  wir  uns  nicht 
weiter  bekümmern,  sondern  einen  Augenblick  still  stehen,  um  zu  be- 
denken, ob  wohl  möglicherweise  jemand  überlegt  haben  könne,  was  er 
schreibt,  wenn  er  nicht  bloß  das  Göttliche  als  ein  solches,  das  sich  erhöht, 
folglich  jedesmal  niedriger  steht,  als  es  zu  steigen  im  Begriff  ist^  —  sondern 
die  Erhöhung  als  rastlos  in  demselben  Augenblicke  beschreibt,  in  dem  er 
das  sich  Erhöhende  soeben  nmvandelbar  genannt  hatte.  Dies  Umschlagen 
dünkt  uns  doch  beinahe  zu  rasch;  selbst  da,  wo  jedes  Glied  einer  Reihe 
seine  Negation  schon  unbewußt  in  sich  schließt.  Jedoch,  was  vermag  nicht 
eine  wachsende  Fertigkeit?  —  die  ganz  unstreitig  auch  in  Ansehung  des 
Umschlagens  durch  beständige  Übung  sehr  natüdich  entstehen  muß. 
Genug  von  der  Malerei.  Wir  kommen  zur  Musik,  von  der  wir  jedoch 
o-ar  nichts  zu  hören  verlangen,  indem  wir  an  der  Definition  des  Klanges 
—  immittelbare  Erscheinung  des  zeitlichen  oder  des  Fürsichseins  aller  konkreten 
Dinge  überhaupt  —  schon  vollkommen  genug  haben.  Doch  fast  wider 
Willen,  —  infolge  unserer  schon  erlangten  Fertigkeit  im  Umschlagen,  be- 
gegnet es  uns,  auf  S.  23  eine  Note  zu  bemerken,  die  eine  Art  von 
Ahnung  des  Fragepunkts,  aber  freilich  nicht  eine  Spur  von  Kenntnis  der 
darüber  angestellten  Untersuchung  verrät.  Der  Fragepunkt  besteht  darin, 
was  Töne  in  der  Seele  als  deren  Vorstellungen  seien,  wo  sie  gewiß  nicht 
Schwingungen  sind.  Und  die  erste  Bedingung  des  Untersuchens  ist,  daß 
man  die  Fortschreitungen  auf  der  Tonleiter  nicht  nach  geometrischen, 
sondern  nach  arithmetischen  Verhältnissen  abmesse,  indem  für  die  Musik 
jede  Oktave  gleich  groß  und  gleichviel  darin  zu  unterscheiden  ist.  Da 
nun  statt  der  gewöhnlichen  Zahlen  für  die  Verhältnisse  der  Intervalle  die 
Logarithmen  derselben  müssen  gesetzt  werden,  so  ist's  am  besten,  hier 
davon  zu  schweigen.  Übrigens  versteht  sich  von  selbst,  daß  bei  der  Auf- 
fassung der  Akkorde  an  ein  „imbeivußtes  Zähleji''  nicht  aufs  allerentfernteste 
zu  denken  ist.  Ebensogut  könnte  der  Stein,  wenn  er  vom  Dache  fällt, 
die  Quadrate  der  Zeiten,  nach  denen  seine  Fallräume  sich  richten,  ab- 
zählen, ohne  davon  zu  wissen.  Aber  die  gänzliche  Konfusion  der  Be- 
griffe, die  hier  zu  Tage  kommt,  hat  uns  schon  längst  nicht  mehr  über- 
rascht. 

Gleich  im  Anfange  seiner  Kunstlehre  beliebt  es  dem  Verf.  zu  sagen, 
es  gebe  vielleicht  wenig  Fälle,  wo  die  Philosophie  soviel  Einstimmung  von 
selten  der  allgefueinen  Denkweise  sich  versprechen  dürfe,  wie  bei  dem  Satze, 
daß  die  Kunst  die  Schönheit  selbst,  oder  die  ganze  Schönheit  sei.  Dies  vor- 
ausgesetzt, so  ist  Kunstlehre  die  ganze  Schönheitslehre;  und  nachdem  wir 
von  der  Kunstlehre  des  Verfs.  soviel,  als  für  diese  Blätter  passend  scheint, 
gesagt  haben,  so  ist  hiermit  von  seiner  ganzen  Schönheitslehre  genug  gesagt. 
Da  wir  indessen  an  jener  gerühmten  Einstimmung  der  allgemeinen  Denk- 
weise noch  sehr  starke  Zweifel  hegen,  so  dürfen  wir  den  vorstehenden 
Schluß  nicht  für  sicher  ausgeben;  vielmehr  fordert  die  Aufrichtigkeit,  zu 
bekennen,  daß  wir  noch  ungefähr  zwei  Dritteile  des  Werks  so  gut  als 
ganz  unberührt  gelassen  haben;  eine  Fundgrube,  welche  auszubeuten 
füglich  anderen  kritischen  Blättern  kann  überlassen  bleiben.  Allein  je 
unverständlicher    ein   Teil    unseres    Berichts    —    ohne    unsere   Schuld  — 


C.  H.  Weisse:  System  der  Ästhetik  als  Wissenschaft  von  der  Idee  der  Schönheit.     265 

ohne  Zweifel  den  meisten  Lesern,  die  sich  für  Ästhetik  interessieren,  sein 
mußte,  und  je  natürlicher  die  Frage  ist,  ob  heutigestages  die  Ästhetik 
vorwärts  oder  rückwärts  schreite  (eine  Frage,  die  soviel  ernster  ist,  da  von 
den  Künsten  selbst,  besonders  von  der  Poesie,  wohl  schwerlich  jemand 
jetzt  ein  Fortschreiten  rühmen  möchte),  desto  füglicher  können  wir  eines 
älteren,  sehr  bekannten  Buches  erwähnen,  nämlich  der  Ästhetik  von 
BoUTERWEK.  Die  zweite  x\uflage  desselben,  von  18 15,  liegt  vor  uns; 
und  die  Vorrede  weiset  zurück  auf  das  Jahr  1806,  als  auf  eine  Periode, 
da  eine  neue  Schule,  die  seitdem  schon  das  Schicksal  ähnlicher  Schulen  emp- 
finde^ in  der  Ästhetik,  wie  in  der  Philosophie,  habe  Epoche  machen  wollen, 
durch  metaphysische  Prinzipien,  die  allem,  was  bis  dahin  unter  gebildeten 
Menschen  guter  Geschmack  geheißen  hatte,  entgegen  zu  zvirken^  und  einen 
neuen,  in  der  Anschauung  des  Unendlichen  versinkenden  Geschmack  zu 
begründen  schienen.  Sie  hat  gewirkt,  diese  Schule;  aber  Kunstwerke  von 
nationaler  Bedeutung  hat  sie  nicht  hervorgerufen.  Gewirkt  hat  sie  dahin, 
daß  der  Geschmack  selbst  an  dem  Besten,  was  wir  besitzen,  anfängt  irre 
zu  werden !  Wenn  wir  nun  wenig  Hoffnung  haben,  etwas  Besseres  oder 
auch  nur  des  Gleich -Guten  mehr  zu  empfangen:  so  ist  in  der  Tat  um 
desto  mehr  zu  wünschen,  daß  uns  wenigstens  eine  tüchtige  Ästhetik  zu 
teil  werde,  damit  die  Auffassung  des  Vorhandenen,  sei  es  alt  oder  neu,  fremd 
oder  heimisch,  nicht  durch  unstatthafte  Ansprüche  getrübt  werde.  Und  als 
BouTERWEK  durch  das  Vertrauen  des  Publikums  zu  einer  zweiten  Auflage 
ermuntert  wurde,  scheuete  er  nicht  die  Mühe,  sein  älteres  Werk  ganz 
umzuarbeiten;  demnach  möchte  wohl  das  Vorurteil  für  ihn  sein,  er  habe 
etwas  Tüchtiges  leisten  können  und  wollen.  Ohne  dies  Vorurteil  zu 
unterstützen  oder  anzutasten,  versuchen  wir,  sein  Buch  ganz  kurz  zu 
charakterisieren.  Es  nimmt  durchweg  die  Richtung  vom  Allgemeinen  zum 
Besonderen.  Voraussetzend  das  ästhetische  Gefühl,  aber  von  der  Meta- 
physik sich  absondernd,  behauptet  es  eine  gewisse  Selbständigkeit  der 
Ästhetik  in  ihrer  Sphäre.  Für  einen  verkehrten  Gang  aber  wird  erklärt, 
von  der  Kunst  auszugehen,  und  das  Kunstschöne  für  die  Basis  aller 
ästhetischen  Urteile  zu  erklären.  Über  den  allgemeinen  Begriff,  den  sich 
der  kalte  Verstand  vom  Schönen  mache,  wird  die  Idee,  als  mystisch,  jedoch 
nicht  träumerisch,  emporgehoben;  sie  entspringe,  heißt  es  dort,  aus  der 
direkten  Beziehung  aller  relativen  ästhetischen  Begriffe  auf  das  Absolute, 
das  nirgends  erscheine  und  doch  von  der  Vernunft  als  unbedingt  not- 
wendig gesetzt  werde,  damit  überhaupt  etwas  Relatives  gedacht  werden 
könne.  Alle  wirkliche  erkennbare  Schönheit  aber  sei  relativ.  (An  die 
Gegenseitigkeit  der  Relationen  im  Schönen,  worauf  alles  ankomme,  scheint 
B.  nicht  gedacht  zu  haben.)  In  der  Kunst  erscheint  das  Ideal -Schöne 
wirklich,  und  immer  in  bestimmter  Vereinigung  mit  dem  Natürlichen. 
Aber  es  könnte  nicht  erscheinen,  wenn  nicht  die  mystische  Idee  von  ab- 
soluter Schönheit,  in  besonderer  Beziehung  auf  eine  gewisse  Nachahmung 
der  Natur,  die  Seele  des  Künstlers  erfüllte.  —  Weiterhin  wird  unter  dem 
Titel:  Elemente  des  Schotten  (welchem  Titel  freilich  ein  anderer  Sinn  zu- 
kommt) eine  sehr  wichtige  Unterscheidung  gemacht  zwischen  der  inneren 
Harmonie  und  dem  Ausdruck,  dergestalt,  daß  die  innere  Harmonie  — 
optische,  plastische,  akustische,  rein  geistige,  eigentlich  die  ivahren  Elemente 


266  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


des  Schönen  in  sich  fassen,  der  Ausdruck  aber  der  Trockenheit  und  Kälte 
wehren  soll,  deren  man  (ob  mit  Recht,  oder  mit  Unrecht)  die  strenge 
und  reine  Schönheit  beschuldigt.  Daß  Bouterwek  davon  noch  die  Grazie 
unterscheidet,  mag  als  unbedeutend  beseitigt  werden.  Zuletzt  —  damit 
die  Theorie  keines  ihrer  Rechte  aufgebe,  soll  sie  zur  Vollendung  des 
Schönen  den  ästhetischen  Charakter  des  UnendUchen  fordern.  Nachdem 
hierauf  noch  die  Verhältnisse  des  Schönen  zum  Erhabenen  und  Komischen 
erwogen  sind,  folgt  die  Kunstlehre.  Als  Prinzip  der  Kunst  wird  an- 
gegeben: ästhetischer  Wetteifer  mit  der  Natur.  Hieraus  entstehen  noch 
besondere  Elemente  des  Kunstschönen,  Wahrheit,  Leichtigkeit,  Neu- 
heit usw.,  die  solchergestalt  sehr  verständig  von  den  eigentlichen  Elementen 
des  Schönen  selbst  gesondert  sind.  Anhangsweise  folgen  Betrachlungen 
über  den  Stil,  insbesondere  den  griechischen  und  romantischen;  —  vom 
modernen,  als  ob  ein  solcher  gründlich  nachgewiesen,  und  von  den  vorigen 
unterschieden  werden  könnte,  muß  B,  nicht  viel  gehalten  haben.  Den 
Beschluß  macht  die  Sonderung  der  zeichnenden,  musikalischen,  mimischen, 
architektonischen,  verschönernden  Künste  von  der  literarischen  Ästhetik. 
Wendet  man  sich  nun  von  hier  wieder  zu  unserem  Verf ,  so  ist,  als  käme 
man  aus  einer  anmutigen,  wiewohl  etwas  begrenzten  und  zum  Teil  künst- 
lich geordneten  Landschaft  in  einen  großen  französischen  Garten,  mit 
fächerförmigen  Alleen  und  durchaus  beschnittenen  Bäumen,  worin  man 
die  Gartenschere  unaufhörlich  rasseln  hört,  um  den  Gewächsen,  wo- 
möglich ihren  Ungehorsam  abzugewöhnen.  Von  der  unnatürlichen  Gewalt, 
welche  hier  alles  (von  der  Tragödie  bis  zu  dem  einfachen  Klange)  leiden 
muß,  haben  wir  im  vorigen  einige  Proben  gegeben;  die  fächerförmige 
Anordnung  können  wir  leicht  noch  andeuten.  Drei  Bücher:  allgemeine 
Begrifflehre,  Kunstlehre  und  —  Lehre  vom  Genius  —  haben  jedes  drei 
Abschnitte,  und  jeder  Abschnitt  hat  sein  A,  B,  C,  so  daß  drei  zur  driite?i 
Potenz  erhoben  uns  gerade  siebenimdzivanzig  Artikel  liefert.  Glaube  nun 
ja  niemand,  die  Ästhetik  könne  wohl  unter  sechsundzwanzig,  oder  acht- 
undzwanzig Abteilungen  gebracht  werden ;  diese  Zahlen  sind  keine  Potenzen 
von  drei;  am  wenigsten  gerade  die  dritte.  Wenn  einmal  die  Lehre  von 
der  Wahrheit  und  die  Lehre  von  der  Gottheit  nach  den  nämlichen  Grund- 
sätzen ausgeführt  werden,  so  muß  ebenso  notwendig  (denn  die  Methode 
erfordert  es)  jede  von  beiden  auch  siebenundzwanzig  Artikel  bekommen. 
Aber  hier  droht  ein  Unglück.  Alle  Artikel  des  ganzen  Systems,  welches 
nun  die  Lehren  von  der  Wahrheit,  der  Schönheit  und  der  Gottheit  zu- 
sammenfassen wird,  betragen  in  Summa  8i  Artikel;  81  ist  nicht  mehr 
die  dritte,  sondern  schon  die  vierte  Potenz  von  Drei!  Und  dies  ist  nur 
die  Andeutung  eines  viel  ernstlicheren  Unglücks.  Es  könnte  dem  Verf. 
leicht  gehen,  wie  dem  bekannten  Zauberlehrling.  Die  Potenzen  von  drei 
sind  ein  arger  Strom;  zieht  man  einmal  die  Schleuße  auf,  so  laufen  sie 
ins  Unendliche.  Daß  er  bei  der  dritten  Potenz  nicht  stehen  bleiben  kann, 
haben  wir  soeben  gezeigt;  aber  auch  die  vierte  wird  ihm  keinen  Ruhe- 
punkt gewähren.  Auf  empirischem  Wege  leuchtet  das  sogleich  ein.  Be- 
trachten wir  nur  einmal  beispielsweise  die  Lehre  vom  Genius.  Sie  ist 
künstlich  genug  zerlegt  in  die  Lehren  vom  Genius  in  subjektiver  Gestalt, 
in  objektiver  Gestalt,    und    —   von  der  Liebe!    Sollte  jemand  etwa  bisher 


C.  H.  Weisse:  System  der  Ästhetik  als  Wissenschaft  von  der  Idee  der  Schönheit.      267 

die  subjektive  Gestalt  des  Genius  noch  nicht  erblickt  haben,  so  sagen 
wir  ihm,  daß  dahin  gehören  Gemüt^  Takfii  und  —  Genius  im  engeren 
Siftne.  Bleiben  wir  hierbei  stehen,  so  fällt  uns  und  jedem  anderen 
ohne  Zweifel  sogleich  ein,  daß  es  der  Gemüter  mehrerlei  gibt;  auch 
mancherlei  Talente,  —  hingegen,  ob  mehrere  Genien  im  engeren  Sinne, 
das  wissen  wir  so  genau  nicht.  Nur  soviel  ist  gewiß:  es  muß,  da  einmal 
überhaupt  eine  Mehrheit  nicht  zu  leugnen  ist,  notwendig  drei  Gemüter, 
drei  Talente  und  drei  beengte  Genien  geben,  weil  eine  andere  Zahl  sich 
von  der  methodischen  Thesis,  Antithesis  und  Synthesis  entfernen  würde. 
Zweifelt  noch  jemand,  ob  das  Ernst  oder  Scherz  sei,  so  bestätigen  wir  es 
sogleich.  Selbst  die  Liebe  muß  sich  bei  Hrn.  W.  der  Methode  unter- 
werfen. Wie  vielerlei  Arten  von  Liebe  gibt  es?  Dreierlei.  Und  welche? 
Die  platonische  Liebe,  die  Freundschaft  und  die  Geschlechtsliebe.  Mit 
Bedauern  vermissen  wir  die  Vaterlandsliebe;  kaum  wissen  wir  die  Ge- 
schwisterliebe unterzubringen;  und  was  die  Freundschaft  anlangt,  so  will 
uns  bedünken,  man  wisse  eben  noch  nicht  viel  von  ihr,  wenn  man  sie 
etwa  als  aufgehobene  piaionische  Liebe  betrachtet;  —  und  so  etwas  muß 
sie  doch  wohl  werden,  da  sie  in  der  Stelle  der  Antithesis  steht.  Es  ist 
freilich  kein  Wunder,  wenn  ganz  am  Ende  der  Scharfsinn  des  Hrn.  W. 
ermüdete;  denn  man  bedenke  nur,  welches  tiefe  Nachdenken  es  muß  ge- 
kostet haben,  die  siebenundzwanzig  Fächer,  je  zu  drei  genommen,  metho- 
disch auszufüllen;  die  schwersten  Endreime  können  einem  Dichter  kaum 
soviel  Mühe  verursachen.  x\ber  wiewohl  der  Leser  sehr  zur  Nachsicht 
geneigt  sein  wird.  —  Methoden  kennen  keine  Nachsicht.  Den  Verf. 
wird  seine  Methode  allemal,  wenn  er  irgendwo  ausruhen  will,  wieder  vor- 
wärts treiben.  Oder  in  welchen  Gliedern  des  Systems  darf  Stockung  ein- 
treten? Jedes  muß  produzieren,  jedes  muß  leben;  ein  totes  oder  nur  ab- 
sterbendes Glied  droht  dem  ganzen  Systeme  mit  dem  kalten  Brande. 
Das  scheint  der  Verf.  sehr  schlecht  überlegt  zu  haben,  da  er  sich  irgendwo 
sehr  leichtsinnig  über  das  Sandkorn  und  den  Strohhalm  tröstet,  indem  er 
sagt:  wenn  sie  auch  nicht  nach  ihrem  vereinzelten  und  erstorbenen  Dasein 
Ideen  sirid,  so  setzen  sie  doch  wahre  Ideen  voraus,  n7td  enthalte?!  dergleichen 
dialektisch  aufgehoben  in  sich.  Fast  sind  wir  ein  wenig  unwillig  geworden 
über  diese  dialektische  Aufhebung,  durch  welche,  wie  es  scheint,  die 
platonischen  Ideen  so  arg  verdorben  werden,  daß  wir  sogar  von  Ideen 
lesen  mußten,  die  nichts  anderes  als  schivache  imd  unvollkommene  Gleich- 
nisse seien !  Indessen,  der  Verf.  wird  ohne  Zweifel  alles  wieder  gut  machen, 
da  er  sich  durch  die  Ästhetik  den  Weg  gebahnt  hat  von  demjenigen 
Standpunkte  aus,  auf  welchem  die  mit  der  rein  logischen  Idee  identifizierte 
Idee  der  Wahrheit  als  die  einzig  wirkliche  Gottheit  erschien,  —  zu  einem 
höheren,  der  eine  Erkenntnis  Gottes  in  der  Form  der  Selbstheit  und 
Persönlichkeit,  die  vor  jener  Ansicht  unvermeidlich  verschwindet,  möglich 
macht.  Dahin  weisen  uns  die  Verheißungen  des  Verfs.!  Zwar  begreifen 
wir  noch  nicht  recht,  wozu  denn  wohl  das  Verheißene,  wenn  es  einmal 
da  sein  wird,  eigentlich  dienen  soll.  Das  Christentum  ist  ja  längst  vor- 
handen ;  es  wird  in  allen  Kirchen  gepredigt.  Will  man  es  durch  eine  philo- 
sophische Schule  zum  zweitenmal  erzeugen?  Meint  man,  der  Glaube  an  Gott 
habe  auf  Thesis,   Antithesis  und  Synthesis  (die  wir  übrigens  aus  Fichtes 


268  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Wissenschaftslehre  kannten,  ohne  sie  zu  billigen)  gewartet?  Was  will  man 
denn  eigentlich,  und  worauf  spannt  man  unsere  Erwartungen?  —  Ver- 
mutlich bereitet  man  sich  vor,  den  Saint  -  Stmonisten  zu  begegnen;  man 
will  ihnen  zeigen,  daß  wir  ihrer  nicht  bedürfen.  Und  dagegen  ist  nichts 
einzuwenden. 


Kant,  Immanuel,  Anthropologie  in  pragmatischer  Hinsicht.  Vierte 
Original-Ausgabe  mit  einem  Vorwort  von  J.  F.  Herbart.  —  Leipzig, 
J.  Müller,    1833.     323   S. 

Nicht  bloß  aus  neueren  Forschungen,  sondern  auch  aus  Kants 
eigenen  Werken  könnte  man  für  das  vorliegende  Buch  eine  Menge  von 
Zusätzen  entlehnen,  um  es  teils  zu  vervollständigen,  teils  tiefer  zu  be- 
gründen. Allein  das  würde  zweckwidrig  sein.  Kants  Anthropologie  sollte 
nach  seiner  eigenen  Äußerung  eine  populäre  Schrift  sein;  als  solche  hat 
sie  seit  mehr  als  dreißig  Jahren  einen  weiten  Kreis  von  Lesern  gefunden; 
und  sie  kann  auch  jetzt  noch  sehr  vielen  nützHch  werden;  teils  als  Vor- 
bereitung zu  Kants  streng  wissenschaftlichen  Werken,  teils  zur  Einleitung 
in  Physiologie  und  Psychologie  insofern,  als  diese  beiden  Disziplinen  ein- 
ander in  der  INIenschenkunde  begegnen. 

Unvermeidlich  jedoch  wird  eine  Schrift,  die  noch  aus  dem  vorigen 
Jahrhundert  stammt,  es  manchem  Leser  empfinden  lassen,  der  Verf.  möchte 
wohl  heutigestages  einiges  anders  geformt  haben.  Dies  voraussehend 
wünschte  der  Herr  Verleger  von  mir  eine  neue  Einleitung.  Darin  sollte 
von  FiCHTES,  ScHELLiNGS,  Hegels  Untersuchungen  und  von  der  meinigen 
etwas  gesagt  werden.  Kürze  wurde  verlangt;  noch  kürzer  werde  ich  mich 
fassen;  bloß  andeutend,  was  etwa  zu  sagen  wäre. 

Menschenkunde  braucht  jeder,  der  unter  Menschen  leben  will;  und 
was  von  ihr  unter  dem  Namen  Anthropologie  gelehrt  und  gelernt  wird, 
ist  schon  durch  die  Sorge:  ut  sit  mens  sana  in  corpore  sano,  hinreichend 
empfohlen.  Das  geschieht  von  denen,  welche  von  dem  Menschen  so 
reden,  als  wäre  in  ihm  der  Begriff  der  Verbindung  des  leiblichen  mit  dem 
geistigen  Leben  in  vollständiger  Erfahrung  dargestellt  und  gegeben.  Solche 
müssen  erinnert  werden,  daß  auf  andern  Weltkörpern,  unter  andern  Be- 
dingungen der  Gravitation,  Feuchtigkeit,  Atmosphäre,  ein  ganz  anderer 
organischer  Bau  die  notwendige  Folge  ist;  daher,  je  höher  sie  die  Ab- 
hängigkeit des  geistigen  Lebens  vom  leiblichen  anschlagen,  sie  um  desto 
mehr  sich  bewogen  finden  könnten,  ihre  Erfahrungserkenntnis  derselben 
als  in  sehr  enge,  und  dem  allgemeinen  Begriffe  hiervon  sehr  zufällige 
Grenzen  eingeschlossen  zu  betrachten. 

Manches  von  dem,  was  als  neuere  Forschung  über  Kant  hinaus- 
strebt, wäre  vielleicht  schon  hiermit  zurückgewiesen.  Sucht  man  aber 
jenseits  der  Erfahrung,  in  allgemeinen  Begriffen,  die  cognitio  unionis,  quam 
mens  cum  tota  natura  habet,  so  muß  man  sein  Studium  bei  Spinoza  an- 
fangen.     Unzählige    haben    spinozistischen   Vorstellungsarten    eifrig    nach- 


Immanuel  Kant:  Anthropologie  in  pragmatischer  Hinsicht.  260 


gehangen,  ohne  deren  wissenschaftlichen  Zusammenhang  auch  nur  historisch 
zu  kennen.  Wir  wollen  hier  wenigstens  die  Nachricht  mitteilen,  daß 
Spinoza,  ungeachtet  seines  der  Kantischen  Lehre  gerade  entgegenstehenden 
Dogmatismus,  doch  sich  zum  Geständnisse  des  Nicht-Wissens  bequemte; 
auch  in  solchen  Dingen,  die  er  notwendig  wissen  mußte,  wenn  sein  System 
Haltung  haben  sollte.  So  spricht  er  in  den  cogitatis  metaphysicis  P.  I 
cp.  3 :  quomodo  humana  voluntas  a  Deo  singulis  momentis  procreetur 
fali  modo,  ut  libera  maneat,  id  ignoramus;  multa  enim  sunt,  quae  nostrum 
captum  ex  cedunt,  et  tamen  a  Deo  scimus  facta  esse,  uti  exempli  gratio 
materiae  realis  divisio  in  indefinitas  particulas  satis  evidentes  a  nobis 
demonstrata,  quam  vis  ignoremus,  quomodo  divisio  illa  fiat.  Wer  etwa 
glaubt,  Spinoza  habe  an  dieser  Stelle  nur  nicht  sagen  wollen,  was  er 
wußte:  der  suche  die  Lehre  von  der  Materie  auf  im  Hauptwerk,  nämlich 
in  der  Ethik  (pars  II,  prop.  13  seqq.).  Zu  vergleichen  ist  der  Satz: 
ostendimus  in  materia  nihil  praeter  mechanicas  texturas  et  operationes 
dari  (cogit.  metaph.  P.  II,  cp.  6),  desgleichen  die  Briefe  an  Oldenburg 
über  eine  damals  neue  chemische  Zerlegung.  Man  lese  und  prüfe,  anstatt 
zu  staunen! 

A.uf  den  Spinozismus,  welcher  neben  der  Kantischen  Lehre,  und  von 
ihr  unabhängig  sich  erneuerte,  muß  zwar  das  meiste  von  dem,  was  ihr 
entgegengetreten  ist,  zurückgeführt  werden ;  jedoch  nicht  alles,  denn  manches 
ist  aus  ihr  selbst  hervorgegangen.  Dahin  gehört  vor  allem  der  Idealismus, 
welcher  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten  mehr  und  mehr  mit  dem  Spinozis- 
mus verschmolzen  hat.  Wer  nun  in  diser  Art  die  Abweichung  von  Kant 
in  neueren  Vorstellungsarten  bemerkt,  der  wird  auch  hier  Ursache  finden, 
zur  Quelle  zurückzugehen;  also  zu  Fichtes  Schriften,  nämlich  zu  den 
altern;  der  Wissenschaftslehre,  dem  Naturrecht,  der  Sittenlehre  und  einio-en 
kleineren.  Dort  wird  man  einer  teils  geradezu  behaupteten  teils  angestrebten, 
absoluten  Selbständigkeit  des  Ich  begegnen;  welcher  dasjenige  nicht  ganz 
fremdartig  ist,  was  Kant  selbst  gleich  im  Anfang  der  Anthropologie  vor- 
trägt. Falls  nun  aus  den  Fichteschen  Lehren  etwas  offenbar  Irriges  hervor- 
blickt: so  entsteht  allerdings  für  den  Leser  die  Frage:  inwiefern  Kant 
deshalb  verantwortlich  sein  möge?  Wird  dadurch  der  Prüfungsc^eist  o-e- 
weckt:  so  ist  zugleich  die  Aufmerksamkeit  für  das  Folgende  o-eschärft, 
welches  für  eine  philosophische  Schrift  nur  willkommen  sein  kann.  Trifft 
der  angeregte  Zweifel  auch  die  weiterhin  abgehandelten  Seelenvermögen, 
so  mag  immerhin  dem  Leser,  welcher  den  Spinoza  verglich,  auch  eine 
Erinnerung  an  den  Satz  zurückkehren:  facultates  ut  intellectum,  cupiditatem 
etc.  in  numerum  figmentorum  aut  saltem  illarum  notionum  reponi  debere, 
quas  homines  ex  eo,  quod  res  abstracte  concipiunt,  formaverunt,  quales 
sunt,  humanitas,  lapideitas  et  id  genus  aliae.     (Volumen  I,  praefatio.) 

Hier  wäre  Veranlassung,  der  mathematischen  Psychologie  zu  gedenken, 
allein  davon  soll  jetzt  die  Rede  nicht  sein.  Nur  soviel  ist  in  ihrem 
Namen  zu  sagen,  daß  in  einer  populären  Schrift,  wie  die  voriiegende 
Kantische  Anthropologie,  durch  die  Anordnung  der  Gegenstände  nach 
dem  angenommenen  Unterschiede  der  Seelenvermögen  eine  bequeme 
Übersicht  gewonnen  wird,  welche  noch  imm.er  zu  solchem  Gebrauch  kann 
als  zweckmäßig  gelten,  wenn  man  gleich  über  den  wahren  Zusammenhang 


2  70  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


des  geistigen  Tuns  und  Leidens  ganz  anders  denkt,  als  durch  Annahme 
jener  Vermögen  sich  begreiflich  machen  läßt. 

Überhaupt  dürfte  es  für  solche  Leser,  deren  Auffassung  nicht  bereits 
gestört  ist  durch  fremde  Ansichten  —  die  von  der  Einheit  des  Geistes 
mit  der  Natur,  von  der  absoluten  Selbständigkeit  des  Ich,  von  mathe- 
matischer Psychologie  noch  nichts  vernommen  haben  —  wohl  am  rat- 
samsten sein,  fürs  erste  in  voller  Unbefangenheit  dem  Kantischen  Vor- 
trage zu  folgen,  und  dadurch  allein  ihr  Nachdenken  in  Bewegung  setzen 
zu  lassen.  Anders  verhält  sich's  mit  denen,  die  schon  höhere  Aufschlüsse 
glauben  irgendwoher  empfangen  zu  haben.  Diese  mögen  ihrem  Wissen, 
welcher  Art  es  auch  sei,  nicht  gar  zu  fest  vertrauen,  wenn  sie.  nicht 
mindestens  auch  die  Quelle  kennen,  aus  welcher  die  Grundbegriffe  des 
angeblichen  Wissens  geflossen  sind.  Darum  ist  hier  an  Spinoza  und 
Fichte  erinnert  worden.  Daß  einiges  auch  auf  Platon  zurückzuführen 
wäre,  läßt  sich  hier  nicht  erörtern.  Zum  Schlüsse  nur  noch  die  Be- 
merkung, daß  diejenigen,  welche  sich  an  Schriften  originaler  Denker  nicht 
wagen,  sondern  in  der  Meinung,  kürzer  zum  Ziele  zu  gelangen,  lieber 
aus  abgeleiteten  Bächen  schöpfen,  gewöhnlich  darüber  mehr  Zeit  verlieren 
als  gewinnen.  Wie  die  leichtern  Stellen  eines  Werkes  den  schwierigen 
zur  sichersten  Erklärung  dienen:  so  die  leichtern  Werke  eines  Schriftstellers 
den  schwereren  zur  passendsten  Einleitung;  und  die  gegenwärtige  Anthro- 
pologie ist  gewiß  leicht  genug,  um  selbst  Anfängern,  welche  zu  Kants 
Lehre  einen  bequemen  Zugang  wünschen,  eine,  wo  nicht  ganz  hinreichende, 
so  doch  sehr  bedeutende  und  willkommene  Hilfe  zu  leisten. 

Königsberg,  am  2.  Mai   1833.  Herbart. 


Vorrede    zu    Carol.    Lud.  Hendewerk,    Principia    ethica   a  priori 
reperta,  in  libris  S.  V.  et  N.  T.  obvia.  —  Königsberg,   Borntraeger, 

1833. 

Gedruckt  in:   SW.  XIII,  S.  94.* 

In  principiis  ethicis  recte  constituendis  primus  locus  debetur  notioni 
idearum  practicarum,  quarum  non  una  est,  sed  sunt  quinque,  ex  totidem 
judiciis  aestheticis  oriundae:  quibus  expositis  secundum  locum  obtinet  notio 
virtutis,  tertium  legis.  De  hoc  autem  notionum  ordine  quamdiu  inter 
philosophos  adhuc  disputatur,  a  theologis  non  poterit  exspectari,  ut  eam 
veritatem  primi  agnoscant.  Theologorum  enim  munus  est,  Dei  jussa 
proponere,  quod  ut  fieri  possit,  virtutis  praecepta  undecunque  hausta 
formam  legum  induant  necesse  est.  Hauriant  autem  ex  scriptura  sacra; 
quocirca,  missis  quaestionibus  philosophicis  de  forma  docendi,  theologi 
videant,  an  materiem  disciplinae  ethicae  possint  in  scriptura  sacra  reperire. 
Quodsi    aliam   invenirent,    alias    leges   certe   pronunciarent   ac   eas,    quibus 


*  Hierauf    beziehen    sich    2  Briefe   Herbarts    an   Hendewerk,    abgedruckt    in 
ZiLLERS  Herbartische  Reliquien  S.   212 


M.  W.  Drobisch :  Beiträge  zur  Orientierung  über  Herbarts  System  der  Philosophie.      2  71 

subesse  quinque  ideas  praticas  in  philosophia  docetur:  sin  has  ipsas  tan- 
quam  materiam  inveniant,  qua  praecipua  scripturae  sacrae  praecepta 
continentur,  philosophiae  non  rerum  quidem  novarum  laudem  tribuent, 
verum  dignam  fortasse  eam  judicabunt,  quae  rebus  jam  cognitis  dilucide 
tractando  et  exponendis  adhibeatur.  Quicquid  sit  (nam  philosophiae  justam 
laudem  hie  certe  non  curo)  hujus  libelli  autorem  id  negotii,  quod  a  meis 
auditoribus  susceptum  iri  jam  dudum  exspectabam,  ut  ideas  practicas  cum 
Sacra  scriptura  compararent,  et  suscepisse  et  bene  etiam,  quantum  equidem 
Video,  gessisse  laetor.  Quae  de  singulis  scripturae  sacrae  locis  recte  inter- 
pretandis  sensit  et  protulit  ea  ipsi  soli  defendenda,  ubi  opus  fuerit,  relinquo; 
nam  harum  rerum  non  meum  est  Judicium.  Quum  autem  scholas  meas 
illo  tempore,  quo  in  academia  nostra  studiis  vacaret,  summa  assiduitate 
frequentasse  memini  eundem  insequentibus  annis  theologiae  ita  se  dedisse, 
ut  philosophiam  recolendam  non  negligeret,  libenter  agnosco,  nee  dubito, 
quin  lectoribus  benevolis  et  diligentiam  et  candidum  gravemque  pietatis 
sensum  sit  probaturus. 


Drobisch,  Moritz  Wilhelm,  Professor  an  der  Universität  zu  Leipzig, 
Beiträge  zur  Orientierung  über  Herbarts  System  der  Philo- 
sophie. —  Leipzig,  bei  Leopold  Voss,   1834.      'ji   S, 

Gedruckt  in:  Göttinger  gel.  Anz.    1834,  ^i"-    i^^i-     SW.  XII,  S.  744. 

Der  Hr.  Verf.  sagt  in  der  Vorrede  von  sich  selbst:  er  wisse  nicht 
mehr  anzugeben,  ob  er  früher  für  mathematisches  Wissen  oder  für  philo- 
sophische Forschung  ein  warmes  Interesse  gewonnen  habe.  Einem  solchen 
Geiste  konnte  die  Idee  einer  höchsten  wissenschaftlichen  Einheit  nicht  fremd 
bleiben;  er  kennt  und  charakterisiert  sie  historisch,  indem  er  von  Kants 
symmetrischem  Schematismus  des  Kategoriensystems  ausgehend,  die  ver- 
meinten Verbesserungen  verfolgt,  welche  Reinhold,  Fichte,  Schelling, 
Hegel,  Krug,  Fries,  unternommen  haben.  xA.llein  er  verlangt  nicht,  daß 
aus  einer  einzigen  und  gemeinschaftlichen  Wurzel  der  Baum  der  Er- 
kenntnis seine  Zweige  „mit  der  geometrischen  Regelmäßigkeit  holländischer 
Gartenkunst''  hervortreibe.  Vielmehr  stellt  er  die  drei  philosophischen 
Wissenschaften  in  folgender  Einteilung  zusammen:  „Als  die  Aufgabe  der 
Philosophie  im  allgemeinen  kann  man  mit  geringer  Abweichung  von  Kant 
diejenige  bezeichnen:  Erkenntnis  ans  bloßen  Begriffen  zu  Stande  zu  bringen. 
Zur  Erreichung  dieses  Zweckes  ist  es  aber  nötig,  die  Beziehungen  der  Be- 
griffe kennen  zu  lernen,  auf  denen  die  Erkenntnis  beruht.  Diese  Be- 
ziehungen sind  I.  solche,  die  den  Begriffen  unabhängig  von  dem  Be- 
sondern ihres  Inhalts  zukommen;  das  Eigentum  der  Logik,  2.  solche,  die 
vom  Besondern  des  Inhalts  abhängen,  und  zwar:  a)  theoretische  oder 
metaphysische,  die  den  Charakter  der  Nohvendigkeit  an  sich  tragen,  indem 
sie  sich  durch  Widersprüche  in  den  Begriffen  wirklicher  Dinge  verraten; 
durch  Widersprüche,  welche  durch  Auffindung  dieser,  die  Begriffe  er- 
gänzenden,  Beziehungen  gehoben  werden;   b)  praktische  oder  ästhetische, 


2^2  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


denen  der  Charakter  des  absolut  Gefälligen  oder  Mißfälligen  zukommt, 
wobei  es  gleichgültig  ist,  ob  die  Glieder  der  Beziehung,  des  gefallenden 
oder  mißfallenden  Verhältnisses  als  real  oder  als  bloß  ideal  gedacht 
werden,  auch  die  Beziehung  selbst  sich  nicht  als  theoretisch  notwendig  zeigt; 
geradeso  wie  umgekehrt  die  metaphysischen  Beziehungen  ästhetisch  gleich- 
gültige Verhältnisse  ausdrücken."  Hierauf  folgt  alsdann  die  Nachweisung, 
daß  keine  der  drei  philosophischen  Wissenschaften  der  andern  unter- 
geordnet, auch  kein  über  ihnen  stehendes  genus  ersonnen  werden  könne, 
das  den  Stof!  zu  einer  objektiven  philosophia  prima  geben  möge.  Das 
Objekt  der  Logik  ist  zwar  das  Allgemeinste;  aber  sie  ist  zum  Herrschen 
zu  arm;  Metaphysik  und  Ästhetik  sind  nicht  einmal  entgegengesetzt,  viel 
weniger  fallen  sie  zusammen,  sondern  sie  sind  völlig  disparat;  und  sie 
bleiben  es  selbst  in  den  Fällen,  wo  theoretische  und  ästhetische  Be- 
trachtungen über  einen  und  denselben  Gegenstand  können  angestellt 
werden. 

Ferner  zieht  Hr.  Dr.  das  Verhältnis  der  Psychologie  zu  jenen  drei 
Wissenschaften  in  Erwägung.  Der  Kantischen  Lehre  (sagt  er)  muß  die- 
jenige Gerechtigkeit  widerfahren,  auf  die  sie  Anspruch  hat;  aber  auch 
die  empiristische  Ansicht  derer  ihre  Abfertigung  finden,  denen  sich  alle 
Philosophie  in  bloße  Naturgeschichte  der  Seele  verwandelt.  Nur  der  Um- 
stand, daß  das  Objekt  der  Psychologie  der  reale  Träger  alles  Wissens  ist, 
gibt  Anlaß,  der  Psychologie  mehr  Wichtigkeit,  als  der  Naturphilosophie, 
für  das  Ganze  des  Systems  beizulegen.  Allein  die  Psychologie  mag 
immerhin  den  Ursprung  der  geistigen  Erzeugnisse  erklären;  nur  nicht  richten 
über  Wert  und  Gültigkeit  derselben.  Sie  hat  kein  Auge  dafür,  die  all- 
gemeinen Irrtümer,  denen  der  menschliche  Geist  bei  der  Auffassung  der 
Dinge  unvermeidlich  unterworfen  ist,  von  der  Wahrheit  zu  unterscheiden. 
Das  Aufsteigen  zur  Wissenschaft  ist  auch  keineswegs  eine  bloße  Er- 
weiterung und  Fortbildung  psychologischer  Tatsachen,  vielmehr  gleich  von 
Anfang  an  ein  Kampf  gegen  die  gemeine  Auffassung  der  Dinge. 

Von  demjenigen,  was  der  Hr.  Verf.  gegen  die  symmetrische  Gliederung 
der  Systeme  vorträgt,  wollen  wir  nur  den  Schluß  hersetzen.  „Auch  die 
Astronomie  hatte  einst,  verführt  durch  die  Schönheit  pythagorisch- platonischer 
Ideen,  eine  Vorliebe  für  symmetrische  Regelmäßigkeit  eingesogen.  Nichts 
schien  der  Vollkommenheit  der  Welt  würdiger  als  die  Kugelform;  keine 
Figur  für  die  Bahnen  der  Planeten  angemessen  als  der  Kreis;  keine  Be- 
wegung in  der  großen  einfachen  Natur  zulässig  als  die  gleichförmige.  An 
dieser  harten  Speise  kaute  die  Wissenschaft  nicht  bloß  bis  zu  Copernicus, 
nein,  sogar  bis  auf  Keplers  Zeit;  und  niemand  vermochte  den  alten 
Sauerteig  zu  verdauen.  Da  rang  sich  endlich  Kepler,  früher  selbst  tief 
befangen  in  diesen  phantastischen  Träumereien,  mit  Macht  los  von  dem 
Vorurteil,  das  Jahrhunderte  geheiligt,  dem  selbst  noch  ein  Copernicus 
sein  Siegel  aufgedrückt  hatte.  Kepler  lernte  in  der  Natur  die  längliche 
Ellipse  mit  ihrem  exzentrischen  Brennpunkte,  dem  Sitz  der  Sonne,  und 
die  ungleichförmige  Bewegung  ertragen,  und  es  entstand  die  astronomia 
reformata,  auf  die  Newton  seine  principia  gründen  und  Laplace  in  der 
mecanique  Celeste  den  erhabenen  Bau  bis  zur  Kuppel  führen  konnte,  ohne 
daß   der  Grund  wieder  zusammenbrach.''     Hieran  läßt  sich  knüpfen,   was 


Jacobi  Nieuwenhuis:  Elementa  metaphysices  historice  et  critice  adumbrata.      273 


Hr.  D.  weiterhin  als  treibendes  Prinzip  des  Denkens  bezeichnet.  ,.Schon 
Lichtenberg  bemerkte,  die  Astronomie  sei  diejenige  Wissenschaft,  in  der 
das  Wenigste  durch  den  Zufall  entdeckt  wurde.  Was  hat  nun  ihre  Ent- 
deckungen mit  Notwendigkeit  herbeigeführt?  Der  Widerspruch  hat  sie  von 
einer  Stufe  zur  andern  getrieben.  Die  Verwirrung,  die  Gesetzlosigkeit 
der  scheinbaren  Bewegungen  —  der  Streit  zwischen  Theorie  und  Er- 
fahrung —  zeigt  sich  in  der  Entwicklungsgeschichte  der  Astronomie  als 
die  Kraft,  die  zu  Fortschritten  genötigt  hat.  Wenn  nun  Metaphysik  der 
Mittelpunkt  unseres  theoretischen  Wissens  ist:  so  muß  der  Gedanke,  daß 
sie  von  Widersprüchen  auszugehen  hat,  nicht  bloß  ertragen,  sondern  selbst 
für  notwendig  anerkannt  werden;  indem  in  ihm  allein  die  Gewähr  eines 
nicht  hloß  zufälligen  und  willkürlichen  Fortschreitens  der  metaphysischen 
Erkenntnis  liegt." 

Diese  sehr  unvollständige  Probe  muß  hier  genügen.  Eine  längere 
Mitteilung  würde  nicht  bloß  den  Unterzeichneten  in  Verlegenheit  setzen, 
sondern  auch  ganz  überflüssig  sein.  Denn  in  dem  Kreise  von  Lesern, 
worauf  sich  die  Schrift  durch  ihren  Titel  beschränkt,  hat  Herr  Professor 
Drobisch  sich  das  Recht,  aufmerksames  Gehör  zu  erwarten,  schon  längst 
vollkommen  gesichert;  auch  werden  diejenigen,  auf  welche  er  die  Frage 
anwendet :  ivo  habt  ihr  das  tolle  Zeug  her?  schon  aus  Neugier  die  ihnen  zu- 
gedachten Xenien  suchen  und  finden.  Aber  wenn  ein  Schriftsteller,  dem 
ein  weites  Reich  der  Gelehrsamkeit  und  eine  kunstvolle  Feder  zu  Gebote 
steht,  sich  einem  einzelnen  Gegenstande  zuwendet,  so  wird  er  nicht  so- 
wohl das  Interesse  des  Gegenstandes  voraussetzen,  als  vielmehr  durch 
die  Behandlung  ein  solches  erregen  wollen;  und  nur  hieran  war  durch 
die  vorstehende  Probe  zu  erinnern. 


Nieuwenhuis,  Jacobi,  philosophiae  in  academia  Lugduno-Batava  prof. 
ord.  caet.,  Elementa  metaphysices  historice  et  critice  adum- 
brata. Pars  I.  historica,  —  Leyden,  bey  Hazenberg  dem  jungem, 
1833.     236  S. 

Auch  unter  dem  Titel :  Initia  philosophiae  theoreticae,  vol.  secundi 
pars  prima. 

Nieuwenhuis,  Jacobus,  quum  magistratum  academiae  Lugduno-Batavae 
solemni  ritu  deponeret,  Oratio  de  principiorum  pugna  in  rebus 
gravissimis  caute  diiudicanda,  quam  habuit.  —  Ebendaselbst, 
bey  Luchtmanns,    1834.     23   Seiten. 

Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.   1834,  Stück  180.* 

Wer  zu  wissen  wünscht,  ob  die  holländische  Gelehrsamkeit  in  jetziger 
Zeit  der  Philosophie  noch  einen  Platz  neben  sich  vergönne:  der  findet 
in  der  ersten  der  angezeigten  Schriften  von  der  Art,  wde  Metaphysik  auf 
der    Universität    zu    Leyden    vorgetragen    wird,    eine    Probe,    die    wir   im 

*  Bisher  nicht  bei  Hartenstein  abgedruckt. 
Herbarts  Werke.    XIII.  18 


2yj^  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Ganzen  erfreulich  nennen  dürfen.  Interessant  sind  diese  Schriften  schon 
des  Lateins  wegen,  welches  immer  große  Schwierigkeit  zu  machen  pflegt, 
wenn  man  in  dieser  Sprache  über  neuere  Philosophie  sich  nicht  etwa 
bloß  obenhin  äußern,  sondern  mit  Beibehaltung  der  von  den  Urhebern 
der  Systeme  angegebenen  Begriffsbestimmungen  sich  wissenschaftlich  aus- 
drücken soll.  Wie  sehr  aber  der  Verf.  es  in  der  Gewalt  hat,  der  römischen 
Rede  sich  zu  bedienen,  davon  mag  eine  Stelle  gegen  das  Ende  der 
zweiten  Schrift  zeugen:  O  felicem  patriam  nostram,  Deo  auspice,  egregrie 
excultam!  verae  libertatis  sedem,  oppressae  perfugium,  salutis  publicae 
ac  privatae  praesidium;  ubi  Rex  celsissimus  nobis  imperet  parentis  instar, 
et  filiorum  caritate  ab  omnibus  ametur  liberis  civibus;  Rex  sapientissimus 
nobis  imperet,  qui  in  nefaria  Belgarum  defectione  in  media  principiorum 
pugna,  praesidio  cultus  rationis  et  religionis,  omnium  concursum  sustineat 
populorura;  qui  bonam  causam  fortiter  vindicet;  qui  animi  constantia, 
robore,  virtute,  totius  Europae  oculos  in  se  conversos  teneat,  et  terrarum 
orbi  admirationem  sui  iniiciat!  Felicem  patriam,  —  ubi  bonae  literae  ac 
disciplinae  fioreant  egregie;  academia  Lugduno  -  Batava,  Juventus  studiosa 
universo  terrarum  orbi  diligentiae,  profectuum,  libertatis,  obsequii,  honestatis 
spectaculum  offerat  splendidissimum.  Neque  has  laudes  —  tacere  possum. 
Quum  in  aliis  regionibus  academiarum  alumni,  a  pestiferis  populi  corrup- 
toribus  seducti,  inter  principes  essent,  qui  tumultus  et  seditiones  concitarent, 
Vos,  generosi  iuvenes!  ad  arma  concurristis,  ad  seditiosos  exiistis  puniendos, 
ad  veram  libertatem  defendendam;  et,  in  media  principiorum  pugna,  in 
ipso  certamine,  quo  Vos  modo  gesseritis,  et  quam  bene  meriti  sitis  de 
causa  honestissima,  patria  vidit;  vidit,  summo  animi  grati  hilarisque  sensu, 
victoriae  praemia,  Vobis  parata  et  tributa  per  oppida  et  urbes,  quas  e 
castris  reduces  transiistis,  ut  victores  e  ludis  Olympicis. 

Wie  wird  ein  solcher  Redner  es  anfangen,  den  rückkehrenden  jungen 
Kriegern  Geschmack  an  der  Metaphysik  beizubringen?  Wird  er  sein 
System  (welches,  wie  man  zuletzt  erfährt,  sich  dem  des  berühmten 
Hermes  '  nähert,  der  besonders  unter  katholischen  Gelehrten  viele  eifrige 
Verehrer  hat)  unmittelbar  hinstellen  und  anpreisen?  —  Er  sagt  in  der 
Vorrede:  nulla  disciplina,  nisi  prius  cognita  eins  historia,  recte  percipi  et 
intelligi  potest.  Aber  umgekehrt:  die  Geschichte  der  Metaphysik  kann 
ohne  Metaphysik  nicht  verstanden  werden!  Und  schwerlich  ist  irgend  eine 
Geschichte  trockener  und  zurückstoßender  für  den  x\nfänger,  als  die  Ge- 
schichte metaphysischer  Streitigkeiten,  in  denen  man  die  victoriae  praemia 
umsonst  sucht.  Wie  mißlich  es  nun  auch  aussehen  mag,  daß  der  Verf. 
den  Rat  des  Facciolatus:  nullam  esse  adolescentibus  tradendam  philo- 
sophiam  nisi  historicam,  hinschreibt,  ohne  ihn  gebührend  einzuschränken, 
und  ohne  auch  nur  das  zu  bemerken,  daß  wenn  sonst  nichts  geschieht, 
von  pragmatischer  Geschichte  der  Wissenschaft  nicht  die  Rede  sein  könne: 
dennoch  wollen  wir  gern  glauben,  daß  Hr.  N.  im  stände  sei,  die  Auf- 
merksamkeit seiner  Zuhörer  zu  fesseln.  Zuvörderst  nämlich  steht  ihm  eine 
reiche  Gelehrsamkeit  zu  Gebote.  Dazu  kommt  eine  vorzügliche  Gabe, 
die  Systeme  in  großer  Kürze  zu  charakterisieren,  nicht  etwa  durch  die 
leidige  Manier  willkürlicher  greller  Beleuchtung,  sondern  mit  historischer 
Treue,    und    manchmal    mit    einer   Genauigkeit,    die    man   in   so    wenigen 


Jacobi  Nieuwenhuis :  Elementa  metaphysices  historice  et  critice  adumbrata.      27  S 

Worten  kaum  suchen  würde.  Kein  Wunder,  wenn  seine  Zuhörer  fühlen, 
daß  sie  bei  ihm  viel  lernen  können;  und  daß  also  an  der  Metaphysik 
nicht  wenig  zu  lehren  und  zu  lernen  sein  müsse.  Überdies  gibt  er  den 
Philosophen  ihr  gebührendes  Lob;  so  heißt  Fichte  magno  vir  ingenio 
et  honestate  praestantissimus ;  Schelling  acerrimo  praeditus  ingenio, 
elegantiae  sensu  et  divina  quadam  imaginationis  fingentis  dote  ornatus, 
und  von  Hegeln  sagt  er:  magnas  acuminis  et  subtilitatis  laudes  adeptus 
est,  neque  immerito.  Auf  diese  Weise  erscheint  die  Metaphysik  nicht 
sowohl  von  der  Seite  des  Streits,  sondern  der  Kraft  und  Anstrengung, 
welche  die  größten  Geister  an  sie  gewendet  haben.  Und  wenn  in  Holland 
ea  est  philosophiae  recentioris  conditio,  ut  neglecta  iaceat  plerumque,  quae 
quippe  apud  quosque  improbatur,  et,  nisi  paucis,  omnino  non  placet:  so 
wird  auch  dort  weniger  Irrtum  eingewurzelt  sein,  gegen  den  man  gleich 
anfangs  die  Zuhörer  zu  schützen  suchen  müßte.  Wir  müssen  uns  ver- 
sagen, aus  dem  sehr  beredten  §  8  de  praestantia  metaphysices  etwas  an- 
zuführen, um  für  einen  kurzen  Bericht  Raum  zu  behalten,  wie  ungefähr 
der  Verf.  seine  Zuhörer  an  die  Geschichte  der  Metaphysik  hinanführt. 
Die  Einteilung  in  reine  Metaphysik,  oder  Ontologie,  und  angewandte, 
welche  Somatologie,  Kosmologie,  Psychologie  und  natürliche  Theologie 
enthalten  soll,  ist  im  wesentlichen  bekannt,  und  läßt  uns  nur  in  Zweifel, 
was  für  eine  Somatologie  das  sein  könne,  die  vor  der  Kosmologie  soll 
abgehandelt  werden?  Die  Behauptung,  daß  den  einzelnen  Teilen  der 
Metaphysik  eine  anthropologische  Untersuchung  der  Begriffe  und  Prinzipien 
vorausgehen  müsse,  damit  klar  werde,  was  dem  Menschen  erkennbar,  und 
welches  Vertrauen  der  Vernunft  zu  widmen  sei:  gibt  uns  kein  Licht 
darüber,  wie  der  Verf.  den  Begriff  des  leiblichen  Lebens  zu  fassen  und 
zu  erklären  gedenke.  Dagegen  könnte  die  Erwähnung  der  Anthropologie 
auf  Kantianismus  deuten;  allein  auch  hier  würde  man  sich  irren;  denn 
selbst  da,  wo  die  Kantische  Lehre  berührt  wird,  findet  sich  nichts  von 
Kategorien ;  wohl  aber  in  Ansehung  der  Zeit  folgende  sehr  charakteristische 
Stelle,  die  wir  gleich  hier  anführen  wollen:  quid  tempore  sublato,  sit  ipsa 
animi  conscientia;  quid  sibi  velit  enunciatione,  Deum  esse,  nisi  cum  notione 
existentiae  coniuncta  sit  temporis  idea,  perspici  non  potest.  LTberhaupt 
beschränkt  sich  das,  was  von  Kant  angeführt  wird,  fast  ganz  auf  das 
theoretische  Nichtwissen  und  auf  das  Annehmen  aus  praktischen  Glaubens- 
gründen. Wir  müssen  uns  demnach  in  Ansehung  der  Anthropologie  ledig- 
lich an  die  Erklärungen  des  Verfs.  im  §  6  halten,  welche,  um  die  eigenen 
Worte  anzuführen,  so  beginnen:  Ex  illa  a  Deo  praecepta  cognitione,  ut 
ipsa  se  mens  agnoscat,  coniunctamque  cum  divina  mente  se  sentiat,  tam- 
quam  e  fönte  uberrimo  omnis  manat  sapientia;  —  ontologiae  argumenta 
pendent  a  legibus  intelligentiae  nostrae  et  rationis,  notionibusque  inde 
oriundis  atque  confectis;  cosmologiae  argumenta  visorum  terminis  migrant, 
et  notionibus  nituntur  ontologicis,  ex  mentis  natura  profectis,  caet.  Sollte 
der  Verf.  wohl  nicht  bemerkt  haben,  wie  bei  dieser  Ansicht  eine  Ab- 
hängigkeit des  Wissens  von  der  menschlichen  Natur  herauskommt,  wo- 
durch gerade  wie  in  der  Kantischen  Lehre  die  Frage  aufgeregt  wird,  was 
denn  wohl  unabhängig  von  der  menschlichen  Subjektivität,  eigentlich  und 
an  sich  wahr  sein  möge?    Würde  er  zufrieden  sein,    wenn  man  den  Satz 

i8* 


2  76  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


des  Protagoras:  Tidvrun'  /Qi]/iidr((n'  f^ih()oy  uvdQionog,  so  verstände,  daß  der 
Mensch  überhaupt  das  Menschengeschlecht  bedeute?  Soviel  wir  bemerkt 
haben,  ist  die  Meinung  des  Verfs.  dieser  Subjektivität  ganz  abhold.  Gleich- 
wohl läuft  die  Überschrift:  de  cognitione  humana,  durch  das  ganze  Buch. 
Es  ist  also  nicht,  wie  die  Vorrede  erwarten  ließ,  eine  reine  Geschichte; 
sondern  ungeachtet  aller  historischen  Treue  in  den  einzelnen  Tatsachen, 
doch  nur  eine  Ansicht  der  Geschichte.  Wovon  diese  Ansicht  abhänge, 
sagt  uns  genauer  der  §  8  des  ersten  Kapitels:  conscientia  sui  est  directa 
sui  ipsius  perceptio  et  animadversio  determinationum,  quibus  adstricta  est 
Tot'  Ego  existentia,  qua  continetur  evidentia  sui  ipsius  ut  naturae  existentis 
et  scientis.  Huic  igitur  conscientae  sui  evidens  involutum  est  certumque 
perceptum:  i.  semet  esse;  2.  semet  esse  naturam,  quae  aliquid  sentiat, 
cognoscat,  velit;  3.  sibi  esse  corpus,  quod  subsistat  in  spatio;  4.  huius 
corporis  quintuplici  sensuum  affectione  oritur  perceptio  atque  conscientia 
rerum  externarum;  5.  eam  autem  a  corpore  secretam  esse  naturam,  quae 
sui  ipsius,  corporis  sui,  rerum  externarum  existentiae  sibi  conscia  sit; 
6.  utriusque,  existentiae  atque  scientiae  evidentiam  necessitudinis  vinculo 
cohaerere;  7.  accedit  horum  omnium  recordatio  sive  scientia  identitatis 
personarum  et  rerum  quondam  perceptarum.  Hier  müssen  wir  doch  wohl 
kurz  hinzufügen,  daß  man  in  den  deutschen  Schulen  nicht  überall  so 
reich  ist  am  unmittelbaren  Wissen.  Selbst  die  transzendentale  Synthesis 
im  Ich  wird  nicht  allgemein  für  echtes  Gold  angenommen;  indessen  wollen 
wir  den  Verf.  darüber  hören.  Conscientiae  sui  originem  nemo  quisquam 
explicare  potuerit.  Prius  enim,  quam  philosophari  incipiamus,  nobis  iam 
apparuit  conscientia  nostri,  ut  res  facto  (quonam,  nescimus)  posita,  cuius 
natales  crassis  latent  occulti  ac  circumfusi  tenebris.  Freilich,  wenn  nichts 
ergründet  werden  könnte,  als  nur  das,  was  sich  beobachten  läßt.  Es  er- 
hellet aber  nun  schon  das,  daß  beim  Verf.  die  vindiciae  cognitionis  imme- 
diatae  die  Hauptsache  sind. 

Hier  würden  wir  abbrechen,  da  die  Grenzen  dieser  Blätter  ohnehin 
nicht  erlauben,  dem  Verf.  bis  zu  Ende  zu  folgen:  wenn  nicht  ein  Um- 
stand zum  Fortfahren  aufforderte.  Herr  N.  hat  die  Schriften  des  Unter- 
zeichneten nicht  nur  häufig  angeführt,  und  aus  dessen  Metaphysik  einen 
schätzbaren  Auszug  geliefert,  sondern  auch  gegen  dieselbe  zum  Teil  jene 
vindicias  gerichtet,  und  zwar  nicht  auf  polemische  Weise,  vielmehr  so,  daß 
eine  Erläuterung  sich  unmittelbar  anknüpfen  läßt.  Er  sagt :  probe  animad- 
vertere  velimus,  nos  minime  seiungendam  arbitrari  mediatam  Cognitionen! 
ab  immediata,  sed,  utramque  coniungendam  potius,  ne  coeco  quodam  sensu, 
imaginatione,  aut  perceptione  myslica,  superstitione,  fallaciis  nos  decipi  patia- 
mur;  sed  ut,  evidentiis  conscientiae  nostri  ad  notionum  lucem  protrahendis, 
et  perceptione  immediata  cum  argumentatione  coniungenda,  ad  veram 
certamque  Cognitionen!  perveniri  et  res  tandem  confici  possit.  Vortrefflich! 
Da  ist  ein  gemeinsamer  Boden,  auf  welchem  wir  um  so  mehr  suchen  müssen 
gemeinsam  fortzuschreiten,  weil  der  Verf.  gegen  die  Kantianer  bemerkt, 
ex  illorum  sententia  subiectivis  phaenomenorum  angustiis  omnis  inclusa 
est  cognitio  humana.  Woraus  entstanden  diese  vermeinten  angustiae? 
Weil  man  sich  zurückdrängen  ließ,  wo  man  hätte  vordringen  sollen.  Kant 
ließ  seine  Dinge  an  sich,  nach  denen  er  suchen  sollte,  im  Zweifel  stecken; 


Jacobi  Nieuwenhuis:  Elementa  metaphysices  historice  et  critice  adumbrata.      277 


die  Nachfolger  bildeten  sich  ein,  sie  wären  auf  das  Ich  beschränkt.  Da- 
durch sind  alle  späteren  Fehler  veranlaßt  worden.  Was  aber  bedeuten 
jene  Widersprüche,  in  welche  auch  der  Verf.  sich  scheint  nicht  finden  zu 
können,  da  er  vom  Unterzeichneten  verlangt:  ipse  videat,  num  ea  omnia, 
quae  repugnantia  videntur  in  rebus  obiectis  atque  in  ipsa  conscientia  nostri, 
re  vera  sint  res  repugnantes  et  contradictoriae.  Das  war  die  Überlegung, 
die  sich  von  jeher  von  selbst  verstand.  In  den  Dingen  an  sich  können 
keine  Widersprüche  sein;  darum  müssen  sie  aus  den  scheinbaren  Dingen 
weggeschafft  werden.  Hiermit  ist  nun  alles  erledigt,  was  der  Verf.  an 
dieser  Stelle  vorträgt,  wo  er  sich  gegen  den  Unterzeichneten  verteidigen 
wollte;  und  es  findet  sich,  daß  hier  gar  keine  Verteidigung  nötig  war, 
weil  Einverständnis  vorhanden  ist.  Der  Unterzeichnete  darf  also  nun 
seinerseits  den  Herrn  Verf.  ersuchen,  nachzusehen,  ob  dies  Einverständnis 
nicht  vielleicht  noch  weiter  reicht,  als  er  zu  glauben  scheint;  und  ob  es 
nicht  endlich  wohl  selbst  jene  tenebras  durchbrechen  könnte,  von  denen  Herr 
N.  sich  beim  Selbstbewußtsein  eingeschlossen  glaubte.  Unterlassungsfehler 
im  Gebiete  der  Spekulation  pflegen  große  Verwirrung  anzurichten,  die 
sogleich  verschwindet,  wenn  man  das  Geschäft  nur  rüstig  angreift.  Man 
benutze  die  wahren  Motive  und  Hebel  der  Spekulation,  so  wird  sie  von 
der   Stelle    gehen;    die   Verlegenheit    wird    aufhören    und    der  Streit   wird 

schweigen. 

Am  Ende  des  ausführlichen  Auszuges  aus  der  Metaphysik  des  Unter- 
zeichneten findet  sich  das  einzige  Bedenken,  wie  das  alles  mit  der  Freiheit 
des  Willens  zu  vereinigen  sei.  Hr.  N.  ist  aber  nicht  strenger  Kantianer; 
wozu  also  diese  Besorgnis?  Beliebe  nur  der  Hr.  Verf.  sich  selbst  zu 
fragen,  was  er  von  der  Möglichkeit  denke,  daß  Kirche  und  Schule  auf  den 
Innern,  sittlichen  Wert  der  Menschen  einwirken  können?  Die  Kantische 
transzendentale  Freiheit  ist  das  Gegenteil  aller  Einwirkung,  also  auch 
solcher,  von  welcher  Besserung  und  Erhebung  ausgehen  könnte.  Dadurch 
ist  sie  mit  der  Erfahrung  und  dem  höchsten  sittlichen  Bedürfnis  in  einem 
Streite,  worin  sie  unvermeidlich  unterliegen  muß.  Mit  Recht  erwähnt  der 
Verf.  der  sichern  Fortschritte,  welche  man  in  der  Astronomie,  Physik, 
Chemie,  Physiologie,  Geschichte,  —  in  allen  Wissenschaften  gemacht  hat, 
an  der  Stelle,  wo  er  das  Ungenügende  der  Kantischen  und  Fichteschen 
Lehre  zeigen  will.  Mit  eben  dem  Rechte  behauptet  sich  das,  was  man 
sittliche  Bildung  und  Erziehung,  im  weitesten  Sinne,  nennen  mag,  gegen 
den  leeren  Formalismus  des  kategorischen  Imperativs,  mit  welchem  in  Kants 
Kritik  der  praktischen  Vernunft  die  dortige  Freiheitslehre  unauflöslich  auf 
eine  Weise  verbunden  ist,  die  man  viel  zu  sehr  aus  den  Augen  verlor, 
als  man  den  einen  Teil  dieser  Verbindung  fahren  ließ,  und  doch  den 
andern  behalten  wollte.  Vielleicht  werden  wir  bald  anderwärts,  wo  von 
der  sittlichen  Bildsamkeit  die  Rede  sein  wird,  Gelegenheit  finden,  den 
Faden  dieser  Betrachtung  wieder  aufzunehmen. 


2^8  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


Strümpell,  Dr.,  Erläuterungen  zu  Herbart's  Philosophie,  mit 
Rücksicht  auf  die  Berichte,  Einwürfe  und  Mißverständnisse 
ihrer  Gegner.  Erstes  Heft.  —  Göttingen,  in  der  Dieterich'schen 
Buchhandlung,    1834. 

Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.  1834,  Nr.  174.     SW.  XII,  S.  746. 

Der  Verf.  dieser  Schrift  besitzt  natürliches  spekulatives  Talent,  welches 
sich  ohne  Zweifel  würde  entwickelt  haben,  auch  wenn  er  niemals  etwas 
vom  Unterzeichneten  gehört  oder  gelesen  hätte.  Zu  dem  Talente  aber 
ist  ein  so  ernstliches  Studium  hinzugekommen,  daß  die  Frage,  ob  der 
Verf.  seinen  Gegenstand  kenne?  mit  soviel  Bestimmtheit  darf  bejaht 
werden,  als  bei  der  Schwierigkeit,  daß  ein  Mensch  ganz  in  die  Gedanken 
des  andern  eingehe,  irgend  zu  erwarten  steht.  Von  dem  Buche  ist  vor 
allen  Dingen  zu  bemerken,  daß  es  nicht  in  der  Absicht  geschrieben  worden, 
die  auf  dem  Titel  bezeichnete  Lehre  jemandem  aufzudringen ;  dies  ist  viel- 
mehr vermieden,  und  darin  liegt  die  Entschuldigung,  falls  man  die  ge- 
wöhnlichen Höflichkeiten,  worin  der  Imperativ:  lies  mich,  sich  einzukleiden 
pflegt,  etwa  vermissen  sollte.  Der  Ton  der  Schrift  ist  durchaus  ernst; 
Erläuterungen  über  Einleitung  in  die  Philosophie,  über  Metaphysik,  und 
über  das  Verhältnis  jener  zu  dieser,  werden  hier  nur  denen  angeboten,  die 
danach  suchen.  Den  Gegnern  kann  das  Buch  nicht  unerwartet  kommen; 
sie  haben  sich  um  die  Wette  beeifert,  ein  solches  herauszufordern.  Selbst 
ein  förmhches  „Trotzbieten"  ist  nicht  gespart;  man  findet  in  einer  S.  179 
angeführten  Probe  dies  verbum  activum,  und  zwar  in  prima  persona  pluralis. 
Das  war  nicht  das  Mittel,  um  von  der  Hand  des  Unterzeichneten  selbst 
Antwort  zu  erlangen.  Falls  die  Gegner  klagen  sollten,  ihnen  sei  nicht 
Genüge  geschehen,  so  würden  sie  sich  nur  an  den  Verf.  zu  halten  haben, 
der  durch  die  Aufschrift:  erstes  Heft,  sich  wenigstens  vorbehalten,  wenn 
auch  nicht  versprochen  hat,  ein  zweites  zu  liefern. 


Griepenkerl,    Professor    Dr.    F.    K.,    Briefe    an    einen   junge rn    ge- 
lehrten   Freund    über    Philosophie,    und    insbesondere    über 
Herbart's  Lehren.    —   Braunschweig,  bei  Meyer,    1832.      178  S. 
Gedruckt   in:  Gott.  gel.  Anz.    1835,    Nr.  69.     SW.    XIII,    S.  619. 

Als  vor  drittehalb  Jahren  in  dieser  Schrift  Hr.  G.  für  den  Unter- 
zeichneten das  Wort  nahm,  da  konnte  manches  noch  auff'allend  klingen, 
was  seitdem  allmählich  lauter  ist  gesagt  worden.  Briefe  an  einen  Jüngern 
Freund  schienen  dem  Hrn.  Verf.  eine  bequeme  Form,  um  mit  anständiger 
Freimütigkeit  über  „den  gegenwärtigen  Zustand  des  wissenschaftlichen 
Strebens  in  Deutschland"  sich  zu  äußern.  Dahin  gehören  Stellen  wie 
folgende :  ,,man  kann  seit  zwanzig  Jahren  sehr  leicht  ein  Philosoph  werden. 
INIan  studiert  etwas  den  Platon,  wenn  auch  nur  aus  einer  Geschichte 
der    Philosophie,    lieset    Spinoza,    merkt    sich    aus    Kant    nur    die   leere 


Dr.  F.  K.  Griepenkerl:  Briefe  an  einen  Jüngern  gelehrten  Freund  über  Philosophie.      279 

Stelle,  die  Fichte  und  Schelling  ausfüllen  wollten,  achtet  auf  die  starken 
Antriebe    zur  Spekulation,    die    in   Fichtes  Lehre   liegen,    nicht;    läßt  sich 
dafür   mehr   von  Schelling  auf  die  genialen  Flügel  nehmen,    schiebt  zur 
Seite    oder   postuliert,    was    sonst  noch  Schwierigkeit  machen  möchte,    und 
endlich    sinnt    man    auf    einige    neue    Einfälle,    die    einen    recht    wolkigen 
ahnungsvollen    Hintergrund    bilden,    —    dann    ist    der    Philosoph    fertig." 
Der   eigentliche  Zweck    des  Büchleins    ist  jedoch   weder   zu  klagen,   noch 
zu    glänzen,    sondern    zu    nützen.      Da    nun    in    dieser  Meinung    der    Hr. 
Verf.  seinem  Jüngern  Freunde  die  Schriften  des  Unterzeichneten  zu  emp- 
fehlen für  gut  fand:  so  kam  es  darauf  an,  die  Reihenfolge  zu  bestimmen, 
worin  sie  zu  lesen  seien;  ein  Umstand,  der  bei  philosophischen  Schriften 
wohl  wichtiger  sein  dürfte,  als  irgendwo  sonst  im  weiten  Reiche  der  Lite- 
ratur;   daher    zu    wünschen   wäre,    der  Hr.  Verf.   möchte   sich   auch   über 
die  Werke    anderer  Schriftsteller   verbreitet   haben,    wenigstens    sofern    die- 
selben   mit   jenen    zu    verbinden    seien.      Er   läßt   nun    seinen   Freund    mit 
der  Encyklopädie   beginnen    (welche,   wie  der  Titel  besagt,   kurz,   und  aus 
praktischen  Gesichtspunkten   entworfen  ist).     Darauf  führt  er  ihn  zu  dem 
Lehrbuch    zur    Einleitung    in    die    Philosophie    (welches    die    Motive    und 
Hilfsmittel    theoretischer  Untersuchung  mehr  hervorhebt);    sodann  soll   die 
praktische  Philosophie  folgen.    Weiterhin  verweilt  der  Verf.  bei  der  Frage : 
ob  früher  die  Psychologie,  oder  die  später  erschienene  Metaphysik  an  der 
Reihe    sei?    und   gibt   der   letztern    den   Vortritt.     Über   diese  Anordnung 
ließe  sich  nun  manches  sagen.    Die  Encyklopädie  sollte  wohl  billig  außer- 
halb   der  Reihe    bleiben;    denn    sie    ist    mehr  populär  als  wissenschaftlich; 
und  setzt  reife  Männer  voraus,    die  in  Nebenstunden   auf  die  Philosophie 
zurückblicken    wollen.     Allein    Hr.  G.    nimmt    an,    sein  jüngerer   Freund, 
der  eben  von  der  Universität  zurückkommt,  habe  versäumt  philosophische 
Vorlesungen    zu    hören.     Das    mag   oft   genug   vorkommen;    auch   war   es 
dem    Verf.    bequem,    eine    offene    Empfänglichkeit    neben    der    schon    ge- 
wonnenen Gelehrsamkeit  vorauszusetzen.    Nun  sollte  die  Trockenheit  des 
Lehrbuchs   zur  Einleitung,    welches   eben  nur  ein  Lehrbuch  ist,    gemildert 
werden;    und    dazu    möchte    freilich    wohl    die    Encyklopädie    das    nächste, 
obgleich  nicht  ganz  passende,  Hilfsmittel  sein.    Wir  übergehen  alle  weiteren 
Bedenklichkeiten;    die  Hauptsache   ist,    daß   früher   zur  praktischen   Philo- 
sophie, als  zur  Metaphysik  und  Psychologie  das  eigentlich  wissenschaftliche 
Studium    muß   hingelenkt   werden;    darin    stimmt    mit  Hrn.  G.   der  Unter- 
zeichnete   vollkommen    überein;    indem    er    zugleich    sich    bescheidet,    daß 
besser  als  er  selbst,  ein  Freund  beurteilen  könne,  was  in  den  angeführten 
Schriften   leichter,    was    schwerer   sein  möge,    und  wie  am  vorteilhaftesten 
eins  aufs  andere  vorbereiten  könne.    Mögen  also  diejenigen,  welche  einen 
Wegweiser   im  Kreise  jener  Schriften   (denen    einige   kleinere  an  den  ge- 
hörigen Orten   eingeschaltet   sind)   etwa   zu    haben   wünschen,    mit   gutem 
Vertrauen  die  Anleitung  benutzen,    welche  ihnen  hier  geboten  wird;    und 
mögen  andere,  die  keinen  Wegweiser  mehr  brauchen,  dagegen  bemerken, 
daß  sie  es  nicht  sind,  die  in  diesen  Briefen  angeredet  werden. 


28o  J-  ^-  Herbarts  Rezensionen. 


Herbart,    Umriß   pädagogischer  Vorlesungen.    —   Göttingen    1835. 
Selbstanzeige. 

Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.   1835,  Nr.  69.     SW.  X,  S.  XI. 

Inwiefern  durch  diese  Schrift  die  Pädagogik  mit  der  Psychologie 
verknüpft  wird,  kann  darüber  in  der  Kürze  nicht  mehr  gesagt  werden, 
als  daß  die  Psychologie  des  Verfs.  während  langjähriger  pädagogischer 
Praxis,  und  großenteils  infolge  der  hierdurch  erworbenen  Erfahrung,  ent- 
standen, ausgearbeitet  und  niedergeschrieben  ist.  Aber  die  Pädagogik  be- 
ruhet nicht  bloß  auf  der  Psychologie,  sondern  auch  auf  der  praktischen 
Philosophie;  diese  letztere  nun  auf  ästhetischen  Urteilen  über  den  Willen 
zu  gründen,  wird  von  vielen  für  eine  arge  Ketzerei  gehalten,  weil  sie  sich 
an  den  Worten  stoßen;  welche  Worte  gleichwohl  unentbehrlich  sind,  um 
die  Sache  ins  Licht  zu  setzen.  Doch  mag  gegenwärtiger  Bericht  an  die 
Worte  eines  andern  geknüpft  werden,  der  wahrscheinlich  ebensowenig  an 
Pädagogik,  als  an  die  dem  Verf.  eigentümlichen  Untersuchungen  gedacht 
hat.  In  dem  Naturrecht  von  Droste-Hülshof  liest  man  §  11:  „das 
allgemeine  materiale  Sittengesetz  sei  nach  Zeugnis  des  Bewußtseins  ver- 
mittelt durch  das,  der  praktischen  Vernunft  nohvendige  Gefallen  an  der 
Me7ischenwütde^  und  das  darajis  hervorgehende  Begehren  derselben."  Wenn 
nun  als  zugestanden  vorauszusetzen  ist,  daß  Sittlichkeit  den  Zweck  der 
Erziehung  bestimme:  so  folgt  sogleich,  daß  die  Zöglinge  teils  aus  ihrer 
eigenen  praktischen  Vernunft  jenes  notwendige  Gefallen  an  der  Menschen- 
würde erzeugen  sollen,  und  andernteils  hieraus  ihr  Streben  nach  derselben 
hervorgehen,  nicht  aber  von  einer  transzendentalen  Freiheit,  oder  vom 
Schicksale  erwartet  werden  müsse.  Demgemäß  sind  in  der  angezeigten 
Schrift  zuerst  die  Systeme,  welchen  Fatalismus  oder  transzendentale  Freiheit 
wesentlich  angehört,  von  der  Pädagogik  zurückgewiesen  worden;  in  ihnen 
hat  der  Begriflf  der  Bildsamkeit,  worauf  alle  Erziehung  beruhet,  keinen 
Platz;  denn  man  kann  das  Fatum  nicht  beugen  und  die  Freiheit  nicht 
befestigen.  Hiervon  handelt  die  Einleitung;  es  folgt  alsdann  die  Be- 
gründung der  Pädagogik;  und  am  Ende  derselben  werden  die  Haupt- 
punkte, worauf  es  bei  der  sittlichen  Bildung  ankomme,  angegeben:  nämlich 
I.  Richtungen  des  kindlichen  Willens,  2.  ästhetische  Urteile  und  deren 
Mängel,  3.  Bildung  der  Maximen,  4.  Vereinigung  der  Maximen,  5.  Ge- 
brauch der  vereinigten  Maximen.  Hiermit  ist  der  Kantischen  Schule 
zwar  nicht  der  kategorische  Imperativ  eingeräumt,  mit  welchem  nach  der 
Hauptstelle  bei  Kant,  den  §§  5  und  6  der  Kritik  der  praktischen  Ver- 
nunft, die  transzendentale  Freiheit  steht  und  fällt;  weil,  wie  dort  mit  sehr 
löblicher  Präzision  entwickelt  wird,  für  den  freien  Willen  die  bloße  gesetz- 
gebende Form  der  Maximen  allein  der  zureichende  Bestimmungsgrund 
sein  soll,  —  welcher  Übertreibung  schon  längst  von  allen  Seiten  der  ge- 
rechte Vorwurf  eines  leeren  Formalismus  ist  gemacht  worden.  Aber 
etwas  anderes  und  für  den  Erzieher  sehr  Wichtiges,  behauptet  mit  Kant 
gemeinschaftlich  der  Verf.;  nämlich  daß  die  Moralität  nicht  bloß  in 
jenem  „Gefallen  an  der  Menschenwürde",  also  nicht  bloß  in  ästhetischen 
Urteilen    (welches  Wort    hiermit    klar    sein   wird)   zu   suchen  sei;    sondern 


Herbart,  Umriß  pädagogischer  Vorlesungen.  28 1 


daß    es  dabei  auch,  und  gar  sehr,    auf  die  Maximen,  und  zwar  bestimmt 
auf  deren  Bildung,  Vereinigung  und  Gebrauch  ankomme;  dem  praktischen 
Erzieher   aber   sagt  die  Erfahrung,    daß  die  Maximen  der  Zöglinge,   d.  h. 
ihre  allgemeinen  Ansichten  von  dem,  was  im  täglichen  Leben,  im  Umgange 
mit  Menschen  zu  tun  und  zu  lassen  sei,   öfter  vom  Nutzen  und  Schaden, 
als    vom   Gefallen   an    der  Menschenwürde   auszugehen   pflegen.     Sie  sagt 
ihm  ferner,  daß  ungeachtet  aller  guten  Lehren  die  Zöglinge  auf  das,  was 
andere    sagen,    zu    horchen    und    hiermit   das    eigene,    vielleicht  richtigere 
Urteil    zu    verfälschen   pflegen.      Soll   hier  der  Erzieher  zu   Hilfe  kommen, 
so    muß    er    selbst    sich    nicht    mit   dem    unbestimmten    Begriffe    von    der 
Menschenwürde  begnügen,   sondern  er  muß  seinen  Beifall  und  sein  Miß- 
fallen nach   den   verschiedenen  praktischen  Ideen   auseinanderzusetzen  und 
die   Folgen    dieser  Verschiedenheit   in  pädagogischer  Hinsicht  zu  schätzen 
wissen.      Mit    Rücksicht    hierauf  ist   im    zweiten    Abschnitte    die    Übersicht 
der  allgemeinen  Pädagogik  nach  den  Altern  der  Zöglinge  abgeteilt  worden; 
eine   sonst  unbequeme  Form   der  Darstellung,   weil   dem  Erzieher  bei  allem, 
was   er  früher  tut,  das  Spätere  vorschweben  muß,  was  er  vorbereiten  soll; 
und  beim  Späteren   das  Frühere,   was   zur  ferneren  Benutzung  war  zurecht 
gelegt    worden.     Allein    der  Verf.    hatte    nur   nötig,    sich   auf  seine    ältere 
Schrift   über   allgemeine    Pädagogik   zu   beziehen,    worin  jenes  Unbequeme 
ist  vermieden  worden,  indem  dort  die  Darstellung  nach  den  HauptbegrifFen 
von    demjenigen    fortschreitet,    was    gleichzeitig    und    beständig  in   der  Er- 
ziehung   will    beachtet    sein.      Vollständige    Deutlichkeit   kann    man    in    der 
Pädagogik  nur  dadurch   erreichen,   daß  man  beide  Formen  der  Darstellung 
verbindet.    Wird  dies  versäumt:  so  kann  dadurch  ein  Mangel  an  Einsicht 
veranlaßt    werden,    welcher    zu    dem   Vorurteil    führt,    als  wäre  die  frühere 
Erziehung  wichtiger  als  die  spätere,  oder  umgekehrt  die  spätere  wichtiger 
als    die    frühere;    alsdann    ist  kein  Wunder,    wenn  einige  Erzieher  nur  für 
Kinder,  andere  nur  für  ältere  Knaben  oder  Jünglinge  taugen.     Die  Dar- 
stellung nach   Verschiedenheit  der  Alter  hat  den  Vorteil,    daß  sie  leichter 
ins  Spezielle   eingeht;   dies  bezieht  sich  nicht  bloß  auf  die,  im   dritten  Ab- 
schnitte   enthaltenen,    Grundzüge    der    Didaktik,    sondern    auch    auf    die 
Lehre    von    der   Zucht,    insofern    dadurch    die   Fehler   der  Zöglinge  sollen 
vermieden  oder  gebessert  werden;  wovon  im  vierten  Abschnitte  gehandelt 
wird.     Hier  treten   die  zuvor  erwähnten  Hauptpunkte  wieder  hervor.     Es 
muß    nämlich    dem    praktischen  Erzieher,    welchem    das  Unsittliche   in  un- 
zähligen  Gestalten    begegnen    kann,    Hilfe   geleistet   werden,    damit  er  das 
Chaos    seiner    Erfahrungen    soweit    als    möglich    in  Ordnung   bringe;    also 
besonders,    damit    er   die    verschiedenen  Gründe,    in    welchen  das  Fehler- 
hafte seinen  Sitz  und  Ursprung  haben  kann,  nicht  verwechsele.    Geschieht 
dies,    so    kann    er    nicht    beurteilen,    wie    und    inwieweit    die    vorhandenen 
Übel    noch    heilbar    sind;    am  wenigsten  dann,    wann   mehrere  Grundübel, 
wie    es    oft   genug    vorkommt,    sich  ineinander  verwickelt  haben.      So  sind 
(um  nur  das  Leichteste  anzuführen)  bald  die  Maximen,  welche  der  ältere 
Knabe   sich   zu   bilden    anfängt,    bloß   durch   nachteilige   Gesellschaft   ver- 
dorben, und  vielleicht  nur  vom  Hörensagen  aufgenommen ;  bald  sind  sie  die 
Zeichen  einer  rohen  sinnlichen  Neigung;  bald  die  Folgen  von  Einseitigkeit 
in  jenem  ursprünglichen  Urteil  über  Löbliches  und  Schändliches,    welches 


282  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


hier  eben  deshalb  ästhetisches  Urteil  ist  genannt  worden,  weil  es  noch 
lange  kein  vollständiges  moralisches  Urteil  über  den  Wert  einer  Person 
(wobei  deren  Maximen  und  die  Befolgung  derselben  in  Betracht  kommen 
würden),  sondern  nur  die  erste  Grundlage  dazu  enthält,  und  für  mögliche 
Maximen  den  Inhalt  darbietet.  Solcher  Einseitigkeiten  des  Urteils  kann 
es  viele  und  verschiedene  geben;  der  Erzieher  aber  würde  sich  sehr  ver- 
greifen, wenn  er,  um  sie  zu  berichtigen,  gegen  die  Sinnlichkeit  des  Zög- 
lings ankämpfen,  oder  in  Ansehung  der  Maximen  die  Kantische  reine 
Gesetzlichkeit  predigen  wollte.  Ganz  anders  ist  der  Fall,  wenn  die  Zög- 
linge das  Rechte  sehen,  aber  sich  selbst  keine  Pflichten  auflegen,  vielmehr 
nur  andere  kritisieren  wollen.  Hier  kommt  es  darauf  an,  die  allgemeine 
Gesetzlichkeit  geltend  zu  machen,  der  jedermann  sich  fügen  solle;  und 
müsse,  wenn  er  nicht  wolle.  Wieder  andere  Fälle  kommen  vor,  wenn 
zwar  die  ursprünglichen  Richtungen  des  Willens  gutartig,  auch  die  ästhe- 
tischen Urteile  richtig  gebildet,  überdies  einzelne  wahre  Maximen  an- 
genommen und  eingeprägt,  aber  durch  irgend  einen  schwärmerischen  Zug, 
oder  durch  schwärmerische  Lehren,  die  Verbindung  und  Anwendung  der 
Maximen  verdorben  ist;  woraus  die  traurigsten,  heutigestages  nur  zu  sehr 
bekannten  Folgen  entstehen  können.  Dies  muß  genügen,  die  angezeigte 
Schrift  einigermaßen  zu  charakterisieren;  die  Leser  werden  sich  erinnern, 
daß  dabei  teils  auf  den  mündlichen  Vortrag,  teils  auf  Vergleichung  mit 
älteren  Schriften  des  Verfs.  ist  gerechnet  worden. 


Kappe,  Dr.  Alexander,    erstem  Oberlehrer   am  Archigymnasio  zu  Soest, 
Platons  Erziehungslehre    als  Pädagogik   für  die  Einzelnen 
und    als    Staatspädagogik.      Oder    dessen    practische    Philo- 
sophie.   Aus  den  Quellen  dargestellt.  —  Minden  und  Leipzig,    1833. 
Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.    1835,  Nr.  ;o.     SW.  XIII,  S.  620. 

Platon  wird  heutigestages  viel  gelesen,  aber  verschieden  gedeutet, 
und  nach  Maßgabe  der  zu  ihm  mitgebrachten  Ansichten  als  Autorität 
benutzt.  Während  nun,  was  hierin  richtig  oder  verfehlt  sein  möge,  in 
Zweifel  schwebt,  kann  es  als  eine  dankenswerte  Vorarbeit  für  künftig  mehr 
gesicherten  Gebrauch  angesehen  werden,  wenn  ein  Gelehrter,  der  mit  den 
sämtlichen  Schriften  des  Platon  vertraut  ist,  aus  denselben  dasjenige 
bequem  zusammenordnet,  was  einerlei  Hauptgegenstand  betriflft.  Dann 
aber  muß  der  Gegenstand  bestimmt  angegeben  sein,  damit  man  genau 
wisse,  was  man  in  solcher  Zusammenstellung  zu  suchen  habe.  Daß  nun 
der  Titel  des  angezeigten  Buches  hierüber  eine  Frage  veranlasse,  ist  dem 
Verf.  nicht  entgangen;  er  bemerkt  daher  in  der  Vorrede:  die  praktische 
Philosophie  kenne  Platon  nicht  in  der  neuern  Gestaltung,  in  welcher 
ihre  beiden  Hauptseiten  als  besondere  isolierte  Wissenschaften  durch  die 
Reflexion  immer  mehr  erstarrt  seien,  indem  man  von  der  Politik  das 
Naturrecht  schied,  und  der  Ethik  durch  die  Kritik  alle  belebenden  Ideen 


Dr.  A.  Kappe:  Piatons  Erziehungslehre  für  die  Einzelnen  u.  als  Staatspädagogik.      283 

nahm;    so    daß    heutigestages    die    praktische    Philosophie,    ihres    wahren 
Prinzips  und   der  ihr  gebührenden  Wirksamkeit  beraubt,  weit  entfernt  sei, 
eine   Erziehungslehre    für    die  Einzelnen  und   des  Staats  heißen  zu  dürfen. 
Hier    sind    verschiedene    Fragepunkte    vermischt.      Der    eine,    ob    die    Ab- 
sonderung   des   Naturrechts  von  der  Moral  zweckmäßig  sei?    Der  andere, 
ob    mit    der   praktischen  Philosophie,    welche   beide   in   sich   begreift,    die 
Pädagogik  unmittelbar  oder  vielmehr  erst  durch  Benutzung  der  Psychologie 
und  als  abgeleitete  Wissenschaft  in  Verbindung  trete?   Der  dritte,  ob  von 
der  Entscheidung  dieser  Fragen  eine  Darstellung  platonischer  Lehren  ab- 
hänge? Soll  die  letztere  genügen,  so  muß  sie  ohne  Zweifel  dem  Gedanken- 
gange  des  Platon   treu  bleiben;   also  vom  SUaiop  zum  Staate,    und  von 
da    zur    Erziehungslehre    übergehen,    wenn    man   nicht    etwa    den    Beweis 
übernimmt,  Platon  habe  anders  gedacht,  anders  in  seiner  Republik  dar- 
gestellt.   Der  Weg  des  Verfs.   beginnt  dagegen   bei  der   Erziehung  vor  der 
Geburt,    und    geht    von    da    zur    eigentlichen  Pädagogik;    dann   folgt    eine 
Andragogik,    und    den    Schluß    macht    die   Staatspädagogik.     Seine    Zitate 
sind  anfangs  meistens  aus  dem  Werke  über  die  Gesetze  entnommen;  da- 
zwischen kommen  andere  aus  dem  Timäus,  dem  Sophisten,  dem  Phädrus, 
dem  Theätet;    und   nur   selten  erscheint  auf  den  ersten  Blättern  die  Re- 
publik.     Das    Bedenkliche    dieser    Art    von    „musivischer    Arbeit"    scheint 
uns   der  Verf.   nicht   ganz  empfunden  zu  haben,    obgleich  er  in  der  Vor- 
rede   sein  Bestreben    bezeugt,    das  Material    so    zu   benutzen,    daß    dabei 
niemals    der  eigentümliche,   durch  die  platonische  Gesprächs-Untersuchung 
bestimmte  Sinn  verrückt  werde.    Es  möchte  doch  gut  gewesen  sein,   über 
den  verschiedenen  Charakter  der  genannten  platonischen  Werke,   besonders 
über    den    Unterschied    des   Werks    über   die    Gesetze   von    der  Republik, 
etwas   vorauszuschicken.     Übrigens    läßt   er   im  Texte  den  Platon  selbst 
allein   reden,  so  daß  die  übersetzten   Stellen  nur  durch  ganz  kurze  Über- 
gangsworte in  Verbindung  gesetzt  werden;   es   sind  aber  lange  Noten  bei- 
gefügt, in  welchen  er  sich  besonders  häufig  auf  Schriften  von  J.  J.  Wagner, 
zuweilen   auch   auf  Jacobs  u.  a.  m.  bezieht.     An  Fichtes  Reden  an  die 
deutsche  Nation  scheint  er  nicht  gedacht  zu  haben.    Dagegen  ist  Aristo- 
teles    oftmals    verglichen,     was    unstreitig    sehr    zweckmäßig    war.       Die 
platonischen  Bestimmungen  über  Musik  und  Gymnastik  usw.  sind  zu  be- 
kannt,   um    hier    darüber  zu  berichten;    man  könnte  aber  fragen,    wer  die 
Andragogen  (nach  Analogie  der  Pädagogen)  sein  sollen,  und  welcher  Grad 
von  Unmündigkeit  den  Männern   dadurch  angedroht  werde?   Da  nun  über- 
dies  der  Verf.  (laut  der  Vorrede)  hier  allein   von  seinem  Standpunkte  aus 
die   Gliederung  vorgenommen  hat,    so  zeigen  wir  kurz  an,    daß  in  diesem 
Teile   von    Selbsterkenntnis,    Charakterbildung,    Berufsbildung    (des  Arztes, 
Kriegers,  Lehrers,  Staatsmanns,  Gesetzgebers  und  Herrschers),  endlich  von 
der    Bildung    des  Mannes    zum  Familienvater   auf  eine  Weise   gesprochen 
wird,    die  allerdings    mehr    an  Moral   als   an  Pädagogik   erinnert,    —    und 
wodurch  wir  uns  veranlaßt  finden,  an  Schleiermachers  Kritik  der  Sitten- 
lehre zu  erinnern,    welche  darauf  aufmerksam  machen  kann,    was  alles  zu 
beachten  ist,  wenn  man   es   einmal  unternimmt,   Platons  praktische  Philo- 
sophie auf  solche  Weise  darzustellen,   daß  ihre  charakteristischen  Unterschiede 
von    andern   Systemen    deutlich   heraustreten.      Kenntnis    des    Naturrechts 


2^A  J.   F.  Herbarts  Rezensionen. 


wollen    wir  für  diesmal  schon  nicht  verlangen,   sondern  uns  an  die  Päda- 
gogik   halten.     Hier    nun    ist   beim  Platon   offenbar   die  Staatspädagogik 
das  Wesentliche,    welche  beim  Verf.  das  Unglück  hat,    ganz  am  Ende  zu 
stehen.     So  bleibt  denn  eine  Zeitlang  im   Dunkeln,    was  doch  zuletzt  ans 
Licht    treten    muß,    nämlich    daß   Sklaverei   und  Zurücksetzung   des   weib- 
lichen Geschlechts   bei  den  Griechen  das  ganze  Familienleben  aus  seiner 
rechten  Lage  brachte;  daß  hierdurch  die  Erziehung,  welche  zunächst  An- 
gelegenheit   der    Familien   ist,    und   stets   bleiben    muß,    in   Gefahr   geriet, 
als    bloßes  INIittel    für  die  bürgerlichen  Verhältnisse  betrachtet  zu  werden; 
womit  noch  zu  verbinden  ist,  daß  die  freigebornen  Kinder  nicht  etwa  wie 
bei    uns  Griechisch,    Latein  usw.   in  der  Schule  zu  lernen  brauchten,    daß 
es    daher    eine    ernsthafte   Frage    werden    konnte,    wieviel  Jahre    lang    die 
Kinder  Musik,    und  in  welchen  Tonarten  lernen  sollten   —  und  was  der- 
gleichen Dinge  mehr  sind,  die,  wenn  sie  ja  zu  den  heutigen  Beschäftigungen 
der  Jugend    irgend    ein    bemerkbares   Verhältnis   haben,    wenigstens    einer 
völlig  veränderten  Auffassung  unterliegen,   wodurch  die  Angaben  Platons 
jemehr  man  sie  ins  Einzelne  verfolgt,  um  desto  mehr  ihre  praktische  Be- 
deutung  für   uns   verlieren.     Oder   meint   man    (um   nur   ein  Beispiel  an- 
zuführen), daß  da,  wo  christlicher  Religionsunterricht  in  die  Gemüter  ein- 
dringt,   die  Besorgnis   des  Platox   wegen   der  Wirkung   des   Homer   und 
anderen  Dichter   noch  in  Betracht  komme?    Wer  im  Ernste  den  Homer 
für    die  heutige  Jugend  fürchtet,   der  lasse  nur  daneben  die  Märchen  der 
Tausend  und    einen  Nacht,    oder  MusÄus  Volksmärchen    lesen;    und    die 
Erfahrung  wird  ihm  zeigen,  wie  leicht  in  dem  heutigen   Gedränge  dessen, 
was  sich  der  Jugend  darbietet,   die  verschiedenartigen  Eindrücke  einander 
gegenseitig  auslöschen.     Und  Platon,  der  es  für  eine  Staatsangelegenheit 
von   größter  Wichtigkeit   hielt,    daß   nichts   an    der  Musik  und  Gymnastik 
verändert   werde,   was   würde  er  sagen,    wenn  er  bei  uns  in  einem  Lese- 
kabinett die  französischen  und  englischen  Zeitungen  neben  den  deutschen 
lieaen  sähe?  —  Daß  der  Verf.  seinen  Gegenstand  mit  Vorliebe  behandelt 
hat,    ist   ihm    nicht    zu    verdenken;    auch    hat    er    recht,    S.  42    zu    sagen. 
Platon   konnte   gemäß   seiner  Einsicht   in   das  Wesen   des  Staats   und    in 
dessen  Verhältnis    zu  den  Einzelnen,    eine  Erziehung,   welche  der  Willkür 
der    Privaten    überlassen    gewesen    wäre,    durchaus    nicht    gestatten.      Wir 
aber  dürfen  nicht  vergessen,  daß  unsere  Staaten  keine  griechischen  Städte 
sind,    und    unser  Gesichtskreis    nicht    in    den  Schranken   des   griechischen 
Altertums    eingeschlossen    ist.      Auch    kann    die    Lehre    von    den    Trink- 
gelagen (§  158)  nebst  dem,  was  zunächst  vorhergeht  (§  152  usw.)  heutiges- 
tages  recht  füglich  einer  platonischen  Pädagogik  überlassen  werden;  besser 
aber    möchte    es    gewesen    sein,    selbst    hier   solche   Gegenstände   zu   ver- 
meiden;   wie    denn    überhaupt    das    Buch    durch   Abkürzungen   bedeutend 
hätte  gewinnen  können. 


J.  P.  Romang:  Über  Willensfreiheit  und  Determinismus.  28; 


Romang,  J.  P.,    Über    Willensfreiheit    und    Determinismus.    — 
Bern   1835. 

Zur  Lehre    von    der  Freiheit   des    menschlichen  Willens.     Briefe 
an    Herrn    Professor   Griepenkerl   von   Herbart.    —    Göttingen,   in 
der  Dieterich'schen  Buchhandlung,    1836.     XXIV  u.   285  S.  Oct. 
Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.   1836,  Nr,  37.     SW.  IX,  S.  IX. 

Von   der  ersten  dieser  Schriften  kann  hier  nicht  füglich  ausführlicher 
Bericht  erstattet  werden,  denn  sie  hat  Anlaß  gegeben,  daß  ihr  die  zweite, 
freilich    kürzere    und    auf  Briefe   an   einen   gelehrten  Freund    beschränkte, 
zur  Seite   gestellt   wurde.      Hierin    liegt  indessen  schon  die  Anerkennung, 
daß  Hrn.  Romanos  Buch  nicht  zu  den  unbedeutenden  gehört,  daß  es  viel- 
mehr Aufmerksamkeit  zu  erregen  geeignet  ist;  die  es  wahrscheinlich  zunächst 
unter  den  zahlreichen  Anhängern  Schleiermachers  finden  wird.    Auf  S.  72 
dieses  Buches   nun   liest   man   wörtlich    folgendes:    „Noch  heute  dient  die 
Berufung   auf  Spinoza   einer  Behauptung   bei   den  meisten  nicht  sehr  zur 
Empfehlung.    Andere,  wie  z.  B.  Leibniz,  dieser  hohe  Ruhm  des  deutschen 
Namens,   haben  sich  in  ihrer  Spekulation  auf  Sätze  führen  lassen,  welche 
keine  von  dem  spinozistischen  Determinismus  wesentlich  verschiedene  Deutung 
zu   erlauben   scheinen,  obgleich   sie  hartnäckig  versichern,  in  Ansehung  der 
sittlichen  Dinge  zu  einem  solchen  Verständnis  nicht  berechtigt  zu  haben." 
Von  Leibnizen    wird    nun   ein  Übergang   zu    einer   „neuern  Philosophie" 
gemacht,    welche  Hr.  R. ,    wie    es   scheint,    hinreichend   daran    zu  kennen 
glaubt,    daß  darin  die  sogenannte  transzendentale  Freiheit  bestritten  wird. 
Hätte   er  sich  um   den  praktischen   Teil   dieser  Philosophie  bekümmert,   so 
würde    er    unmittelbar    vor   Augen    gesehen   haben,    daß   derselbe   auf  die 
praeiudicia  de  bono  et  malo,  merito  et  peccato,  laude  et  vituperio,  ordine 
et    confusione,    pulchritudine   et   deformitate,    gebaut  ist,   welche  Spinoza, 
recht    wie    sich's    gebührt,    alle    mit    einer  Hand  zusammenfaßt,    aber  nur, 
um    sie    alle   auf   einmal    aus  seiner  Ethik  herauszuwerfen,    wie   er  dies  in 
dem  Appendix    zum    Abschnitte    de    Deo    ausführlich    zeigt.      Wenn    nun 
jemand  seinen  Deutungen  mehr  Gewicht  beilegt,  als  den  entgegenstehenden 
Versicherungen  anderer:  so  muß  er  darauf  gefaßt  sein,  daß  unumwimdene 
Erklärungen    erfolgen,    die    er  nach  Belieben  hartnäckig  nennen  mag.      So 
ist    denn    in   den  angezeigten   Briefen   ohne  Umstände  von   der  Lehre  des 
Spinoza  gesagt,  daß  sie,  als  Ethik  betrachtet,  unter  der  Kritik  schlecht  ist. 
Ein    stärkeres   Urteil    von  Stäudlin    ist  beigefügt,    welches  wörtlich  dahin 
lautet:  „daß  Spinoza  alle  sittlichen  Ideen,  Urteile  und  Gefühle  des  INIenschen 
verwirrt,   verkehrt,   verdreht  und   verfälscht;   und   zwar  auf  eine  Art,   welche 
dem   innersten  moralischen  Bewußtsein  widerspricht  und   es  empört.''    Der 
ganze    Zusammenhang   dieser  Stelle   in  Stäudlins  Geschichte   der  Moral- 
philosophie S.  772    verdient    nachgelesen    zu    werden,    und    es    ist   zu  be- 
merken,   daß    dies    Buch    erst    im  Jahre    1822    herauskam,    also   zu   einer 
Zeit,    wo    der  S.   102    erwähnte  Versuch,    den  Spinozismus    in   die  Sitten- 
lehre  einzuführen,   schon  längst  bekannt  war.    Noch  härter  urteilt  Henrici, 
der  bei  Spinoza  „determinierten  Antimoralismus"  findet,  und  ihn  mit  dem, 


286  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


aus  Platons  Gorgias  bekannten  Kallikles  zusammenstellt.  Dies  Urteil 
hat  indessen  der  Verf.  der  angezeigten  Briefe  nicht  zu  dem  seinigen  ge- 
macht. Es  ist  zwar  ganz  natürlich,  daß  durch  die  offene  Behauptung  des 
Spinoza:  das  Recht  liege  in  der  Gewalt,  ein  Rechtsgelehrter  noch  ent- 
schiedener empört  wird,  als  ein  Theologe,  welchen  manche  sehr  bekannte 
Spinozische  Lehrsätze  ansprechen  hönnen.  Allein  man  muß  die  Lehre 
von  der  Person  unterscheiden;  und  wo  die  Fehler  so  klar  in  der  Lehre 
liegen,  wie  bei  Spinoza,  da  ist  man  nicht  befugt,  den  verdienten  Tadel 
derselben  auf  das  persönliche  Wollen  auszudehnen.  Damit  nun  auch  hier 
das  audiatur  et  altera  pars  nicht  vermißt  werde,  können  folgende  Worte 
des  Spinoza  selbst  hinreichen,  welche  am  Ende  des  dritten  Kapitels  im 
tractatus  politicus  zur  Schutzwehr  gegen  die  zu  erwartenden  Einwürfe  stehen : 
monere  volo,  me  haec  omnia  ex  naturae  humanae  quomodocunque  consi- 
deratae  necessitate  demonstrasse,  nempe  ex  universali  omnium  hominum 
conatu  sese  conservandi.  Daß  man  eine  solche  Sprache  dem  17.  Jahr- 
hundert verzeihen  muß,  ist  bekannt  genug,  man  braucht  nur  an  Grotius, 
HoBBES  und  Pufendorf  zu  denken.  Wer  aber  die  nämliche  Sprache 
im  19.  Jahrhundert  wiederholt,  der  hüte  sich  vor  den  Einsprüchen  Kants, 
dessen  Grundlegung  zur  Sittenlehre  zwar  auf  transzendentale  Freiheit  hin- 
führt, aber  nicht  davon  ausgeht.  Der  Hauptgedanke  Kants  ist,  daß  die 
Sittenlehre  keine  Güterlehre  sein  kann,  wie  man  auch  eine  solche  drehen 
und  wenden  möge.  Und  dies  ist  vollkommen  richtig;  es  ist  ebenso  gewiß, 
als  es  einen  Unterschied  des  guten  und  bösen  Willens  gibt.  Wo  irgend  ein 
solcher  Unterschied  hervortritt,  da  ist  der  Wille  selbst  das  Objekt  einer 
Kritik;  und  dies  Objekt  darf  nicht  mit  den  Objekten  des  Willens  (den 
Gütern  und  Übeln)  verwechselt  werden.  Daraus  schloß  Kant,  noch  immer 
richtig,  irgend  eine  Form  müsste  den  Bestimmungsgrund  des  sittlichen 
Willens  ausmachen.  Und  soweit  kann  man  ihm  folgen,  ohne  mit  ihm 
nach  der  logischen  Form  der  Allgemeinheit  zu  greifen,  woran  von  ihm 
erst  der  kategorische  Imperativ,  an  diesen  aber  die  vorerwähnte  Freiheits- 
lehre geknüpft  wurde.  Wer  auf  diesen  Zusammenhang  der  Kantischen 
Lehre  nicht  achtet,  der  wird  immer  Gefahr  laufen,  sich  in  den  darüber 
entstandenen  Streitigkeiten  zu  verwickeln  und  die  Mühe  seines  Nach- 
denkens darüber  zu  verHeren. 


Hartenstein,  G-,  außerord.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität 
zu  Leipzig,  Die  Probleme  und  Grundlehren  der  allgemeinen 
Metaphysik.  —  Leipzig,  bei  Brockhaus,  1836.  XXXII  u.  537  S. 
Oct. 

Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.   1835,  Nr.  108.     SW.  XU,  S.  747. 

Der  Bericht  über  dies  schätzbare  Buch  soll  zum  Teil  mit  den  eigenen 
Worten  des  Verfs.  abgestattet  werden.  Derselbe  hat  zunächst  im  Kreise 
seiner  akademischen  Wirksamkeit  das  Bedürfnis  eines  Buches  gefühlt, 
welches   jungen    Männern,    in    denen    ihm    gelang    einen    ernsten    Unter- 


G.  Hartenstein:  Die  Probleme  und  Grundlehren  der  allgemeinen  Metaphysik.      287 


suchungsgeist  anzuregen,  als  ein  ausreichendes  und  zugängliches  Hilfsmittel 
in  die  Hand  gegeben  werden  könnte.  Daraus  entstand  der  Plan,  die 
Darstellung  der  metaphysischen  Probleme  in  einer  solchen  Weise  mit  der 
Entwicklung  der  aus  ihnen  hervorgehenden  Lehrsätze  zu  verbinden,  daß 
der  ganze  Zusammenhang  der  theoretischen  Wissenschaft  bis  zu  dem 
Punkte,  wo  die  allgemeinen  Untersuchungen  in  das  Spezielle  der  Natur- 
philosophie und  Psychologie  übergehen,  mit  vollkommener  Klarheit  und 
Bestimmtheit  vor  Augen  läge.  Er  wollte  kein  Lehrbuch  schreiben;  hatte 
aber  doch  vorzugsweise  die  Lernenden  im  Auge;  und  in  philosophischen 
Dingen  ist  jeder  ein  Lernender,  der  noch  zwischen  divergierenden 
Meinungen  schwankt,  und  keine  sicheren  Ruhepunkte  seines  Denkens, 
keine  wissenschaftliche  Überzeugung  gewonnen  hat.  Er  strebte  nach 
Deutlichkeit  und  Verständlichkeit;  doch  war  nichts  weniger  seine  Absicht, 
als  etwa  eine  sogenannte  populäre  Darstellung  der  Wissenschaft  zu  geben, 
denn  Metaphysik  läßt  sich  ebensowenig  popularisieren  als  Mathematik. 
Töricht  ist,  Schwierigkeiten  zu  machen,  wo  keine  sind;  aber  diejenigen 
Schwierigkeiten,  die  in  der  Sache  liegen,  —  und  deren  sind  gerade  hier 
nicht  wenige!  —  dürfen  nicht  beiseite  geschoben,  sondern  müssen  ins 
vollste  Lichte  gesetzt  werden,  um  die  Untersuchung  auch  nur  in  Gang 
zu  bringen.  Die  natürlichen  Anfänge  derselben  liegen  in  der  allgemeinen, 
jedem  Individuum  zu  aller  Zeit  sich  aufdringenden  Erfahrung.  Wird  da- 
gegen die  Geschichte  der  Philosophie  als  die  Eingangspforte  zur  Wissen- 
schaft gewählt,  so  findet  man  sich  von  einem  Strome  widerstreitender 
Meinungen  ergriffen.  Philosophie  soll  sich  aber  nicht  traditionell  fort- 
pflanzen. Die  ersten  Versuche  des  spekulativen  Denkens  müssen  unab- 
hängig von  schon  ausgebildeten  philosophischen  Sätzen  entstanden  sein; 
herausgetrieben,  ja  herausgestoßen  aus  der  gemeinen  Ansicht  der  Dinge 
müssen  sich  die  ersten  Denker  gefühlt  haben;  und  mit  der  nämlichen 
Selbständigkeit,  nur  vollständiger  und  umfassender,  muß  sich  noch  heute 
in  der  Beschaffenheit  der  gemeinen  Ansicht  der  Dinge  jedem  das  Be- 
dürfnis der  Philosophie  aufdringen,  wie  einst  einem  Anaximander,  Par- 
MENIDES  und  Platox.  Um  diese  Unbefangenheit  der  Untersuchung  zu 
sichern,  ist  selbst  im  propädeutischen  Teile  nur  sehr  wenig  Rücksicht  auf 
die  Geschichte  der  Philosophie  genommen  worden;  die  Geschichte  einer 
Wissenschaft  ist  nicht  sie  selbst;  so  geneigt  man  auch  jetzt  ist,  hier  jeden 
festeyi  Unterschied  ineinander  fließen  zu  lassen,  und  sogar  die  INIöglichkeit 
philosophischer  Irrtümer  zu  leugnen,  indem  man  die  Sphäre,  wo  Wahrheit 
und  Irrtum  einander  noch  entgegengesetzt  sind,  ebenso  als  eine  niedere 
Entwicklungsstufe  des  erkennenden  Geistes  betrachtet,  als  die,  wo  Tugend 
und  Laster  unvereinbar  einander  gegenüber  stehen.  In  den  sublimen 
Regionen  der  —  Zeitphilosophie  verschmilzt  das  alles. 

Man  sieht  schon  aus  dem  Gesagten,  daß  der  Verf.  sic"h  in  die 
subhmen  Regionen  nicht  hat  erheben  wollen,  obgleich  ihm  dieselben  sehr 
wohl  bekannt  sind.  Er  will  nicht  von  vornherein  Einbildungen  an  die 
Stelle  der  Tatsachen  setzen;  will  nicht  in  die  Luft  bauen.  Der  Anfang 
der  Untersuchung  liegt  nirgends  anders  als  im  Gegebenen.  Eine  Hin- 
weisung auf  den  Zwang,  mit  welchem  sich  uns  das  Gegebene  ankündigt, 
würde   in  früheren  Zeiten  nicht  nötig  gewesen  sein;   in  unserer  Zeit,    seit 


2  88  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


man  sich  dessen,  was  niemals  Gegenstand  einer  Erfahrung  werden  kann, 
durch  innere  Anschauung  zu  bemächtigen  sich  überredet  hat,  setzt  man 
alles  andere  eher  voraus,  als  man  sich  für  verpflichtet  achtet,  der  Auf- 
forderung Kants  Genüge  zu  leisten:  „man  solle  sich  wenigstens  darüber 
rechtfertigen,  wie  und  vermittelst  welcher  Erleuchtung  man  sich  denn  ge- 
traue, alle  Erfahrung  durch  die  Macht  bloßer  Ideen  zu  überfliegen,  und 
wie  man  es  anfangen  wolle,  seine  Erkenntnis  ganz  und  gar  a  priori  zu  er- 
weitern." Doch  der  Verf.  hat  sich  gegen  die  Zeitphilosophie  noch  stärker 
ausgesprochen.  Er  sagt:  „Wenn  man  fortfährt,  die  Vernunft  für  ein  Orakel 
zu  halten,  dessen  Aussprüche  der  Verstand  nicht  zu  dolmetschen,  dessen 
Ansprüche  er  nicht  zu  fassen  vermöge,  so  braucht  es  keine  Verwunderung  zu 
erregen,  wenn  die  Philosophie  sich  zu  Zeiten  so  unverständig  wie  möglich 
benommen  hat,  um  nur  einige  Ansprüche  auf  Vernunft  zu  dokumentieren." 
Hierbei  wollen  wir  uns  jedoch  erinnern,  daß  dies  keineswegs  allgemein 
ist.  Manche,  die  jener  Zeitphilosophie  angehören,  haben  gar  wohl  gewußt, 
daß  man  mit  der  Negation  des  Verstandes  nicht  weit  kommt;  und  haben 
sich  wohl  gehütet,  sich,  nach  S.  loo  des  „bacchantischen  Taumels,  an  dem 
kein  Glied  7iiclit  trunken  sei",  zu  rühmen.  Sie  sahen  nur  nicht,  und  wußten 
nicht  und  wollten  nicht  glauben,  daß  und  wie  man  aus  dem  Widersprechenden 
der  gegebenen  Erfahrungsbegriffe  herausgehen,  und  eben  damit  den  Weg 
zur  Erklärung  der  Erfahrung  antreten  könne.  Nur  mit  diesen  wird  ohne 
Zweifel  Hr.  Prof.  Hartenstein  sich  ferner  beschäftigen  wollen,  inwiefern 
er  überhaupt  die  erwähnte  Zeitphilosophie  zu  berücksichtigen  für  gut  findet. 
Übrigens  hat  er  die  Untersuchungen  des  Unterzeichneten  benutzt;  dies 
ist  von  ihm  selbst  nicht  bloß  in  der  Vorrede  angezeigt,  sondern  mit  einer 
solchen  Pünktlichkeit  im  ganzen  Buche  nachgewiesen,  daß  es  auch  hier 
nicht  passend  wäre,  darüber  zu  schweigen.  Vielmehr  kann  es  Über- 
legungen veranlassen,  die  wenigstens  indirekt  mögen  angedeutet  werden. 
Versetzt  man  sich  in  Gedanken  in  das  letzte  Dezennium  des  vorigen  Jahr- 
hunderts und  nimmt  man  an,  Krug  und  Fries  wären  früher  aufgetreten 
als  Reinhold  und  Fichte:  so  erhellet  leicht,  daß  die  große  Genauigkeit, 
womit  jene  beiden  die  Lehre  Kants  bearbeitet  haben,  auf  Reinhold  sehr 
vorteilhaft  würde  gewirkt,  und  ihn  zu  einer  Behutsamkeit  würde  bewogen 
haben,  der  auch  Fichte  sich  nicht  hätte  entziehen  können.  Wie  weit 
nun  auch  der  Abstand  zwischen  dort  und  hier  sein  möge:  Hr.  Professor 
Hartenstein  hat  ein  Beispiel  von  Genauigkeit  gegeben,  welches  öffent- 
lich zu  verdanken  der  Unterzeichnete  nicht  umhin  kann.  Mißverständnisse 
pflegen  bei  solcher  Genauigkeit  nicht  vorzukommen;  bei  der  Durchsicht 
des  Buches  ist  dergleichen  nicht  bemerkt  worden;  dagegen  tritt  überall 
eine  Freiheit  der  Behandlung  hervor,  die  vom  ängstlichen  Anklammern 
an  die  Worte  eines  andern  das  gerade  Gegenteil  ist.  Daß  in  der  schon 
bekannten  Ordnung  Methodologie,  Ontologie,  Synechologie  und  Eidolologie, 
als  die  Abschnitte  der  allgemeinen  Metaphysik,  sind  abgehandelt  worden, 
dies  ist  die  Folge  der  nämlichen  Notwendigkeit,  worin  sich  der  Unter- 
zeichnete selbst  befand,  da  er  im  Jahre  1828  den  zweiten  Teil  seiner 
allgemeinen  Metaphysik  genau  nach  demselben  Plane  ausführen  mußte, 
welchen  er  sich  in  den  Hauptpunkten  der  Metaphysik,  die  im  Jahre  1808 
herauskamen,  schon  vorgezeichnet  hatte.    Wohl  möchte  es  ganz  gut  gelautet 


M.  W.  Drobisch:  Neue  Darstellung  der  Logik  nach  ihren  einfachsten  Verhältnissen.      289 


haben,  man  sei  in  zwanzig  Jahren  viel  weiter  gekommen,  man  habe  in- 
folge der  inzwischen  ausgearbeiteten  Psychologie  und  Naturphilosophie 
ganz  neue  Aufschlüsse  über  die  Metaphysik  gewonnen,  man  wolle  sich 
mit  den  Fortschritten  der  Zeit  ins  Gleichgewicht  setzen  und  dergleichen 
mehr.  Das  alles  ließ  sich  nicht  sagen;  und  Hr.  H.  hat  auch  jetzt  nicht 
möglich  gefunden,  etwas  ähnliches  zu  sagen.  Dagegen  hat  er  das  Zu- 
fällige beseitigt,  was  darin  liegt,  daß  erst  die  Hauptpunkte  der  Metaphysik, 
dann  das  Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie,  hierauf  die  kleinere 
und  später  die  größere  Psychologie;,  zuletzt  aber  die  allgemeine  Meta- 
physik vom  Unterzeichneten  herausgegeben  waren.  Hr,  H.  wollte  in 
einem  Buche  von  bequemem  Umfange,  nicht  überladen  mit  Gelehrsam- 
keit und  noch  weniger  mit  Polemik,  jedoch  versehen  mit  den  nötigen 
Hinweisungen  sowohl  auf  alte  als  auf  neuere  Philosophie,  in  faßlichem 
Vortrage  alles  das  vereinigen,  worauf  der  Titel  Metaphysik,  dem  Leser 
Anspruch  geben  könnte.  Er  vereinigte  demnach  die  Methodologie  mit 
der  Propädeutik,  gab  der  Eidolologie  zurück  was  ihr  in  jenen  Schriften 
die  Psychologie  vorweggenommen  hatte  und  ließ  die  Naturphilosophie  weg. 
Daß  es  nun  dennoch  Gründe  gibt,  früher  eine  Propädeutik  vorzutragen, 
die  Methodologie  der  Wissenschaft  selbst  vorzubehalten,  die  Psychologie 
abgesondert  zu  stellen  und  dagegen  die  Anfänge  der  Naturphilosophie  mit 
der  allgemeinen  Metaphysik  zu  verbinden:  dies  braucht  hiernicht  erörtert 
zu  werden;  denn  auch  jene  Zusammenstellung  hat  ihre  guten  Gründe, 
besonders  da,  wo  die  Rücksichten  des  akademischen  Vortrags  wegfallen. 
Und  schweriich  hätte  sich,  nach  der  Meinung  des  Unterzeichneten,  der  Plan 
des  Verfs.  besser  ausführen  lassen,  als  so,  wie  er  es  wirklich  geleistet  hat. 


Drobisch,  M.  W.,  Prof.  an  der  Universität  zu  Leipzig,  Neue  Dar- 
stellung der  Logik  nach  ihren  einfachsten  Verhältnissen. 
Nebst  einem  logisch-mathematischen  Anhange.  —  Leipzig, 
bei  Leopold  Voss,    1836.     XVI  u.   167  S.  Oct. 

Gedruckt  in:  Göttinger  gel.  Anz.   1836,  Nr.   128.     SW.  XII,  S.   750. 

Bekanntlich  war  Kant  der  Meinung,  die  Logik  habe  seit  Aristo- 
teles keinen  Schritt  rückwärts  getan,  aber  auch  keinen  vorwärts  tun 
können.  An  dem  letzten  Teile  des  Satzes  möchte  man  beim  Anblicke 
dieser  zwar  kleinen,  aber  äußerst  gehaltreichen  Schrift  wohl  zweifeln.  Sie 
hat  einen  logisch-mathematischen  Anhang;  schon  dieser  einzige  Umstand 
kann  bemerklich  machen,  die  Logik  müsse  doch  wohl  nicht  so  ganz  ab- 
geschlossen und  isoliert  dastehen,  als  ob  sie  keiner  Verbindungen  fähig 
sei,  wodurch  sie  selbst  einen  Zuwachs  eriangen  würde.  Aber  auch  ab- 
gesehen hiervon  hat  sie  von  den  scharfen  Augen  eines  Mathematikers 
eine  solche  Musterung  sich  müssen  gefallen  lassen,  daß  schweriich  ein 
Fleckchen  in  ihrem  Bezirke  übrig  geblieben  ist,  welches  nicht  w^äre  von 
neuem  besichtigt  worden.    Gleichwohl  ist  der  Hr.  Verf.  von  Überschätzung 

Herbarts  Werke.     XIII.  "9 


2QO  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


der  Logik  sehr  weit  entfernt.  Er  sagt  in  der  Vorrede:  „Man  rühmt  die 
Logik  wie  einen  tüchtigen  Elementarlehrer,  der  zwar  nur  einen  beschränkten 
Gesichtskreis  übersieht,  aber  darin  vollkommen  zu  Hause  ist,  und  über- 
dies Zucht  und  Ordnung  zu  halten  versteht.  Und  man  hat  gar  nicht 
unrecht  daran.  Die  Logik  ist  viel  zu  arm,  um  auf  unmittelbare  Weise 
zur  Erweiterung  menschlicher  Wissenschaft  etwas  Wesentliches  beitragen 
zu  können.  Sie  ist  bloßer  Formalismus,  —  aber:  iver  sein  Denken  voll- 
ständig auszubilden  beabsichtigt,  der  kann  eine  exakte  Kenntnis  dieser  Formen 
nicht  entbehren,  so  ivenig  ivie  sich  der  Maler  dem  Studium  der  Anatomie, 
der  Komponist  dem  Studium  des  Generalbasses  e7itziehen  darf."  Wir  können 
hinzufügen :  die  Verächter  der  Logik  richten  nicht  mehr  aus,  als  die  Ver- 
ächter der  Grammatik.  Beide  bewirken  bloß,  daß  diejenigen  Männer, 
welche  die  Unentbehrlichkeit  dieser  Studien  kennen,  sich  die  Mühe  nehmen, 
durch  verbesserte  Darstellungen  der  Geringschätzung  zu  begegnen,  welche, 
wenn  sie  weiter  um  sich  griffe,  gemeinschädlich  werden  würde. 

Die    Einrichtung    des    Buches    ist    zwar   im   ganzen   die   gewöhnliche; 
nach  der  Einleitung  (über  das  Verhältnis  der  Logik  zu  den  andern  Teilen 
der  Philosophie,  worüber  der  Hr.  Verf.  mit  dem  Unterzeichneten  durch- 
gehends    übereinstiro.mt)    folgen    vier    Abschnitte    über    Begriffe,     Urteile, 
Schlüsse    und    systematische    Formen;    im   letztern   wird    von  Erklärungen, 
Einteilungen   und  Beweisen  gehandelt.     Im  einzelnen  aber  wird  vielleicht 
jeder   bisherige  Logiker   bedeutende  Abweichungen    von  seiner  gewohnten 
Darstellungsweise  finden,  deren  Gewicht  jedoch  schwerlich  von  allen  gleich- 
mäßig möchte  geschätzt  werden.    Es  ist  zu  bedauern,  daß  der  Verf.  nicht 
mehr   von   den  Beispielen  und  Anwendungen,    die  ihm  ohne  Zweifel  vor- 
schwebten,   mitgeteilt   hat;    durch   solche   möchte   z.  B.   gleich    die  Unter- 
scheidung   von   Aggregation ,    Separation ,    Determination    und  Abstraktion 
(welche  mit  Addition,    Subtraktion,    Multiplikation  und  Division  vergHchen 
werden)   mehr  Licht   erhalten    haben,    und   die  Bemerkung:    es   sei  nicht 
genau   richtig,    den  Inhalt   eines  Begriffs   die  Summe    seiner  Merkmale  zu 
nennen,  vor  der  Frage  geschützt  sein,  ob  es  überall  möglich  sei,  die  Ver- 
bindung   dieser   Merkmale    in    der   Logik    für    alle  Begriffe    gültig    zu   be- 
stimmen? Daß  es  Fälle  gibt,  wo  sehr  notwendig  die  Merkmale  eines  Be- 
griffs als  dessen  Faktoren  betrachtet  werden,  ist  gewiß;  dennoch  sind  die 
Merkmale    des  Sollens  und  Müssens  im  Begriffe  eines  Staats  anders  ver- 
bunden als  Geschwindigkeit  und  Zeit  in  der  Bewegung;  und  Asymptoten, 
Achsen,   Brennpunkte    der  Hyperbel   anders  als  die  praktischen  Ideen  im 
Begriffe  der  Tugend.    Übrigens  hat  der  Hr.  Verf.  wohl  nur  sagen  wollen, 
daß  wenn  ein  Merkmal  eines  Begriffs  =  o  gesetzt  wird,  der  Begriff  ver- 
schwindet (so  bei  Schlüssen  modo  toUente),    welches  allerdings  der  Multi- 
plikation entspricht,    nicht  aber  der  Addition.     Sollte  sich  indessen  durch 
Sonderung   verschiedener   Pralle    etwas   Näheres   über   die    möglichen  Ver- 
bindungen   der    Merkmale    in    den    Begriffen    festsetzen    lassen,    so    würde 
dies  zu  dem  Wichtigsten  gehören,  was  die  Logik  darbringen  könnte,  und 
wir  erwähnen  dieses  Gegenstandes  absichtlich  hier,  weil  Hr.  Prof.  Drobisch 
einer   von   den   wenigen   ist,    die  Umsicht   genug   in    den   verschiedensten 
Zweigen   der    Wissenschaften   besitzen,    um   mit   einer   solchen  Frage   sich 
überall    nur    beschäftigen    zu   können.     Es   wäre   am  Ende   wohl  möglich, 


M.  W.  Drobisch:  Neue  Darstellung  der  Logik  nacli  ihren  einfachsten  Verhältnissen.      29 1 

daß  die  Logik  darum  keine  Fortschritte  macht,  weil  Männer  von  dem 
universellen  Geiste  des  Aristoteles  so  äußerst  selten  sind.  Schwärmereien 
über  das  Universum  haben  wir  genug;  aber  diese  führen  bekanntlich  nicht 
zur  Logik. 

Verwandt  mit  dem  vorigen  ist  es,  daß  der  Verf.  in  der  Logik  auch 
der  Beziehungen  erwähnt,  welches  der  Unterzeichnete  nicht  gewagt  hatte. 
Hier  hilft  ein  kurzes  Beispiel  zur  Klarheit.  „Verbinde  ich  mit  dem  Be- 
griffe des  gleichschenkligen  Dreiecks  den  der  Rechtwinkligkeit,  so  deter- 
miniere, beschränke  ich  den  erstem;  steige  von  der  Gattung  zur  Art  herab 
und  bilde  hiermit  einen  neuen  Begriff".  Bezeichne  ich  dagegen  das  gleich- 
seitige Dreieck  als  gleichwinklig,  so  findet  durchaus  nichts  Ähnliches  statt: 
denn  das  gleichwinklige  und  das  gleichseitige  Dreieck  ist  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  als  das  gleichseitige  ohne  den  Zusatz  der  Gleich- 
winkligkeit." Solcher  Beispiele  hätten  wir  viele  gewünscht.  Der  Verf. 
nennt  die  Synthesis  eine  Tatsache,  welchen  die  Logik  nicht  unberücksichtigt 
lassen  dürfe.  Das  ist  wirklich  so;  und  nicht  mehr  noch  minder  ist  auch 
der  konträre  Gegensatz,  welcher  von  jeher  in  der  Logik  behandelt  wurde, 
eine  Tatsache.  Die  P'rage  ist,  ob  man  dergleichen  im  Gebiete  der  Be- 
griff'e  vorkommende  Tatsache  nicht  vollständiger,  als  bisher,  in  der  Logik 
werde  verzeichnen  können?  —  Als  Folge  aus  dem  Angegebenen  findet 
sich  nun  schon  (§  30)  ein  mittelbarer  konträrer  Gegensatz,  dessen  man 
sonst  auch  nicht  zu  erwähnen  pflegte;  desgleichen  die  Unterscheidung 
des  Widerstreits  vom  eigentlichen  Widerspruch;  wozu  die  Beispiele:  gleich- 
seitiges und  zugleich  rechtwinkliges  Dreieck,  durchsichtiger  Geist,  an- 
geführt sind;  und  die  Unterscheidung  der  Einstimmung  von  der  Verein- 
barkeit, indem  jene  dem  Decken  zweier  Figuren,  diese  dem  Aneinander- 
passen  verglichen  wird. 

Der  Kürze  wegen  übergehen  wir  den  Gebrauch,  welchen  der  Verf. 
von  der  Bemerkung  des  Unterzeichneten  über  hypothetische  und  kate- 
gorische Urteile  gemacht  hat;  und  erwähnen  nur  im  Vorbeigehen,  daß 
zwar  nicht  die  Ansicht,  aber  der  Ausdruck  über  Existentialsätze  sich  doch 
etwas  verändern  möchte,  wenn  man  bei  der  Formel  A  =  A  die  Be- 
trachtung des  §  59  nicht  abbräche,  sondern  anfinge.  Denn  dieser  Satz 
hat  noch  volle  Beschränkung  des  Prädikats  auf  das  ihm  gleiche  Subjekt; 
gerade  der  Umstand  aber,  daß  von  nun  an,  falls  man  den  Inhalt  des 
Subjekts  vermindert,  eine  Quantitätsbeschränkung  in  die  Form  des  Urteils 
eintritt,  erinnert  daran,  daß  der  Begriff"  des  Subjekts,  für  sich  genommen, 
diese  Beschränkung  nicht  mehr  so  auszuüben  vermag,  wie  verlangt  wird. 
Dabei  darf  wohl  auch  an  die  letzte  Zeile  der  Anmerkung  zum  §  41  er- 
innert werden.  —  Doch  wir  müssen  den  Raum  sparen  und  vieles  über- 
gehen, um  nicht  gerade  in  Ansehung  des  "Wichtigsten  unsern  Bericht  ab- 
kürzen zu  müssen. 

Das  Ausgezeichnetste  dieser  Logik  nämlich  besteht  in  zweien,  mit 
ganz  ungewohnter  Sorgfalt  ausgeführten  Untersuchungen;  zu  welchen  zwar 
der  Unterzeichnete  vor  vielen  Jahren  Anlaß  gegeben  hatte,  aber  ohne 
eine  solche  Entwicklung  zu  erwarten.  Eine  davon  betrifft  die  Klassifikationen, 
die  andere  die  Kettenschlüsse.  Auch  hier  mit  der  Theorie  fast  allein 
beschäftigt,  ist  der  Verf  sparsam  mit  Beispielen  und  Anwendungen;  daher 

19* 


2Q2  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


mag  erlaubt  sein,  einige  Worte  voranzuschicken.     Als  der  Unterzeichnete 
zuerst   mit  der  Kombinationslehre  sich  bekannt  machte,    fiel  ihm  sogleich 
auf,  daß  diejenige  Operation,  welche  man  Variieren  mehrerer  Reihen  nennt, 
auf  Begriffsreihen  bezogen,  nämlich  auf  Reihen  von  Merkmalen  vorliegender 
Gegenstände,    zu  Klassifikationen  dieser  Gegenstände  führe;   und  zwar  so, 
daß   man   zwischen   mehrerer   Klassifikationen    die   Wahl    habe,    je    nach- 
dem man  die  erwähnten  Reihen  untereinander  versetze.    Bald  darauf  mit 
praktischer   Philosophie,    und   insbesondere   mit   systematischer  Aufstellung 
der    Pädagogik,    daher    häufig    auch    mit    den    bekannten    Niemeyerschen 
Grundsätzen    beschäftigt,    bemerkte   er,    daß   in   diesem    Werke   unzählige 
rhetorische  Dispositionen  vorkommen,   die  eigentlich  logische  Einteilungen 
sein    sollten;    so    daß   in    der   Pädagogik,    deren   Ganzes   der   Praktiker   so 
leicht   und   so   sicher   als    möglich    muß  übersehen  können,   um  nicht  eins 
über    dem    andern    zu    vernachlässigen,    sehr   viel    an    Klarheit   würde   ge- 
wonnen werden,  wenn  eine  mäßige  Anzahl  genau  bestimmter  Begriflfsreihen 
zur  kombinatorischen  Verbindung,  ähnlich  den  Klassifikationen,  bereit  gelegt 
würde.    Ohne  Zweifel  paßt  dies  auf  alle  praktischen  Wissenschaften  gerade 
um  desto  mehr,  je  mehr  sie  ganz  eigentlich  praktische  Anleitungen  geben 
sollen;    es    paßt    aber   auch  auf  die  vorgängige  theoretische  Untersuchung 
der  Begriffsreihen  selbst,  die  man  nicht  leicht  aus  einem  Vorrat  gegebener 
Kenntnisse    richtig   herausfinden   wird,    wenn   man   nicht   schon  im  voraus 
auf   die    Vorteile    rechnet,    welche    die   kombinatorische    Form   hintennach 
von   selbst   darbietet.     Als    nun   diese  Überlegungen    an  die  Logik  sollten 
geknüpft   werden,    fand   sich  eine  leichte  Vorfrage:    wie  vielfach  kann  ein 
Begriff  unter  seine  logisch  höheren  subsumiert  werden?  Hier  beginnt  Hr. 
Prof.  Drobisch    seine    Rechnungen.      Der    erste    Artikel    seines    Anhangs 
betrifft   die  Lehre   von    der  Unterordnung   der  Begriffe.     Damit    steht  der 
vierte  in  Verbindung:    zur  Theorie  der  Einteilungen  und  Klassifikationen. 
Jener  erste  löset  vier  Aufgaben:    i.  Die  Anzahl  der  Begriffe  zu  bestimmen, 
denen  ein  aus  m  Merkmalen  zusammengesetzter  Begriff  kann  untergeordnet 
werden.    2.  Die  Anzahl  der  zwischen  einem  gegebenen  Begriffe  und  irgend 
einem    seiner    m    Merkmale    möglichen    Reihen    einander    untergeordneten 
Begriffe  zu  bestimmen.     2.  Die  Anzahl  der  zwischen  dem  gegebenen  und 
einem    hestimviten    höheren   Begriffe    der    ;/ten  Ordnung  möglichen   Reihen 
aufzufinden.    4.  Unter  gleicher  Voraussetzung  wie  vorhin,  die  Anzahl  der 
Übergänge  von  irgend  einer  Ordnung  höherer  Begriffe  zur  nächst  höheren, 
so   wie    die  Summe   sämtlicher  Übergänge  von  jeder  Ordnung  zur  nächst 
höheren    zu    finden.  —  Auf  Ploucquet   und  Lambert    wird   im   zweiten 
Artikel:  Akebraische  Konstruktion  der  einfachsten  Urteilsformen  und  Ab- 
leituns;    der    Schlüsse,    Rücksicht    genommen.      Auf   Twesten    im    dritten 
Artikel:  zur  Theorie  der  Schlußketten;  nachdem  schon  vorher  dem  Unter- 
zeichneten   war    nachgewiesen    worden,    daß    seine    Aufstellung    von    vier 
Formen    derselben   noch   nicht   vollständig   sei.     Auf   Fries,    der   vielfältig 
im  Buche  benutzt  ist,  scheint  insbesondere  der  fünfte  Artikel  sich  zu  be- 
ziehen:  zur  Theorie   der  Beweise;   hier   findet  sich  auch  ein  interessanter 
Satz    von  Hauber   über  Umkehrbarkeit  allgemein  bejahender  Urteile  be- 
leuchtet.     Von    dem    außerordentlichen    Fleiße,    den    der    Verf.    an    die 
Syllogistik    gewendet    hat,    wäre    nun   noch   viel    zu   sagen,    wenn   man  es 


M.  W.  Drobisch:    Questionum   mathematico -  psychologicarum   specimen  primum.      293 

unternehmen  könnte,  über  einen  solchen  Gegenstand  ohne  große  Weit- 
läufigkeit deutlich  zu  berichten.  Das  ganze  Buch  will  studiert  sein;  und 
vielleicht  muß  man  es  gebrauchen,  um  es  gehörig  studieren  zu  können; 
welches  wenigstens  von  der  Logik  selbst  niemand  bezweifeln  wird,  der  sie 
wirklich  kennt. 


Drobisch,  M.  W.,  Quaestionum    mathematico-psychologicarum 
specimen  primum.  —  Leipzig. 

Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.   1836,  Nr.    137.     SW.  XII,  S.   754. 

Das  Übrige  des  Titels  besagt,  daß  dies  Programm  zu  einer  aka- 
demischen Feier,  nämlich  zu  Anhörung  einer  Rede  (ad  memoriam  Kregelio- 
Sternbachianam  celebrandam)  einzuladen  bestimmt  war.  Der  Verf.  ist 
Hr.  Prof.  Drobisch,  der  hier  die  ersten  Fundamente  der  mathematischen 
Psychologie  beleuchtet.  Die  Abhandlung  zerfällt  in  drei  Teile:  i.  de 
definienda  iacturae  magnitudine.  2.  de  ratione  distribuendae  iacturae, 
3.  de  limine  apparitionis  et  valore  liminari.  Nicht  ohne  Grund  beginnt 
das  prooemium  mit  den  Worten:  Quae  sequuntur  quaestiones  scriptae 
sunt  lectoribus  psychologiae  mathematicae  principiis  iam  aliquantulum 
imbutis ;  denn  freilich  für  Leser,  die  noch  nicht  wissen,  was  für  eine  iactura 
hier  gemeint  sein  könne,  wird  die  Abhandlung  nicht  verständlich  sein. 
Gemeint  aber  ist  der  Verlust,  welcher  das  gesamte  Vorstellen  durch  den 
Gegensatz  gleichzeitiger  Vorstellungen  erleidet.  Jedermann  kann  in  jedem 
Augenblicke  an  sich  selbst  beobachten,  daß  er  nicht  im  stände  ist,  eine 
beliebige  Menge  von  Vorstellungen  sich  gleichzeitig  zu  vergegenwärtigen; 
daß  vielmehr  ältere  Vorstellungen  aus  dem  Bewußtsein  verschwinden,  in- 
dem neue  eintreten.  Es  wäre  zu  wünschen,  daß  Hr.  Dr,  sich  auf  einige 
Erläuterung  darüber  eingelassen  hätte,  wie  diese  ganz  bekannte  Er- 
fahrung auf  ihren  einfachsten  Ausdruck  zurückzuführen  sei,  um  denselben 
einer  mathematischen  Untersuchung  zu  unterwerfen.  Aber  von  einem 
Programm  darf  man  wohl  nicht  verlangen,  daß  es  hätte  länger  sein  sollen; 
am  wenigsten,  wenn  es  bei  aller  Kürze  wirklich  so  reichhaltig  ist,  als  das 
vorliegende.  Auch  setzt  der  Verf.  die  Schriften  des  Unterzeichneten  als 
bekannt  voraus,  indem  er  die  schon  dort  angegebenen  Resultate  hier  durch 
neue  Wendungen  der  Rechnung  bestätigt.  Dies  war  in  der  Tat  nützlicher, 
als  Einwendungen  zu  beantworten,  auf  die  keine  Antwort  gewünscht  wird. 
Die  Vorrede  sagt:  neque  huius  loci  erat,  psychologiam  mathematicam 
contra  eorum  obiectiones  defendere,  qui,  in  rebus  tam  arduis  mathe- 
maticorum  formulis  aliquam  auctoritatem  concedendam  esse,  obstinate 
negant.  Dazu  wird  überall  nirgends  ein  bequemer  Ort  zu  finden  sein; 
und  es  ist  nicht  nötig,  daß  man  sich  deshalb  bemühe.  Wohl  aber  muß 
man  suchen,  sich  denjenigen  verständlich  zu  machen,  welche  zu  verstehen 
wünschen ;  und  hierzu  gehört  eine  bestimmte  und  sorgfältig  gewählte  Kunst- 
sprache; die  aber  besonders  im  Lateinischen  schwer  zu  finden  ist.  In 
dieser  Hinsicht  hat  sich  Hr.  Dr.  größtenteils,  doch  nicht  ganz,  dem  Ver- 
suche angeschlossen,  welchen  der  Unterzeichnete  schon  in  der  Abhandlung 


2  94  J-  ■^-  Herbarts  Rezensionen. 


de  attentionis  mensura  machte.  Daß  für  das  Deutsche:  Vorstelhmg,  kein 
passenderes  Wort  zu  finden  ist  als  notio,  für  Vorstellen  kein  passenderes 
als  cogitare,  ist  freilich  schlimm;  aber  noch  schlechter  wäre  repraesentatio 
und  repraesentare ;  denn  die  Fundamente  der  mathematischen  Psychologie 
liegen  tiefer,  als  daß  unter  Vorstellungen  sogleich  Bilder  dessen,  was  uns 
gleichsam  gegenüber  stehe  (Objekte  dem  Subjekte),  dürften  verstanden 
werden.  Auch  die  Ausdrücke  perceptio  und  apperceptio  müssen  hier  noch 
vermieden  werden;  denn  sie  sind  speziellen  Untersuchungen  vorzubehalten, 
an  die  bei  der  ersten  Begründung  noch  gar  nicht  darf  gedacht  werden; 
sie  beziehen  sich  auf  das  soeben  geschehene  Auffassen,  also  auf  einen 
Prozeß,  dessen  Erklärung  einer  viel  zu  großen  Meinungsverschiedenheit 
ausgesetzt  ist,  als  daß  davon  könnte  ausgegangen  werden.  Noch  weniger 
passend  wäre  das  platonische  idea;  man  würde  dabei  an  Musterbegriffe, 
oder  an  Gattungsbegriffe,  wo  nicht  gar  an  den  Idealismus  denken,  oder 
vollends  an  den  Spinozistischen  Satz:  ordo  et  connexio  idearum  idem  est 
ac  ordo  et  connexio  rerum.  Das  Wort  notio  vermeidet  wenigstens  diese 
Unbequemlichkeiten;  es  hat  nur  den  Fehler,  daß  es  die  Vorstellung  von 
der  Seite  des  Vorgestellten  bezeichnet;  während  in  der  Grundlehre  der 
Psychologie  von  dem  Zustande  des  Vorstellenden  die  Rede  ist;  einem 
Zustande,  der  einer  Hemmung  unterworfen  ist,  sobald  entgegengesetzte 
Vorstellungen  zusammentreffen.  Glücklich  genug  hat  Hr.  Dr.  das  Vor- 
gestellte bezeichnet  durch  den  Ausdruck:  imago  notionis;  denn  wiewohl 
hierbei  nicht  an  ein  Bild  (mit  räumlicher  Gestaltung)  zu  denken  ist,  so 
wird  man  doch  hierdurch  aufmerksam  gemacht,  daß  imago  notionis  noch 
zu  unterscheiden  ist  von  notio  (das  Vorgestellte,  als  ein  solches  oder 
anderes,  zu  unterscheiden  von  den  Vorstellungen  als  den  Zuständen  des 
Vorstellenden).  Dies  wird  noch  deutlicher  durch  den  Ausdruck  robur 
notionis ;  denn  diese  Stärke  wird  niemand  in  dem  Vorgestellten  suchen, 
sondern  nur  in  dem  Zustande  des  Vorstellenden.  Eben  dahin  zielt 
contraria  notionum  indoles;  obgleich  nämlich  der  Gegensatz  im  Vor- 
gestellten liegt,  so  unterscheidet  er  doch  auch  die  Vorstellungen  selbst 
voneinander.  Bei  dem  Worte  Hemmungsgrad  aber,  dessen  sich  der  Unter- 
zeichnete bedient  hatte,  bemerkt  Hr.  Dr.  es  sei  zweideutig,  und  deshalb 
zu  vermeiden.  Man  könnte  nämlich  glauben,  es  bezeichne  den  Grad,  bis 
auf  welchem  eine  Vorstellung  (z.  B.  die  vom  Anfange  eines  Schauspiels, 
während  die  Aufführung  schon  bis  zum  dritten  Akte  vorgerückt  ist)  sich 
müßte  verdunkeln  lassen ;  allein  die  Absicht  des  gewählten  Ausdrucks  war, 
das  Mehr  oder  Weniger  des  Unterschiedes  zweier  Vorstellungen  anzu- 
zeigen, z.  B.  so,  daß  zwischen  schwarz  und  braun  der  Hemmungsgrad 
geringer  sei  als  zwischen  schwarz  und  gelb.  Daher  will  Hr.  Dr.  nur  den 
Ausdruck:  Grad  des  Gegensatzes,  gelten  lassen;  lateinisch:  gradus  contra- 
rietatis.  Ferner  unterscheidet  er  pressio  und  oppressio.  Es  soll  nämlich 
oppressio  die  gänzliche  Hemmung,  so  daß  nichts  Vorgestelltes  übrig  bleibe, 
bezeichnen.  Aber  daneben  steht:  volle  Hemmung.  Gegen  diesen  Ausdruck 
möchte  doch  auch  etwas  zu  erinnern  sein;  richtiger  wäre:  völlige  Hemmung. 
Das  Wort  voll  muß  dem  Gegensatze,  dem  gradus  contrarietatis,  vorbehalten 
bleiben,  für  den  Fall,  daß  er  der  größte  mögliche  ist,  d.  h.  daß  von  zweien  Vor- 
stellungen eine  ganz  gehemmt  werden  müßte,  wofern  die  andere  ungehemmt 


M.  W.  Drobisch:    Questionum    mathematico - psychologicarura   specimen  primum.      295 

bleiben  sollte.   Es  folgt  das  Wort  obscuratio,  Verduakelung.   Dieser  Ausdruck 
ist   bekanntlich    in   der    Psychologie   längst   eingebürgert;    man    bezog    ihn 
aber  auf  mangelnde    Unterscheidung    von  andern  Vorstellungen.     Wolff 
hat  in  der  psychol.  empirica  §  41    den  Satz:    si   perceptiones   particulares 
fuerint  clarae,  composita  distincta   est.     Also,  wenn  die  zusammengesetzte 
Vorstellung  undeutlich,    so  sind   die  Teilvorstellungen   nicht  klar,  sondern 
dunkel.     Hieraus   konnte   man   sehr  leicht   auf   die    Bemerkung    kommen, 
daß,  je  bunter  die  Zusammensetzung,    desto  gewöhnlicher  die  zusammen- 
gesetzte   Vorstellung   undeutlich    ausfällt;    denn    die   Teilvorstellungen    ver- 
dunkeln   einander   gegenseitig,    d.  h.   sie   hemmen  sich.     Pressio    und  ob- 
scuratio  bedeuten  also  einerlei;   nur   weiset  pressio    auf    den    Grund    hin, 
wovon   obscuratio    die    bemerkbare    Folge  ist.     Hiermit    hängt   tensio,    die 
Spannung,  zusammen;    denn  je    mehr   eine  Vorstellung,   im  Verhältnis  zu 
ihrer    Stärke,    an    Hemmung   erleiden    muß,    desto     stärker   strebt    sie    in 
ihren  ursprünglichen  Zustand  zurück.    Ob  die  Ausdrücke:  notionem  coercere 
und  notionem  cohibere,  gleich  passend  seien,  könnte  gefragt  werden;  viel- 
leicht ist  das  coercere  der  eben  jetzt  geschehenden  Hemmung  angemessener, 
als  cohibere.    zurückhalten,   so    nahe   auch    das    Halten   mit   dem    Zurück- 
drängen   zusammenhängt.      Ratio    distribuendae  iacturae    ist   ohne    Zweifel 
ein   vollkommen  verständlicher  Ausdruck,  sobald  man  eingesehen  hat,  daß 
die   iactura,   die    Hemmungssumme,    früher    bestimmt  sein  muß,    ehe    sich 
entscheiden  kann,  in  welchem  Verhältnis  sie   sich  verteilt.      (So  muß  eine 
Last,    die    von    mehreren   Stützen   soll   getragen   werden,    erst  als  Ganzes 
treo-eben  sein,    ehe   sich   bestimmen    läßt,    wieviel   jede    einzelne   Stütze  zu 
tragen   hat.)      Daß    endlich    animus,    das    Bewußtsein,    unterschieden    wird 
von  dem  Ausdrucke  mens,  der  Geist,   ergibt  sich  aus  dem  vorigen.    Denn 
die  crehemmten  Vorstellungen  sind  zwar  nicht  aus  dem  Geiste,  wohl  aber 
aus  dem  Bewußtsein    entwichen.     Soviel   über  die    Nomenklatur,   wie  der 
Verf.  sie  angibt. 

■  Von  der  Art,  wie  der  Unterzeichnete  die  Größe  der  Hemmungs- 
summe bestimmt  hatte,  sagt  Hr.  Prof.  Dr.:  sie  sei  pauUo  prolLxa  et  captu 
difficilior.  Einem  INIathematiker  gegenüber,  der  soeben  ein  vortreffliches 
Lehrbuch  der  Logik  herausgegeben  hat,  die  frühere  Darstellung  ihrer  Form 
nach  zu  verteidigen,  möchte  nun  wohl  etwas  gewagt  sein;  da  indessen 
die  Resultate  doch  genau  zusammentreffen,  und  da  die  frühere  Darstellung 
wenigstens  ohne  alle  Künstelei  die  Art  anzeigt,  wie  die  Sache  zuerst  ist 
eefunden  worden:  so  kann  dies  nur  den  Wunsch  veranlassen,  daß  bald 
die  Zeit  kommen  möge,  wo  es  für  einen  philosophischen  Vortrag  em 
ernstlicher  Vorwurf  sein  könne,  einige  Worte  mehr  zu  enthalten,  als  die 
strenge  Präzision  erfordert.  Hätte  man  durchgehends  für  solche  Leser 
zu  schreiben,  deren  Hr.  Prof.  Dr.  einer  ist,  so  würde  eine  ganz  andere 
Schreibart  nötig  werden.  In  dem  hierher  gehörigen  Paragraphen  der 
Psychologie  war  gegen  Mißverständnisse  zu  warnen.  Schon  dort  aber 
ist  der  nämliche  Weg  des  Beweises  eingeschlagen,  den  auch  Hr.  Dr. 
nimmt,  indem  gezeigt  wird,  die  Hemmungssumme  könne  nicht  größer 
und  nicht  kleiner  sein.  Daß  eine  Absurdität  herauskäme,  wenn  man  sie 
größer  nähme,  hat  Hr.  Dr.  sehr  klar  dargestellt.  In  dem  Schlußsatze  (3), 
nachdem    auf    die    Verschiedenheit    der    Hemmungsgrade    Rücksicht    ge- 


2q5  J-  f.  Herbarts  Rezensionen. 


nommen  worden,  befindet  sich  jedoch  ein  kleines  (gewiß  nicht  absicht- 
liches) Versehen;  es  fehlt  nämlich  die  kurz  zuvor  richtig  angezeigte  Aus- 
nahme: excepta  illa  notione  maximi  roboris.  Dabei  können  indessen  Be- 
stimmungen vorkommen,  die  am  gehörigen  Orte  angegeben  sind,  aber 
schwerlich  einen  kurzgefaßten  Ausdruck  gestatten,  daher  man  sie  in  diesem 
Programm  nicht  erwarten  durfte. 

Was  ferner  die  Hemmungsverhältnisse  anlangt:  so  hat  Hr.  Dr.  es 
vorgezogen,  sich  von  der  Proportionsform  so  bald  als  möglich  zu  ent- 
fernen, und  dagegen  der  Rechnung  die  Form  der  Gleichungen  zu  geben. 
Er  glaubt  nämlich,  die  Addition  der  Hemmungsgrade  in  den  Verhältnis- 
zahlen könnte  auf  den  ersten  Anblick  befremden,  wiewohl  sie  in  der  Tat 
richtig  ist.  Aber  auch  bei  ihm  kommt  eine  Addition  vor;  und  wer  nicht 
scharf  genug  nachdenkt,  könnte  auch  hier  fragen,  ob  die  Stelle:  ex  arti- 
culo  antecedente  sequitur  etc.,  klar  genug  sei,  da  man  im  vorigen  Artikel 
eine  solche  Anwendung  nicht  erwartet  hatte.  Freilich  wäre  diese  Be- 
denklichkeit vollkommen  grundlos;  aber  die  andere,  die  er  vermeiden 
wollte,  hat  nichts  mehr  zu  bedeuten;  eher  möchte  gesagt  werden,  der 
§  53  der  Psychologie  sei  zu  kurz  gefaßt.  Er  bezieht  sich  nämlich 
auf  §  43,  und  muß  aus  diesem  erklärt  werden.  Jedenfalls  sind  nun  zwei 
Darstellungen  des  nämlichen  Gegenstandes  vorhanden,  die  einander  gegen- 
seitig zur  Probe  dienen ;  und  solche  Bestätigungen  sind  allemal  willkommen. 

Der  dritte  Abschnitt  ist  überschrieben:  de  limine  apparitionis  et  de 
valore  liminari.  Es  soll  nämlich  für  eine  dritte  schwächere  Vorstellung 
der  Grad  der  Stärke,  welche  ihr  zum  wenigsten  eigen  sein  muß,  um  sich 
neben  zwei  stärkeren  im  Bewußtsein  halten  zu  können,  durch  Rechnung 
bestimmt  werden;  und  diese  Untersuchung,  welche  bei  dreien  Vorstellungen 
zuerst  vorkommt,  soll  auf  jede  beliebige  Anzahl  derselben  erweitert  werden. 
Der  Ausdruck:  Schivelk  des  Bewußtseins^  ist  demnach  verständlich  genug; 
denn  er  zeigt  an,  daß  es  eine  Grenze  gibt  zwischen  solchen  Vorstellungen, 
die  stark  genug,  und  andern,  die  zu  schwach  sind,  um  sich  als  ein  wirk- 
liches Vorstellen  zu  behaupten,  und  nicht  von  den  stärksten  gänzlich  ver- 
dunkelt zu  werden.  Diese  Schwelle  liegt  aber  nicht  etwa  ein  für  allemal 
fest,  sondern  sie  richtet  sich  in  jedem  einzelnen  Falle  nach  der  stärksten, 
—  oft  schon  nach  den  beiden  stärksten  Vorstellungen.  Hier  hat  nun 
Hr.  Dr.  selbst  nötig  gefunden,  einige  Worte  gegen  mögliche  Mißverständ- 
nisse zu  richten;  und  auch  die  seltsamsten  sind  möglich,  daher  das,  was 
(bei  ii)  am  Ende  beigefügt  ist,  nicht  überflüssig  sein  wird.  Für  die 
Kunst  des  Calculs  war  hier  ein  etwas  freieres  Feld  als  in  den  vorigen 
Abschnitten.  Das  zeigt  sich  in  einer  sehr  interessanten  Rechnung,  wodurch 
folgender  Satz  bewiesen  wird:  dato  indefinito  notionum  maxime  contra- 
riarum  et  secundum  ordinem  magnitudinis  descendentem  dispositarum 
numero,  si  una  ex  iis,  respectu  reliquarum  omnium  in  limine  apparitionis 
est,  quaevis  notio  insequens  simul,  si  non  sub  limine,  certe  in  hoc  ipso 
erit;  et  quidem  iam  respectu  earum  notionum,  quae  restant  exclusis  iis, 
quae  interiectae  sunt.  Der  Satz  mußte  infolgedessen,  was  in  der  Psycho- 
logie schon  gezeigt  war,  erwartet  werden;  allein  der  Beweis  ist  gänzlich 
neu  und  durch  seine  Form  überraschend.  Ein  Druckfehler  in  der  Größe 
unter  dem  Wurzelzeichen,  wo  der  Setzer  von  einer  Ähnlichkeit  des  Nenners 


D.  Th.  A.  Suabedissen:  Die  Grandzüge  der  Metaphysik.  297 


mit  dem  Zähler  ist    verleitet    worden  (es   steht   nämlich   im  Nenner   auch 

anstatt  ak  +  i),    ist  so  leicht  zu  verbessern,    daß   er  wenig  störend 

ak  +  i 
sein  wird. 

In  diesem  ganzen  Programme  redet  nur  der  Mathematiker.  Die 
ersten  Zeilen  der  Vorrede  sagen:  de  his  ipsis  principiis,  cum  eo  sensu, 
quo  metaphysicis  fundamentis  superstruenda,  tum  eo,  quo  ex  fontibus  ex- 
perientiae  deducenda  sunt,  disputare,  in  aliud  nobis  reservamus  tempus. 
Möge  er  den  Zeitpunkt  nicht  zu  weit  hinausschieben.  Das  hier  Gelieferte 
zeigt  jedoch  schon  hinreichend,  mit  welcher  Pünktlichkeit  Hr.  Dr.  das 
Fundament  der  mathematischen  Psychologie  geprüft  hat. 


Suabedissen,   D.  Th.  A.,    Die   Grundzüge    der   Metaphysik.      Aus 
dem  Nachlasse.  —  Marburg,  bei  Elwert,    1836.    XX  u.  165  S.  in  Oct. 
Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.   1836,  Nr.  173.     SW.  XIII,  S.  624. 

So    oft  uns  ein  Buch  unter  dem  Titel  Metaphysik  begegnet,   müssen 
wir    uns   erinnern,    daß   dieser   Name    eine   Menge   und   ein   Gewebe   von 
Streitfragen  ankündigt,  über  die  nicht  aus  Streitlust,  sondern  von  redlichen 
Denkern   seit   ein    paar  Jahrtausenden    deshalb   ist  gestritten  worden,   weil 
ihre  Untersuchungen  nach  den  verschiedensten,  oft  ganz  entgegengesetzten 
Richtungen    auseinandergingen.      Die   Gegenstände    liegen    und   lagen   von 
jeher  in  der  allgemeinen  Erfahrung  und  im  Bewußtsein  eines  jeden;  eben 
deshalb  hilft  es  nichts,  sich  hierbei  auf  solche  Entscheidungen  zu  berufen, 
die  unmittelbar  aus   der  Erfahrung  und  dem  Bewußtsein  erst  jetzt  möchten 
geschöpft  werden.    Glaubt  aber  jemand,  die  Mängel  der  Kultur  in  früheren 
Jahrhunderten  wären  die  Gründe  eines  Streits,  den  jetzt  die  Zeit  geendet 
habe:  so  vergleiche  ein  solcher  die  unlängst  in  diesen  Blättern  angezeigte 
Metaphysik  des  Hrn.  Prof.  Hartenstein  mit  der  hier  vorliegenden.    Beide 
sind    im    laufenden    Jahre    gedruckt;    der    Unkundige    aber    würde    kaum 
glauben,    daß   jemals    zwei    so   verschiedene  Bücher   den   nämlichen  Titel 
hätten   führen   können.     Es   fehlt  nicht  an  Schriftstellern,   die  sich  so  zu- 
gänglich   in    ihren  Gedankenkreis    vertieft   haben,    daß   sie    es   kaum  noch 
für   möglich   halten,   man   könne   in  vollem  Ernste  anders  denken  als  sie. 
Solche   leiten   nicht   ein,    wenn    sie   schon    des  Worts  Einleitung   sich  be- 
dienen: sie  streiten  auch  nicht,  sondern  sie  sprechen  sich  aus,  gleich  von 
den  ersten  Zeilen  an;  in  der  Meinung,  gelänge  ihnen  nur  das  Aussprechen, 
so   würde  jeder,    der  sie  verstände,    ihnen  ohne  weiteres  folgen.     Kommt 
man  zu  ihnen,  so  empfindet  man  eine  künstliche  Helle,  wie  im  Schauspiel- 
hause; alsdann  läßt  man  sich  wohl  die  Zumutung  gefallen,  für  kurze  Zeit 
die  Welt   der  Bühne  für  die  wirkliche  Welt  zu  halten.     In  diesem  Sinne 
nun  wollen  wir  uns  gefallen  lassen,  was  der  Verf.  des  angezeigten  Buches 
von  der  Philosophie  sagt:    sie  könne  und  solle  ja  eigentlich  nichts  Neues 
lehren,  sondern  solle  verdeutlichen,  was  in  dem  Menschenbewußtsein  ent- 
halten sei.     Ihr  Ausdruck  könne  und  solle  jedem  sinnigen  Menschen  ver- 


2q8  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


Ständlich  sein,    das  heiße:    „Jedem,  in  welchem  der  Bewußtseinsinhalt  des 
Menschen  angefangen  habe,  von  seinem  tiefsten  Grunde  aus  (?)  zum  Ge- 
danken emporzustreben.    Diesem  Streben  (fährt  er  fort)  hilfreich  begegnend, 
soll  die  Philosophie  das  rechte  Wort  darbieten  (also  um  das  rechte  oder 
unrechte  Wort    drehete    sich   der  Streit?),    und  dieses  Wort  ist   nicht   das 
in    der  Schule   für   den  Schulbedarf  gemachte,    sondern  der  aus  dem  all- 
gemeinen Sprachgebrauche  nach  seiner  tieferen  Bedeutung  (?)  hergenommene, 
lebendige,    einfache   und  volle  Ausdruck.     Denn  was  die  Sprache  gebildet 
hat,    ist    der    Menschengeist    selbst,    wiefern    er    denkendes   Wesen    ist,    in 
seiner    Verwirklichung   nach    außen    hin.      (Und    was    die   Sprache   bilden 
wird^  setzen  wir  hinzu,    ist  auch  noch  fortdauernd,    der  Menschengeist  in 
seiner    ferneren  Verwirklichung,    die    noch   nicht   am  Ende   ist.)     In  dem 
Menschengeiste    aber    begreift    sich    das    Wirkliche,    das    Leben.      Darum 
trägt    die    Sprache    den    Begriff   des    Lebens,    wie    er    dem    Menschen    an 
seiner  Stelle    im  Ganzen   möglich  ist,   und  eben  damit  die  Philosophie  in 
sich."    Dachte  w^ohl  hierbei  der  Verf.  an  die  vielen  verschiedenen  Stellen, 
nicht  bloß  im   Ganzen,   sondern  auch  in  der  Zeit?    Schwerlich!   Denn  von 
der  Metaphysik,    die    doch    nicht    von   gestern    und    nicht    für   morgen  ist, 
sagt  dieselbe  Vorrede:  sie  trage  die  Prinzipien  aller  andern  philosophischen 
Wissenschaften  in  sich;  „alle  müssen  von  ihr  ausgehen,  und  sind  nur  von 
ihr    aus    Philosophie."     Wie    es    nun    möglich    sei,    die    Metaphysik    nach 
ihren    alten    vier    Teilen,    Ontologie,    Psychologie,    Kosmologie,    natürliche 
Theologie  (denn  danach  ist  das  Buch  geordnet),  ohne  abkürzende  Schul- 
sprache   und  doch  als  den  Ursprung  aller  philosophischen  Wissenschaften 
—    auf    165    nicht   eben  eng  gedruckten  Seiten  darzustellen:    dies  könnte 
Verwunderung    erregen,     wenn    man    hier    die    verschiedenartigen    meta- 
physischen Untersuchungen  erwartete.     Aber  ein  dogmatisches  Behaupten 
ist  viel  kürzer  als  ein  eigentliches  Untersuchen. 

Das  rapere  in  medias  res  zeigt  sich  schon  in  den  ersten  Zeilen,  wo 
der  Verf.  das  Prinzip  seines  Philosophierens  aufgefaßt  wissen  will,  und 
zu  diesem  Behufe  ohne  weiteres  den  Begriff  des  Lebens  als  die  Einheit 
und  Mitte  seines  Philosophierens  bezeichnet;  „des  Lebens,  weil  es  als 
das  wahrhaft  Wirkliche  das  Realprinzip  aller  Dinge  und  zugleich  sich  selbst 
begreifend  das  Idealprinzip  ist."  Diese  Sprache  kennt  man  nun  schon 
seit  so  vielen  Jahren,  daß  man  ohne  Zweifel  endlich  daran  glauben 
würde,  wenn  die  Zeit  den  Glauben  wissenschaftlich  begründen  könnte. 
Man  kennt  auch  die  ineinander  geschobenen  Dreiteilungen,  denen  man 
hier  im  ersten  Teile  (der  Ontologie)  begegnet.  Derselbe  zerfällt  nämhch 
in  die  Abschnitte  vom  Wesen,  vom  Leben,  vom  Ganzen.  Ferner  zer- 
fällt der  erste  Abschnitt  nach  den  Überschriften:  „das  Sein  als  das 
Wesen;  das  Tun  als  das  Wesen;  die  Einheit  des  Seins  und  des  Tuns 
als  das  Wesen."  Der  zweite,  welcher  vom  Leben  handelt,  zerfällt  in 
die  Rede  von  der  Natur,  vom  Geiste,  vom  Leben;  wo  die  logische 
Merkwürdigkeit  vorliegt,  daß  die  Gliederung  in  der  dritten  Stelle  den 
nämlichen  Gegenstand  wiederholt,  welcher  schon  dem  ganzen  Abschnitte 
den  Namen  gab.  Drittens:  auch  das  Ganze  wird  dreifach  betrachtet; 
erstlich  das  Ganze  als  das  Viele  aus  dem  Einen;  zweitens  als  die  Ver- 
mittlung  des  Freien  und  Unfreien,   von  dem  Einen  aus;   drittens  als  das 


D.  Th.  A.  Suabedissen:  Die  Grandzüge  der  Metaphysik.  299 


in  sich  beschlossene  Ganze.  Zu  mehrerer  Vollständigkeit  wollen  wir  die 
Dreispaltung  noch  in  der  Unterabteilung  vom  Leben  weiter  verfolgen. 
Denn  da  finden  wir  i.  den  Begriff  des  Lebens  überhaupt,  2.  den  Begriff 
eines  lebendigen  Wesens,  3.  die  Lebenswirklichkeit  als  die  wirkliche  Ver- 
mittlung der  Gegensätze  in  dem  Wirklichen;  ja  die  Eleganz  dieser 
Spaltungen  ist  noch  weiter  getrieben;  der  Begriff  eines  lebendigen  Wesens 
gibt  nämlich  sechs  Unterabteilungen,  (wo  wir  freilich  deren  neun  erwarteten!) 
indem  mit  vorherrschender  Hinsicht  auf  seine  Lebendigkeit  drei  Glieder 
herauskommen:  a)  von  ihm  selbst  aus  betrachtet,  b)  in  den  Beziehungen 
seiner  Weltstelle  betrachtet,  c)  das  Individuum  und  die  Gattung.  Und 
mit  vorherrschender  Hinsicht  auf  seine  Besonderheit  abermals  drei: 
a)  Naturform  und  mathematische  Form;  b)  Urform  und  vollendete  Form; 
c)  zeitlich  wirkliche  Form.  —  Könnte  Fichte  es  mit  ansehen,  wie  lange 
die  Tradition  dieser  Dreispaltung  sich  erhalten  hat,  seitdem  er  im  Jahre 
1794  seiner  Wissenschaftslehre  die  Thesis  des  Ich,  die  Antithesis  des 
Nicht-Ich,  und  die  Synthesis  beider  (in  der  gegenseitigen  Begrenzung)  zur 
Grundlage  gab:  so  möchte  er  sich  doch  ein  wenig  wundern  über  solches 
Hängenbleiben  in  den  Formen!  Denn  Referent,  der  damals  öfter  um  ihn 
war,  kann  das  zu  seinem  Ruhme  bezeugen,  daß  er  nicht  an  seinen 
Worten  klebte,  sondern  seine  damalige  Darstellungsweise  als  etwas  sehr 
Veränderliches  ansah,  was  man  nicht  nötig  habe,  auswendig  zu  lernen. 
Aus  der  Kantischen  Kategorientafel  aber  diese  Förmlicheit  herzuholen, 
möchte  zu  gesucht  sein,  da  sie  in  den  Gedankenkreis  jener  Lebenslehre 
nicht  mehr  hineinpaßt;  während  das  Fichtesche  Ich  und  Nicht- Ich  noch 
immer  durchklingt. 

Die  angegebenen  Überschriften  sind  so  charakteristisch  für  den  Kreis, 
in  welchem  der  Verf.  sich  bewegt,  daß  jeder  Kundige  eigentlich  jetzt 
schon  weiß,  was  er  hier  zu  suchen  hat.  Allein  der  fernere  Bericht  wird 
dieses  leicht  noch  etwas  vollständiger  darlegen  können.  Gleich  der  erste 
Paragraph  enthält  in  der  Definition  der  Äletaphysik,  sie  sei  die  Wissen- 
schaft von  dem  Wesen  als  dem  Grunde  der  Dinge,  den  vorausgesetzten 
singularis,  das  Wesen,  im  Gegensatze  der  Dinge,  als  einer  Vielheit,  und 
der  zweite  Paragraph  verstärkt  diese  Voraussetzung,  indem  gleich  hier 
schon  Realgrund  und  Erkenntnisgrund  vermengt  werden  in  dem  Satze: 
„Wie  aus  dem  Urwirklichen  als  dem  Urgründe,  die  mannigfaltigen  Ab- 
teilungen und  Stufen  hervorgegangen  sind,  welche  in  ihrer  Ordnung  und 
Gemeinschaft  das  Ganze  des  Wirklichen  ausmachen :  so  treten  in  und  mit 
ihnen,  vermittelst  des  Philosophierens,  aus  dem  Begriße  des  Urwirklichen 
als  des  Urgrundes,  die  Begriffe  der  Abteilungen  und  Stufen  des  Wirklichen 
hervor,  und  schließen  sich  zu  einem  Ganzen  zusammen!"  Wollte  man  nun 
auch  dieses  einräumen;  so  würde  noch  immer  nicht  folgen,  daß  „die  ganze 
Philosophie  mit  allen  ihren  Teilen  wesentlich  Metaphysik  sei,  nämlich 
fortgeführt  bis  zu  einem,  dem  Ganzen  des  Wirklichen  entsprechenden  Be- 
grifisy Sterne."  Hat  der  Verf  so  ganz  und  gar  vergessen  können,  was 
Ka>'T  das  Primat  der  praktischen  Vernunft  nannte?  Oder  konnte  er 
glauben,  ein  Kantischer  Imperativ  werde  sich  von  irgend  welchen  Be- 
griff'en  des  Wirklichen  abhängig  machen?  Wenn  nicht:  so  kam  es  wenigstens 
nicht    dem    zweiten  Paragraph   der  Einleitung   in   die  Metaphysik  zu,    die 


oQO  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


wohlerwogene  Kantische  Lehre  ohne  weiteres  auszuschließen.  Was  aber 
sollen  wir  von  dem  §  3  sagen,  welcher  das  Verfahren  der  Metaphysik 
beschreibend  sich  also  vernehmen  läßt:  die  Metaphysik  beginnt  nicht  mit 
der  Abwendung  des  Denkens  von  der  Erfahrung,  geht  vielmehr  von  ihr 
aus,  und  führt  zu  ihr  zurück!  Hier  scheint  es  in  der  Tat  am  rechten 
Worte  zu  fehlen.  Denn  gerade  darum  beginnt  allerdings  die  Metaphysik 
mit  der  Abwendung  von  der  Erfahrung,  zveil  sie  von  ihr  ausgehen  und 
zu  ihr  zurückführen  muß.  Das  Ausgehen  und  Zurückführen  wäre  nicht 
möglich  ohne  das  dazwischen  liegende  Abwenden.  Niemand  verläßt  sein 
Haus,  ohne  demselben  den  Rücken  zu  wenden;  niemand  kehrt  zurück 
ohne  zuvor  abwärts  gegangen  zu  sein.  Und  nur  zu  sehr  hatte  sich  der 
Verf.  von  der  Erfahrung  abgewendet,  indem  er  nach  pantheistischer  Weise 
Einheit  des  Wesens  annahm,  während  erfahrungsmäßig  vieles  gegeben  ist- 
daran  verrät  sich,  daß  er  die  Gründe  des  Abwendens  nicht  erwogen  hatte, 
die  ihn  hierzu  nicht  würden  ermächtigt  haben.  Doch  genug  von  der 
Art,  wie  der  Verf.  in  sein  System  hineinkommt,  und  hineinleitet. 

In  den  Systemen  selbst,  von  welchem  eine  Analyse  zu  geben  der 
Raum  dieser  Blätter  nicht  erlaubt,  finden  sich  nun,  wie  nach  dem  Ein- 
gange zu  erwarten  stand,  absolutes  Werden  und  Selbstbestimmung  freund- 
schaftlich beieinander.  Das  Gesetz  des  Werdens  ist  das  der  Seinsent- 
wicklung. Wenn  aber  der  Geist  in  seiner  Selbstbestimmung  also  fort- 
schreitet, daß  das,  was  sein  Grundsein  ist,  in  der  Gesamtheit  seiner  Be- 
stimmtheiten ganz  vortritt:  so  entspricht  sein  Dasein  seinem  Wesett,  (wie 
mag  doch  das  Gegenteil,  daß  eins  dem  andern  nicht  entspreche,  denkbar 
sein  ?)  und  das  ist  dann  seine  äußere  Wahrheit  (hat  der  Geist  etwa  Außen- 
seiten?) seine  volle  Wirklichkeit  (also  das  Gegenteil  war  eine  unvollständige, 
eine  zum  Teil  7iicht  wirkliche  Wirklichkeit!).  Damit  ergibt  sich  der  Begriff 
der  Selbstverwirklichung  des  Geistes  (causa  sui  nach  Spinoza).  Es  ist 
seine  Selbstverwirklichungskraft.  Wir  haben  diese  Sätze  kurz  angeführt; 
weil  sie  der  Lehre  vom  Leben  zunächst  vorangehen,  auf  welche  wir  gleich 
anfangs  verwiesen  wurden.  Das  Leben  nun  ist:  „das  Wirkliche  als  das 
sich  selbst  Betätigende,  das  von  sich  aus  sich  Verwirklichende.  Das  Leben 
(heißt  es  gleich  weiter,  als  ob  das  Vorhergehende  gar  keiner  Rechtfertigung, 
ja  nicht  einmal  einer  Erläuterung  bedürfte)  trägt  in  sich  das  Natürliche 
und  das  Geistige.  Sein  Sein  auswirkend  ist  es  die  Natur;  sich  seines- 
Seins  mächtig  erweisend  ist-  es  der  Geist.  —  Von  hier  an  beginnt  ein 
Strom  von  Worten,  den  wir  unmöglich  weiter  verfolgen  können;  auch  sind 
wir  von  ähnlichen  Reden  schon  längst  übersättigt. 

Tut  man  Verzicht  auf  die  Forderungen,  welche  an  ein  System  der 
Metaphysik  ergehen  müssen,  betrachtet  man  das  Buch  als  Lebensäußerung 
eines  Schwererkrankten,  der  sich  zur  geistigen  Tätigkeit  emporarbeitet, 
dann  gewinnt  alles  ein  anderes  Ansehen.  Denn  von  einem  solchen  ver- 
langt man  nicht  Umänderung  der  in  früheren  Jahren  angenommenen 
Meinungen,  sondern  es  gereicht  ihm  zum  Ruhme,  wenn  er  Besonnenheit, 
Ordnung,  Wärme  des  Vortrags  zu  behaupten  vermag,  und  das  ist  dem  ver- 
storbenen Verf.  sehr  wohl  gelungen.  Man  fühlt  sich  während  des  Lesens  wie 
in  der  Gesellschaft  eines  sehr  achtungswerten  Mannes,  der  mit  Überzeugung 
spricht,    weil   er    sich    das,    was    er  vorträgt,    vollkommen  angeeignet  hatte. 


J.  F.  Herbart:  Analytische  Beleuchtung  des  Naturrechts  und  der  Moral  usw.      301 


Herbart,  J.  F.,  Analytische  Beleuchtung  des  Naturrechts  und 
der  Moral,  zum  Gebrauche  beim  Vortrage  der  practischen 
Philosophie.  —  Göttingen,  bei  Dieterich,  1836.  XVIII  und  264  S. 
in  Oct. 

Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.   1836,  Nr.  189.     SW.  YHI,  S.  VIH. 

Die  Vorrede  zu  diesem  Lehrbuche  erinnert  an  den  Gegensatz  der 
Synthese  und  Analyse;  ferner  an  die  Verwandtschaft  der  Analyse  und 
der  Kritik.  Dem  synthetischen  Vortrage  dient  (wie  in  der  Psychologie 
und  Naturphilosophie  gezeigt  worden)  der  analytische  zur  Prüfung,  Be- 
stätigung, Erweiterung;  die  Analyse  vorhandener  Systeme  aber,  die  nicht 
fehlerfrei  sind,  geht  mehr  oder  weniger  in  Kritik  über.  Die  allgemeine 
praktische  Philosophie  des  Verfs.,  welche  den  Gang  der  Vorträge  be- 
stimmt, ist  synthetisch  abgefaßt;  diese  Vorträge  können  keine  vollständige 
Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre  in  sich  aufnehmen,  aber  eine  Vorzeichnung 
dazu,  welche  beim  Fortschritte  gelehrter  Studien  allmählich  auszufüllen 
den  Zuhörern  überlassen  bleiben  muß,  wird  ihnen  unter  dem  hier  ge- 
wählten Titel  o-eliefert.  Dadurch  tritt  das  Buch  dem  bekannten  Werke 
Schleiermachers  gegenüber.  Wiewohl  es  nun  an  Ausführlichkeit  hinter 
demselben  zurückbleibt,  so  wird  dennoch  eine  Vergleichung  zwischen 
beiden  nicht  zu  vermeiden  sein,  in  solcher  Hinsicht  mögen  hier  einige 
Worte  Platz  finden.  Erstlich  kannte  Schleiermacher,  als  Theologe,  die 
Moral  besser,  als  das  Naturrecht.  Mit  letzterem  meint  er,  ganz  am  Ende 
seines  Werks,  auf  ein  paar  Seiten  fertig  zu  werden;  er  sagt,  es  sei  nicht 
nötig,  auf  einen  anderen  dabei  Rücksicht  zu  nehmen,  als  nur  auf  Fichte. 
Also  nicht  auf  Grotius;  dessen  berühmtes  Werk  de  iure  belli  et  pacis 
gleichwohl  mehr  verdient  hätte  von  ihm  benutzt  zu  werden,  als  selbst 
die  Ethiken  des  Aristoteles  und  des  Spinoza.  Nach  solcher  Eile 
schließt  er  mit  einem  Verwerfungsurteil.  Das  Recht,  insofern  es  ein 
Handeln  bestimme,  sei  nichts  Ursprüngliches  und  für  sich  Bestehendes. 
Das  Naturrecht  sei  eine  Unform,  eine  rechte  Ethik  müsse  dieselbe  zer- 
stören, und  das  Wesen  und  das  Praktische  daraus  in  sich  aufnehmen; 
jede  Ethik,  die  hierzu  unfähig  sei,  und  jene  Disziplin  anerkenne,  müsse 
im  Sittlichen  oder  im  Systematischen,  oder  in  beiden,  vernachlässigt  sein! 
Dem  Eindrucke,  welchen  ein  solches  Urteil  machen  kann,  darf  man  die 
Zuhörer  nicht  überlassen;  gleichwohl  kann  von  dem  Werke  Schleier- 
machers auch  nicht  geschwiegen  werden,  und  der  Verf.  kann  es  um  so 
weniger,  da  er  den  Schein  hat,  mit  jenem  überein  zu  stimmen;  indem 
in  seiner  praktischen  Philosophie  das  Recht  zwar  selbständig  hervortritt, 
die  Anwendung  aller  praktischen  Ideen  aber  verbunden  wird,  so  daß  die 
beiden  Fragen,  ob  das  Recht  etwas  Ursprüngliches  sei?  und  inwiefern  es 
ein  Handeln  bestimme?  voneinander  getrennt  werden;  folglich  \€m.  solches 
Naturrecht,  als  ob  dadurch  die  Praxis  hinreichend  bestimmt  würde,  sich 
von  der  Moral  absondern  kann;  noch  viel  weniger  aber  eine  Vermengung 
der  Idee  des  Rechts  mit  den  anderen  praktischen  Ideen  einzuräumen  ist. 
Es  kann  hier  nicht  darauf  eingegangen  werden,  welche  Folgen  es  haben 
möchte,  wenn  die  bloßen  Rechtsfragen,  die  im  praktischen  Leben  oftmals 


202  J-  -^'  Herbarts  Rezensionen. 


eben  so  nackt  als  schneidend  hervortreten,  von  der  Wissenschaft  gleichsam 
ignoriert  würden;  aber  das  wird  schon  einleuchten,  daß  eine  so  große 
Differenz  auf  den  ganzen  Plan  einer  Kritik  der  Sittenlehre  den  ent- 
scheidendsten Einfluß  haben  muß.  Überdies  nun  hat  Schleiermacher 
einen  Plan  zum  Grunde  gelegt,  der  einer  synthetischen,  also  von  histori- 
schen Rücksichten  befreiten,  Darstellung  angemessen  scheinen  könnte; 
aber  Neues  und  Altes  läuft  bei  ihm  unaufhörlich  durcheinander;  und 
wie  das  Faktum,  dessen  vorhin  erwähnt  worden,  nämlich  die  vorhandene 
Trennung  des  Naturrechts  von  der  Moral,  in  Schatten  gestellt  ist,  so  er- 
blickt man  überhaupt  bei  Schleiermacher  die  Systeme  nicht  an  ihren 
Plätzen  in  der  Zeit.  Während  nun  seine  Kritik  sie  als  etwas  Zeitloses 
behandelt,  vergißt  sie,  daß  sie  vor  allem  sich  selbst  wegen  der  Treue  oder 
Untreue  ihrer  Auffassung  des  Vorhandenen  gegen  den  Zweifel  sichern 
muß,  der  sogleich  entsteht,  wenn  jemand  das  Zeitliche  ohne  Rücksicht 
auf  die  Zeitumstände  darzustellen  unternimmt.  Hiermit  hängt  wenigstens 
zum  Teil  die  unpassende  Annäherung  des  Spinoza  an  den  Platon  zu- 
sammen, worüber  anderwärts  (und  noch  neuerlich  in  den  Briefen  über 
die  Willensfreiheit)  gesprochen  worden.  Der  Verf  hat  für  seine  Pflicht 
gehalten,  zuerst  eine  kurze  historische  Einleitung,  die  bis  auf  Grotius 
geht,  dann  eine  vorläufige  Übersicht  des  Naturrechts  und  der  INIoral,  wie 
sie  nun  einmal  getrennt  vorliegen,  zu  geben;  hieran  schon  knüpfen  sich 
Betrachtungen,  wodurch  der  erste  Abschnitt,  von  der  Begründung  der 
praktischen  Philosophie,  abgekürzt  wird  (dieser  Teil  würde  übrigens  in 
einem  eigentlich  kritischen  Werke  weit  ausführlicher  behandelt  sein).  Im 
zweiten  Abschnitte,  der  sich  mit  dem  Naturrechte  beschäftigt,  wird  zu- 
vörderst gezeigt,  daß  die  Lehre  des  Grotius  nicht  dahin  geht,  es  von 
der  Moral  los  zu  reißen,  daß  aber  die  Idee  des  Rechts,  obschon  im 
wesentlichen  nicht  richtig  erkannt,  nicht  scharf  genug  von  den  Ideen  der 
Vollkommenheit  einerseits,  der  Vergeltung  andererseits,  unterschieden  ist 
(woraus  späterhin  ein  Bedürfnis  des  Unterscheidens  entstand;  man  schied 
aber  Disziplinen,  wo  nur  Begriffe  zu  sondern  waren).  Übrigens  bietet 
Grotius  den  Vorteil  dar,  daß  nach  seiner  Anleitung  sehr  bald  das 
wirkliche  Verhältnis  unter  unabhängigen  Völkern  in  Parallele  tritt  mit 
dem  Naturstande,  der  unter  Privatpersonen  sein  würde,  wenn  sie  nicht 
Staatsbürger  oder  doch  dem  Staate  unterworfen  wären.  Ein  wirkliches 
Verhältnis  ist  klarer,  als  ein  solches,  in  welches  man  sich  kaum  hinein- 
denhen  kann;  der  jetzt  gewöhnliche  Fortschritt  vom  Privatrechte  zum  Staats- 
rechte und  von  da  zum  Völkerrechte  ist  dagegen  ein  Vorwärts-  und 
Rückwärtsgehen,  denn  vom  ausgebildeten  Staatsleben  kehrt  man  zurück 
zur  Möglichkeit  des  Krieges,  der  ein  Streit  im  großen  ist.  Nachdem  die 
Analyse  nun  schon  beim  Grotius  Gelegenheit  fand,  die  Hauptpunkte  des 
Rechts  vor  dem  Staate  auseinander  zu  setzen,  kann  sie,  bei  der  Kantischen 
Periode,  kürzer  sein;  hier  ist  einerseits  jene  Trennung  der  beiden  Dis- 
ziplinen, andererseits  das  Staatsrecht  in  Betracht  zu  ziehen;  aber  hier 
auch  zeigt  sich  (namentlich  bei  Fichte)  wieder  ein  unwillkürliches  Be- 
dürfnis des  Naturrechts,  die  ihm  ange^\^esenen  Grenzen  überschreitend 
sich  der  Moral  anzuschließen.  So  ist  schon  der  dritte  Abschnitt  vor- 
bereitet,   und    nur    anhangsweise    konnte    dem    vorigen    noch    eine    kurze 


J.  F.  Herbart:  Analytische  Beleuchtung  des  Naturrechts  und  der  Moral  usw.      303 


Probe  aus  einem  der  neuesten  Naturrechte  mitgegeben  werden,  wozu  die 
Einteilung   der  Verträge   (nach    Droste- Hülshof)   gewählt   ist.     Es   kam 
bei   dieser  Probe   eigentlich   darauf   an,    bemerklich   zu   machen,    daß   sich 
das   Naturrecht  jenem    Verwerfungsurteile    nicht   gefügt    hat;    wie    es   sich 
einer   so    unsanften  Behandlung   gewiß   niemals   fügen    wird.     Übrigens   ist 
wegen    des    Zusammenhangs    zwischen    dem   Naturrecht    und    den    Staats- 
wissenschaften öfter  auf  Pölitz  hingewiesen,  dessen  Werk  über  die  letzteren 
eine  vorzügliche  Verbreitung  erlangt  hat.    Für  den  letzten  Abschnitt  über 
die  Moral,   wurde  Stäudlin    benutzt;    einer   der   gelehrtesten  Kenner   der 
Geschichte    der    Moral.      In    diesem    Abschnitte    war    eine    Verwirrung    der 
Begriffe    aufzuräumen,    die    Schleiermacher   wohl   empfunden,    aber   nur 
insofern   gebessert   hat,    als    er   allerdings   den   sehr  wichtigen  Unterschied 
zwischen  der  Tugend  (die  den  Wert  der  Person  betrifft)  und  Pflicht  (die 
mit  Handlungen   samt   deren  Anlässen   und  Folgen  zusammenhängt)  stark 
hervorhob.      Solange   jedoch    nicht    die    praktischen    Ideen    gesondert,   ja 
nicht   einmal   die  ursprünglichen  und  die  gesellschaftlichen  Ideen   deutlich 
unterschieden    waren;    solange    man    von    Kant    auf   Maximen    verwiesen 
wurde,    von    denen   nicht   klar   erkannt   war,    ob  sie  schon  vor  der  Frage 
nach  ihrer  Tüchtigkeit  zur  allgemeinen  Gesetzgebung  voihanden?  oder  erst 
nach    derselben    aufztmichen    seien?    und    wie    es    sich    denn    wohl  mit  der 
Sittlichkeit  solcher  Handlungen  verhalten  möge,  zu  denen  gar  keine  Maxime 
hinzugedacht  worden  ^   —   ließ  sich   die  Verwirrung  nicht  gründlich  heben ; 
denn   man   sah   weder,    ob  Tugend   und  Pflicht  von  den   Maximen  unab- 
hängig seien,  noch  auch,  was  denn  im  Gegenfalle  die  Bildung,  Vereinigung 
und    Anwendung   der  Maximen,   ja,    was   endlich   das  System    der  Sitten- 
lehre   selbst   zur  Moralität  beitragen  könne.     Darüber  konnte  in  dem  an- 
gezeigten   Buche    nur    unter    Voraussetzung    der    allgemeinen    praktischen 
Philosophie  gesprochen  werden ;  hiermit  aber  wurde  ein  Versuch  verbunden, 
die    angewandten   Teile    der   Sittenlehre,    nämlich   Politik   und    Pädagogik, 
in    die    ihnen    gebührende  Parallele    zu   stellen.     Endlich   mußte   noch    zu 
der    Weltansicht,    welche    in    den    letzten  Kapiteln   der   praktischen  Philo- 
sophie aufgestellt  ist,  ein  kritischer  Nachtrag  geliefert  werden,  wozu  Fichtes 
Meinung    vom    Weltplane    ein    hinlängliches    Beispiel    darzubieten    schien; 
und    zugleich    das   passendste    Beispiel,    indem   übergroße  Unzufriedenheit 
mit  der  Gegenwart,  wie  sie  Fichte  schon  seit  Anbeginn  seiner  literarischen 
Laufbahn  geäußert  hat,  am  leichtesten  dazu  verleitet,  vom  Weltplane  mehr 
wissen    zu   wollen,   als  man  davon  wissen  kann,    und  der  Moralität  wegen 
davon  zu  wissen  braucht.    Sollte  übrigens  jemand  eine  vollständigere  An- 
wendung   der  Psychologie   vermissen,   so  dient  zur  Antwort  „sie  muß  erst 
mehr  studiert  werden;"  und  bei  den  Zuhörern  der  praktischen  Philosophie 
darf  man  sie  nicht  als  schon  bekannt  voraussetzen. 


OQA  J«  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Drobisch,  M.  W-,  Quaestionum  mathematico-psychologicarura. 
Specimen  II.      Leipzig. 

Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.   1837,  Nr.  17.     SW.  XII,  S.  759. 

Herr    Professor    Drobisch,    als    jetziger    Procancellarius    der   philo- 
sophischen Fakultät,  liefert   in   diesem  Programme    die    Fortsetzung   eines 
früheren,  welches   im  Julius    vorigen   Jahres    zu   einer  akademischen  Feier 
einzuladen  bestimmt  war,  und  damals  in  unsern  Blättern  angezeigt  wurde. 
Beide  sind  statischen  Inhalts,    d.  h.  sie  betreffen  die  Gesetze  des  Gleich- 
gewichts unter  den  Vorstellungen;    ein  paar    andere,    worin  die  Mechanik 
des  Geistes  wird  beleuchtet  werden,  sollen  bald  nachfolgen.    Den  Anfang 
des   vorliegenden   macht    der   Satz:    Generalis   haec    est    psychologiae  lex, 
quod   omnes  notiones    in   animo  simul   propositae,   quoad    fieri   potest,  in 
unum    coniunguntur,    et   composita   sie   efficitur   notio.     Dieser    Satz  steht 
der    irrigen    Meinung    Kants    entgegen,    als   ob    eigene    Handlungen    der 
Synthesis  nötig  wären,  um  ein  Mannigfaltiges  zur  Einheit   des  Vorstellens 
zu   bringen.      Es    gibt   keine   Scheidewände    zwischen   den    Vorstellungen; 
sie  fließen  von  selbst  in  Eins,  wo  nicht  die  Hemmung  wegen  der  Gegen- 
sätze  im   Vorgestellten    es   verhindert.      Hier   aber   gibt   es    Unterschiede, 
derentwegen   das    Programm   in  drei   Abschnitte   zerfällt,      i.  De   perfectis 
notionum  complexibus ;  d.  h.  von  den  vollkommenen  Verbindungen,  welche 
da  eintreten,    wo   kein   Gegensatz    im  Vorgestellten  liegt,   z.  B.  wenn  wir 
einerlei    Objekt    durch   seinen    Ton    und    seine    Farbe   zugleich    auffassen. 
Gesetzt,  es  seien    mehrere  Objekte   auf  solche  Weise   zugleich    vorgestellt: 
so    entsteht   die    Frage   nach    der    gegenseitigen    Hemmung   zwischen    den 
Gesamtvorstellungen  dieser  Objekte;    indem  sowohl  die    Farben  derselben 
als    die  Töne   einander   hemmen,   jedoch   nicht  die  Farben  für  sich,  und 
ebensowenig   die    Töne   für   sich,    sondern   die    ungeteilten    Vorstellungen, 
worin  Ton  und  Farbe  als  Merkmale  erst  da7in  können  unterschieden  werden^ 
wenn    Reflexionen    höherer    Art    hinzukommen,    deren    Bedingungen    weit 
außer  den  Grenzen  dieses  Programms  liegen.    2.  De  connexarum  notionum 
aequilibrio.      Hier   ist   nicht   mehr   von    solchen   Vorstellungen    die    Rede, 
welche  sich  vollkommen   zu   vereinigen  fähig  wären,    sondern  von  unvoll- 
kommener Verbindung,  die  nach  geschehener  Hemmung  eintritt,  und  wo- 
für der  Ausdruck    Verschmelzung  ist  gewählt  worden.    Wo  irgend  ein  paar 
Töne  zugleich  gehört,  oder  ein  paar  Farben  zugleich  gesehen  wurden,  da 
bildet  sich  nach  Verschiedenheit   der  Vorstellungen,   oder  auch  der  Um- 
stände, eine  Vereinigung,  die  nur  dann  vollständig  sein  könnte,  wenn  die 
Vorstellungen    ganz   gleichartig,    und    die   Umstände   ganz   günstig    wären. 
Zwei  Personen  mögen  genau  den  nämlichen  Ton  singen,  oder  zwei  Stellen 
eines  Gemäldes  mögen  nicht  bloß  gleichfarbig  sein,  sondern  auch  so  nahe 
beisammen  liegen,    daß  man   keinen  Zwischenraum  angeben  könne;    dann 
freilich,    imd   auch    nur    dann,    wird    das    Gehörte   oder    Gesehene    voll- 
kommen zusammenfließen;  sonst  aber,  wenn  irgend  ein  Unterschied  vor- 
handen ist,  entsteht  einerseits  Hemmung,    andererseits    doch  ein  gewisser 
Grad  von  Vereinigung;  so  daß,  wenn  etwas  Drittes  hemmend  dazu  kommt, 
die  beiden  Vorstellungen  sich  dem  Dritten  mit  einer  Energie  widersetzen, 


M.  W.  Drobiscli:  Questionum  mathematico-psychologicarum.  ^05 

die  zwar  nicht  ganz  ihrer  Summe  entspricht,  aber  größer  ist,  als  wenn 
jede  Vorstellung  einzeln  hätte  widerstehen  sollen.  Die  Bestimmung  des 
Gleichgewichts  in  solchen  Fällen  ist  der  Gegensatz  des  zweiten  Abschnitts. 
3.  De  imperfectis  notionum  complexibus.  Hier  wird  etwas  in  Frage  ge- 
nommen, welches  gewissermaßen  die  Betrachtung  der  beiden  vorigen  Ab- 
schnitte in  sich  vereinigt.  Zufällige  Umstände  können  verhindern,  daß 
Vorstellungen  zu  einer  vollkommenen  Vereinigung,  deren  sie  an  sich  fähig 
wären,  wirklich  gelangen.  Man  will  wissen,  wie  sie  in  dieser  geringeren 
Vereinigung,  deren  Gradbestimmung  sehr  verschieden  sein  kann,  gemäß 
derselben  wirken  werden.  Über  diesen  dritten  Punkt  wäre  beinahe  eine 
kleine  Differenz  zwischen  dem  Hrn.  Verf.  und  dem  Unterzeichneten  ent- 
standen. Allein  man  hütete  sich  zu  disputieren;  man  bemühte  sich  viel- 
mehr auf  beiden  Seiten,  um  neue  Wege  der  Untersuchung  zu  finden; 
man  traf  bald  im  Resultate  zusammen,  und  der  Unterzeichnete  hat  dem 
Hrn.  Verf.  dafür  zu  danken,  daß  derselbe  ihn  veranlaßte,  seine  frühere 
Rechnung  zu  berichtigen. 

Vergleicht  man  dieses  zweite  Programm  mit  dem  ersten,  so  kann 
man  es  nicht  mehr  elementarisch  nennen ;  denn  das  erste  enthält  Rechnungen 
für  einzelne  Vorstellungen,  das  gegenwärtige  erweitert  dieselben  auf  Kom- 
plexionen und  Verschmelzungen.  Allein  wer  damit  die  gewöhnliche  Be- 
handlung ähnlicher  Gegenstände  in  den  Psychologien  vergleicht,  der  wird 
geneigt  sein,  diese  ganze  Untersuchung  gar  sehr  elementarisch  zu  nennen, 
weil  anderwärts  die  Zerlegung  der  zusammengesetzten  Vorstellungen  in  ihre 
kleineren  Teile  pflegt  vergessen  zu  werden  über  dem  vorgestellten  Ob- 
jekte, und  besonders  über  dem  vorstellenden  Subjekte,  von  dessen  Tätig- 
keiten und  Vermögen  man  vielerlei  zu  sagen  gewohnt  ist,  was  (um  den 
gelindesten  Ausdruck  zu  wählen)  in  den  Zusammenhang  der  hier  ge- 
führten Untersuchung  auf  keine  Weise  kann  aufgenommen  werden.  Darüber 
einige  weitere  Auskunft  zu  geben,  wird  sich  vielleicht  bald  Gelegenheit 
finden;  nämlich  alsdann,  wenn  der  Hr.  Verf.  die  beiden  noch  versprochenen 
Programme  wird  nachgeliefert  haben.  Für  jetzt  ist  genug,  wenn  man  ein- 
sieht (was  aus  dem  Vorstehenden  schon  klar  genug  hervorgeht),  daß  die 
hier  angezeigten  Untersuchungen  nicht  etwa  aus  einer  besonderen  Lust 
am  Kalkulieren  haben  entstehen  können;  welche  Lust  der  Hr.  Verf.,  wenn 
er  wollte,  an  ganz  anderen  Gegenständen  leichter  befriedigen  konnte. 
Vielmehr  bedurfte  die  Psychologie  einer  Berichtigung  vieler,  traditionell 
gewordener  Fehler,  von  denen  ein  Hauptzug,  daß  man  neben  dem  Vor- 
stellungsvermögen noch  ein  besonderes  Begehrungsvermögen  und  mit  fort- 
schreitendem Irrtume  dann  auch  noch  ein  Gefühlvermögen  nötig  hatte, 
allgemein  bekannt  ist,  und  eben  deshalb  schon  längst  die  allgemeine  Ver- 
wunderung hätte  erregen  können,  wie  es  doch  zugehen  möge,  daß  Vor- 
gestelltes sich  m  ein  Begehrtes  und  Gefühltes  bald  verwandele  und  bald 
nicht?  Welches  Kausal  Verhältnis  überhaupt  unter  den  verschiedenen  Seelen- 
vermögen stattfinden  möge?  Hier  hatte  der  Irrtum  alle  Aussicht  ver- 
schlossen. Um  dieselbe  zu  eröffnen,  mußte  zuerst  nachgewiesen  werden, 
daß  die  Vorstellungen  selbst  das  Geistig- Wirksame  sind,  und  zwar  ursprüng- 
lich infolge  ihrer  Gegensätze  und  Verbindungen.  Dies,  und  vieles  andere, 
kann    nicht    ohne     Hilfe    der   Rechnung    einleuchtend    gemacht    werden; 

Herbarts  Werke.     XIII.  20 


^o6  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


auch  gehen  wissenschaftliche  Untersuchungen  ihren  Gang,  ohne  zu  fragen, 
ob  es  etwa  mühsam  scheinen  möge,  daran  teil  zu  nehmen. 


Hartenstein,  G.,  auct.,  philos.  theoreticae  in  univ.  lipsiensi  prof.  ord., 
De  ethices  a  Schleiermachero  propositae  fundamento. 
6q  und  26  S.     Oct.  —  Leipzig,  bei  Startz. 

Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.    1837,  Nr.  60.  61.     SW.  XII,  S.  764. 

Niemand  vermag  das  Ganze  der  künftigen  Folgen  seines  Handelns 
zu  überschauen;  aber  auch  den  größten  Kreis  irdischer  Wirksamkeit  darf 
man  nicht  mit  dem  Universum  vergleichen,  wenn  er  nicht  als  unbedeutend 
soll  gering  geschätzt  werden.  Gleichwohl  redet  man  nicht  bloß  vom  Uni- 
versum, als  ob  noch  keine  Fernröhre  uns  die  Weite  unserer  Unwissen- 
heit aufgetan  hätten,  sondern  man  will  auch  von  der  Kenntnis  des  Uni- 
versums, von  diesem  Wissen  unseres  Nicht- Wissens,  die  Sittenlehre  ab- 
hängig machen,  deren  Grundzüge  schon  die  Alten,  ohne  Fernröhre,  ohne 
physikalischen  und  chemischen  Apparat,  im  wesentlichen  richtig  erkannt 
hatten.  Welche  Irrwege  dabei  eingeschlagen  werden,  und  durch  welche 
Verstöße  die  zur  Schau  getragene  Verachtung  der  Logik  pflegt  gebüßt 
zu  werden,  dies  mußte  endlich  einmal  zur  Kritik  auffordern;  und  die 
Kritik  mußte  sich  ein  ausgezeichnetes  Beispiel  wählen,  wenn  sie  nicht  in 
unbestimmte  Allgemeinheit  sich  verlieren  wollte.  Hr.  Prof.  Hartenstein  hat 
hierzu  die  beiden  Programme  benutzt,  die  er  beim  Antritte  seiner  ordentlichen 
Professur  zu  schreiben  hatte,  und  die  eine  zusammenhängende,  sehr  reich- 
haltige, durch  Scharfsinn  und  nachdrücklichen  Vortrag  ebensosehr,  als  durch 
die  Wichtigkeit  ihres  Gegenstandes  sich  empfehlende  Abhandlung  ausmachen. 
Nach  einer  historischen,  von  Kant  beginnenden,  Einleitung  handelt  das 
erste  Kapitel  von  dem  Bilde  einer  vollkommenen  Ethik,  wie  Schleier- 
macher dasselbe  schon  in  seiner  Kritik  der  Sittenlehre  zu  zeichnen 
unternommen  hatte.  Dagegen  schreibt  im  zweiten  Kapitel  der  Verf.  vom 
Begriffe  und  Wesen  der  Ethik.  Das  dritte  Kapitel  enthält  nun  die  eigent- 
liche Kritik  des  Systems,  welches  neuerlich  aus  dem  handschriftlichen 
Nachlasse  Schleiermachers  herausgegeben  worden;  nämlich  in  Bezug 
auf  das  Fundament;  denn  hierauf  ist  die  Abhandlung  schon  durch  ihren 
Titel  beschränkt.  Das  vierte  Kapitel  (das  zweite,  kürzere  Programm) 
gibt  eine  Erläuterung  durch  Beispiele.  So  zweckmäßig  diese  Anordnung, 
so  ist  doch  für  den  Bericht  darüber  wohl  bequemer,  von  hinten  anzu- 
fangen, um  gleich  wenigstens  Einen  Hauptpunkt,  um  welchen  der  Streit 
sich  dreht,  hervorzuheben.  Folgende  Stelle  ist  aus  Schl.s  Werke  aus- 
gehoben: 

„Alle  Gattungsbegriffe  der  verschiedenen  Formen  des  individuellen 
Lebens  sind  wahre  Naturgesetze.  Wenn  wir  nun  gefragt  werden:  hängt 
diesem  Gesetze  auch  ein  Sollen  an?  so  werden  wir  soviel  bejahen 
müssen,  daß  wir  das  Gesetz  aufstellen  für  das  Gebiet,  ohne  daß  in  der 
Aufstellung  zugleich  mit  gedacht  ivetde,  daß  alles  rein  und  vollkommen  nach 
dem    Gesetze    verlaufe.       Denn    das    Vorkommen    von    Mißgeburten   als    Ab- 


G.  Hartenstein:  De  ethices  a  Schleiermachero  propositae  fundamento.  207 

weichungen  des  Bildungsprozesses,  und  das  Vorkommen  von  Krankheiten, 
als  Abweichungen  in  dem  Verlaufe  irgend  einer  Lebensfunktion,  nehmen 
wir  nicht  auf  in  das  Gesetz  selbst;  und  diese  Zustände  verhalten  sich  zu 
dem  Naturgesetze,  in  dessen  Gebiet  sie  vorkommen,  gerade  wie  das  Un- 
sittliche und  Gesetzwidrige  sich  verhält  zu  dem  Sittengesetz." 

Diese  Worte  verraten  zuvörderst,  welche  Kenntnis  von  der  Physik, 
und  welchen  Begriff  von  Naturgesetzen  er  müsse  gehabt  haben.  Was 
finge  doch  der  Astronom,  ja  irgend  ein  Naturforscher  an,  mit  Gesetzen, 
wobei  in  Frage  käme,  welche  Abweichvmgen  wir  in  deren  Gebiet  auf- 
nehmen oder  nicht  aufnehmen;  gleich  als  ob  das  in  unserem  Belieben 
stünde!  Hier  aber  nun  den  Begriff  des  Sollens  anzubringen,  ist  eine  so 
verfehlte  Analogie,  daß  man  schon  nach  diesem  einzigen  Zuge  nichts 
anderes  erwarten  kann,  als  eine  Kette  von  Irrtümern,  die  man  sich 
gefaßt  halten  mag,  durch  die  Gewalt  des  einmal  angenommenen  Vor- 
urteils zu  entschuldigen.  Hr.  H.  läßt  sich  darüber  folgendermaßen  aus: 
Si  de  imperfectis  naturae  formis,  de  monstris,  et  quae  ex  hoc  genere 
sunt  alia,  verba  facimus,  tacite  praeconcepta  aliqua  vel  pulchritudinis  vel 
utilitatis  vel  certe  roboris  et  vigoris  vitalis  utimur  notione  tanquam  norma; 
quam,  si  naturae  perfectionis  defectum  imputamus,  obliviscimur  non  esse 
legem,  ex  qua  natura  agat^  sed  normam,  ex  qua  ?ios  ea,  quae  secundum 
leges  ipsi  quacunque  velis  ratione  insitas  progignit,  diiudicamus.  Cuius 
negligentiae  vestigia  ita  in  usum  linguae  migraverunt,  ut  vel  astronomi 
de  aberrationibus  planetarum  ab  orbitis,  et  de  perturbationibus,  quibus  in 
itinere  expositi  sint,  loquantur.  veram  scilicet  orbitarum  formam  comparantes 
cum  praeconcepta  motus  elliptici  notione:  licet  optime  sciant,  hanc praecon- 
ceptam  notionem  aberrare  a  vera  orbitarum  figura:  neque  erravisse  astra, 
pristinam  theoriam  non  sequentia,  sed  theoriam,  cui  verae  et  plenae  horum 
motuum  leges  et  rationes  nondiim  perspectae  eratit.  Hieraus  wird  nun  gleich 
der  Gegensatz  folgender  Behauptungen  klar  werden.  Schi,  sagt:  We?m 
das  'Gesetz  bloßer  Gedanke  wäre,  so  iväre  die  sittliche  Welt  eine  bloß  ein- 
gebildete. Hartenstein  antwortet:  hoc  verissimum  est,  sed  non  tollit 
officii  auctoritatem ;  imo  hoc  ipsum  est  ethicae  peadiare^  quod  idealem 
aliquem  quasi  mundum  construens,  altiora  spirat,  quam  quae  in  rerum 
natura  revera  fiunt:  vel  certe  ea,  quae  fiunt,  non  curat.  Es  versteht  sich 
von  selbst,  daß  bei  diesem  non  curat,  nur  von  der  Feststellung  der  Prinzipien 
die  Rede  ist;  denn  die  ganze  Schrift  handelt  nur  vom  Fundament,  und 
nicht  von  den  angewandten  Teilen  der  Sittenlehre.  Postquam  enim 
(sagt  der  Verf.  bald  darauf)  ideae  tanquam  principia  diiudicationis  ethicae 
inventae  sunt,  tum,  ut  applicari  possint,  disciplinam  moralem  ad  hominum, 
quales  experientia  esse  docet,  voluntates  se  convertere  ipsi  diximus;  sed 
ab  hac  ipsa  applicatione  non  posse  initium  ethices  fieri,  per  se  patet. 
Statt  der  Aufsuchung  der  praktischen  Ideen  beginnt  Schleiermacher 
die  Ethik  mit  dem  Setzen  einer  Natur,  in  welcher  die  Vernunft,  —  und 
der  Vernunft,  welche  in  einer  Natur  handelnd  schon  ist,  d.  h.  mit  dem 
Setzen  der  menschlichen  Natur  und  der  menschlichen  Vernunft.  Der 
Verf.  weiset  ihm  nicht  bloß  den  in  dieser  Behauptung  liegenden  Empiris- 
mus, sondern  auch  eine  auffallende  Ähnlichkeit  mit  der  Fichtischen  Lehre 
nach,  wodurch  ein  Licht  auf  den  historischen  Ursprung  jener  Lehrmeinungen 

20* 


T08  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


fällt.  Sicuti  a  Fichtio  primum  to  Non-Ego  ponendum  erat,  ut  to  Ego 
voluntatis,  sive,  quod  idem  esse  dicebatur,  libertatis  suae  sibi  conscium 
fieri  posset,  deinde  autem  omni  studio  ethico  tollendi  eius,  quod  Non- 
Ego  esset,  finis  proponebatur  (nimirum,  quoniam  nulla  alia  ratione  to  Ego 
ad  libertatem  absolutam,  nullis  limitibus  circumscriptam,  evehi  posset), 
denique  vero  to  Non-Ego  prorsus  tolli  neque  patiebatur,  neque  debebat, 
ne,  qua  niteretur  conditione  cofiscientia  libertatis.  ea  ipsa  conditio  evan- 
esceret :  eodem  modo  a  Schleiermachero  rationi  primum  opponitur  natura, 
ut  ratio  nanciscatur  agendi  obiecta;  deinde  finis  ultimiis  pioponitiir  naiiirmn 
cum  ratione  uniendi\  denique  vero  hoc  uniendi,  sive  naturam  in  organis- 
mum  rationis  participem  convertendi  Studium  ab  assequendo  fine  deteiretur, 
ne  desit  age?tdi  conditio.  In  bis  quidem  eo  tantum  differunt  Schleier- 
MACHERUS  et  FiCHTius,  quod,  quae  hie  de  voluntate  eaque  libera  decuerat, 
ea  ille  ad  notionem  rationis,  satis  ambiguam,  transtulit:  et  quod,  cum 
FiCHTius  virtutem  et  dignitatem  moralem  ad  personani  agentein  pertinere 
non  oblitus  esset,  Schleiermacherus  eius  universam,  si  Diis  placet,  naturam 
participem  fieri  posse  videtur  statuisse.  Wobei  wir  mit  Bezug  auf  das 
Vorhergehende  noch  bemerken,  daß  es  wenig  befremdet,  wenn  etwa  der 
Idealist  (Fichte)  sich  Naturgesetze  so  vorstellt,  als  brauchte  nicht  alles  rein 
und  vollkommen  nach  ihnen  zu  verlaufen,  falls  ivit  dieses  in  deren  Auf- 
stellung nicht  zugleich  mit  gedacht  hätten,  —  daher  es  nun  auch  nicht 
eben  wunderbar  ist,  wenn  in  einer  ihm  nachgeahmten  Lehre  solche 
Meinungen  wiederkehren.  Diese  Nachahmung  einmal  vorausgesetzt,  so  ist 
wenigstens  von  einer  Seite  klar,  woher  die  Behauptung  stammt:  Wissen 
?ind  Sein  gibt  es  für  uns  nur  in  Beziehung  aufeinander.  Jedoch  hier 
müssen  wir  weiter  zurückgehen.  Im  dritten  Kapitel,  dem  Hauptteile  der 
Abhandlung,  beginnt  der  Verf.  von  Schleiermachers  Forderung  eines 
höchsten  Wissens,  von  welchem  alles  Einzelne  ausgeht;  denn  (so  meint 
er),  wären  die  Grundbegriffe  einzelner  Wissenschaften  jenem  untergeordnet, 
so  enthielte  jenes  deren  Ursprung;  oder  wären  sie  einzeln  gesetzt,  so  müßte 
das  Verhältnis  ihrer  Anfänge  den  Gegenstand  des  höchsten  Wissens  aus- 
machen. Der  Verf.  verweist  dagegen  auf  die  Logik.  Die  spezifischen 
Differenzen  untergeordneter  Begriffe  entspringen  nicht  aus  dem  höherem, 
sondern  werden  ihm  in  der  Determination  beigefügt;  und  die  Erkenntnis 
eines  Verhältnisses  ist  nicht  die  Erkenntnis  dessen,  was  die  Verhältnis- 
glieder, einzeln  genommen,  für  sich  sind.  Er  fährt  fort:  non  potest  mirum 
esse,  quod  Schleiermacherus  in  ea,  quam  ingressus  est,  via  pergens,  ab 
initio  statim  maximis  difficultatibus  irretitur,  ex  quibus  non  sine  maxima 
levitate  exitum  sibi  parare  potest,  Etenim  ut  ei  concedatur,  summum 
omnium  disciplinarum  principium  unum  et  idem  esse,  tum  hoc  certe 
exspectari  et  postulari  potest,  ut  revera  sufficiat  ad  ea,  quae  inde  sequi 
dicuntur,  deducenda,  stabilienda  et  confirmanda.  Schi,  contra,  ipse  invitus 
quasi  diffisus  principii  indoli,  addit,  non  posse  intelligi  et  admitti  prin- 
cipium per  se,  sed  ita  tantum,  ut  singula  quaeque  simul  perspiciantur : 
quo  efficitur,  ut  eius,  ex  cuius  cognitione  reliqua  pendere  iure  exspectatur, 
cognitio  alternis  vicibus  ab  horum  ipsorum  cognitione  pendeat;  et  quid 
sit  revera  principium,  et  qua  consequendi  necessitate  singula  quaeque 
contineantur,  dici  plane  non  possit.  —  Auetor  dicit:   Die  Darstellung  wird 


G.  Hartenstein:  De  ethices  a  Schleiennachero  propositae  fundamento.  309 


volle  Gültigkeit  haben  für  die,  welche  geneigt  sind,  sich  dieselbe  Gestaltung 
des  höchsten  Wissen  vorzubilden.  Itaque  subiectiva  quaedam  assentiendi 
propensio  et  proclivitas  id  est,  ad  quod  in  ipsis  principiis  recurrit:  quod 
concedere  nihil  aliud  est,  nisi  omnem  quaerendi  et  indagandi  severitatem 
mutabili  opinionum  varietati  committere.  Das  sollte  schon  die  eigentüm- 
liche, nur  zum  Überreden  geschickte  Schreibart  Schleiermachers  jedem 
fühlbar  machen.  Wir  können  uns  aber  bei  diesem  ersten  Punkte  (de 
conditionibus  a  quibus  singularum  quarumque  disciplinarum  expositio 
pendeat)  nicht  weiter  aufhalten;  sondern  eilen  zum  zweiten:  de  derivanda 
notione  ethices,  wobei  sogleich  auf  eine  andere  Quelle  der  Meinungen 
Schl.s  hingewiesen  wird,  nämlich  auf  das  platonische:  to  «/^  oV  ttw?  oV 
j'f  XI  yycood-tii]-^  denn  auch  daran  hängt  seine  Bedeutung:  Sem  und  Wissen 
haben  wir  nur  fürei?iatidcr ,  und  unterscheiden  sie  nur  entgegenstellend; 
worin  zugleich  liegt,  daß  sie  in  einem  Höheren  Eins  sein  müssen,  welches 
wir  hier  mit  voraussetzen  können,  ohne  uns  zu  kümmern,  ob  es  auch  nach- 
gewiesen werden  könne.  Ultima  verba  mirationem  facere  possunt,  quoniam 
auctoris  nihil  magis  Interesse  debebat,  quam  hoc,  ut,  quid  sit  illud  Unum, 
accuratissime  declaretur.  Sed  de  hoc  quidem  mox:  nunc  in  eo  offendimus, 
quod  TO  Esse  et  to  Scire  propterea,  quod  opposita  sint,  in  altius  aliquid,  nes- 
cimus  utrum  rem  dicamus  an  notionem,  concidere,  et  quasi  coire  legimus. 
Simulatque  concidunt,  ad  se  invicem  non  possunt  referri.  Si  vero  eas 
consideramus  tanquam  notiones  disiunctas,  tertiae  subordinatas,  tunc  quidem 
verum  est,  nonnullas  utriusque  notionis  notas  in  hanc  tertiam  concidere; 
sed  non  verum,  ipsas  notiones  in  hanc  tertiam  concidere.  Hierbei  das 
Beispiel  von  einer  geraden  und  krummen  Linie,  die  nicht  in  eine  vor- 
gebliche Indifferenz  des  Geraden  und  Krummen  zusammenfallen,  wohl 
aber  sich  der  Abstraktion  darbieten,  welche  zum  allgemeinen  Begriffe  der 
Linie,  unbestimmt,  ob  sie  gerade  oder  krumm  sei,  hinführt.  Jenem 
platonischen  Satze  wird  übrigens  das  mathematische  Wissen  entgegen- 
gestellt; mathematicae  enim  cognitionis  obiecta  revera  non  sunt,  et  tamen 
nullum  cognitionis  genus  in  tanta  amplitudine  firmius  est,  quam  hoc,  quod 
non  ad  rerum  existentiam,  sed  ad  meras  notionum  relationes  pertinet. 
Weiter  die  logischen  Verwirrungen  rügend,  kommt  der  Verf.  auf  Schl.s 
Satz:  Wenn  im  Aufsteigen  die  Gegensätze  sich  vermindern,  so  kann  man 
nur  zum  Höchsten  aufgestiegen  sein,  wenn  sie  ganz  verschwunden  sind. 
Quod  si  recte  intellectum  esse  ponimus,  §  2g  ita  vertere  licebit:  „summa, 
quam  quaerimus  scientia,  est  ea,  quam  invenimus,  si  non  solum  ab  rebus 
singulis,  quae  sunt  et  cogitantur,  sed  etiam  ab  ipsis  cogitandi  et  essendi 
notionibus  abstrahimus."  Dolemus  quidem,  quod  hac  operatione  neu- 
tiquam  evehimur  ad  identitatem  eorum,  a  quibus  abstraximus  mentem; 
non  audemus  dicere,  ad  quam  notionem  tum  simus  perventuri;  miramur 
denique,  quod  quis  hac  ratione  ad  cognitionem  aliquam,  eamque  pro- 
fundissimam  (nescio  an  summam) ,  se  pervenisse  sibi  possit  persuadere ; 
omnia  enim,  quae  antea  sciveramus,  ex  cogitatione  nostra  revera  evan- 
uerunt ;  sed  his  missis  illud  certe  nacti  nobis  videmur,  ut  viam  et  rationem, 
qua  ad  illam  summam,  quae  praetenditur,  scientiam  perveniatur,  esse  illam 
ipsam  facilem  abstrahendi  operationem  logicam  intelligamus.  Sed  Schi, 
quidem  hoc,  quod  fecisse  videbamur,  lucrum  nobis  minima  concedit;  nam 


■2  1  o  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


quasi  eorum,  quae  paucis  lineis  antea  dixerat,  plane  oblitus  esset,  ita 
pergit:  Das  höchste  Wissen  ist  aber  auch  gar  nicht  einen  bestimmten 
Umfang  bezeichnend;  et  porro:  Wenn  man  durch  Aufsteigen  vom  Be- 
sonderen zum  Allgemeinen  das  höchste  Wissen  erreichen  könnte,  so  hätte 
es  einen  Umfang.  His  qui  non  offenditur,  nulla  unquam  interna  repug- 
nantia  offendetur;  tarnen  forsitan  concedet,  eam,  qua  quis  illa  summa 
scientia  potiri  possit,   methodum  plaiie  in  ancipiti  relinqui. 

Jetzt  dringt  der  Verf.  schärfer  ein  auf  seinen  Gegner,  mit  den  beiden 
Fragen:  was  enthält  das  höchste  Wissen?  und:  was  folgt  daraus  in  An- 
sehung der  Würde  und  Unwürde  des  Willens?  Schon  der  ersten  Frage 
kommt  lauter  Ungenügendes  entgegen;  der  Inhalt  des  höchsten  Wissens 
läßt  sich  nicht  aussprechen;  die  vorgeblich  gebundenen  Gegensätze  sind 
antitheses,  quas,  durn  adsunt,  evanescere,  et  dum  evanescunt,  adesse  serio 
docetur;  ja  es  heißt  gar  wörtlich:  ,^die  Willkür  beginnt^  und  die  Über- 
zeugung kann  nur  fest  iverden  durch  den  Erfolg,  daß  nämlich  eine  zusammen- 
hcmgende  Ansicht  des  Wissens  klar  und  bestimmt  ausgesprochen  werde;" 
worauf  der  Verf.  bemerkt:  ipsa  principii  stabilitas  suspenditur  ab  assensu; 
qui  singulis  tribuendus  sit;  versamur  in  circulo  satis  rotundo,  qui  ab  uni- 
versalibus  ad  particularia,  ab  his  ad  illa  nos  versat.  Und  wenn  am  Ende 
das  Ineinander  alles  Dinglichen  und  Geistigen  als  das  Höchste  ausgesprochen 
wird,  findet  sich  hierin,  so  wie  in  der  Verkettung  der  Ethik  mit  Physik 
und  Geschichte,  nichts  als  verlarvter  Empirismus,  ohne  den  mindesten 
spekulativen  Gehalt. 

Quaemadmodum  enim,  nisi  in  iis,  quae  experimur,  se  obtruderet 
inter  realis,  quod  dicitur,  et  idealis,  subiectivi  et  obiectivi,  naturae  et 
rationis  notiones  universales  discrimen,  in  Unius  absoluti  notione  mala  in- 
esset  causa^  ad  hanc  potius  quam  ad  aliam  quamcunque  antithesin  descettdendi, 
ita  etiam  scientiae  de  ratione  ve!  de  natura  in  illa  summa  scientia,  quae 
per  se  neque  ad  hanc  neque  ad  illam  pertinet,  nuUus  est  fons  et  origo. 
Über  die  zweite  jener  Fragen  können  wir  kurz  sein,  nachdem  gleich  an- 
fangs schon  aus  dem  letzten  Kapitel  das  Nötigste  erwähnt  worden.  Schi, 
redet  von  der  Sittenlehre  als  einem  spehdativen  Wissen;  auf  der  einen 
Seite  (sagt  er)  ist  sie  als  beschauliche  Wissenschaft  angesehen,  gleich  und 
beigeordnet  der  Naturwissenschaft;  auf  der  anderen  Seite  als  Ausdruck 
der  Vernunft  ist  sie  gleich  und  beigeordnet  der  Geschichtskunde.  Natür- 
lich fragt  nun  der  Verf.:  was  demjenigen  begegnen  werde,  der  eine  sitt- 
liche Norm  für  die  Leitung  seines  Willens  suche?  Ethicam,  meminerit, 
ipsi  non  plus  consilii  et  certitudinis  praebere  posse,  quam  ex  physicae 
et  historiae  thesauris  possit  depromi.  Wir  müssen  hier  unseren  sehr  un- 
vollständigen Bericht  abbrechen,  und  es  bleibt  nur  noch  ein  Wort  hin- 
zuzufügen wegen  einer  Note,  worin  die  analytische  Beleuchtung  des  Natur- 
rechts und  Moral  erwähnt,  und  auf  eine  neuerlich  dagegen  erhobene 
Opposition  etwas  erwidert  wird.  Die  Antwort  ist  gerade  dieselbe,  welche 
wohl  jedem,  der  die  Lehre  des  Unterzeichneten  näher  kennt,  einfallen 
mußte;  nur  die  Worte:  critico  illi  certe  historice  notum  esse  debebat, 
möchten  etwas  hart  klingen.  Ohne  Zweifel  wußte  der  gelehrte  Gegner, 
was  gegen  die  Ansicht  von  den  Seelenvermögen,  als  gegen  eine  Mytho- 
logie,  längst   gesagt    worden.      Beharrt    er   aber   bei    dieser    gewöhnlichen 


Maur.  Guil.  Drobisch:  Quaestionum  mathematico-psychologicarum  fasciculus  I.      ^ii 


Ansicht,  so  mußte  ihm  wohl  die  Frage  vorliegen:  was  man  dabei  gewinne, 
wenn  man  die  ästhetische  Urteilskraft  über  die  praktische  Vernunft  setze? 
In  der  Tat  nichts,  sobald  man  das  Kantische  sie  volo,  sie  iubeo,  welches 
alle  weitere  Frage  kategorisch  abschneidet,  von  der  praktischen  Vernunft 
auf  die  ästhetische  Urteilskraft  überträgt.  Aber  die  ästhetische  Urteils- 
kraft (wofern  es  eine  solche  gibt)  ist  nicht  gewohnt  zu  befehlen;  sie  redet 
nicht  in  Machtsprüchen,  deren  sie  gar  nicht  bedarf;  nicht  vom  Universum 
so,  als  ob  sie  es  kennte,  und  sich  auf  metaphysische  Fragen  einlassen 
müßte.  Die  sittlichen  Imperative  haben  tiefer  liegende  Gründe,  welche 
ebensowenig  Befehle  als  Naturgesetze  sind.  Die  Sittenlehre  kann  weder 
vom  Sollen  noch  vom  Müssen  ttrspiünglidi  beginnen;  und  doch  sind  dies 
die  beiden    Punkte,  wozwischen   die  gewöhnlichen  Meinungen   schwanken. 


Drobisch,  Mauritio  Guilielmo,  auctore,  in  univ.  Lips.  P.  P.  O.,  Quae- 
stionum mathematico-psychologicarum  fasciculus  I.    Accedit 
tabula  lithographica.   —   Leipzig,  bei  Leopold  Voss,    1837.    60  S.  in  4. 
Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.    1837,  Nr.  104.     SW.  XII,  S.  761. 

Von  diesem  fasciculus,  welcher  vier  specimina  in  sich  faßt,  haben 
wir  die  erste  Hälfte  (zwei  früher  erschienene  Gelegenheitsschriften)  schon 
in  diesen  Blättern  angezeigt;  es  bleibt  also  nur  noch  übrig,  von  der  letzten 
Hälfte  Bericht  zu  erstatten.  Den  Unterschied  der  Statik  und  Mechanik 
machen  schon  die  Überschriften  bemerklich,  nämlich  durch  den  Zusatz: 
statici  argumenti  beim  ersten  und  zweiten,  mechanici  argumenti  beim 
dritten  und  vierten  specimen.  Es  war  aber  nicht  bloß  wichtig,  diese 
Analogie  mit  der  Körperlehre  zu  zeigen,  soweit  sie  reicht,  sondern  auch 
sie  zu  beschränken,  damit  sie  nicht  über  ihre  wahren  Grenzen  ausgedehnt 
werde.  Die  Art,  wie  der  Hr.  Verf.  dies  im  scholion  der  dritten  Ab- 
handlung dartut,  indem  er  durch  Rechnung  die  Ungereimtheit  vor  Augen 
legt,  welche  aus  der  Übertreibung  folgen  würde,  hat  uns  besonders  inter- 
essiert; ehe  wir  darauf  kommen,  müssen  wir  des  Zusammenhanges  wegen 
einiges  voran  schicken,  was  freilich  die  von  Hrn.  Dr.  gewählte  Darstellung 
nur  unvollkommen  bezeichnen  kann,  da  wir  den  Vortrag  abkürzen  müssen. 
Datis  compluribus  notionibus  contrariis,  a,  b,  c,  .  .  .  animo  simul  propo- 
sitis,  —  obscurantur,  h.  e.  coercentur  omnes  ad  aequilibrii  statum  usque, 
quo  summa  pressionum  omnium  iacturam,  et  singulae  cuiusvis  notionis 
pressio  quotum  iacturae  legitimum,  secundum  leges  siaticas  determinandum, 
aequat.  Fit  autem  transitus  a  statu  libero  ad  hanc  aequilibrii  conditionem 
per  gradus  continuos:  quare  continuam  hanc  claritatis  mutationem  motum 
vocare,  et  de  descensu  notionum  ad  punctum  aequilibrii,  vel  etiam  ipsum 
Urnen  usque  loqui  licebit.  (Hier  folgt  eine  kurze  Erwähnung  der  mechani- 
schen Schwelle  des  Bewußtseins,  im  Gegensatze  der  statischen  Schwelle.) 
His  praemissis  statuamus,  indefinitio  numero  in  animum  intrare  notiones 
contrarias  a,  b,  c,  .  .  .  Designemus  iacturam  per  S,  et  partes  eius  singulis 
notionibus  distribuendas  deinceps  per  q'S,  q"S,  q"'S,  .  .  .  partem  iacturae 


■2  12  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 

elapso  tempore  /  depressam  per  — ,  partes  denique  huius  —  ad  singulas 
notiones  referendas  deinceps  per  n',  n",  o'",  .  .  .  Quo  facto  primum  patet, 
fore  ö'  =  q'S;  o"  =  q"S;  o"'  =  q"'S.  —  lam  vero  subsistamus  in  una 
notione,  v.  c.  a;  cuius  iacturam  elapso  tempore  i  vere  factam  o,  et  partem 
proportionalem  iacturae  integrae  ^6"  appellemus.  Significat  igitur  a  id  cogi- 
tationis,  h.  e.  actionis  cogitandi  quantum,  quod  oppressum  est,  ideoque  ex 
animo  evanuit.  Eo  ipso  vero  modulo,  quo  cogitationes  coercentur  et 
intenduntur,  vires  gignuntur  ad  recuperandum  pristinum  libertatis  statum 
suscitantes.  (Diesen  Hauptpunkt  konnte  freilich  das  vorliegende,  dem 
Kalkül  bestimmte,  Programm  nicht  entwickeln;  und  auch  wir  müssen  ihn 
hier,  als  aus  unseren  früheren  ausführlichen  Darstellungen  bekannt,  vor- 
aussetzen.)    Sic  cogitatio  a  quantitate    o   imminuta   vim   illam  suscitantem 

'J  .  .         .  o 

gradu  —   exercet;    ipsa    igitur   vis   erit  =  —  .  a  ^  o.     Ergo    quantitas   o 
a  a 

duplicein  habet  significatum:  indicat  enim  non  solum  partem  iacturae  factae, 
sed  simul  vim.  lam  vero  eo  sensu,  quo  vis  est,  o  resistit  oneri,  quod 
ipsi  a  iactura  imponit,  h.  e.  actionibus  reliquarum  notionum  infensis. 
Quare  quum  illud  onus  sit  ^  qS,  vis  ad  descendendum  cogens  restat 
=  qS  —  o,  quae  tarnen  proximo  tantum  temporis  momento  dt  hac  quan- 
titate aget.    Haec  igitur  est  vis  acceleratrix  notionis  motae  a.  —  Celeritas 

do 
igitur  simili  modo,  quo  in  mechanica  communi,  per  formulam  v  =  —  ex- 

primi  poterit.    Si  quis  vero   hac  principiorum  similitudine  ad  transferendos 

in  psychologiam  mathematicam  caeteras  formulas  fundamentales  corporum 

d2s 
dv  =  f/dt;   -— —  =  f/'  induceretur,   vehementer  erraret.    (Nun  folgt  Zurück- 

führung  dieser  Formeln  auf  die  Trägheit  der  Körper.)    Sine  dubio  eadem 

rei    conditio    in    mechanica    mentis    esset,    si    cogitatio    notionis    et    imago 

eiusdem  (das  Vorstellen  und  das  Vorgestellte)    re    vera    differrent.     Quod 

utique  non  est  concedendum.   —   Actionis  ad  actum  quasi  transeuntis  ne 

vana  quidem  hie  adest  species:  nihil  enim  est,  ad  quod  vis  transire,  nihil, 

quod,    quasi  manu   missum,    proprio  Marte    motum    continuare    queat.    — - 

dö 
Valent  igitur  in   mechanica   mentis  hae    formulae:    da  =  adt;    et  v  ^  — 

dt 

=  (f)\  e  quibus  apparet,  quantitatem  celeritatis  semper  hie  aequare  quan- 
titatem  acceleratricis.  Dies  wird  für  Mathematiker  vollkommen  ver- 
ständlich sein.  Daß  aber  auch  die  Sache  sich  so  verhalten  müsse,  wird 
ihnen  vollends  klar  werden  durch  das  scholion,  wo  die  falschen  Annahmen 

/  da\ 

dv  =  (qS  —  o)  dt,  und  I  wegen  v  =  --  1 

auch  vdv  =  (qS  —  a)  do 
verfolgt  werden.     Es   kommen    nämlich   Formeln  heraus,    die  eine  oscilla- 
torische    Bewegung    anzeigen,    dergleichen    hier    durchaus    erfahrungswidrig 
sind,    indem    solchergestalt    die    Vorstellungen    sich    ihrem    Gleichgewichte 
nicht  einmal  annähern  würden. 

Ein  anderes  Hilfsmittel  der  Deutlichkeit,    dessen  jeder  Mathematiker 
leicht    entbehren    kann,    das    aber    den    Nicht- Mathematikern    gerade    am 


J.  W.  Semple:  The  metaphysic  of  ethics  etc.  313 

nötigsten  ist,  gewährt  die  lithographierte  Tafel,  wo  das  Sinken  und  Steigen 
der  Vorstellungen  auf  gewohnte  Weise  durch  die  Kurven  versinnlicht 
wird,  welche  den  in  der  Rechnung  vorkommenden  Funktionen  entsprechen. 
Wir  können  nicht  weiter  ins  Einzelne  gehen,  müssen  aber  noch  der 
Schlußanmerkung  des  ganzen  fasciculus  gedenken.  Der  Verf.  hatte  wegen 
Bestimmung  der  Hemmungssumme  bei  verschiedenen  Graden  des  Gegen- 
satzes folgende  Regel  aufgestellt:  iactura  minimam  aequat  summam  produc- 
torum  e  gradibus,  quibus  singula  quaevis  notio  reliquis  Omnibus  contraria 
est,  in  robora  earundem.  Diese  Worte  verteidigend  und  erklärend  fügt 
er  jetzt  hinzu:  impedit  enim  phrasis  ^^singida  quaevis"^  quo  minus  una  ex 
illis,  quae  formari  possunt,  summis  omittatur,  praecipitque,  quod  praecedit, 
vocabulum  „minitnatn'\  eam  eligere  ex  his  Omnibus  summam,  quae  vera 
iactura  est.  Wir  wollen  nun  nicht  fragen,  ob  jener  Ausdruck  wirklich 
eine  deutliche  Vorschrift,  verschiedene  Summen  zu  bilden  und  die  kleinste 
auszuerwählen,  enthalte;  denn  schon  auf  S.  7  finden  wir  jetzt  eine  Ab- 
änderung des  früheren  Textes,  wodurch  dem  Mißverstehen  der  Worte, 
welches  dem  Unterzeichneten  begegnet  war,  vollkommen  vorgebeugt  ist. 
Hr.  Dr.  hat  jetzt  die  sämtlichen  Unterscheidungen,  auf  die  es  ankam, 
vollständig  angegeben;  und  indem  er  bezeugt,  daß  die  nämlichen  Regeln 
sich  im  §  52  des  Buchs:  Psychologie  als  Wissenschaft  usw.,  schon  be- 
finden, können  wir  diese  Übereinstimmung  auch  unsererseits  nur  bestätigen, 
ohne  daß  es  nötig  wäre,  über  kleine  Abweichungen  des  Vertrags  zu 
rechten. 


Semple,  J.  W.,  Advocate,  The  metaphysic  of  ethics;  by  Immanuel 
Kant;  translated  out  of  the  original  German,  with  an  intro- 
duction  and  appendix.   —   Edinburg,    bei  Thomas   Klarck  (und   zu 
Hamburg  bei  Nestler  &  Melle),    1836.     CXVIH  u.  378  S.     Oct. 
Gedruckt  in:  Gott,  gel.  Anz.   1837,  Nr.  120.     SW.,XIII,  S.  629. 

Besser  zu  spät  als  niemals!  Die  Kantischen  Schriften,  denen  wir  in 
unseren  Jugendjahren  eine  wesentliche  Beihilfe  für  unsere  Studien  zu  ver- 
danken hatten,  finden  jetzt  endlich  wenigstens  teilweise  in  Edinburg  soviel 
Aufmerksamkeit,  daß  die  vorliegende,  offenbar  sorgfältige  Übersetzung,  in 
allem  dort  üblichen,  bei  uns  seltenem  typographischen  Glänze  erscheinen 
konnte.  Freilich  nicht  das  Hauptwerk,  die  Kritik  der  reinen  Vernunft; 
auch  nicht  die,  für  die  spätere  Geschichte  der  Philosophie  so  wichtig  ge- 
wordene Kritik  der  Urteilskraft,  —  aber  doch  das  kleine,  sehr  schätzbare 
Büchlein  unter  dem  Titel:  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten;  dann 
von  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft  ein  beträchtlicher  Teil  (es  fehlt 
das  Ende  des  ersten  Hauptstücks,  nämlich  was  bei  Kant  die  Überschriften 
trägt:  von  der  Deduktion  der  Grundsätze  der  reinen  praktischen  Vernunft ; 
und:  von  dem  Befugnisse  der  reinen  Vernunft  im  praktischen  Gebrauche,  zu 
eifier  Erweiterung  die  ihr  im  spekulativen  für  sich  nicht  tnöglich  ist ;  femer 
fehlt  das  zweite  Hauptstück:  von  dem  Begriffe  eines  Gegenstandes  der  reinen 
Praktischen     Vernunft;    dagegen    ist   das    dritte    Hauptstück,    von    den    Trieb- 


,  j  .  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


federn    der    reinen  praktischen    Vernunft,  in   die  Übersetzung  aufgenommen; 
das  Nachfolgende    fehlt   wiederum):   hierauf   ein    Stück   von   Kants   meta- 
physischen Anfangsgründen  der  Rechtslehre,  nämlich  die  Einleitung;  und 
alsdann  noch  die  Tugendlehre:   dies  findet  sich   hier  beisammen,   und  wird 
vorbereitet    durch    eine    introduction,    containing   some   account  of  the  in- 
quiries  into  the  reach  and  extent  of  the  a  priori  Operations  of  the  human 
mind.      Natüdich    ist    diese    Vorbereitung    darauf    berechnet,    die    großen 
Lücken    der  Übersetzung    einigermaßen    zu  füllen;    daher  kommt  uns   hier 
überall   das  Bekannte  aus  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  entgegen;   einige 
Sätze,  die  wir  ausziehen  wollen,  können  als  Proben  der  Schreibart  dienen. 
What  truth  soever  is  necessary,  and  of  universal  extent,  is  derived  to  the 
mind    from    its    own    Operation,    and    does    not    rest    on    Observation    and 
experience;    as,  conversely,  what  truth  or  perception  soever  is  present  to 
the  mind,  with  a  consciousness,  not  of  its  necessity,  but  of  its  contingency, 
is  ascribable  not  to  the  original  agency  of  the  mind  itself,  but  derives  its 
origin    from    Observation    and    experience.      Daraus    könnte    nun    sogleich 
geschlossen    werden,    daß   die  räumlichen  und  zeitlichen  Gestaltungen  der 
Dinge    als    zufällig,    lediglich    in    der    Beobachtung    ihren    Grund    haben; 
weil   aber  Kant    einen  Schlußfehler   begangen   hat,    der  so  anfängt:    man 
könne  sich  zwar  die  Dinge  im   Räume,  aber  nicht  den   Raum   wegdenken 
(wogegen  wir  längst  erinnert  haben,   daß  man  zwar  die  Wirklichkeit,  aber 
nicht  die  Möglichkeit  der  einmal  gegebenen  Dinge,  und   dauim  auch  nicht 
den  Raum  wegdenken   könne):   so  hebt  nun   der  Verf.   mit  dem  Satze  an: 
Space    is   a  necessary  representation ;    ohne   auch  nur  dies,    was  bei  Kant 
das  zweite  ist,  vorzubereiten   durch  den  ersten  Kantischen  Satz,   in  welchem 
eine  sehr  wichtige   Wahrheit  liegt;   damit  gewisse  Empfiridungen  auf  etwas 
außer    mir    bezogen   werde,   dazu   muß   die  Vorstellung   des  Raumes    zum 
Grunde  liegen.      Die   Frage,   kann   man   Raum   und   Zeit  unmittelbar  emp- 
finden? ist  weit  verschieden  von  den  übereilten  Schlüssen,  die  man  daran 
geknüpft  hat;  was  wir  aber  beim  Verf.  finden,  verrät  gerade  die  nämliche 
Zuversicht    der  Einseitigkeit,    die    bei   uns  lange  genug  in   den   Kantischen 
Schulen   einheimisch  'war.    The  sensory  exhibited  two  unalterable  intuitions, 
which  by  their  necessity  and  universality  of  extent,    we  discovered  to  be 
a  priori ;   and   in  the    like   manner,    by   virtue  of  the  same  postulate,   we 
instantly   become   aware    that   the  understanding  possesses  a  standing  ne- 
cessary   a  priori    representation,    that    of   myself,    or  I.    —    The    sensory 
receives  impressions  and  modifications  of  various  kinds.    These  it  arranges 
by  virtue  of  its  laws,  according  to  a  System  of  externality  and  succession; 
(woher    nun    bei   diesen   stets   gleichen  Gesetzen    die  Ungleichheit   dessen, 
was  mit  verschiedener  Gestaltung  sinnlich  gegeben  wird?)  but  impressions 
are    quite    detached    and   vague   as   they   enter  the  sensory;    the  most  be 
combined  by  the  understanding,  so  as  to  constitute  knowledge  of  an  object. 
The  orange  I  behold  I  figure  to  myself  as  one:  but  the  different  Clements 
of  that   objective    perception,    the  smell,   colour,  weight  etc.  have  entered 
through    as   many   different  gateways  into  the  mind,   and  it  is  piain  that, 
so   far  as  our  receptive  part  is  concerned,  they  lie  scattered  and  disjointed 
on  its  surface.     That  which  is   represented  is  notwithstanding  one;   whence 
we  infer  that  the  understanding  must  have  effected  a  combination  of  these 


J.  W.  Semple :  The  metaphysic  of  ethics  etc.  315 


diverse  intuitions :  —  und  nun  geht  mit  bekannter  Dreistigkeit  der  Schluß 
fort  bis  zu  einem  act  of  his  own  spontaneity,  ohne  zu  untersuchen,  warum 
diese  vermeinte  Spontaneität  nicht  beUebig  die  vorgeblich  zerstreuten  Merk- 
male verschiedener  sinnlicher  Dinge  durcheinander  wirft,  —  und  etwa 
den  Duft  der  Orangen  an  die  Gestalt  der  Birne,  oder  den  Geschmack 
der  Birne  an  die  Gestalt  des  Apfels  knüpft,  oder  umgekehrt?  Zu  rühmen 
ist  übrigens  die  Lebendigkeit,  womit  der  Verf.  diese  Dinge  vorträgt.  Nicht 
wenig  gefällt  er  sich  in  der  Lehre  von  den  Kategorien.  Da  findet  er 
abgeleitete  oder  Quasi-Kategorien.  When  causality  is  attributed  to  substance, 
the  notion  power  emerges.  The  definition  of  power  (which  Hume  called 
in  question)  therefore  is,  that  it  is  causality  considered  as  residing  in 
substance.  Sollte  wohl  Hume  durch  diese  Namenerklärung  gelernt  haben, 
wie,  und  mit  welcher  Notwendigkeit  aus  der  Ursache  die  Wirkung,  und 
wie  aus  dem,  was  etwa  gewirkt  worden,  unsere  Kenntnis  dieses  Wirkens 
hervorgehe?  Aber  die  Liebhaberei  des  Verfs.  strebt  weiter.  Kant  seems 
at  one  time  to  have  intended  giving  a  complete  chronicle  of  all  composite 
a  priori  notions.  It  is  very  much  to  be  regretted  that  he  never  completed 
this  gallery  of  the  intellectual  anliqrces.  Such  a  museum  would  have  been 
a  favourite  and  frequented  study  by  all  future  metaphysic  dileüanti 
From  the  combination  of  the  category  with  ideas  spring  the  various  cogi- 
tations  treated  of  in  psychology,  theology  and  cosmology.  Er  wendet 
sich  indessen  bald  auf  die  gebahnte  Straße  zurück.  Da  folgt  also  auf  die 
Kategorien  der  Schematismus;  auf  den  Schematismus  folgen  die  Grund- 
sätze des  reinen  Verstandes.  Es  fehlt  auch  nicht  an  hochtönenden  Über- 
schriften; so  lesen  wir  oben  über  mehreren  Blättern  mit  großen  Buch- 
staben: ontology,  psychology,  cosmology,  and  theology,  are  impossible. 
Da  jedoch  dies  alles  vollkommen  bekannt  ist,  so  wollen  wir,  anstatt  uns 
dabei  aufzuhalten,  bemerken,  daß  der  Verf.  auch  auf  die  Fichtesche  Lehre 
einen  Blick  zu  werfen  scheint,  freilich  nur,  um  sogleich  mit  dem  Be- 
kenntnis der  Unbegreiflichkeit  sich  wieder  abzuwenden.  I  am  conscious 
of  myself,  is  a  thought  containing  a  twofold  I.  I  as  subject,  and  I  as 
object.  How  it  is  possible  that  I,  the  cogitant,  can  become  an  object 
of  my  own  intuition,  and  so  contradistinguish  myself  from  myself,  is  quite 
inexplicable,  and  yet  a  most  undoubted  fact.  Wie  sicher  aber  auf  dem 
Kantischen  Boden  der  Verf.  sich  fühlt,  davon  können  wir  nicht  umhin, 
eine  auffallende  Probe  anzuführen;  besonders  da  ganz  offenbar  die  Absicht 
an  den  Tag  gelegt  ist,  daß  sie  auffallen  soll.  Nicht  bloß  die  letzten 
Seiten  der  Introduktion  sind  überschrieben:  of  the  necessary  falsehood  of 
every  other  System  (welches  wohl  schon  hinreichen  möchte,  um  die  Stärke 
eines  neu  erwachten  Parteigeistes  zu  bezeugen),  sondern  der  Schluß  lautet 
folgendermaßen:  iThe  System  of  metaphysic  ethic  is  now  laid  before  the 
reader;  and  the  falsehood  of  every  other  System  of  metaphysic,  which 
may  usurp  the  name  of  science,  will  become  patent,  when  this  Standard 
test  is  brought  to  bear  upon  it,  —  How  is  synthetical  a  priori  knowledge 
possible:  for  the  future  metaphysic  must  first  confute  Kants  answer  to 
the  question:  how  geometry  and  physical  science  are  atteined:  it  must 
next  give  a  different  and  satisfactor}^  answer  to  these  questions,  and  so 
pave  the  way  for  the  march  of  the  new  coming  (?)  metaphysic.     Where 


T  j5  J-  f.  Herbarts  Rezensionen. 


this  is  not  done  (and  iii  o  case  of  ihis  kind^  silence  is  conjession)  the  System  must 
needs  of  necessity  be  false :  and  the  advantage  of  knowing  this  beforehand 
is,  that  hence  forward  mankind  may  spare  themselves  the  lost  time  and 
trouble  of  reading  theories  like  these  of  Fichte,  Schelling,  Hegel,  or 
Herbart,  which,  being  founded  on  wilfui  mistakes,  keep  moving  ever 
after  through  a  sad  labyrinth  of  inextricable  errors.  Wir  ermangeln  nicht, 
diese  Mahnung  des  Hrn.  Advokaten  Semple  durch  gegenwärtige  Blätter 
zur  allgemeinen  Kunde  zu  bringen,  damit  nicht  Stillschweigen  jemanden 
zur  Präklusion  führen  möge.  Unsererseits  haben  wir  kein  Stillschweigen 
mehr  zu  brechen  über  Dinge,  worüber  längst  die  Untersuchungen  öffent- 
lich bekannt  sind,  wovon  ein  Teil  zur  Methode  der  Beziehungen  Anlaß 
gab.  In  der  Tat  hatte  der  Unterzeichnete  nicht  erwartet,  eine  solche 
Höflichkeit,  wie  die  vorstehende,  von  Edinburg  aus  zu  empfangen;  es 
muß  wohl  dort  nicht  bekannt  geworden  sein,  daß  ihn  sein  Aufenthalt  und 
sein  Lehramt  in  Königsberg  beinahe  ein  Vierteljahrhundert  lang  in  den 
Fall  gesetzt  haben,  sich  fortwährend  in  besonderem  Grade  die  Hauptpunkte 
der  Kantischen  Lehre  zu  vergegenwärtigen.  Es  gibt  keinen  andern  Ort, 
von  woher  in  dieser  Hinsicht  eine  stärkere  und  wirksamere  Erinnerung 
kommen  könnte.  Übrigens  wurden  schon  im  Jahre  1 808  hier  in  Göttingen 
die  Hauptpunkte  der  Metaphysik  gedruckt,  in  welchen  folgende  Zeilen  zu 
lesen  sind  S.  6: 

„Soll  es  Synthesis  a  priori  geben,  so  muß  sich  das  Bedürfnis  der- 
selben, ehe  sie  vollzogen  wird,  durch  einen  Widerspruch  verraten;  und 
in  diesem  allein  kann  ihre  Rechtfertigung  liegen.  Denn:  sei  B  dem 
A  durch  Synthesis  a  priori,  also  notwendig,  zu  verbinden:  so  muß  A 
ohne  B  unmöglich  sein.  Die  Notwendigkeit  liegt  in  der  Unmöglichkeit 
des  Gegenteils.  Unmöglichkeit  eines  Gedankens  aber  ist  Widerspruch." 
Ohne  weitere  Erläuterung  (die  nicht  erst  hier  soll  gegeben  werden)  liegt 
in  diesen  Worten  die  Andeutung,  daß  die  Aufstellung  jenes  Fragepunkts 
zwar  als  ein  wichtiges  Verdienst  Kants  betrachtet,  seine  Beantwortung 
hingegen  als  unpassend  angesehen  wird;  einem  Buche  aber,  welches 
lediglich  die  Kantischen  Lehren  wiederholt,  kann  überall  nicht  eingeräumt 
werden,  daß  ihm  zukomme,  auf  neue  Untersuchungen  dieses  Gegenstandes 
anzutragen.  Wir  maßen  uns  nicht  an,  zu  beurteilen,  inwiefern  eine  solche 
Chrestomathie  aus  den  Kantischen  Schriften,  wie  die  vorliegende,  für 
Edinburg  zweckmäßig  sein  möge;  es  mag  wohl  eben  so  schwer  sein,  von 
hier  aus  über  den  dortigen  Zustand  der  Wissenschaft  zu  urteilen,  als  es 
dort  unsicher  zu  sein  scheint,  über  die  Lage  der  Philosophie  in  Deutsch- 
land abzusprechen. 


Dr.  H.  G.  Brzoska :    Die  Notwendigkeit  pädagog.  Seminare  auf  der  Universität.      317 


Brzoska,  Dr.  Heinr.  Gust,  Prof.  an  der  Universität  zu  Jena,  Die  Not- 
wendigkeit pädagogischer  Seminare  auf  der  Universität, 
und  ihre  zweckmäßige  Einrichtung.  —  Leipzig,  bei  Barth,  1836. 
XII  u.  350  S.     Oct. 

Gedruckt  in:    Gott.  gel.  Anz.   1837,  Nr.  152.     SW.  XII,  S.  770. 

Praktische  Erziehung  in  einem  kleinen  Kreise  so  zu  veranstalten,  daß 
dadurch  jungen  Männern,  die  sich  dem  Lehrstande  \\ädmen,  Gelegenheit 
zur  nötigen  Vorübung  gegeben  werde,  ist  die  Aufgabe  eines  pädagogischen 
Seminars.  Möglichst  klein  muß  dieser  Kreis  sein,  schon  deshalb,  weil 
jede  Übung,  imd  so  auch  die  pädagogische,  vom  Einfacheren  zum  Zu- 
sammengesetzteren fortschreiten  soll;  und  weil  aus  der  Anhäufung  einer 
größern  Menge  von  Zöglingen  allemal  Schwierigkeiten  entstehen,  welche 
teils  auf  die  Disziplin  drücken,  teils  den  Unterricht  in  ein  gewisses  Geleise 
hineinbringen,  aus  welchem  er,  wo  es  auf  Verbesserung  der  Lehrmethoden 
ankommt,  nicht  leicht  herausgehen  kann.  Auch  in  einem  kleinen  Kreise 
noch  bleibt  die  Schwierigkeit,  zugleich  für  die  Zöglinge,  und  für  zweck- 
mäßige Übung  der  Seminaristen  zu  sorgen,  sehr  groß;  und  man  wird  sie 
niemals  ganz  überwinden,  wenn  einerseits  die  Zöglinge  nach  dem  Belieben 
der  Eltern  ein-  und  austreten,  andererseits  nicht  immer  junge  Männer 
genug  in  der  Nähe  sind,  welchen,  als  Seminaristen,  man  den  Unterricht 
in  den  verschiedenen  Lehrfächern  anvertrauen  kann.  Letzteres  gilt  ins- 
besondere da,  wo  vom  gelehrten  Unterricht  die  Rede  ist,  denn  dazu  ist 
unstreitig  Gelehrsamkeit  die  erste  —  und  doch  nicht  die  einzige  Be- 
dingung, denn  das  pädagogische  Talent  muß  hinzukommen.  Einem 
Schriftsteller  nun,  der  von  der  Einrichtung  eines  pädagogischen  Seminars 
handelt,  kann  es  leicht  begegnen,  daß  er  Forderungen  aufstellt,  die  sich 
auf  dem  Papiere  gut  ausnehmen,  in  der  Praxis  aber  kaum  ausführbar 
sind;  Gleichwohl  aber  darf  man  ihm  dies  nicht  übel  deuten;  denn  wenn 
ihm  kein  Ideal  vorschwebt,  läuft  er  nicht  bloß  Gefahr  ins  Kleinliche  zu 
verfallen,  sondern  auch  in  seinen  Gedanken  selbst  an  solchen  Schwierig- 
keiten zu  kleben,  die  wirklich  nicht  überall  und  nicht  immer  vorhanden 
sind,  vielmehr  unter  günstigen  Umständen  und  bei  gutem  Willen  sich  in 
der  Tat  wohl  heben  lassen. 

Dem  Vorwurfe,  die  Forderungen  zu  hoch  zu  spannen,  wird  das  an- 
gezeigte Buch  schwerlich  entgehen.  Darum  wollen  wir  sogleich  eine  ge- 
wisse, sehr  rühmliche  Eigentümlichkeit  desselben  bemerkiich  machen,  wo- 
durch das  Gewicht  eines  solchen  Vorwurfs  großenteils  aufgehoben  wird. 
Hr.  Prof.  Brzoska  redet  nämlich  in  diesem  Buche  keineswegs  allein; 
sondern  er  verstärkt  seine  Stimme  durch  die  Stimmen  sehr  vieler  anderer 
Schriftsteller,  aus  verschiedenen  Zeiten  und  Kreisen;  so  daß  man  wirklich 
überrascht  wird  durch  die  Gewalt  der  Mahnungen,  die  sich  von  allen 
Seiten  vernehmen  lassen.  Da  hört  man  bald  Graser,  Gedicke,  Pölitz, 
Stephani,  bald  Plato,  Aristoteles,  Quintilian,  Melanchthon,  Luther; 
da  stehen  nebeneinander  Muretus,  Ruhnken,  Ernesti,  Wolf,  Ruh- 
kopf, Creuzer,  Eichstädt,  Jean  Paul,  Hegel,  Koch,  vak  Heusde,  — 
doch   wir  würden   ein  allzulanges  Register  hersetzen,   wenn   wir  auch   nur 


l8  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


die  Namen  derjenigen  angäben,  welche  hier  nicht  bloß  zitiert,  sondern 
von  welchen  in  der  Tat  willkommene  und  lesenswerte  Stellen  mitgeteilt 
sind.  ]\Iag  das  immerhin  gelehrter  Luxus  sein:  er  ist  nicht  lästig  und 
nicht  überflüssig,  wo  es  darauf  ankommt,  eine  Tätigkeit  zu  wecken,  um 
große  Schwierigkeiten  zu  überwinden.  Und  man  wird  nicht  leugnen 
können,  daß  Hr.  Br.  sich  durch  diesen  Umfang  einer  Gelehrsamkeit,  die 
er  zu  brauchen  weiß,  empfiehlt,  und  gegen  den  Verdacht  der  Einseitig- 
keit sichert. 

Die    Vorrede    sagt,    Hr.    Br.    habe    im    pädagogischen    Seminar    zu 
Königsberg  die  Anregung  zu  seinen  pädagogischen  Studien  erhalten.    Damit 
kann   es   wohl   bestehen,   daß  er  nicht  in  allen  Punkten    mit  dem  Unter- 
zeichneten übereinstimmt,   und  selbst  die  Abweichung,  wäre  sie  auch  größer 
als   sie  ist,    könnte  als  Beweis  des  eigenen  Denkens  zur  Empfehlung  bei- 
tragen.    Er   fordert   ein    theoretisches  und  praktisches  Studium  der  Päda- 
gogik,   und    hiermit   auf   den  Universitäten   nicht   bloß   pädagogische  Vor- 
lesungen,  sondern  auch  ein  pädagogisches  Seminar.     Im  ersten  Teile  des 
Buchs   wird    die  Notwendigkeit    eines   solchen  theoretisch  aus  dem  Wesen 
der  Pädagogik    entwickelt;    im  zweiten  praktisch  und  erfahrungsmäßig;    im 
dritten    werden    besondere    Vorteile    angegeben,    die    mit    der    Errichtung 
solcher   Seminare    verbunden    seien;    im    vierten    ist   von   der  Einrichtung 
derselben  die  Rede.    Vom  ersten  Teile  wollen  wir  nur  die  Einteilung  der 
Pädagogik   in   ihre  einzelnen  Doktrinen  kurz  anführen:    Encyklopädie  und 
Methodologie    der    pädagogischen    Wissenschaften;    allgemeine    Pädagogik; 
das     Unterrichtswesen     (Didaktik     und     Methodik);     Religions- Unterricht; 
Schulkunde;    Schuldisziplin;    Schulrecht;    Erziehung  in  Familien,    Pensions- 
Anstalten  und  Waisenhäusern;    Geschichte  der  Erziehung  und  des  Schul- 
wesens;   Bücherkunde    der   Pädagogik;    Staatspädagogik.     Auf  diese   Aus- 
breitung   von   Disziplinen   bezieht    sich   im   zweiten  Teile   die  Klage,    daß 
der   Vortrag    der   Pädagogik    auf   den   Universitäten    zu    kurz   sei.     Diese 
Sache  liegt  anders.    So  wenig  auf  Quarta  die  Lektionen  der  Prima  passen, 
ebensowenig   kann   in    den  Jahren   des  akademischen  Studiums  schon  das 
ganze  Gewicht  teils  dessen,  was  sich  auf  Erfahrungen  des  späteren  Lebens 
bezieht,  teils  der  Konsequenzen,  die  aus  einer  Wissenschaft  in  die  andere 
übergehen,    fühlbar  gemacht  werden.     Nicht  auf  die  Menge  der  Vorträge 
kommt  es  an,   sondern  auf  die  Vorbildung  und  Aufmerksamkeit,  die   dazu 
mitgebracht  wird.    Staatspädagogik  nützt  denen  nicht,  welche  vom  Organis- 
mus  des  Staats,    von    seinen  Behörden    und  Ständen   noch  wenig  wissen; 
und  was  die  allgemeine  Pädagogik  anlangt,  so  hängt  der  Vortrag  und  das 
Verstehen   derselben   so   genau   mit   praktischer   Philosophie   und  Psycho- 
logie zusammen,  daß,  wenn  hier  an  der  richtigen  Verbindung  etwas  fehlt, 
auch   durch    die   größte  Weitläufigkeit    der   Mangel   nicht   gedeckt   werden 
kann.     Leicht   mag   es   denen,    welche   nicht  gehörig  vorbereitet  kommen, 
begegnen,    den  Vortrag  so  zu  hören,    als  ob  er  sich  recht  füglich  in  eine 
andere,    ihnen   bekanntere  Sprache   übersetzen   ließe;    den   systematischen 
Gang  im  Auge  zu  behalten,  ist  manchem  zu  beschwerlich. 

Die  dritte  Abteilung  macht  bemerklich,  daß  mancherlei  Spezielles, 
namentlich  Monographien  über  einzelne  Bildungsmittel,  Charakteristik  der 
Individualitäten    und   Sammlung    erworbener   Erfahrungen,    am    besten    in 


Dr.  K.  Vogel :  Schulatlas  mit  Randzeichnungen.  31g 


pädagogischen  Seminaren  gedeihen.  Wir  würden  hierin  noch  sicherer, 
als  schon  jetzt  der  Fall  ist,  mit  dem  Verf.  übereinstimmen,  wenn  uns 
nicht  eine  Stelle  in  der  vierten  Abteilung  Bedenken  erregte.  Da  finden 
sich  neben  recht  guten  Angaben  über  die  Arbeiten  der  Seminaristen  auch 
kurze  Äußerungen  über  das,  was  den  Grund  und  Boden  eines  päda- 
gogischen Seminars  ausmachen  muß,  die  bei  aller  Kürze  gar  sehr  ins 
Große  gehen.  Mit  dem  Seminar  müsse  eine  gelehrte  Unterrichtsanstalt, 
alle  Arten  von  Bürgerschulen,  mit  Einschluß  einer  Anstalt,  worin  der  Unter- 
richt wie  in  den  Dorfschulen  erteilt  werde,  eine  vollständige  Erziehungsanstalt 
für  höhere  und  niedere  Stände  verbunden  sein.  Die  Unterrichtsanstalten 
sollen  auch  nicht  bloß  Knabenschulen  sein,  sondern  nebenan  müssen  noch 
Mädchenschulen  sein;  —  der  Direktor  des  Seminars  müsse  zugleich 
Direktor  aller  zu  demselben  gehörenden  Schulanstalten  sein.  Diese  Größe 
(kaum  erträglich  für  den  Direktor  selbst,  noch  weniger  aber  für  seine 
Mitarbeiter)  möchte  wohl  das  Gegenteil  der  von  uns  verlangten  Kleinheit 
werden.  Je  größer,  je  schulmäßiger,  desto  mehr  würde  die  Eigentümlich- 
keit des  Seminars  verloren  gehen.  Je  mehr  das  Bedürfnis  des  Unter- 
richts für  die  Kinder  vorwiegt,  desto  mehr  erneuert  sich  der  Druck,  der 
Drang,  den  alle  Schulen  empfinden,  wo  man  heute  die  Bewegung  fort- 
setzen muß,  in  die  man  gestern  geraten  war.  Man  kann  die  ausgefahrenen 
Geleise  nicht  verlassen;  man  hat  Massen  vor  sich,  anstatt  Individuen  zu 
beobachten.  Doch  es  ist  nicht  nötig,  dies  weiter  auszuführen.  Päda- 
gogische Seminare  werden  allemal  zuerst  nach  den  Ansichten  derjenigen 
sich  richten,  von  denen  sie  angeordnet  und  geleitet  werden;  späterhin 
werden  sich  Notwendigkeiten  geltend  machen,  auf  die  man  nicht  gerechnet 
hatte.  Der  Verf.,  sollte  er  eine  Anstalt  nach  seinem  Sinne  stiften,  würde 
bald  einen  Wald  neben  sich  aufwachsen  sehen,  der  ihm  zu  dicht  werden 
könnte.  Aber  zusammenstellen,  was  alte  und  neue  Pädagogen  geschrieben 
haben,  es  mit  Kraft  und  Feuer  vortragen,  das  Gefühl  des  pädagogischen 
Bedürfnisses  anregen:  das  ist  ihm  in  solchem  Grade  gelungen,  daß  man 
hierin  mehr  von  ihm  erwarten  darf.  Wir  erfahren,  daß  er  eine  Art  von 
pädagogischer  Bibliothek  beabsichtige;  ein  literarisches  Unternehmen,  wozu 
ihm   die   Mitwirkung  tüchtiger  Männer  zu  wünschen  ist. 


Vogel,  Dr.  K.,  Schulatlas  mit  Randzeichnungen.  —  Leipzig  1837. 

Gedruckt  in:  Brzoskas  Centralbibliothek  für  Pädagogik   1838,  Nr.  5. 

In  Willmanns  Herbarts  pädag.  Schriften  II,  S.   273. 

Dieser  Atlas  läuft  zwar  wohl  Gefahr,  in  Bezug  auf  die  ihm  eigen- 
tümlichen arabeskenartigen  Einfassungen  von  einigen  strengen  Richtern 
für  eine  zierliche  Spielerei  erklärt  zu  werden.  Auch  mögen  ästhetische 
Kritiker  fragen,  ob  man  eine  Landkarte  für  einen  Gegenstand  halte,  der 
sich  zu  Verzierungen  eigne?  Unbefangene  Beurteiler  werden  jedoch  hier 
den  Ernst  im  Spiele  und  im  Zierlichen  das  Nützliche  erkennen.  Bekannt 
genug  ist  die  Schwierigkeit,  beim  geographischen  Unterricht  die  jungem 
Schüler  in  eine  zweckmäßige  Tätigkeit   zu  setzen,  welche  im  bloßen  Aus- 


0  20  J-  ^'   Herharts  Rezensionen. 


wendiglernen  der  Namen  nicht  bestehen  kann.  Eine  von  den  Bedingungen, 
die  Schwierigkeit  zu  haben,  besteht  nun  gewiß  darin,  den  Schülern  stets 
den  Gedanken  gegenwärtig  zu  halten,  der  Boden,  welchen  die  Karte  an- 
deutet, sei  in  mannigfaltiger  Verschiedenheit  bewachsen,  belebt,  bewohnt, 
benutzt  und  teilweise  erfüllt  von  Denkwürdigkeiten  aus  früherer  Zeit. 
Hieran  zu  erinnern  dienen  die  bunten  Einfassungen,  und  gerade  das 
Bunte,  wodurch  das  Auge  bald  hierhin  bald  dorthin  gezogen  wird,  ver- 
bunden mit  dem  Ausdrucksvollen  und  Kontrastierenden,  was  man  aus 
dem  Mancherlei  nur  allmählich  herausfindet,  gewährt  die  Vorstellung  eines 
reichen  Vorrates,  wonach  der  Reisende  in  den  Ländern  würde  zu  suchen 
haben. 

Hr.  Dr.  Vogel  hat  sich  auf  ein  Wort  von  mir  berufen:  die  Geo- 
graphie sei  eine  assoziierende  Wissenschaft  (Umriß  §  269);  und  in  der  Tat 
dient  jene  arabeskenartige  Einfassung,  Gegenstände  der  Zoologie,  Botanik, 
Geschichte  mit  dem  eigentlich  Geographischen  in  Verbindung  zu  bringen. 
Darf  ich  Sie  oben  an  die  vier  Worte  meiner  Pädagogik  erinnern:  Klar- 
heit, Assoziation,  System,  Methode  —  so  liegt  darin  die  Bemerkung,  die 
Klarheit  des  Einzelnen  solle  der  Assoziation  vorangehn,  und  die  syste- 
matische Zusammenfassung  des  Ganzen  solle  denselben  nachfolgen.  Was 
ist  nun  dasjenige  Einzelne,  dessen  klare  Auflassung  die  Schüler  schon 
gewonnen  haben,  oder  wenigstens  jetzt  gewinnen  müssen,  falls  es  teilweise 
früher  nicht  möglich  war?  Der  Schulatlas  nennt  im  Vorworte  Konfiguration, 
Elevation,  Negation,  Animalisation,  Population  als  dasjenige,  was  er  ver- 
einen will.  Soll  ich  mir  dies  als  einstimmig  mit  meinen  Grundsätzen 
auslegen:  so  sind  Übungen  in  Auffassung  der  Konfiguration  und  Elevation 
dem  geographischen  Unterrichte  schon  vorausgegangen;  desgleichen  hat 
der  Schüler  auch  schon  die  nötigen  botanischen  und  zoologischen,  ja  wir 
wollen  hinzusetzen,  die  ersten  technologischen  und  überhaupt  auf  mensch- 
lichen Verkehr  sich  beziehende  Vorkenntnisse ;  nun  kommt  die  Geographie, 
um  jenes  alles  nach  ihrer  Art  zu  verbinden;  und  mit  ihr  kommen  die 
ersten  historischen  Notizen  über  die  Vorzeit  jenes  Landes,  welche  sich 
nicht  füglich  vorausschicken  lassen,  aber  jetzt  auch  nicht  weiter  hinaus- 
geschoben werden  dürfen.  So  denke  ich  mir  den  ersten  geographischen 
Kursus,  während  späterhin  die  verschiedenen,  hier  assoziierten  Lehrfächer, 
ihren  eigenen  und  zwar  systematischen  Gang  von  neuem  antreten  werden, 
während  auch  die  Geographie  selbst  ihren  zweiten  Kursus  machen  wird, 
zu  welchem  sie  einen  weit  vollständigeren,  aber  nicht  mit  Randzeichnungen 
versehenen  Atlas  nötig  hat.  Aber  der  vorliegende  kleine  Atlas  gehört 
dem  ersten  Kursus  des  geographischen  Unterrichts,  und  zu  diesem  würde 
ich  ihn  empfehlen  —  wenn  nicht  eine  Zeile  des  Vorworts  widerspräche,  oder 
vielleicht  nur  schiene  zu  widersprechen,  nach  welchem  der  Atlas  für  den 
ers/en  geographischen  Unterricht  keineswegs  bestimmt  sein  soll!  Möglich, 
daß  der  erste  Unterricht  kein  zusammenhängender  Kursus  werden  soll; 
doch  vermisse  ich  hierüber  die   Erläuterung. 

Ferner  die  erste  Bedingung,  unter  welcher  eine  Landkarte  dem 
Schüler  nützlich  wird,  ist  doch  wohl  die  treue  und  feste  Auffassung  der 
merkwürdigen  Punkte  in  ihrer  gegenseitigen  Lage.  Für  den  Jüngern  Schüler 
ist  hier  das  Hilfsmittel  der  Länge  und  Breite  viel  zu  weit  hergeholt.     Es 


Hartenstein :  Über  die  neuesten  Darstellungen  der  Herbartschen  Philosophie.      3  2  I 


kommt  auf  Schätzungen  durchs  Längenmaß  an,  auf  Übungen  im  Anschauen. 
Wird  hier  nicht  der  Grund  gelegt,  so  dringt  nicht  in  den  Geist  ein,  was 
die  Konfiguration  der  Landkarte  dem  Auge  darbot.  Wollte  man  sagen, 
darum  brauche  sich  nicht  der  Schulatlas  zu  bekümmern,  sondern  das  sei 
die  Sache  der  Lehrer  und  Schüler:  so  wäre  zu  antworten,  daß  ebenso- 
gut auch  der  Lehrer  die  Vorzeigung  naturhistorischer  Bilder,  vollends  die 
Anführung  historischer  Namen  und  Jahreszahlen  besorgen  könne.  Über- 
nimmt einmal  der  Schulatlas,  das  Lebende  auf  der  Oberfläche  der  Erde 
durch  seine  Randzeichnungen  zu  vergegenwärtigen:  so  liegt  ihm  weit 
näher  (und  man  darf  beinah  von  ihm  fordern,  daß  er  das  Nötigste  nicht 
unterlasse,  nämlich:)  Die  Raumbestimmungen,  worauf  die  Konfiguration 
und  Elevation  beruht,  gehörig  einzuprägen.  Darauf  muß  auch  der  Schüler, 
als  auf  seine  eigentlichste  geographische  Beschäftigung  und  schuldige  Arbeit 
hingewiesen  werden.  Es  geht  nun  zwar  nicht  an,  die  gegenseitige  Lage 
sämtlicher  merkwürdiger  Punkte  durch  Verbindungslinien  derselben  und 
durch  Angabe  der  dabei  entstehenden  Winkel  auf  einer  Landkarte  aus- 
zudrücken. Aber  es  geht  sehr  füglich  an,  hierzu  die  Umrisse  eines 
Meeres  und  die  darauf  vorkommenden  Inseln  und  Vorgebirge  zu  be- 
nutzen. 

Hätte  man  eine  Karte  für  die  Nordsee  und  Ostsee,  eine  andere  für 
das  Mittelländische  Meer,  eine  dritte  für  das  Indische  Meer,  eine  vierte 
für  den  mittleren  Teil  von  Amerika  —  wählte  man  zweckmäßig  die  her- 
vorragenden Punkte,  deren  Verbindungslinien  leicht  faßliche  Dreiecke  er- 
geben (solche,  die  nahezu  gleichseitig,  gleichschenkelicht,  rechtwinkelicht  aus- 
fallen würden),  zeichnete  man  einige  dieser  Dreiecke  deutlich  hin  und  be- 
gnügte sich  bei  andern  durch  bloße  Andeutung  der  Winkel,  verbände 
man  hiermit  noch  ein  paar  Karten  ohne  Bezeichnung  der  politischen 
Grenzen,  bloß  für  Gebirgszüge  und  Flußgebiete,  mit  Angabe  sehr  weniger 
Städte :  so  fänden  Schüler  und  Lehrer  Gelegenheit,  hieran  das  Augenmaß 
zu  üben;  und  die  vorhandene  Übung  ließe  sich  dann  weiter  auch  für 
solche  Karten  benutzen,  die  schon  zu  voll  sind,  um  noch  mit  geradlinigen 
Dreiecken  überladen  zu  werden.  —  Das  sind  Vorschläge  zu  einem  Er- 
gänzungshefte des  schätzbaren  Vogelschen  Atlasses;  an  Stoff  zu  passenden 
Randzeichnungen  —  in  Bezug  auf  Schiffahrt  und  Seetiere  —  würde  es 
gewiß  nicht  fehlen. 

Die  artigen  Karten  empfehlen  sich  dem  Auge  viel  zu  gut,  als  daß 
sie  meiner  Fürsprache  bedürften. 


Hartenstein,  ordentl.  Prof.  d.  Philos.  an  der  Universität  zu  Leipzig, 
Über  die  neuesten  Darstellungen  und  Beurtheilungen  der 
Herbart'schen  Philosophie.  —  Leipzig,  bei  Hartknoch.  145  S. 
in  Oct. 

Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.   1838,  Nr.  28.     SW.  XII,  S.  773. 

Es  gab  eine  Zeit,  da  einige  wenige  Individuen,  denen  man  Bekannt- 
schaft   mit    den  Schriften    des  Unterzeichneten   zutraute,    von    den    darin 

Herbarts  Werke.       XIII.  21 


■,22  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


niedergelegten    Untersuchungen     mehr     oder    minder     zur    Kenntnis     des 
größeren  PubHkums  gelangen  ließen,  je  nachdem    es  ihren  rezensierenden 
Federn  beliebte.     Nach  vielen  Jahren    änderten  sich    die  Umstände;    aber 
erst    durch    eine    kleine   Schrift    des    Hrn.  Prof.  Drobisch    (Beiträge    zur 
Orientierung  usw.)  wurde  jener  Zeit  eine  bestimmte  Grenze  gesetzt;    und 
sie  kann  sich  jetzt  nicht  erneuern.     Zwar  fehlt  es  nicht  an  dreisten  Ver- 
suchen, aber  diese  werden  von  dem,  was  sie  beabsichtigen,  das  Gegenteil 
bewirken.     Hr.  Prof.  Hartenstein  kann  nicht  dulden,    und  duldet  wirk- 
lich nicht,  daß  eine  Lehre,  die  er  sich  zu  eigen  gemacht  hat,  fortwährender 
Entstellung  preisgegeben  sei.    „Diese  Bogen"  (sagt  er)  „nehmen  nichts  als 
das  Recht   der   ungehinderten  Gegenrede   in  Sachen   der  Wissenschaft   in 
Anspruch;  ein  Recht,  von  welchem  Gebrauch  zu  machen  um  so  weniger 
verwehrt  werden  kann,  je  mehr  das  Recht  der  Rede  in  einzelnen  Fällen 
gemißbraucht  wird.     Die  Gegenrede  muß  und  wird  sehr  verschieden  sein 
nach    der  Verschiedenheit  der  Rede,   welcher  sie  gilt;"  usw.     Eben   diese 
Bogen   nun  geben  dem  Unterzeichneten   nicht  bloß  Proben,   wie  er   noch 
jetzt  angegriffen,    sondern    auch,    wie    er  verteidigt   wird;    welches   letztere 
ohne   Vergleich    wichtiger    ist   als   jenes.     Schwacher   Verteidigung    würde 
man  nachhelfen,  verfehlte  berichtigen  müssen,   endlich  würde  in  Ansehung 
der  Schriften  selbst,  welche  verteidigt  werden  sollen,  die  Frage  entstehen, 
ob  in  ihnen    etwa  der  Grund  des  Mißverstehens    liege.     Im    vorliegenden 
Falle    aber    zeigt    sich    kein    Bedürfnis   der   Nachhilfe    oder   Berichtigung; 
daher    ist   nicht   einmal    nötig,    die   gegenwärtige    Anzeige    zu   verlängern. 
Nur   eins    muß  hinzugefügt   werden,   nämlich   der  Wunsch,    daß  Hr.   Prof. 
Hartenstein  nichts  mehr  von  sich  fordern  möge,  als  was  zu  leisten  mög- 
lich ist.     Er  sagt  S.   6,    es  werde   sich    neben  dem,   was  er   zurückweisen 
müsse,   auf  der  anderen  Seite   auch  erfreuliche  Gelegenheit   finden,    Aus- 
einandersetzungen   zu    versuchen,    die    Verständigung    über    Probleme    der 
Wissenschaft    zum    Ziele    haben.     Wäre    nur    das   Ziel    in    der   Nähe,    so 
würde  ohne  Zweifel  die  Gelegenheit  erfreulich  sein;  aber  wo  ist  sie?  Wir 
haben  dergleichen  in  den  Proben,  welche  aus  anderen  Schriften  ausgehoben 
sind,  nirgends  gefunden.     Sollten  wir  sie  etwa  in  der  Gegend  des  Buchs 
von    S.  63  —  103   suchen?     Hr.    Prof.    H.    weiß   selbst,   welche    Konfusion 
der  Begriffe  er  dort  aufzuräumen  gehabt  hat,   und    wie   geringe  Bekannt- 
schaft   mit    dem,    Nvas    mindestens    durch    aufmerksames   Lesen    hätte    an- 
geeignet sein  sollen,   daraus  hervorleuchtet.     Auf  Verständigung  läßt    sich 
unter  solchen  Umständen  schwerlich  hoffen;  ob  der  Erfolg  die  Erwartung 
übertreffe,  wird  sich  wohl  zeigen. 


Reiche,  Leonh.  Phil.  Aug.,  Ulzena-Hannoveranus,  De  Kanti  anti- 
nomiis  quae  dicuntur  theoreticis.  Dissertatio  inauguralis, 
quam  scripsit.  —  Göttingen,  in  Kommission  der  Dieterich'schen 
Buchhandlung.     60  S.  in  4. 

Gedruckt  in:  Gott.  gel.  Anz.   1838,  Nr.  125.     SW.  XII,  S.  774. 

Zwei  neue  Ausgaben  der  Kantischen  Schriften  wetteifern  eben  jetzt 
miteinander  in  dem  Bemühen,  die  Aufmerksamkeit  der  Jüngern  Generation 


L.  P.  A.  Reiche:  De  Kanti  antinomiis  quae  dicuntur  theoreticis.  223 

auf  den  großen  Denker  zurückzuwenden,  welcher  vor  einem  halben  Jahr- 
hunderte alle  diejenigen  beschäftigte,  die  sich  um  Philosophie  zu  be- 
kümmern geneigt  waren.  Möge  für  beide  Ausgaben  die  Empfänglichkeit 
groß  genug  sein;  das  ist  zu  wünschen.  Wenn  aber  die  unbegrenzte  Be- 
wunderung, welche  eine  Zeitlang  der  Lehre  Kants  als  der  Vollendung 
der  Wissenschaft  huldigte,  nicht  wiederkehrt,  so  wird  dies  ebensowenig 
zu  bedauern  sein  als  es  befremden  kann.  Denn  auf  unbedingtes  Lob- 
preisen pflegen  Versuche  zu  folgen,  das  Bewunderte  noch  zu  überbieten; 
das  Überbieten  aber  ist  der  Anfang  des  Übertreibens,  Verunstaltens,  Ver- 
schmähens  und  des  Rückfalls  in  alten  Irrtum,  den  man  längst  hinter  sich 
haben  könnte.  Kants  Hauptwerke  nennen  sich  Kritiken;  und  wenn  sie 
kritischen  Geist  wecken,  so  können  sie  diesem  sich  selbst  nicht  entziehen. 
Allein  sie  wollen  studiert  sein,  ehe  man  sie  beurteilt;  und  der  Fleiß  des 
Studiums  wird  sich  nicht  durch  irgend  ein  Absprechen  im  allgemeinen, 
sondern  nur  durch  sorgfältiges  Eingehen  in  die  Einzelheiten  bewähren 
können. 

Hr.  Dr.  Reiche,  dessen  oben  angezeigte  Probeschrift  auf  beinahe 
acht  ziemlich  eng  gedruckten  Bogen  bei  weitem  nicht  die  ganze  Anti- 
nomienlehre, sondern  nur  die  erste  und  zweite  Antinomie,  und  von  der 
dritten  das,  was  mit  jenen  in  Verbindung  steht,  behandelt,  verdient  schon 
durch  diese  verständige  Beschränkung  (wobei  natürlich  die  erste  Hälfte 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft  als  bekannt  vorausgesetzt,  und  kurz  in  Er- 
innerung gebracht  wird),  ferner  durch  die  Genauigkeit,  womit  er  die 
einzelnen  Stellen  des  Hauptwerks  nachweist,  die  Parallelstellen  der  Kanti- 
schen Prolegomena  vergleicht,  und  nur  gelegentlich  Fries,  Fichte,  Spinoza 
anführt  —  ein  besseres  Lob,  als  wenn  er  eine  weit  ausgedehnte  Be- 
lesenheit, oberflächlich  überhinfahrend,  zur  Schau  gestellt,  oder  die  Frage- 
punkte selbst  (Endlichkeit  oder  Unendlichkeit  der  Welt  und  ihrer  Teilung) 
zu  entscheiden  gesucht  hätte.  Sein  Augenmerk  richtet  sich  auf  die  Anti- 
nomien als  solche;  auf  das  Widersprechende  in  ihnen,  welches  gleichwohl 
einen  unvermeidlichen  Gegenstand  des  Nachdenkens  bildet.  Daher  will 
er  die  ganze  Abhandlung  nur  als  eine  Analyse  Kantischer  Lehren,  in 
Bezug  auf  das,  was  schon  in  der  Methodologie  und  in  der  Einleitung 
zur  Philosophie  muß  betrachtet  werden,  angesehen  wissen.  Man  darf 
hierbei  nicht  aus  der  Acht  lassen,  daß  Kant  selbst  die  widerstreitenden 
Sätze  auf  einen  widersprechenden  Begriff,  nämlich  auf  den  einer  an  sich 
existierende7t  Sinnenwelt,  zurückgeführt,  und  dabei  ausdrücklich  von  einer 
unvermeidlichen  Antinomie  der  Vernunft  geredet  hatte.  (Prolegomena 
§  52  a,  b,  c).  Dies  Zurückführen  ist  nun  zwar  noch  lange  kein  Auf- 
weisen des  Widerspruchs  im  Begriffe  des  unmittelbar  Gegebenen ;  wie  wenn 
Fichte  (in  der  Sittenlehre)  das  Ich  ins  Objekt  und  Subjekt  schied,  und 
dann  hinzufügte:  „Du  bist  nicht  zweierlei,  sondern  absolut  einerlei;  und 
dies  undenkbar  Eine  bist  du  schlechthin,  weil  du  es  bist."  Aber  die 
Ähnlichkeit,  daß  ein  Widerspruch  nicht  auf  bloßes  Geheiß  der  Logik  ver- 
schwindet, sondern  die  Frage  herbeiführt,  wie  man  ihn  behandeln  solle, 
ist  hier,  wie  in  andern  Fällen  vorhanden ;  und  wer  Untersuchungen  dieser 
Art  schon  kennt,  dem  liegt  kaum  etwas  näher,  als  dies :  nachzusehen,  wie 
Kant  sich  dabei  benommen  habe. 

2 1  * 


^24  J-  ^-  Herbarts  Rezensionen. 


Indem    nun    der  Verf.    sich    auf   den    Kantischen    Standpunkt    stellt, 
welchem  gemäß  das  Empfundene,   aufgenommen  in  die  Formen  der  Sinn- 
lichkeit   und    des    Verstandes,    die    Erfahrung    ergibt:    findet    er    es    be- 
fremdend, daß  die  Systeme,  wenn  auch  nur  versuchsweise,  die  Erfahrung 
zu  überschreiten  sich  konnten  einfallen  lassen;    und  es  genügt  ihm  nicht, 
daß    Kant    die    Vernunft,    als    Vermögen    des    logischen    Schlusses,    durch 
Prosyllogismen  am  Faden  der  höheren  Bedingungen  zum  Abloluten  hinauf- 
streben läßt.     Abgesehen   davon,   daß  die  Dependenz   schon  dem   Verstände 
bekannt    war;    desgleichen    davon,    daß    nicht    bloß    eine,    sondern    beide 
Prämissen  Anlaß  gaben,  nach  ihren  Prosyllogismen  zu  fragen:  angenommen 
vielmehr,    die  Vernunft    suche   Bedingungen,    wie    kann    sie    das  Absolute 
suchen?  Immo,  quamvis  supremum  tandem  inventum  esset  iudicium,  tarnen 
ratio   etiamnum  de  conditionibus   quaereret,   iudicutmque  se  tpsurn  absolutum 
cotnprobaret.  —   Ubi  conditionum    seriem    cogitaveris  infinitam,    conditiones 
non  addere   tibi  nunquam  licebit:    ideoque   nunquam    absolutum   invenies. 
—   Infinitae    totalitatis    notio   satis  absurda,    ut    quod    nisi    finibus   reiectis 
Omnibus    omnino  cogitari    non    potest,    idem    nihilominus    inclusum    finibus 
coercitumque  cogites.     Das  Ende   dieser  Vorerinnerungen  ist  bekannt:    es 
war  unrichtig,  erst  eine,  schon  ganz  fertige,   Erfahrung,  dann  eine,  dieselbe 
vorwitzig  überschreitende,  Vernunft  anzunehmen;  vielmehr  ist  es  die,  noch 
nicht  begriffene,  Erfahrung  selbst,   welche  durch  ihr  Widersprechendes  das 
Denken    weiter   fortzugehen   antreibt,    und    auch    von   der   Geschichte    der 
Philosophie  das  bewegende  Prinzip  ausmacht.     Der  nun  folgende  Haupt- 
teil der  Schrift   faßt  die  abzuhandelnden  Gegenstände   so  zusammen,    daß 
zuvörderst   vom   vorherrschenden   Räume,    dann  von    der  vorherrschenden 
Zeit    gesprochen    werde;    nämlich    bei    Kant    zeigt    sich    der  Raum    vor- 
herrschend bei  der  Frage   nach  der  Weitgrenze   und  der  Teilbarkeit    der 
Materie,    die    Zeit    vorherrschend    bei    der   Weltdauer    und    der    Kausal- 
verknüpfung.   Zuerst  nun  vom  zweiten  Teile  der  ersten  Antinomie:   Rectis- 
sime  quidem  hie  commemoratum  videmus,  spatium  vacuum,  prout  nihilum, 
reali  plane   nullius  momenti   esse  posse.     At   vacuum   ut  ne  momenti   fiat 
ullius,  sane  gravissimi  fieri  videmus;  nam  conditio  fit,  ut  infinita  ponantur. 
Quid  autem?  Si  quis  vacuum  determinans  omnino  ne  cogitari  quidem  posse 
persuasum   habet,   licet  mundum   finitum  ponat,    tarnen  minime    verendum 
putabit,  ne  inani  ille  quasi  coarctetur  infinitio.    An  pertimescimus  spectra, 
quae  reapse  nulla  esse  scimus?  —  Ceteroquin  qui  mundum  finitum  susceperit 
defendendum,  forte  dixerit,  infinitum  inane,   quamquam  ipsum  terminare  non 
possit,    tamen  terminari   mundo  de  centro  sphaerae  spectato.      Dies  gegen 
den  Beweis   der  Antithese.     Was  den  Beweis   der  These  betrifft,    so  ver- 
langt der  Vf.,  es  wäre  der  Vollständigkeit  wegen   zu  sprechen  gewesen: 

1.  de  infinita  rerum  in   spatio  vel   finito 

2.  vel  infinito  summa, 

3.  de  finita  rerum  in  spatio  vel   finito 

4.  vel  infinito  summa; 

und  bemerkt  am  Ende:  docet  ille  quidem,  non  posse  rerum  summam  dari 
infinitam;  sed  cur  finita  in  infinitum  spatium  dispersa  cogitari  non  debeat, 
equidem  non  video  demonstrari.  Der  Schluß  ist  hier:  servata  materiae 
a    forma  seiunctione   et   obsequium  quoddam    formae   reperimus   et   multo 


L.  P.  A.  Reiche:  De  Kanti  antinomiis  quae  dicuntur  theoreticis.  ^25 


gravius    imperium.     Bei   der   zweiten  Antinomie    beginnt  der  Verf.  wieder' 
mit  der  Antithese;    welches  um  desto  passender  ist,    weil  Kant  hier,   wo 
die  Unparteilichkeit    sehr   nötig  gewesen  wäre,    sichtbar  gleich   anfangs   für 
die  Antithese,    und    gegen   die    zu  kurz   abgefertigte  Thesis  Partei    nimmt. 
Spatium    cum  ex  spatiis  constet,  nee  ullo  modo  possit  punctis    simplicibus 
conformari,  —  spatium  expletum  prohibet,  ne  substantiae  simplices  excogi- 
tentur.      Bei    dieser  Kantischen  Behauptung   erhebt   aber  gleich  der  Verf. 
eine  quaestio  tubdifficilis :   unde  tandem   oriri  potuerit  illud:   quidquid  spatium 
expleat,    reale    multiplex    esse?     (Bei   Kant    lauten    die  Worte    im   Beweise 
der    Antithese:    „Da    nun   alles    Reale,    was    einen    Raum    einnimmt,    ein 
außerhalb  befindliches  Mannigfaltiges  in  sich  fasset,  mithin  zusammengesetzt 
ist,    und    zwar    als    ein    reales  Zusammengesetztes    nicht   aus    Accidenzen, 
mithin    aus    Substanzen:    so    würde    das    Einfache    ein    substantielles    Zu- 
sammengesetztes  sein,  welches  sich  widerspricht.")    Der  Verf.  fragt  nämlich 
sogleich    weiter:    quae    sententia    nonne    idem    valet,    ac    si   spatium    esse 
realium  multiplicatorem  dixeris?  Quocirca  ubi  vetueris,  ne  quid  aliud  reale, 
quam    quod   spatium    expleat,    cogitetur,    nonne    ita    poni    reale   iubes,    ut 
etiam    atque   etiam   ponatur,    aut   ut   id,    quod    per    se    spectatum    spatio 
careat,  spatium  quasi  induat  conformetque?    (Nimmt  man  den  Multiplikator 
weg,    so  muß   der  Multiplikandus  rein  zurückbleiben;    dieser  soll  aber    hier 
das   Reale,  mithin  das  Selbständige  sein.)    Hier  eine  beiläufige  Erwähnung 
des  Spinoza:  non  dividit,  quam  unam  posuerat,  substantiam,  sed  spatium 
indivisibile  esse  statuit.     (Freilich  heißt  es  bei  Spinoza,  im  zweiten  Satze 
des  zweiten   Teils    der  Ethik:    extensio  attributum  Dei   est   sive  Deus    est 
res    extensa.)      Inepte    ille    quidem,    quoniam    omnis    spatii    princeps    signi- 
ficatio  posita  est  in  oppositione  notionum  Jiic  et  illic'' :  reale  autem,  quod 
spatium   explet,    quia   istam    non   patitur   Oppositionen!,    in   realium    multi- 
tudinem  spatio   cogitando  dividitur:   ut  ex  reali  illa  evertatur  oppositio,   et 
in   qua  sita  est  complectendi  forma  collocetur.  —   lam  vero  ubi  in  infini- 
tum  dividendum  erit,  quum  quicquid  et  inveneris  dividendo  et  inventurus 
sis,   ipsum   pro    reali   habere   non   possis,    quam   posueras   realitatem,    eam 
evertas  necesse  est.    Die  Realität  ist  es,  welche  Kant  in  seinem  Begriffe 
von  der  Substanz  nicht  fest  hielt;  er  erklärt  die  Substanz  für  das  Beharr- 
liche im  Wechsel;   der  Verf.  tadelt  diesen  Schematismus,  welcher  die  Zeit 
einmengt,   während  der  Begriff  des  Trägers  der  Accidenzen  ohne  alle  Rück- 
sicht  auf  Zeitdauer   für   sich    fest   steht.     Sollte    einmal    der   Schematismus 
gelten,    so    war  die  Unterscheidung    der  dritten   Antinomie    von  dem,    was 
die  erste  schon  über  die  Weltdauer  enthält,  fast  zu  gesucht  und  zu  künst- 
lich.     Alles    dreht    sich    bei    Kant   um    die    Forderung:    die   Zeit,    welche 
nicht  wechselt,    weil    das  Zugleich   und    das   Nacheinander   nur   ihre  Modi 
sind,  soll   wahrgenommen   werden;   dazu  genügen  ihm  nicht  einmal  unsere 
innern  Zustände,    sondern    das    Dauernde    muß   im   Räume   gegeben  sein, 
(In  der  Note  fragt  der  Verf.:   Cur  tandem  plura  sunt,   quae  tempus  unum 
repraesentent?  Nonne  quaedam  exspectatur  Spinozae  substantia?)    Indem 
aber  Kant  den   Begriff  der  Veränderung  zu  berichtigen   meint,    und  zwar 
durch  das   Paradoxon :    7iur  das  Beharrliche   wird  verändert,   das    Wandelbare 
hingegen   zvechselt,    findet   sich    der  Verf.    zu    der  Frage    veranlaßt,    ob    das 
Wechselnde   im  Dauernden  etwa  Spuren  zurücklasse,    damit  man   sie  dort 


220  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


festgehalten  in  guter  Ordnung  beisammen  finde?   Und  nachdem  er  dreier- 
lei,   was    leicht    vermengt    wird,    unterschieden    hat,     nämlich    die    bloße 
Succession,  den  Wechsel  und  die  Veränderung,  folgt  eine  Stelle,   die,  bevor 
wir    abbrechen,    hier   noch   im  Zusammenhange  Platz    finden    mag:    Primo 
quidem  adspectu  mirandum  videtur,  quid  sit,  quod,  instituto  de  substantia 
serraone,    notionis    „simul"    oblitus,    potissimum    successionem    accidentium 
contempletur.      At    id    quidem    idcirco    mirum    non    est,    quia   perdurabile 
illud,    quod,    nisi   successioni  oppositum,    omni  sententia   caret,    substantiae 
Schema  est.     Avulserat   enim    illa    de  schematibus  doctrina   a   successione 
perdurabile:  ita,  ut  perdurabile  esset  substantiae  Schema,  successio  causali- 
tatis.     Quare   in  illa  de  substantia  disquisitione   necessaria  notionum   con- 
junctio,    schematum    quidem   commodo,    sed    substantiae    vel    potius    illius 
attributoriün-  complexioiiis    incommodo    restituitur;    ut,    neglecta    illa    com- 
plexione,    ad   rem  variabilem    animus    intendatur.     Porro,    quia   vice    versa 
successionem   quoque    ad   perdurabile    ita    affigit,    ut   ex   pura    successione 
commutatio  fiat,    etiam  causalitatis  notio,    quae  proprie  ad  rem  variabilem 
spectat,  quandam  induere  videtur  firmitatis  speciem.    Und  etwas  weiterhin : 
Si  omnia  mente  repetieris,   Kanti  propositum  fuisse  intelliges,  ut  firma  ac 
definita  successio  deduceretur,  quae,    quum  data  esse    non  posset,    causa- 
litate  efficeretur.    —    Omnis  igitur  Kanti  de    hac   re   disquisitio   analytica 
quaedam  datae  successionis,  invito  illo  quidem,  demonstratio  est:  ut  haec 
experientiae    forma,    quamvis    ita    data    non    sit,    ut  possit   sensibus  percipi, 
tamen  propter   firmitatem   eius  stabilitatemque   eodem  modo    quo  percep- 
tiones,    accipienda  sit.     Hier  haben   wir  uns  freilich   weit  vom  Ziele    ent- 
fernt,   denn    das    Vorstehende    bezieht    sich    nicht    auf    die    Antinomien, 
sondern  auf  die  Grundsätze  des  reinen  Verstandes  bei  Kant.    Allein  der 
Raum   dieser  Blätter   erlaubt   ohnehin   nicht,    die    vorliegende  Dissertation 
wie    ein   Buch  zu  behandeln;    es  gereicht  ihr    zur  Ehre,    daß  sie    für    eine 
kurze  Anzeige    viel    zu    reichhaltig  ist.     Nur   noch    ganz    obenhin    können 
wir,    um    einigermaßen    den    Zusammenhang    des    Ganzen    bemerklich    zu 
machen,     die    Anfangsworte    des    dritten    Kapitels    anführen:     quamquam 
propter  ea,  quae  capite  antecedente  prolata  sunt,  contradictiones  Kantianae, 
excepta   de   materia   antinomia,   haud    ita   graviter   nos    premere   videntur, 
tamen  ubi  formas  experientiae  vere  nobis  datas  esse  memineris,  in  locum 
Kantianarum    novas    contradictiones    videbis    se    ipsas    supposuisse:    ut, 
quomodo    omnino    repugnantiae    notionum    tractandae    solvendaeque    sint, 
quaestioni    summa    gravitas   servetur.     Man    wird    sich    nicht   irren,    wenn 
man    die   ganze    Dissertation    als    Probe    einer    seltenen    Verbindung    von 
Scharfsinn  und  Fleiß  betrachtet. 


I.  Callisen,  Christian  Friedrich,  Kurzer  Abriß  der  philosophischen 
Rechts-  und  Sittenlehre,  als  Leitfaden  bey  Vorlesungen  über 
diese   Wissenschaft.    —    Nürnberg   und  Sulzbach,    im  Verlage  der 


Chr.  F.  Callisen:  Kurzer  Abriß  der  philosophischen  Rechts-  und  Sittenlehre.      327 


J.  E.  Seidel'schen  Kunst-  und  Buchhandlung,  1805.  160  S.  8. 
(10  gr.) 

2.  Snell,    Christ.   Wilh..    Prof.    und    Rektor    des   Gymnasii    zu   Idstein, 

Die  Hauptlehren  der  Moralphilosophie;  ein  Buch  für  ge- 
bildete Leser.  —  Gießen,  bey  Tasche  und  Müller,  1805.  466  S.  8. 
{i    Thlr.    16   gr.) 

Auch  unter  dem  Titel: 
Snell,  Christ.  Wilh.,  und  Snell,  Friedr.  Wilh.  Dan.,  Handbuch 
der  Philosophie  für  Liebhaber.    Vierter  Theil:   Moralphilosophie. 

3.  Tieftrunk,  Joh.  Heinr.,  Professor  zu  Halle,  Philosophische  Unter- 
suchungen über  die  Tugendlehre,  zur  Erläuterung  und  Be- 
urtheilung  der  metaphysischen  Anfangsgründe  der  Tugend- 
lehre von  Imm.  Kant.  Zweiter  Theil:  Ausführung  der  Pflichten 
der  Menschen  gegeneinander,  nach  den  besonderen  Zuständen  und 
Verhältnissen  derselben.  —  Halle,  in  der  Renger'schen  Buchhandlung, 
1805.     551   S.    8.  (2   Thlr.)* 

Gedruckt  in:  Neue  Leipziger  Literatur-Zeitung,   76.  Stück,  den   13.  Junius   1806, 

S.   1201  — 1210. 

Die    angezeigten  Werke   bezeugen   es   gemeinschaftlich,    daß   die  An- 
hänglichkeit  an  Kants    praktische  Philosophie  unter  uns  noch  fortdauert, 
und    sich    in    ihrer    öffentlichen    Wirksamkeit    durch    die   Ansprüche    einer 
neuern  Denkart   nicht   gehemmt  findet.     Es  wäre  in  der  Tat  kein  rühm- 
liches Zeichen  von  deutscher  Festigkeit,  wenn  jene  Lehre  vom  unbedingten 
Sollen,    ohne  Rücksicht   auf   die  Materie   des  Begehrens,    welche   einen  so 
allgemeinen,    so   tiefen  Eindruck   gemacht,   und  für  das  Kantische  System 
vielleicht   mehr  Freunde   gewonnen   hatte   als    dessen  ganzer  theoretischer 
Apparat,    wenn   eine   so    erhebende   Lehre   unter   dem   mißlungenen   Ver- 
suchen,  der  Form  einen  Inhalt  zu  geben,  welcher  sich  nicht  selbst  wiederum 
zur  Materie    des  Begehrens   mache,    —    niedergebeugt,    und  so  der  Ver- 
gessenheit  übergeben   werden   könnte.     Jedoch  so  sehr  es  uns  freut,    den 
Weg    noch    ferner    betreten    zu    sehen,    den    Kant    voranging,    so    wenig 
möchten    wir    für    die    genannten    Schriftsteller    die    Entschuldigung    über- 
nehmen, darüber,  daß  sie  keine  Rücksicht,  weder  auf  Fichtes  Sittenlehre, 
noch,  was  ganz  unerläßlich  war,  auf  Schleiermachers  scharfsinnige  Kritik 
der  bisherigen  Sittenlehre,  genommen  haben;    —    und  ebensowenig  ihnen 
verbürgen,  es  werde  jeder  gebildete  und  unbefangene  Leser  sein  sittliches 
Gefühl  rein  und  richtig  ausgesprochen  finden  durch  Schriften,  worin  nicht 
nur  Kants  Prinzipien  herrschen,    sondern  auch  Kants  Ausführung  dieser 
Prinzipien   im   wesendichen    beibehalten   ist.      Der    Rez.   selbst   gehört   zu 
denen,  welche  in  der  letztern  Rücksicht  unzufrieden  sind  mit  dem  Meister, 
wie   mit    seinen  Nachfolgern.     Es   ist   hier  nun  zwar  nicht  der  Ort,    eine 
individuelle  Überzeugung  aufzustellen,  und  noch  weniger  gebührt  es  sich, 
dieselbe   als    INIaßstab    der  Kritik    zu   gebrauchen.     Aber   die  Kritik   kann 


*  Diese  und  die  beiden  nachfolgenden  Rezensionen  konnten  nicht  mehr  chrono- 
logisch eingeordnet  werden,  weil  sie  erst  kurz  vor  Abschluß  dieses  Bandes  aufgefunden 
wurden. 


•  28  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


wohl  die  Schwierigkeiten  bemerklich  machen,  welche  bei  fortgesetzter  Be- 
arbeitung eines  Systems  nur  immer  fühlbarer  werden,  wenn  sie  von  innern 
Fehlern  desselben  herrühren.  Stellten  wir  uns  nicht  auf  diesen  Gesichts- 
punkt: so  wäre  von  jenen  Schriften  nicht  viel  mehr  zu  sagen,  als,  sie 
können  mit  Nutzen  gelesen  werden,  von  denen,  die  nicht  genug  Kraft 
haben,  Kant  aus  ihm  selber  zu  studieren  und  ihn  selber  zu  deuten  und 
anzuwenden. 

Mit  einem  so  kurzen  Urteil  würden  indes  teils  die  Verf.  schwerlich 
zufrieden  sein,  welche  sich  bewußt  sind,  mit  dem  Gefühl  einer  völlig  zu- 
geeigneten Überzeugung  gesprochen  zu  haben;  teils  fordert  auch  der 
gegenwärtige  Augenblick,  daß  man  die  Gelegenheit  benutze,  Kants  Grund- 
lehren von  neuem  hervorzuziehen  und  der  Prüfung  darzustellen.  Dies 
wäre  freilich  weniger  nötig,  wenn  das  so  ausgezeichnete  Werk  den  Hrn. 
Schleiermacher,  über  der  großen  Sorgfalt,  das  Gesunde  vom  Kranken 
zu  sondern,  nicht  beinahe  schiene  den  Unterschied  des  Starken  und 
Schwachen,  des  reiflich  Erwogenen  und  des  in  die  leeren  Stellen  Ge- 
worfenen, des  Ursprünglichen  und  des  Nachgetragenen,  minder  als  billig 
beachtet  zu  haben.  —  Bloß  historisch,  und  um  weiterhin  verständlicher 
zu  sein,  geben  wir  an,  daß  unserer  ^Meinung  nach  das  Schwache  der 
Kantischen  Sittenlehre  schon  da  eintritt,  wo  aus  der  bloßen  Negation: 
nicht  der  Gegenstand  des  Willens  macht  den  guten  Willen,  disjunktiv  ge- 
schlossen wird:  also  muß  luohl  in  der  bloßen  Form  des  Willens  seine 
Güte  liegen.  Darin  verrät  sich,  daß  man  dieser  Güte  nicht  unmittelbar 
inne  geworden  sei,  sondern  sie  gleichsam  im  Dunkeln  an  der  einzigen 
noch  übrigen  Stelle  suche,  wo  sie  vielleicht  liegen  könnte.  Natürlich  folgt 
der  ersten  Schwäche  der  erste  Fehler:  Das  Aufgreifen  der  logischen  Form 
(statt  einer  ästhetischen) ;  weil  man  sich  eben  auf  keine  andere  besinnen 
kann,  und  weil  ein  unglücklicher  Sprachgebrauch  das  Wort  Vertumfi  für 
die  höchsten  Funktionen  des  Gemüts,  seien  sie  theoretischer  oder  prak- 
tischer Art,  selbst  in  die  Psychologie  eingeführt  hat,  Psychologie  aber  und 
Logik  einmal  im  Besitz  sind,  als  fertige  Wissenschaften  zu  Hilfe  gerufen 
zu  werden,  sobald  die  höhere  Spekulation  die  Spur  verliert.  Dem  ersten 
Fehler  nun  folgt  eine  Metaphysik  der  Sitten  ohne  Grund,  ohne  Zu- 
sammenhang, ein  Lückenbüßer  voller  Lücken,  welche  auszufüllen  ver- 
gebliche Arbeit  sein  würde.  Wem  dies  Urteil  zu  hart  scheint,  der  sehe 
bei  Schleiermacher  weiter  nach. 

Die  Verf.  von  Nr.  2  und  3  müssen  es  sich  vom  Rez.  schon  gefallen 
lassen,  daß  er  bei  ihnen  Spuren  einer  zwar  nicht  Kantischen,  aber 
richtigeren  Ansicht  des  Sittlichen,  wiewohl  nicht  in  ihren  Sätzen,  doch 
hier  und  da  in  ihrem  Ausdruck,  wo  sie  ihre  eigene  Sprache  reden,  — 
anzutreffen  geglaubt  hat.  Hingegen  in  Nr.  1  wo  eine  gewisse  dürre 
Klarheit  herrscht,  geeigneter,  um  leicht  manchen  Anfänger  zu  überreden, 
er  besitze  nun  mit  diesem  höchst  verständlichen  Kompendium  die  ganze 
praktische  Philosophie,  —  finden  wir  das  höchste  „Handelnsgesetz",  mit 
offenbarer  Rücksicht  auf  die  Logik,  formaliter  so  ausgedrückt:  entjerne 
allen  Widerspruch  aus  deiriem  Handeln;  daneben  aber,  bequem  genug,  das 
höchste  Handelnsgesetz  materialiter  so  angegeben:  sei  deiner  Bestimmung 
treu.      Und   was   ist   unsere  Bestimmung?    „Der  Inbegriff  von  allem  dem, 


Chr.  F.  Callisen:  Kurzer  Abriß  der  philosophischen  Rechts-  und  Sittenlehre.      ^29 


was  Natur,  als  Zweck  unseres  Daseins  und  als  Weise  unseres  Handelns 
festgesetzt  hat,  heißt  unsere  Bestimmung;  und  sowohl  der,  der  Mittel 
anders,  als  er  ihrer  Beschaffenheit  nach  sollte,  gebraucht,  als  auch  der, 
der  *  sich  verkehrte  Zwecke  (Zwecke  die  sich  selber  zerstören)  vorsetzt, 
handelt  insofern  gegen  die  Bestimmung,  die  Natur  den  Dingen  und  ihfu 
gab.''  Die  Entwicklung  eines  so  reichen  Inbegriffs  wäre  freilich  für  dieses 
kleine  Büchlein  eine  zu  große  Aufgabe  gewesen,  da  es  ja  noch  die  ganze 
Rechts-  und  Sittenlehre  umfassen  sollte.  Folgende  Spur  der  Entwicklung 
aber  ist  hingezeichnet:  die  Natur  deutet  uns  das,  was  wir  als  Menschen 
werden  sollen,  in  der  ganzen  Summe  unseres  Triebes  an;  —  natürlich 
müßten  wir  auf  alle  einzelnen  Triebe  merken,  —  und  um  alles,  was  an 
diesen  Trieben  durch  unsere  Schuld  widernatürlich  stark  oder  schwach 
geworden  ist,  zu  erkennen,  müssen  wir  ein  widerspruchfreies  Ganzes 
daraus  zusammensetzen.  (Vielleicht  liegt  hierin  eine  entstellte  Reminiscenz 
aus  FiCHTES  Sittenlehre.)  Die  Triebe  unseres  niederen  Begehrungs- 
vermögens gehen  auf  einen  Zustand  unseres  Seins  —  Glück;  die  unseres 
höheren  Begehrungsvermögens  auf  einen  Zustand  unseres  Handelns,  — 
freie  Selbstbestimmung  dieses  Handelns  zum  widerspruchsfreien  Ganzen 
durch  treue  Befolgung  der  Andeutungen  der  Natur.  (Natur?  siehe  Trieb. 
—  Trieb?  siehe  Afidenttmgen  der  Natur!)  Die  Triebe  des  Menschen 
gehen  aber  natürlicherweise  nicht  bloß  darauf,  daß  er  selber  allein  sittlich 
und  glückselig  sei,  sondern  auch  darauf,  daß  alle  mit  ihm  vereinten  (?) 
Wesen  um  ihn  her  sittlich  und  glückselig  werden,  wie  er.  —  Wie 
könnte  bei  solchen  Natüriichkeiten  ein  Naturrecht  jNIühe  kosten?  ,,Wenn 
man  aus  den  gegenseitig  gemachten  und  zugestandenen  Forderungen 
immer  mehr  alle  Widersprüche  ausgleicht,  so  findet  sich  nach  und  nach, 
was  die  Menschen  eigentlich  voneinander  fordern  sollten'^  usw.  —  Leicht, 
und  zugleich  ganz  leidlich  und  verständig,  ist  denn  nun  das  so  begründete 
Naturrecht  aus  den  vorhandenen  Vorräten  zusammengetragen.  Wir  fühlen 
keinen  Beruf,  den  Verf  auf  die  inneren  Schwierigkeiten  eines  Naturrechts, 
und  einer  angewandten  Sittenlehre,  aufmerksam  zu  machen.  Er  hätte  noch 
weniger  gestört  bleiben  mögen,  hätte  es  ihm  nicht  gefallen,  auch  dies 
Buch,  als  Leitfaden  zu  Vorträgen  den  Lehrern  auf  Gymnasien  und  Uni- 
versitäten zu  empfehlen. 

Dieser  Empfehlung  müssen  wir  den  Wunsch  entgegenstellen,  daß  die 
Gymnasiarchen  die  Bedenklichkeiten  fühlen  mögen,  Philosophie  auf  ihren 
Lektionsverzeichnissen  überall  zuzulassen;  und  die  Hoffnung,  daß  akademische 
Lehrer  die  Schwierigkeiten  der  Wissenschaft  tiefer  kennen  und  zu  erkennen 
geben  werden,  als  von  Vorträgen  im  Stil  dieses  Lehrbuches  zu  erwarten  wäre. 

Inniger  und  eben  dadurch  richtiger,  zeigt  sich  das  moralische  Be- 
wußtsein in  Nr.  2  und  3  gleich  im  Anfang.  Hr.  Tieftrunk  spricht 
trefflich  von  ästhetischer  Achtung,  welche  in  der  Auffassung  der  Vernunft 
durch  sich  selbst  hervorgehe,  und  welche  nicht  selbst  Pflicht,  aber  Ver- 
pflichtungsgrund sei.  Dieser  Verpfiichtungsgrund  ist  etwas  anderes,  als  die 
logische  Notwendigkeit  der  Entfernung  des  Widerspruchs  aus  unsern  Be- 
griffen. Noch  näher  vielleicht  kommt  Hr.  Snell.  „Jeden  Menschen," 
so  beginnt  er,  „lehrt  sein  eignes  Bewußtsein,  daß  er  außer  dem  Vor- 
stellungs-    und    Erkenntnisvermögen    auch    das    Vermögen    besitze,     Wohl- 


230  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


gefallen  und  Mißfallen  zu  empfinden,  zu  billigen  und  zu  mißbilligen,  zu  be- 
gehren und  zu  verabscheuen."  Hr.  S.  verzeihe  hier  die  kleine  Ver- 
änderung des  Drucks,  durch  welchen  wir  gerade  umgekehrt  anzuzeichnen 
und  nicht  auszuzeichnen  uns  erlaubt  haben,  wie  er.  Denn  das  aktive 
Prinzip  hat  doch  wohl  den  Vorrang  vor  dem  passiven?  Nun  aber  ist  es 
die  einfachste  Bemerkung,  daß  in  der  Sittenlehre  die  Begehrungen  und 
Verabscheuungen  iinterworfen  werden  den  Billigungen  und  Mißbilligungen, 
welche  darüber  ergeheiiX  Leider  freilich  wissen  wir  wohl,  daß  man  uns 
diese  Billigungen  und  Mißbilligungen  wieder  in  ein  Begehren,  nämlich  in 
das  sogenannte  höhere  Begehrungsvermögen,  hineinzwängt.  Wir  lesen 
auch  bei  Hrn.  S.:  Die  Regel  der  Beurteilung  ist  für  mich,  wie  für  jedes 
andere  Vernunftwesen,  zugleich  Gesetz  des  Wollens  und  Handelns.  Denn 
wie  sollte  ich  urteilen  können,  daß  so  zu  handeln  an  sich  gut  und  achtungs- 
wert sei,  ohne  mich  dazu  verbunden  zu  fühlen,  ohne  mir  bewußt  zu  sein, 
daß  ich  so  handeln  solle'^  —  Aber  gerade  dieser  fragende  Ton  würde 
uns,  wären  wir  es  nicht  schon  gewesen,  aufmerksam  gemacht  haben  auf 
den  Skrupel,  der  sich  innerlich  fühlbar  mache,  wenn  man  jenes,  so  richtig 
vorangestellte,  Urteil,  mit  diesem  Imperativ  geradehin  für  identisch  zu 
erklären  unternehme.  Und  wie  die  unwissenschaftlichen  Leute  die  obige 
Frage  aufzunehmen  pflegen,  ist  bekannt.  Die  Beurteilung  geben  sie  zu, 
aber  das  kategorische  Sollen  befremdet  gerade  die  Besten  und  Reinsten. 
Abgerechnet  seltene  Augenblicke  sittlicher  Gefahr,  wissen  sie  nichts  von 
einem  so  gewaltigen  Befehl,  mit  dem  man  gegen  sich  selbst  auftrete. 
Die  Stimme  in  ihrem  Innern  will  gar  nicht,  sie  spricht  bloß,  sie  sagt  aus 
was  gut  und  achtungswert  sei,  und  nun  wird  getan  was  tunlich  ist.  Da- 
bei pflegen  die  erbaulichen  Betrachtungen,  vom  stets  angeregten  Eifer 
zum  Besserwerden,  wodurch  der  Verf.  den  vermeinten  Widerspruch:  wir 
sollen  vollkommen  gut  sein,  und  können  es  doch  nicht,  zu  beseitigen  die 
Mühe  nimmt,  ganz  wegzubleiben ;  wie  sie  denn  von  selbst  verschwinden, 
sobald  man  die  ganz  heterogenen  Beurteilungen,  die  des  Guten  und  die 
des  Möglichen,  jede  ihren  Gang  gehen  läßt,  und  nur  nicht  erst  die  Ver- 
7iu7ift  voraussetzt,  um  sich  alsdann  mit  den  Fragen:  wie  die  Vernunft 
praktisch,  und  wie  die  Vernunft  theoretisch  sein  könne,  ein  peinliches  Spiel 
zu  bereiten.  Aber  die  Kantische  Schule  liebt  die  Terminologie  und  den 
Nachdruck  der  Kraftworte.  Merkwürdig  ist  das  Gewicht,  welches  Hr.  S., 
vielleicht  ohne  es  selbst  recht  zu  merken,  dem  Worte  Verachtung  gegeben 
hat.  ,, Jenes  rein  vernünftige,  unmittelbare  Wohlgefallen  heißt  x\chtung, 
—  das  Gegenteil  der  Achtung  ist  Verachtung,  —  diese  besteht  im  un- 
bedingten Mißbilligen  gewisser  Gesinnungen,  Entschließungen,  Handlungen, 
und  in  dem  unmittelbaren  Mißfallen  an  denselben?"  Welches  sind  hier 
die  „gewissen"  Gesinnungen  ?  Nach  dem  Zusammenhange  zu  schließen, 
alle,  welche  unmittelbar  und  schlechthin  mißfallen.  Also  wir  verachten 
den  Lüstling,  —  wir  verachten  auch  den  Neider,  —  verachten  den  Betrüger, 
verachten  den  Tyrannen !  Aber  spricht  denn  der  Ausdruck  Verachtung 
die  ganze  Mißbilligung  aus,  in  jedem  dieser  Beispiele?  Merkt  man  nicht 
die  spezifische  Verschiedenheit  der  Beurteilungen,  wenn  wir  den  Lüstling 
wegwerfen,  den  Neider  unwillig  verstoßen,  den  Betrüger  als  den  Dieb 
unseres    Glaubens    ertappen,    und    vom   Tyrannen    die    geraubte    Freiheit 


Chr.  F.  Callisen :  Kurzer  Abriß  der  philosophischen  Rechts-  und  Sittenlehre.      331 


wieder  fordern?   —  Die  Entwicklung  dieser  Verschiedenheiten  erspart  die 
Nothilfe,    deren    Hr.  S.,  wie  die    andern,    bedarf,   sobald  nur    ein  Schritt 
zur  Anwendung  getan  werden  soll.    Bei  der  Frage,  wie  muß  eine  Maxime 
beschaffen  sein,  um  zur  allgemeinen  Gesetzgebung  zu  taugen?  gibt  er  uns 
statt  einer  Antwort  drei;    sie  muß,  allgemein  gedacht    i.  nicht  sich  selbst 
aufheben,   2.  nicht  auf  mein  Streben  nach  Glückseligkeit  schädlich  zurück- 
fallen.   Quod  tibi  non  vis  fieri  etc.,  3.  nicht  die  Menschen  vom  Gesamt- 
zweck   ihres    Daseins,    harmonischer    Ausbildung    aller  Kräfte,    entfernen. 
Unter    diesem    Ausdruck,    harmonische    Ausbildung,    liegt    wieder    ein     un- 
mittelbares  Wohlgefallen   verborgen,    wovon    die    Regel    der    Tauglichkeit 
zur  allgemeinen    Gesetzgebung   nichts  weiß,   ohne    welches    sie   aber,    wie 
wir  hier  sehen,  die   Sphäre  ihrer   Anwendung  nicht  finden  kann.     Wollte 
man  auch   noch    die   gegenüberstehende    Mißbilligung    der  fehlenden  oder 
einseitigen    Ausbildung  unserer  Kräfte,   etwa    neben    die  vorhin  bemerkten 
Beispiele  absoluter  Mißbilligung    stellen,    so  würde    man    hier  wieder  eine 
neue  Spezies    des   ursprünglichen   Mißfallens  antreffen,    welche  mit  keiner 
von  jener  zusammenfällt.    —  Die  größte  Verlegenheit  aber  tritt  ein,  wenn 
die   nach    Kantischer   Art    geprüften   Maximen    auf   einen   ganz    einzelnen 
Fall  im  Leben    angewendet   werden   sollen.      Hr.  S.  bemerkt,    daß  hierzu 
Einsicht  in  den  Zusammenhang  der  Dinge  gehöre,   welche  oft  fehle ;   ferner 
daß   eine    und  dieselbe    Handlung    sich    zuweilen    verschiedenen  Maximen 
subsumieren    lasse,   woraus    entgegengesetzte   Resultate    entstehen.      Kein 
Wunder,    da  die    Handlung    eine    Komplexion  von     Umständen  voraussetzt, 
deren  jedem  der  gegebene  Fall  subsumiert  werden  kann!   Am  Ende  tröstet 
er  sich  damit,  die  Hauptsache  sei  nicht  die  Richtigkeit  des  Urteils,  sondern 
der  gute  Wille.     Schön  für  den  Menschen ;   aber  schlimm  für  den  Sitten- 
lehrer, der  eben  das  Urteil  berichtigen  wollte !  —  Wir  übergehen  die  Be- 
stimmungen  der   Begriffe   von  Tugend  und  Gütern;   hier  besonders  mußte 
das  vorhin  angeführte  kritische  Werk  zugezogen  werden.  —  In  der  weiteren 
Ausführung    der    Sittenlehre    erwarteten    wir   den   Verf.    vor   allen    bei  der 
Bestimmung    des    Verhältnisses    zwischen    den    „Selbstpflichten    und    den 
Menschenpfiichten",  wie  er  sich  ausdrückt.    Ich  soll,  sagt  er,  den  andern 
Heben,  achten,  wie   mich    selbst    (das    Einschiebsel   achten^   in    einen    be- 
kannten Spruch,   verrät  schon  die  gezwungene  Umdeutung) ;   d.  h.  ich  soll 
aus  der  Achtung  gegen  die    Menschennatur  in    seiner   Person   ihm    keine 
der  Pflichten  versagen,  wozu  ich  aus  x\chtung  für  dieselbe  Menschennatur 
in  meiner  Person  gegen  mich  selbst  verbunden  bin;   —   das  Gesetz  würde 
auch   dann  noch  seine  verbindende  Kraft  haben,   wenn  wir  der  natürhchen 
Neigung  des  teilnehmenden    Wohlwollens  entbehrten.    Teilnehmendes   Wohl- 
wollen?   Gibt    es    etwa    auch  ein  unteilnehmendes?    Ein  Wohlwollen,  das 
nicht  hingerissen  wird  von  der  Mitempfindung?   Vielleicht;   und  ein  solches 
möchte  vielleicht  nicht  Achtung  sein,   aber  Achtung  verdienen !   Oder  wollen 
wir,    nach    Kaxts    Vorschlag,    das    Wohlwollen    herzhaft    unter  die    Adia- 
phora    zählen?     Man    sei  dann    konsequent;    man    hüte    sich,    es   für  eine 
„Zierde"  des  Menschen  gelten  zu  lassen,  denn  eine  Zierde  ist  nichts  Gleich- 
gültiges; man  setze  mit  ihm  sein  Entgegengesetztes,  das  Übelwollen,  auch 
unter  die  gleichgültigen   Dinge,    man    zähle    Schadenfreude    und    Neid    zu 
den  andern  Begierden,  welche   nur   bloß  nicht  regieren  dürfen,  der  Neid 


n  o  ,  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


bleibe  im  Herzen  bei  den  übrigen  Naturtrieben,  während  das  Gesetz  durch 
seine  verbindende  Kraft,  die  Entschlüsse  und  Handlungen  leitet.  Ohne 
Zweifel  wird  es  an  Systematikern  nicht  fehlen,  die  sich  in  einer  solchen 
Dreistigkeit  gefallen,  nur  Hr.  S.  ist  schwerlich  von  dieser  Zahl !  Sein  Werk 
trägt  einen  Charakter  von  Sanftheit,  welche  außer  der  Kantischen  Indivi- 
dualität liegt,  und  keineswegs  mit  den  scharfen  Ecken  der  letztern  droht. 
Nur  in  dem  einzigen  Punkte  der  Verwerfung  des  Eudämonismus  scheint 
er  sich  seinem  Meister  ganz  fest  angeschlossen  zu  haben,  —  und  hier 
trifft  Rez.  mit  ihm  gänzlich  zusammen.  Das  Imponierende  der  Kantischen 
Darstellung  ist  mehr  fühlbar  in  Nr.  3.  Außerdem  würde  man  von  diesem 
Werke  eine  unrichtige  Meinung  fassen,  wenn  man  so  geradehin  dasselbe 
als  einen  Kommentar  der  Kantischen  Tugendlehre  ansehen  wollte.  Wenigstens 
ist  dieser  Kommentar  so  ausführlich,  daß  die  Stütze,  an  welche  er  gelehnt 
scheint,  ihn  wenig  trägt,  und  er  also  größtenteils  auf  eignen  Füßen  ruhen 
muß.  Das  meiste  der  Abhandlung  betrifft  das,  was  die  Kantische  Tugend- 
lehre nur  nennt;  Pflichten  der  Ehe,  der  häuslichen,  elterlichen,  herrschaft- 
lichen Verhältnisse,  Pflichten  in  Ansehung  der  Verwandtschaft,  Nachbar- 
schaft, der  Gemeinheiten,  des  Gewerbes,  der  Industrie,  der  Aufklärung, 
des  Verkehrs,  des  Umgangs,  der  Freundschaft  usw.  Es  mag  schwer  sein, 
über  Dinge  der  Art  viel  Neues  zu  sagen!  Es  wäre  auf  der  anderen  Seite 
ein  Triumph  für  die  Wissenschaft,  wenn  sie  gerade  hier  aus  ihren  ver- 
borgenen Quellen  neue  sittliche  Lebensprinzipien  hervorgehen  lassen  könnte, 
wodurch  die  Gesinnungen  in  einem  bisher  unbekanntem  Grade  veredelt 
würden.  In  dem  angezeigten  Buche  wird  man  dagegen  häufig  an  Knigge 
über  den  Umgang  mit  Menschen  erinnert;  welcher  auch  zitiert  ist,  obgleich 
das  Zitat  keine  völlige  Schadloshaltung  für  das  ist,  was  man  vom  Verf. 
hoffte.  —  Wäre  nur  der  Ton  populärer?  Aber  auch  die  Anzahl  der 
Volkslehrer,  welche  in  diesem  Buche  ein  Mittelglied  finden  können 
zwischen  dem,  was  sie  vortragen  sollen,  und  den  wissenschaftlichen 
Prinzipien  des  Vorzutragenden,  dürfte  ziemlich  beschränkt  sein,  durch  die, 
besonders  im  Anfange  fast  schulmäßige  Sprache.  Doch  werden  aller- 
dings solche  Leser,  die  nur  etwas  philosophische  Bildung  haben,  dieses 
Werk  mit  vielem  Nutzen  gebrauchen  können.  Übrigens  wird  es  bei  der 
Lektüre  desselben  auffallender,  daß  die  Kantische  Moral  dem  Leben 
paßt,  wie  ein  Kleid,  das  hier  zu  eng  ist  und  dort  zu  weit.  Wenn  z.  B. 
der  Verf.  im  Kantischen  Geiste  die  martervollen  Hinrichtungen  als  Ver- 
letzungen der  dem  Vernunftwesen  schuldigen  Achtung  verurteilt;  so  müßte 
es  wohl  einen  großen  Unterschied  machen,  ob  man  den  Verbrecher  an 
ein  wildes  Tier  zur  Nahrung  gleichsam  wegwirft,  oder  aber  ob  sich 
Menschen  —  versteht  sich  ohne  Hochmut,  Afterrede  und  Verhöhnung 
—  eine  ernsthafte  Angelegenheit  daraus  machen,  ihn  zu  peinigen.  Bei 
der  Frage,  iven  man  als  Vernunftwesen  achten  solle,  antwortet  der 
Verf.:  jeden,  der  sich  durch  die  Gestalt  seines  Organismus  als  einen  ver- 
mutlichen oder  möglichen  Menschen  ankündigt,  folglich  auch  dem  Embryo, 
nach  der  Regel,  nichts  zu  tun,  auf  die  Gefahr,  daß  es  unrecht  sei;  — 
bei  den  Tieren  aber  scheint  diese  Gefahr  ganz  vergessen,  wiewohl  ihnen 
der  Verf.  dasselbe  zugesteht,  was  dem  Embryo  zukommt,  daß  sie  näm- 
lich   allerdings    wohl    bestimmt    sein    könnten,     einmal    Vernunftwesen    zu 


Chr.  F.  Callisen:  Kurzer  Abriß  der  philosophischen  Rechts-  und  Sittenlehre.      3^3 


werden.  Wir  bitten  hierauf  den  Begriff  der  Pflicht  gegen  den  Embryo 
zu  merken;  oder  was  ungefähr  dasselbe  ist,  gegen  das  neugeborene  Kind; 
welchem  der  Verf.  in  der  Folge  auch  Ansprüche  an  seine  Eltern  beilegt, 
wiewohl  es  doch  der  bloße  Naturerfolg  ist,  von  einer  Handlung,  wobei 
der  Sittenlehrer  anfangs  nichts  in  Betracht  ziehen  wollte  als  den  Natur- 
trieb, und  das  unmittelbar  durch  ihn  entstehende  Verhältnis  zweier  Per- 
sonen. Hier  hüten  wir  uns  zu  verweilen  bei  dem  Ungedanken,  welchen 
man  Enterbung  einer  Person  genannt  hat,  und  wobei  durch  Wechselseitig- 
keit wieder  gut  gemacht  werden  soll,  was  einseitig  so  unerlaubt  als  un- 
gereimt wäre.  Freue  sich,  wenn  sie  kann,  die  Kantische  und  Fichtesche 
Theorie  der  Ehe,  ihrer  Unangreifbarkeit,  weil  in  der  Tat  sich  schwerlich 
jemand   dazu  hergeben  wird,  hier  in  Erörterung  einzutreten. 

Wundern  dürfen  wir  uns  wohl  nicht,  da,  wo  einmal  Mann  und  Frau 
und  Kinder  beisammen  sind,  nun  auch  das  Gesinde  zu  finden;  denn  es 
ist  hergebracht,  daß  man  an  Familien  ohne  Gesinde,  und  an  Gesinde  ohne 
Familie,  und  an  das  gänzlich  Heterogene  der  häuslichen  und  der  Dienst- 
Verhältnisse,  in  den  Sittenlehren  nicht  denke.  —  „Schmiedet  keine  Heiraten, 
und  beratet  keine  Ehescheidungen,  denn  dies  gibt  gewöhnlich  schlechten 
Lohn."  —  ,,Wählt  einen  Beruf,  hauptsächlich  damit  die  Kraft  beschäftigt 
sei  und  nicht  auf  Abwege  gerate,  —  wäre  es  auch  nur  der  Beruf,  das 
eigene  Vermögen  mif  irgend  eine  Art  anzulegen."  Wir  enthalten  uns  der 
Bemerkungen  über  diese  Ratschläge,  um  noch  von  den  religiösen  Äußerungen 
der  Verf.  etwas  hervorzuheben.  Zuerst  ein  Punkt  über  welchen  Rez. 
vollkommen  mit  demselben  übereinstimmt:  die  theologische  Behauptung, 
das  Menschengeschlecht  entbehre  aller  eigenen  Kraft,  zur  Besserung,  sei 
nicht  nur  theoretisch,  eine  Erdichtung,  sondern  auch  praktisch,  eine  Be- 
leidigung. Es  widerspreche  sich,  gewissen  Wesen  von  einer  moralischen 
Besserung  vorzureden,  denen  man  doch  eine  natürliche  und  angeborene 
Verdorbenheit  zuschreibe.  —  Gewiß,  es  widerspricht  sich!  Aber  was  soll 
man  nach  Kantischer  Lehre  —  möchten  wir  Hrn.  Tieftruxk,  als  deren 
vertrauten  Kenner,  fragen,  —  bei  den  Worten:  Besserung  und  Ver- 
schlimmerung, denken?  Was  ist  überhaupt  im  Menschen  das  moralische 
Schwanken?  Andere  würden  bereit  sein  mit  der  Antwort:  Eine  Reihe 
successiver  Selbstbestimmungen  durch  Freiheit!  iVber  Hr.  T,  weiß  viel  zu 
gut,  daß  das  Sinnenleben  ifi  Ansehung  des  intelligibeln  Beivußtseins  oder  der 
Freiheit,  absolute  Einheit  des  Phänomens  hat,  und  „daß  die  freie  Kausalität 
von  der  frühen  Jugend  an  ihren  Charakter  in  ihren  Erscheinungen  aus- 
drückt" (Kakts  Kritik  der  pr.  V.  S.  177);  daß  demnach  von  einer  Ver- 
änderlichkeit der  intelligibeln  Selbstbestimmung,  ivodnrch  das  Ti ajiszendentale 
in  die  Zeit  fiele,  gar  keine  Rede  sein  dürfe.  Also  entweder  keine  trans- 
zendentale Freiheit,  oder  keine  Besserung,  keine  Belehrung,  keine  Er- 
ziehung, keine  Bücher  über  INIoralphilosophie,  es  wäre  denn  zur  Unter- 
haltung. - —  Doch  bedenke  jeder  dies  rasche  Also,  solange  er  will!  Mögen 
nur  alle  seltsamen  Glaubensartikel  aus  dem  Spiel  bleiben.  Gerade  bei 
Hrn.  T.  hat  man  Ursache  sich  dagegen  zu  verwahren,  der  sogar  in 
der  Pflicht,  die  Verstorbenen,  z.  B.  einen  Sokrates,  Cato,  Antonin, 
nicht  zu  verunehren,  den  Grund  findet,  ihr  fortdauerndes  Dasein  für  wahr 
zu    halten:    damit    nicht    demjenigen,    wofür    das    Gesetz    unvergängliche 


c>^  1  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


Achtung  fordert,  ein  Vorübergehen  beigelegt  werde.  Aber  die  Achtung 
gebührt  der  Idee,  ohne  Frage  nach  dem  was  sei  oder  nicht  sei.  —  Will 
man  noch  wissen,  wie  der  Verf.  über  den  statuarischen  Kirchenglauben 
denkt,  so  ist  alles  gesagt  in  den  Worten:  „der  Staat  geht  überall  der 
Kirche,  der  Bürger  dem  Glaubensgenossen  voran."  —  „Religion  hat  es 
wohl  nie  in  der  Welt  mehr  gegeben  als  jetzt,  denn  nie  war  diese  im 
ganzen  genommen  so  aufgeklärt  als  jetzt."  „Es  reformiere  sich  also  die 
Kirche  nur  zu  einem  moralisehen  Erbaiiungshaiise,  ihre  Diener  suchen  nur 
durch  V/orte  der  Weisheit  ihren  Beifall,  und  geben  selbst  das  Beispiel 
der  Tugendliebe  und  Aufgeklärtheit,  so  wird  ihnen  die  gebührende  Achtung 
auch  nicht  entstehen."  Man  sieht,  wie  weit  Hr.  T.  von  aller  Mystik  entfernt 
ist.  Wo  möglich  noch  mehr  abhold  ist  ihr  der  Rez.;  aber  gleichwohl  zweifelt 
er  sehr,  ob  die  trockene  Aufgeklärtheit  irgend  einer  bloß  moralisierenden 
Weisheit,  das  menschliche  Gemüt  zu  befriedigen,  vollends  zu  erbauen,  im 
Stande  sei.  Dem  kategorischen  Imperativ  gebührt  Gehorsam,  aber  nicht 
Staunen;  er  ist  streng,  aber  nicht  erhaben.  Das  Erhabene  und  Erhebende 
ist  nicht  das,  was  mit  dem  Menschen  über  seine  Vergehungen  rechtet. 
Eher  das,  was  sie  verzeiht,  sie  auslöscht,  sie  in  seiner  eigenen  Größe  ver- 
schwinden macht;  —  das,  was,  unfähig,  beleidigt  zu  werden,  unerschöpfliche 
Hilfe  bereit  hält  für  den,  der  sich  selbst  beleidigte.  Nach  diesem  Er- 
habenen trachtet  der  Mensch,  der  Gebildete  wie  der  Rohe.  Es  ist  zu 
versinnlichen,  strebt  die  Kirche,  und  strebt  in  ihrem  Dienst  der  ganze 
Verein  der  Künste. 


Fichte,  Johann  Gottlieb,  Die  Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeit- 
alters, in  Vorlesungen,  gehalten  zu  Berlin,  im  Jahre  1804 — 5.  — 
Berlin,  im  Verlage  der  Realschulbuchhandlung,  1806.  VIII  u.  563  S. 
in  8.     (2   Thlr.  8  gr.) 

Gedruckt  in:  Neue  Leipziger  Literatur-Zeitung.     9.  Stück,  den   31.  Januar   1807. 

S.  129 — 136. 

Was  unter  diesem  Titel  gegenwärtig  als  Buch  vor  dem  lesenden 
Publikum  liegt,  war  ursprünglich  eine  Reihe  mündlicher  Vorträge  für  einen 
engem  Kreis,  wie  ihn  die  gebildeten  Stände  einer  Hauptstadt  darbieten 
konnten.  Wir  lassen  demnach  zuvörderst  das  Buch,  und  betrachten  die 
Vorträge  als  solche;  da  sie  uns  in  dieser  Form  gegeben  werden.  Wird 
der  Redner,  wie  er  als  Person  in  die  Mitte  der  schweigenden  Zuhörer 
hineintritt,  so  auch  mitten  in  ihren  Gedankenkreis,  seine  Gedanken,  ohne 
alle  Vorbereitung,  plötzlich  hinstellen  ?  Oder  wird  er  anfangs  seine  Sprache 
ihnen  leihen,  daß  sie  sich  selbst  zu  hören  glauben,  um  ferner  aus  ihren 
Gedanken  die  seinen  als  die  ihrigen  hervorgehen  zu  machen?  „Es  darf 
Sie  nicht  befremden,  wenn  im  Anfange  nichts  diejenige  Klarheit  hat,  die 
es  nach  dem  Grundgesetze  aller  Mitteilung  erst  durch  das  Nachfolgende 
erhalten  kann;  und  ich  muß  Sie  ersuchen,  die  vollkommene  Klarheit  erst 
am   Schlüsse  zu  erwarten."    Dieser  Antwort  gemäß,  sehen  wir  denn  auch 


].  G.  Fichte:  Die  Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters.  '\^5 

weder  von  vorn  herein,  noch  im  Verfolg  irgend  eine  besondere  Rücksicht 
auf  die  Art  der  Bildung,  welche  die  Zuhörer  mitbrachten,  am  wenigsten 
irgend  eine  Spur  von  Lokalität;  dagegen  aber  die  ausgedehnteste  x\n- 
wendung  der  Maxime:  man  muß,  um  Vernünftige  zu  machen,  a/s  zu 
Vernünftigen  reden.  Das  heißt  hier:  man  muß  dem  Wahrheitssinne  der 
Zuhörer  zutrauen,  daß  ihnen  die  Ansichten  des  Systems  ohne  weiteres 
annehmlich  sein  werden.  Dies  bestimmt  den  Charakter  der  vorliegenden 
Folge  von  Reden. 

Bald  anfangs  tritt  ein  Weltplan  hervor;  nach  folgender  Formel:  Det 
Zweck  des  Erdenleberis  der  Menschheit  ist  der,  daß  sie  in  demselben  alle  ihre 
Verhältnisse  mit  Freiheit  nach  der  Vernunft  einrichte.  Soll  dies  mit  einer, 
der  Gattung  bewußten,  und  für  ihre  eigene  freie  Tat  angesehenen  Freiheit 
geschehen,  so  wird  in  demselben  Bewußtsein  der  Gattung  ein  Zustand 
vorausgesetzt,  in  welchem  diese  Freiheit  noch  nicht  eingetreten;  — 
keinesv/egs  also,  daß  die  Verhältnisse  der  Gattung  überhaupt  nicht 
nach  der  Vernunft  geordnet  seien,  denn  sodann  vermöchte  die  Gattung 
gar  nicht  zu  bestehen,  sondern  daß  diese  Unterordnung  nur  nicht  durch 
Freiheit,  sondern  durch  die  Vernunft  als  blinde  Kraft,  d.  h.  durch 
den  Vernunft-Instinkt  (?)  durchgesetzt  worden.  Der  Instinkt  ist  blind ;  die 
ihm  gegenüberstehende  Freiheit  müßte  daher  sehend,  d.  i.  eine  Wissen- 
schaft der  Vernunftgesetze  sein,  nach  denen  die  Gattung  mit  freier  Kunst 
ihre  Verhältnisse  zu  ordnen  hätte.  Aber  sodann  müßte  zuvörderst  die 
Gattung,  um  zur  Vernunft- Wissenschaft,  und  von  dieser  aus  zur  Vernunft- 
Kunst  kommen  zu  können,  erst  von  dem  blinden  Antriebe  des  Vernunft- 
Instinkts  sich  losgemacht  haben.  Dieser  aber,  inwiefern  er  als  blinde 
Kraft  in  der  Menschheit  selber  waltet,  kann  sie  nicht  anders,  als  lieben, 
—  weit  entfernt,  daß  sie  von  ihm  sich  losreißen  auch  nur  wollen  sollte. 
Er  müßte  daher  nicht  in  ihr  selber,  wenigstens  nicht  allgemein,  walten, 
sondern  ihr  nur  als  fremder  Instinkt  einiger  weniger  Individuen,  durch 
eine  äußere  Autorität  und  Gewalt,  aufgedrungen  werden,  —  gegen  welche 
äußere  Autorität  nun  sie  sich  setzte,  und  unmittelbar  von  dieser  —  mittel- 
bar aber  mit  ihr  zugleich  von  der  Vernunft  in  der  Gestalt  des  Instinktes, 
und,  da  diese  Vernunft  in  anderer  Gestalt  noch  gar  nicht  vorhanden  ist, 
von  der  Vernunft  in  jeglicher  Gestalt  befreiete. 

Diese  Deduktion  ergibt  fünf,  einzig  und  allein  mögliche,  und  das 
ganze  irdische  Leben  der  menschlichen  Gattung  erschöpfende,  Haupt- 
Epochen,  I.  die  des  Vernunft-Instinkts;  2.  diejenige,  da  dieser  Instinkt 
schwächer  (?)  geworden  (?)  und  nur  noch  in  wenigen  Auserwählten  (?) 
sich  aussprechend,  durch  diese  wenigen  in  eine  zwingende  äußere  Autorität 
für  alle,  verwandelt  wird;  3.  diejenige,  da  die  Autorität,  und  mit  ihr  die 
Vernunft,  abgeworfen  wird;  4.  die,  da  die  Vernunft  in  der  Gestalt  der 
Wissenschaft  allgemein  in  die  Gattung  eintritt;  5.  diejenige,  da  zur  Wissen- 
schaft sich  die  Kunst  gesellt,  welche  das  Leben  mit  sicherer  Hand  nach 
der  Wissenschaft  gestaltet. 

Es  wird  nunmehr  den  Zuhörern  angemutet,  wie  auf  einer  vorgelegten 
Landkarte  den  eignen  Standpunkt,  so  in  der  Reihe  dieser  Epochen,  das 
gegenwärtige  Zeitalter  zu  finden.  Wie  viele  Fragen  mochten  hier  die 
Mehrern   wie   viele  Verneinungen    die  Selbstdenker   zu  unterdrücken   wohl 


:j  o  5  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


gehabt  haben.  —  und  welche  neue  Befremdung  bereitet  sich,  indem  jetzt 
die  heutige  Zeit  als  die  mittlere,  dritte  Epoche,  —  als  der  Stand  der 
vollendeten  SündJiaftigkeit,  verkündigt  wird.  Doch  dies  ist  der  kleinere  Teil 
der  Schulden,  welche  der  Philosoph  um  sein  Wissen  popularisieren  zu 
können,  bei  den  Hörern  macht.  Der  Weltplan  samt  seinen  Epochen 
ließe  sich  wohl  noch  an  eine  Menge  bekannter  Reflexionen,  die  seit 
vielen  Jahren  in  Umlauf  gesetzt  waren,  anknüpfen;  —  der  Gang  von 
einer  unbewußten  Reinheit,  durch  die  Schuld  zur  bewußten  Tugend, 
schwebte  im  allgemeinen  vielleicht  einem  jeden  vor,  und  die  näheren 
Bestimmungen,  von  der  Gattung,  von  einer,  sich  erhebenden,  und  wieder 
abgworfenen  Autorität,  —  hätten  sich  einfügen  lassen.  Aber  bereits  in 
der  zweiten  Vorlesung  wird  die  Versammlung  aufgefordert,  Sätze  vorläufig 
zu  leihen,  die  als  „ungeheure  Paradoxa"  denen  allerdings  erscheinen 
mußten,  welche  nicht  schon  durch  die  Geschichte  der  Philosophie  an 
dieselben  gewöhnt  waren.  „Es  ist  der  größte  Irrtum,  und  der  wahre 
Grund  aller  übrigen  Irrtümer,  welche  mit  diesem  Zeitalter  ihr  Spiel  treiben, 
wenn  ein  Individuum  sich  einbildet,  daß  es  für  sich  selber  da  sein 
und  leben,  und  denken  und  wirken  könne,  und  wenn  einer  glaubt,  er 
selbst,  diese  bestimmte  Person,  sei  das  Denkende  zu  seinem  Denken,  da 
^r  doch  nur  ein  einzelnes  Gedachtes  ist  aus  dem  Eine7i  allgemeinen ,  und  7iot- 
ivendigen  Denken.^'-  Hr.  F.  nun  will  auf  eine  populäre  Weise  einen  jeden 
von  seiner  eigenen  stillschweigenden  Voraussetzung  desselben  überführen. 
Er  versucht  demnach  ein  unaustilgbares  Prinzip  des  eignen  Urteils  fühlbar 
zu  machen,  des  Inhalts:  daß  das  persönliche  Leben  an  die  Idee  gesetzt 
werden  solle,  —  und  das  persönliche  Dasein  eigentlich  und  in  der  Wahrheit 
gar  nicht  sei,  da  es  aufgegeben  werde,  werden  solle,  dagegen  das  Leben  in 
der  Idee  allein  sei,  indem  es  allein  behauptet,  und  durchgesetzt  werden 
solle.  Man  vermutet  wohl,  und  mit  Recht,  daß  hier  über  das,  was  ge- 
schehen soll,  über  das  Setzen  des  Daseins  an  die  Idee,  manches  Treffliche  ge- 
sagt ist,  —  und  wir  hüten  uns,  dem  zu  widersprechen.  Ungünstig  aber 
müßte  man  von  dem  Scharfsinne  der  Zuhörer  urteilen,  welche  hier  das 
Ineinandergreifen  zweier,  vollkommen  heterogener,  und  nie  genug  zu 
trennender  Gedanken,  nicht  wenigstens  als  eine  Dunkelheit  empfunden 
haben  sollten.  Des  theoretischen  Gedankens  nämlich,  von  dem  Einem 
und  den  Vielen,  und  des  praktischen,  von  der  Idee.  Hr.  F.  freilich, 
Rez.  muß  es  beklagen,  hat  sich  dem  Irrtum  derer  nicht  entrissen,  welche 
keine  praktische  Idee  meinen  festhalten  zu  können,  wenn  sie  sie  nicht 
dem  Reellen  ankleben  und  welchen  das  Sollen  sich  immer  wieder  zum 
Sein  vergröbert.  Da  aber  aus  dem  Sein  das  Sollen  ebensowenig  yö/^/"  als  sich 
dieses  an  jenes  heften  läßt,  so  muß  denn  in  die  P'uge  ein  oft  gebrauchter, 
und  oft  verworfener,  Mörtel  gestrichen  werden:  Alles  Leben  liebe  notwendig 
sich  selbst,  und  so  müsse  auch  das  vernunftgemäße  Leben  sich  lieben,  und 
als  das  wahre  und  rechte  Leben  sich  lieben  über  alle  andere  Liebe. 

Wie  sehr  dadurch  die  Ideen  selbst  entstellt  werden,  wird  dem  Rez. 
klar  in  der,  bald  folgenden,  Beschreibung  der  Idee:  sie  sei  ein  selb- 
ständiger, in  sich  lebendiger,  und  die  Materie  belebender  Gedanke;  es 
wäre  aber  vergeblich,  in  einer  Rezension  darüber  zum  lesenden  Publikum 
zu    sprechen,    welches    durch    eine    ganze    Reihe    von    Schriftstellern    seit 


J.  G.  Fichte:  Die  Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters.  ^^7 


geraumer  Zeit   an   ähnliche  Entstellungen    ist  gewöhnt  worden.     Rez.    be- 
gnügt sich,    den  bestimmtesten  Ausdruck,    samt  der  ferneren   Entwicklung 
des  Verfs.  hervorzuheben:   Wie  die  Idee  in  ihrem  Wesen,  so  ist  die  Selig- 
keit des  Lebens  in  der  Idee  allenthalben  sich  gleich,  und  dieselbe;  näm- 
lich das  unmittelbare  Gefühl   ursprünglicher,   rein  und  schlechthin  aus  sich 
selbst  hervorgehender,  Tätigkeit.     Jedoch  in  Absicht  der  Gegenstände,    in 
welche  diese  ursprüngliche  Tätigkeit,   innerhalb  unseres  Gefühls  und  Bewußt- 
seins ausströmt  und  sich  darstellt,  gibt  es  verschiedene  Formen  der  Einen 
Idee,  oder,  wenn  man  will,  verschiedene  Ideen.     Die  erste  Art  des  Aus- 
flusses  der  Urtätigkeit    ist    die   in  Materie   außer   uns,    vermittelst   unserer 
eignen   materiellen   Kraft,   —    die  schöne  Kunst.      Die   zweite  ist    das   Aus- 
strömen   der  Urtätigkeit    in    die   gesellschaftlichen  Verhältnisse.      Die    dritte, 
—  in   das  Nacherschafifen   des  gesamten  Universum   aus    dem  Gedanken; 
die    Wissenschaft.      Die   vierte   Form    der    Idee    ist    das    Hinströmen    aller 
Tätigkeit    und    alles  Lebens,    mit   Bewußtsein,    in   dem  Einen,   unmittelbar 
empfundenen,     Urquell      des    Lebens;     die     Religion.    —    So     sind     wir 
abermals   in    einer    bekannten   Sphäre;    und    wer  jemals   der    Kunst,    oder 
der  Gesellschaft,  oder  der  Wissenschaft,  oder  der  Religion,    sich  mit  dem 
unmittelbaren  Gefühl  ursprünglicher  Tätigkeit,  kräftig  und  fröhlich  hingab, 
der  wird  —  wenn  selbst  die  Wissenschaft  nichts  Höheres  kennt,  als  eben 
diese  Tätigkeit  —  bloß   das    nicht    begreifen,    wozu   wohl    die  Erwähnung 
jenes    Ungeheuern  Paradoxons    von  der  Identität    aller  Menschen   in    dem 
Einen  allgemeinen   Denken,   in  diesen  so  sehr  populären  Vorträgen    habe 
dienen  sollen  ?  Doch  nicht,  um  dadurch  das  Gefühl  der  Selbsttätigkeit  auch 
an  diejenigen    zu  bringen,    welche  dieses  Selbstgefühl  nicht    in   sich   selbst 
fühlen?   —   Diese  letztern  mit  sich  unzufrieden  zu  machen,    und  die  Last 
des  Tadels,  welche  der  Verf.  auf  sie  zu  häufen  hat,  vielmehr  als  eine  Kraft 
des  Selbsttadels  in  ihrer  eignen  Brust  aufzuregen,  dies  war  doch  vermut- 
lich der  eigentliche  Zweck  dieser  Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters. 
Aber  ein  philosophische.s   Dogma   —   welches    noch  überdies    dem  Wider- 
spruch  anderer  Philosophen    entgegentritt    —    wird  zunächst    eine  Last    für 
das  Gedächtnis,   und  weiterhin   ein   Keim  der  Grübelei.     Denn  auch  nicht 
einmal    der  spekulative  Trieb    kann  zur   urspiiinglichen  Entwicklung  gereizt 
werden  durch  einen  Satz,  der  als  gerader  Widerspruch  gegen  die  bisherige 
Denkart  auftritt. 

Wir  haben  aus  dem  vor  uns  liegenden  Buche  genug  mitgeteilt,  damit 
das  übrige  mit  ziemlicher  Sicherheit  vermutet  werden  könne.  Nachdem 
die  Grundmaxime  des  Zeitalters  festgestellt  war,  diese  nämlich:  zu  ver- 
weifen,  was  es  nicht  begreife.^  und  nichts  zu  begreifen,  als  was  sich  auf  per- 
sönliches Dasein  und  Wohlsein  beziehe:  mußte,  nach  den  angegebenen 
Formen  der  Idee,  der  Geist  der  Zeit  in  Rücksicht  auf  den  künstlerischen, 
gesellschaftlichen,  wissenschaftlichen,  religiösen  Zustand  beschrieben  werden. 
Man  wird  von  selbst  erwarten,  daß  dabei  die  Gelegenheit,  aus  dem 
eignen  Systeme  zu  erzählen,  mehrfach  benutzt  worden  sei;  welches  Erzählen 
nur  dadurch  ein  wenig  verdorben  wird,  daß  mitunter  den  Hörern  auch 
ein,  wie  es  dem  Rez.  sich  darstellt,  sprungweise  fortgehendes  Räsonieren 
aus  hingestellten  Voraussetzungen,  angemutet  wird.  Wie  der  systematische 
Geist  des  wahrhaft  großen  Denkers  es  ertragen  mochte,  solche  Unformen 

Herbarts  Werke.     Xni.  22 


2  7  8  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


und  Unwissenschaftlichkeiten  hinzustellen:  soll,  muß  Rez.  etwa  auch  dies 
aus  seiner  unvorteilhaften  Meinung  vom  Zeitalter  sich  erklären?  Wir 
unseres  Orts,  verbieten  uns  gänzlich,  unsere  Leser  durch  fernere  Relationen 
aus  dem  Buche  zu  unterhalten;  kurz  zusammengedrängt,  würde  das  Aus- 
gehobene nur  noch  mehr  als  sonderbare  Meinung  erscheinen.  Leser  aber 
dem  Buche  zu  wünschen,  haben  wir  ohne  Zweifel  nicht  nötig;  die  Kraft 
der  Rede  wird  ihm  dieselbe  festhalten,  sowie  der  Ruhm  des  Verf.  sie 
herbeiziehen.  Sollte  jemand  erwarten,  die  starke  Unzufriedenheit  mit  der 
Gegenwart  möchte  einer  langen  Lektüre  von  563  Seiten  am  Ende  zu 
lästig  werden:  so  können  wir  hinzusetzen,  daß  die  Mannigfaltigkeit  der 
Gegenstände  auch  hinreichende  Abwechslung  des  Tons  herbeigeführt;  ja 
die  Schilderung  des  politischen  und  religiösen  Zustandes  ist  so  sehr  ge- 
mildert worden,  daß  der  Verdruß  über  die  wissenschaftlichen  Angelegen- 
heiten nur  zu  sehr  allein  bleibt. 

Ein  Verdruß  über  das  lesende  Publikum  äußert  sich  auf  eine  höchst 
auffallende  Weise  in  der  Vorrede  zu  dieser,  sowie  zu  zweien  andern, 
fast  gleichzeitigen  Schriften  desselben  Verfassers.  Wollte  der  Verf.  durch 
diese  Vorreden,  dreifach  wiederholt  das  Publikum  auffordern,  die  Werke, 
worin  er  sich  über  alle  Zeit  zu  erheben  versichert,  selbst  als  Phänomen 
der  Zeit  zu  betrachten?  Sie  wären  es  ohnehin  gewesen;  und  eine  Zeit- 
schrift, wie  die  gegenwärtige,  hat  den  Beruf,  aufmerksam  zu  machen  auf 
ein  so  merkwürdiges  Ereignis  in  der  wissenschaftlichen  Welt,  wie  diese 
Spaltung  zwischen  dem  philosophierenden  Deutschland,  und  dem  Manne, 
den  es  vielleicht  als  seinen  größten  Denker  anerkennen  sollte. 

Man  wird  sich  wohl  nicht  verhehlen  wollen,  welche  Mahnung  darin 
liegt,  zurückzublicken  auf  die  Zeit,  da  dieser  Mann  zuerst  auftrat,  auf  die 
Art  des  Beifalls,  womit  man  ihn  empfing,  —  auf  das  nachlässige  Leseti 
seiner  Werke,  an  denen  man  sich  bald  anfing  durch  grundlosen  Tadel  zu 
rächen  für  die  unüberwundenen  Schwierigkeiten,  wodurch  sie  imponierten, 
—  auf  alles  das,  wodurch  man  ihn  reizte,  sich  mit  Härte  und  Bitterkeit 
zu  äußern,  und  es  ihm  nach  Möglichkeit  verleidete,  die  staunenswerte, 
spekulative  Gewalt  seines  Geistes  so  rein  innerlich  zu  beschäftigen,  wie 
es  nötig  war,  wenn  vollendete  Produkte  dadurch  gewonnen  werden  sollten. 

Nur  zu  leicht  werden  manche  über  dergleichen  Erinnerungen  hinweg- 
zukommen suchen,  indem  sie  dem  Verf.  selbst  die  Schuld  zuschreiben, 
der  es  nicht  vermied,  durch  starke  Mittel  die  Zweifel  zu  erdrücken, 
welche  ihm  selbst  willkommen  sein  konnten,  solange  seine  Werke  nicht  die 
letzte  Vollendung  erhalten  hatten.  Immerhin  mag  es  die  Sprache  der 
Nemesis  sein,  die  in  seinem  Bekenntnis  redet:  er  sei  an  dem  größern 
Publikum  also  irre  geworden,  daß  er  nicht  mehr  wisse,  wie  man  zu  dem- 
selben sprechen  solle.  —  Bleibe  nun  jeder  seinen  Betrachtungen  überlassen 
über  das,  in  der  Tat  auf  beiden  Seiten  schwierige  Verhältnis  zwischen  dem 
Publikum  und  einem  Denker,  der  eine  große  Gedankenreform  ankündigt; 
und  über  die  Nachsicht,  zu  welcher  man  wohl  auch  von  beiden  Seiten 
sich  bewogen  finden  könnte. 

Wie  die  Sache  liegt:  wird  das  Publikum  bedauern,  daß  einer  seiner 
ersten  Schriftsteller  ihm  nur  das  hat  mitteilen  wollen,  was  ohnehin  zu 
einem  andern  Behuf  ausgearbeitet  einmal  vorhanden  war;  ohne  auch  nur 


J.  G.  Fichte:  Die  Gmndzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters.  33 g 


die  leichtern  Veränderungen  damit  vorzunehmen,  welche  der  schriftliche 
Stil  erfordert,  um  sich  von  den  Dehnungen  und  Einschiebseln  des  freieren 
mündlichen  Vortrages  gehörig  loszumachen.  Rez.  aber  bedauert,  daß 
Fichte,  derselbe,  dem  wir  das  Streben  nach  hohem,  wissenschaftlichen 
Formen  eigentlich  und  einzig  zu  verdanken  haben,  mit  einer  INIischung 
aus  populären  Akkommodationen  und  hingeworfenen  Behauptungen  sich 
eben  in  dem  Augenblick  begnügte,  wo  er  seine  Lehre,  deren  Materialien 
und  Wendungen  gleich  bunt  erscheinen  müssen,  ganz  laut  als  Schwärmerei 
anzuklagen  unternahm.  Ihm  kam  es  doch  wohl  zu,  sich  eben  jetzt  in 
seiner  wahren  Größe  zu  zeigen,  und  durch  ein  Werk  der  reinen  und 
strengen  Spekulation  —  gleichviel  ob  von  großem  oder  geringem  Umfange, 
—  den  Ulysses  -  Bogen  hinzulegen.  Alsdann  würde  der  Gedanke,  den 
jetzt  seine  Worte  veranlassen  können,  als  habe  er  entlehnt,  um  zu  ver- 
bessern, wohl  fem  genug  geblieben  seien.  Zwar,  auch  so  haben  wir 
Mühe,  zu  glauben,  daß  dieser  Gedanke  irgend  einem  Kenner  der  früheren 
Fichteschen  Werke  im  Ernst  eingefallen  sei.  Nicht  nur  ist  es  leicht  ge- 
nug, das  Wissen,  welches  schlechthin  ist,  samt  der  Welt,  die  nur  im  Wissest 
ist,  (S.  281)  auf  das  Ich  zurückzuführen;  nicht  nur  erinnert  das  Normal- 
Volk  mit  seinen  Kolonien,  deutlich  genug  an  die  wohlbekannte  Auf- 
forderung zur  Vernünftigkeit,  für  welche  schon  im  Naturrecht  (S.  32)  ein 
Geist  war  herbeigerufen  worden:  sondern  auch  die  einzige  große  Untreue, 
welche  Fichte  am  Idealismus  begeht,  indem  er  alle  Individuen  auf  eine 
Linie  stellt,  und  sie  sämtlich  in  das  Eine  absolute  Wissen  einschließt,  — 
ist  so  wenig  etwas  Neues,  daß  ihr  Grund  sowohl  als  ihr  Ort  im  System, 
für  den  Leser  der  Bestimmung  des  Menschen,  nicht  der  mindesten  Er- 
läuterung weiter  bedürfen.  Der  Glaube  ist  es,  welchem  sich  hier  die 
Spekulatio7i  ganz   besonnen  geopfert  hat.    — 

Es  schweben  mir  vor  Erscheinungen  im  Räume  —  so  lesen  wir 
(S.  205  der  Best.  d.  M.)  —  auf  welche  ich  den  Begriff  meiner  selbst 
übertrage;  ich  denke  sie  mir  als  Wesen  meinesgleichen.  Eine  durch- 
geführte Spekulation  hat  mich  ja  belehrt,  oder  wird  mich  belehren,  daß 
diese  vermeinten  Vernunftwesen  außer  mir  nichts  sind,  als  Produkte  meines 
eignen  Vorstellens,  daß  ich  nun  einmal,  nach  aufzuweisenden  Gesetzen 
meines  Denkens,  genötigt  bin,  den  Begriff  meiner  selbst  außer  mir  selbst 
darzustellen,  und  daß,  nach  denselben  Gesetzen,  dieser  Begriff  nur  auf 
gewisse  bestimmte  Anschauungen  übertragen  werden  kann.  Aber  die 
Stimme  des  Gewissens  ruft  mir  zu:  was  diese  Wesen  auch  an  und  für 
sich  seien,  du  sollst  sie  behandeln  als  für  sich  bestehende,  —  von  dir 
ganz  und  gar  unabhängige  Wesen."  Es  gebührt  sich,  fest  zu  glauben, 
was  man  einmal  glauben  will:  es  gebührt  sich,  diesen  Glauben  wohnbar 
zu  machen,  sich  darin  häuslich  einzurichten.  Kein  Wunder  also,  daß  die 
Spekulation,  welche  sich  für  jetzt  zum  Schweigen  bewogen  findet,  bald  sogar 
hilfreich  herzutritt,  und  sich  auf  Fragen  einläßt,  die  wahriich  nicht  ihr, 
sondern  nur  dem  Glauben  einfallen  konnten.  „Wie  haben  freie  Geister 
Kunde  von  freien  Geistern?  —  nachdem  wir  wissen,  daß  freie  Geister 
das  einige  Reelle  sind,  und  an  eine  selbständige  Sinnenwelt,  durch  welche 
sie  aufeinander  einwirkten,  gar  nicht  mehr  zu  denken  ist."  Hier  haben 
wir    den   halben  Idealismus,    der   die  Natur   aufhebt,    die   Menschen    aber 


22-^ 


-lAQ  J.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


stehen  läßt,  —  und  wer  die  vorhergegangenen  Spekulationen  für  richtig 
hält,  der  wundere  sich  an  dieser  Stelle  nicht  über  Mangel  an  Scharfsinn, 
sondern  staune  mehr  über  die  Großmut  des  Scharfsinns  gegen  das  Pflicht- 
gefühl, welche  allein  eine  solche  Denkart  erzeugen  durfte.  Die  gemein- 
schaftliche geistige  Quelle,  durch  welche  die  endlichen  Vernunftwesen  nun 
voneinander  wissen,  durch  welche  es  für  sie  eine  gemeinschaftliche  Sinnen- 
welt gibt,  hat  mit  der  res  extensa  et  cogitans  des  Spinoza,  systematisch 
betrachtet,  nicht  das  mindeste  gemein;  die  wahre  Wurzel  des  Systems 
ist  und  bleibt  Id-ealismus,  und  dadurch  unterscheidet  er  sich  sehr  schart 
von  jenem,  aus  dem  Idealismus  verbesserten  Spiiiozismus ^  der  sich  die 
Natur  nicht  will  nehmen  lassen,  und  der  neben  dem  Menschen  auch  noch 
die  Tiere  beibehalten  möchte.  —  Ehe  nun  jemand  über  diese  Sache 
weiter  redet,  wolle  er  zurückkehren  zu  den  älteren  Fichteschen  Werken 
und  sich  nicht  verdrießen  lassen,  den  ganzen  Abschnitt  vom  Glauben,  in 
der  „Bestimmung  des  Menschen"  bedächtig  zu  lesen,  auch  in  der  „Sitten- 
lehre" einige  Parallelstellen  aufzusuchen,  welche  wenigstens  historisch  wichtig 
sein  können.  Rez.  aber,  der  des*  nicht  bedarf,  weil  ihm  die  Fichtesche 
Spekulation,  so  wenig  wie  der  Spinozismus,  oder  ein  Gemisch  aus  beiden, 
von  vornherein  gelten  kann;  hat  desto  unbefangener  zu  vergleichen  und 
entgegenzusetzen,  von  dem  bloß  formalen  Interesse  an  dem  systematischen 
Zusammenhange  sich  getrieben  gefühlt;  und  eben  diesem  Interesse  mag 
es  eingeräumt  werden,  hier  noch  den  Wunsch  zu  äußern,  daß  der  Eifer 
für  das  Studium  der  streng  wissenschaftlichen  Fichteschen  Schriften  wieder 
erwachen  möge,  nicht  der  Lehren  wegen,  aber  um  der  Form  willen,  so- 
fern dieselbe  ein  wahrhaft  spekulatives  Streben  nach  festen  und  willkür- 
losen Fortschreitungen  im  Denken  deutlicher  verrät  und  stärker  aufreizt, 
als  man  dies  von  den  Werken  irgend  eines  andern  Philosophen  älterer 
und  neuerer  Zeit  möchte  rühmen  dürfen. 


1.  Guts  Muths,  J.   C  F.,   Kurzer  Abriß  der  deutschen  Gymnastik, 

ein  Leitfaden  für  Lehrer  und  Schüler.  (Auch  unter  dem  Titel: 
Katechismus  der  Turnkunst.)  —  Frankfurt  a.  M.,  bei  Wilmans,  1818. 
(Preis:    12   Gr.) 

2.  Kayfsler,    A.  B. ,    Professor   der   Philosophie    usw.,    Würdigung   der 

Turnkunst  nach  der  Idee.   —    Breslau,  bei  Joseph  Max,   1818. 

3.  Steffens,  Henrich,  Turnziel.     Ebendaselbst.     (Preis:    16  Gr.) 

4.  Passow,  Dr.  Franz,  Turnziel.     Turnfreunden  und  Turnfeinden.  — 

Ebendaselbst.     (Preis:   22   Gr.) 

5.  Passow,  Franz,  Prof.  an  der  Königl.  Universität,  Zur  Rechtfertigung 

meines  Turnlebens   und  meines  Turnziels.  —   Ebendaselbst. 

Gedruckt  in :    Hermes   oder   kritisches  Jahrbuch   der  Literatur.     Zweites  Stück    für   das 

Jahr  18 19. 

Das  Turnwesen,    an   sich   gut    und  heilsam,   würde  ein  ebenso  klarer 
Gegenstand   sein,    wenn    es   nicht   durch   zufällige    Beimischungen   entstellt 


*  Original:  ^,des   der^' 


J.  C.  F.  Guts  Muths:  Kurzer  Abriß  der  deutschen  Gymnastik.  ^41 


wäre.  Es  entspricht,  seiner  Natur  nach,  zweien  Forderungen  zugleich, 
die  längst  aufgestellt  waren,  ehe  den  Mann,  der  ihm  seinen  jetzigen  Namen 
gab,  die  Zeitumstände  so  sehr  begünstigten,  daß  er  es  im.  großen  zur 
Ausführung  bringen  konnte.  Die  beiden  Forderungen  sind:  erstlich,  eine 
durchgehends  zweckmäßige  und  zulängliche  Übung  des  Leibes;  und  zweitens, 
Anordnung  einer  solchen  Lebensart  für  die  Jugend,  wobei  sie  nach  eigenem, 
und  zwar  nach  eigenem  richtigen  Sinne,  eine  in  ihren  Augen  ernste  Wirk- 
samkeit betreiben  könne.  Die  erste  Forderung  ist  sehr  bekannt;  insbesondere 
hat  der  verdienstvolle  Verf.  von  Nr.  i  sich  schon  vor  einem  Viertel- 
jahrhunderte bemüht,  ihr  zu  genügen.  Die  zweite  läßt  sich,  samt  ihren 
Gründen,  in  einem  Buche  nachweisen,  das  über  ein  Jahrzehnt  alt  ist;  und 
vielleicht  war  sie  damals  schon  nicht  neu.  In  beiden  Forderungen  liegt 
aber  nicht  die  mindeste  politische  Beziehung;  noch  weniger  ist's  der  Sache 
angemessen,  daß  Männer  sich  darum  entzweien,  weil  die  Jugend  eine, 
in  ihren  Augen  ernsthafte  Wirksamkeit  betreiben  soll;  vielmehr  ist  jugend- 
licher Eifer  für  Männer  oft  ein  Gegenstand  des  stillen  Lächelns;  und  es 
kann  kaum  anders  sein,  wenn  wirklich  der  Standpunkt  der  Männer  hoch 
genug  und  ihre  Umsicht  weit  genug  ist,  um  gegen  den  engen  Gesichtskreis 
der  Jugend  das  rechte  Verhältnis  zu  behaupten.  Nun  sind  zwar  die 
Verf.  von  Nr.  2,  3,  4  und  5  sämtlich  Männer,  die  nach  ihrer  eigenen 
Meinung,  auf  dem  höchsten  Standpunkt  der  Wissenschaft  stehen.  Allein 
sie  müssen  sich  gefallen  lassen,  daß  ihnen  dies  von  andern  bestritten,  ja 
gänzlich  abgeleugnet  wird.  Die  sogenannte  philosophische  Begründung, 
welche  hier  dem  Turnwesen  untergelegt  wird,  hat  daher  wenig  zu  be- 
deuten; um  desto  weniger,  da  das  Wesentliche  des  Gegenstandes  sich 
aus  dem  Werke  des  Hrn.  Guts  Muths  deutlich  erkennen  läßt. 

In  Nr.  I  ist  in  gehaltreicher  Kürze  dasjenige  beisammen,  was  „bei 
der  Ausführung  der  Turnübungen,  mitten  im  muntern  Gewühle  der  Jugend," 
als  Anleitung  und  Erinnerung  nötig  sein  kann.  Voran  gehen  drei  kurze 
Hauptstücke,  von  dem  Bildungswesen  des  Menschen,  vom  Wesen  der 
Turnkunst  und  die  zehn  Gebote  der  Leibeszucht.  Zum  Schlüsse  noch 
eins:  über  die  Turnerschaft  und  ihre  Gesetze.  Mit  Recht  steht  im 
Vordergrunde  die  Bemerkung,  daß  die  tmgeordneten  Leibesübungen,  zvelche 
das  tägliche  Leben  herbeiführt,  kein  Gleichmaß  der  Stärke  und  Gezoandtheit 
in  den  verschiedenen  Gliedern  hervorbringen;  daher  die  Gymnastik  kunst- 
mäßig betrieben  werden  müsse.  Hauptzweck  sei:  Erhaltung  des  Gleich- 
gewichts zwischen  Geist  und  Leib.*  Aus  den  zehn  Geboten  der  Leibes- 
zucht schreiben  wir  mit  Vergnügen  folgendes  ab:  „Du  sollst  Gott  fürchten 
und  lieben,  der  dir  deinen  Leib  als  Diener  mitgegeben,  —  darum  sollst 
du,  neben  rechtschaffener  Übung  und  Bildung  des  Geistes,  deines  Leibes 
nicht  vergessen,  —  in  dem  körperlichen  Schwachen  wohnt  wohl  das 
Wort,  der  Trost,  die  Aufmunterung;  aber  nicht  die  leibliche  Tatkraft, 
nicht  das  Mitgehen,  nicht  Hilfe  gegen  Not.  —  Streng  sollst  du  meiden, 
was  den  Leib  schwächt,  abmattet,  und  dir  den  männlichen  Sinn  entzieht; 


*  Dies  schließt  die  Rücksicht  auf  besondere  Konstitutionen,  und  auf  vorzügliche 
geistige  Entwicklungen  nicht  aus;  was  wir  hier  im  voraus  gegen  Hrn.  Steffens,  und 
gegen  eine  Folgerung  aus  seinem  Systeme^  bemerken. 


■1A2  J«  F.  Herbarts  Rezensionen. 


dagegen  soHst  du  ihn  halten  in  gehöriger  Zucht,  damit  du  lange  lebest 
in  Gesundheit  und  Ehren.  Ein  gutes  Schwert  in  die  Glut  gesteckt,  wird 
wie  Blei;  ein  starker  Leib  in  die  Weichlichkeit,  wie  Brei.  —  Du  sollst 
aber  dein  Mut-  nnd  Kraftgefühl  unter  der  Zucht  deines  Geistes  in  Demut 
halten.  Du  sollst  nicht  den  fremden  Zweck  im  Auge  haben,  dich  zur 
Schau  zu  stellen  und  zu  gaukeln,  auf  daß  nicht  jemand  komme  und  dir 
Geld  biete,  wie  den  Gauklern,  und  damit  das  Übungswesen  nicht  in 
Unehre  verfalle.  Was  du  zur  Schau  tust,  geschehe  höchstens  nur  für 
deinen  Nebenmann  zur  Belehrung  und  Ermunterung.  Mutwillig  aber  mit 
seiner  Leibeskraft  jemanden  zu  nahe  treten,  heißt  Gefallen  haben  an 
der  unvernünftigen  Stärke  des  Rosses.  Sondern  du  sollst  Schild  sein 
und  Schirm,  Arm  und  Waffe  den  Deinigen,  dem  Schwachen,  dem  ver- 
unglückenden Bruder,  dem  Wohnsitze  und  Vaterlande,  ja  selbst  dem  wehr- 
losen Feinde.  Du  sollst  die  edle  Sinneskraft  schärfen.  Du  sollst  Maß 
halten  in  der  Arbeit  des  Leibes.  Du  sollst  nicht  vergessen,  daß  der  Geist 
der  eigentliche  Mensch  ist,  daß  seine  Entwicklung  über  der  leiblichen 
steht.  Darum  sollst  du  der  geistigen  Ausbildung  nicht  die  Zeit  stehleii  füt 
die  leibliche;  sondern  in  dieser  tun,  was  recht  ist,  und  die  Zeit  weislich 
gebrauchen  und  einteilen;  auch  kein  Geschäft  darob  versäumen."  —  Nun 
noch  Proben  aus  dem  fünften  Hauptstücke;  —  „die  Turner  eines  Platzes 
bilden  eine  Gesellschaft.  Etwas  muß  sie  vereinen,  ein  Band  muß  da  sein, 
das  sie  umschlingt;  und  Ordnung,  die  sie  erhält.  Der  Zweck  des  Turnens 
ist  das  einzige  Band;  das  angenommene  Gesetz  schafft  die  Ordnung. 
So  ernst  indes  auch  das  Turnwesen  zu  nehmen  ist,  so  soll  es  doch  mit 
Lust  und  Freude  von  statten  gehen."  Unter  den  allgemeinen  Gesetzen 
ist  das  erste:  Jeder  soll  tun  für  die  Ehre  der  Turnerschaft,  was  er  in 
Sittlichkeit  nur  immer  vermag,  damit  nicht  ein  eigener  Flecken  des  Ein- 
zelnen an  unschuldiger  Turnsache  und  der  Gesellschaft  abschmutze.  Das 
zweite:  der  Turnplatz  werde  kein  Zankplatz.  Hierauf  folgt  eine  Menge 
anderer  Vorschriften,  die  darin  zusammenlaufen,  daß  dem  Turnlehrer  ruhig 
und  anständig  solle  gehorcht  werden.  Endlich  noch  besondere  Gesetze 
für  die  einzelnen  Klassen  der  Turn-Übungen. 

Wenn  das  Turnwesen  sich  so  darstellt,  wie  hier:  so  begreifen  wir 
nicht,  wie  es  Feinde  haben  könne.  Im  Gegenteil:  alle  diejenigen,  welche 
pädagogische  Einsicht  besitzen,  müssen  ihm  als  Freunde  zufallen.  Sie 
müssen  auf  den  ersten  Blick  begreifen,  daß  keine  Art  von  Tätigkeit  so 
allgemein  aus  dem  eigenen  Sinne  der  Jugend  hervorgehen  kann,  als  die 
Übung  des  Leibes;  daß  eben  in  diesem  Punkte  die  Zöglinge  nur  darauf 
warten,  der  Rat  und  der  Verstand  der  Erwachsenen  solle  ihnen  helfen, 
das  zweckmäßig  und  ordentlich  einzurichten,  was  sie  ohnehin  vorzunehmen 
wünschten.  Hier  ist  die  natürlichste  Berührungsstelle  zwischen  dem  Manne 
und  dem  Knaben,  ja  zwischen  dem  Manne  und  dem  Jünglinge.  Aber 
noch  mehr!  Hier  ist  der  natürliche  Anfangspunkt  aller  Bildung  zur  wahren 
Geselligkeit.  Denn  Gesellschaft  erfordert  einen  ernsten,  selbstgewollien  Zweck; 
einen  solchen  Zweck,  den  der  Einzelne  nicht  für  sich  allein,  sondern  nur 
in  Verbindung  mit  vielen  fassen  kann  oder  mag.  Und  welchen  gemein- 
samen Zweck  kann  denn  die  Jugend  sich  setzen  ?  Soll  sie  um  einen  Herd, 
um   einen   Altar,    um   eine  Kriegsfahne,    —    oder   gar    um    ein  Buch   sich 


J.  C.  F,  Guts  Muths:  Kurzer  Abriß  der  deutschen  Gymnastik.  ^43 

versammeln?  Nahrung  reicht  man  ihr,  Rehgion  lehrt  man  sie,  den  Streit 
verbietet  man  ihr,  und  Bücher  sind  zu  fremd  und  zu  gelehrt;  das  alles 
paßt  nicht,  um  den  eigentlichen  Geist  aktiver  Gesellung  in  der  Jugend 
hervorzulocken.  Aber  zu  Leibesübungen  sammelt  sie  sich  von  selbst  und 
gern;  hier  fühlt  jeder  den  allgemeinen  Zug,  den  Schwung  der  ganzen 
Menge.  Oder  meint  man  vielleicht,  Leibesübung  sei  kein  Gesellschafts- 
zweck; man  könne  ja  auch  für  sich  allein  dergleichen  treiben;  es  komme 
ja  doch  einem  jeden  nur  auf  die  Übung  seiner  eigenen  Gliedmaßen  an? 
Das  wäre  gerade  so  klug  geredet,  als  ob  jemand  die  Kirchen  für  unnütz 
erklärte,  weil  ja  doch  im  Grunde  jeder  einzelne  darin  seine  Erbauung 
suche,  seine  Andacht  verrichte,  welches  sich  ebensogut  zu  Hause  tun  lasse ! 

—  Nein,  gerade  umgekehrt!  Je  größer  die  Gemeinde,  je  voller  die  Kirche, 
desto  inniger,  desto  erhebender  die  Ahnung  dessen,  der  allen  wohltut  und 
allen  gebietet;  —  und  ebenso,  je  zahlreicher  die  Gesellschaft  der  Knaben 
und  Jünglinge,  desto  ernster  zugleich  und  munterer  die  Anstrengung,  daß 
die  Übungen  ganz  gelingen  mögen,  ohne  Störung  durch  irgend  einen; 
und  desto  lebendiger  und  heißer  der  Wetteifer  der  Geschicklichkeiten,  der 
hier  wie  überall  die  Würze  des  Spiels  ausmacht.  Oftmals,  im  Streite  über 
die  größeren  Vorzüge  des  häuslichen  oder  des  öffentlichen  Unterrichts, 
hat  man  eben  darum  den  letztern  gepriesen,  weil  er  ein  frühes  geselliges 
Band  unter  den  Mitschülern  knüpfe;  aber  offenbar  sind  die  Genossen 
einer  Gymnasial-KIasse  weit  loser  verbunden,  als  die  Turner  eines  Platzes, 
weil  jene  meist  passiv,  und  nur  wenig  zusammenwirkend  nebeneinander 
lernen;  diese  weit  mehr  aufgeregt,  einander  nachahmend  oder  helfend, 
sich  versuchen  und  üben.  Wenn  endlich  über  den  Vorschriften  des  Hrn. 
Guts  Muths  gehörig  gehalten  wird,  so  läßt  sich  nicht  absehen,  welcher 
Anlaß  zu  jenem  Dünkel,  jener  Anmaßung  vorhanden  wäre,  den  man  wohl 
sehr  mit  Unrecht  dem  Turnen  zur  Last  gelegt  hat,  anstatt  ganz  andere 
Ursachen  in  dem  Zeitgeiste,  und  besonders  in  den  unbehutsamen  Be- 
günstigungen, in  dem  allzulaut  geäußerten  Beifalle  reifer  Männer  bei  jugend- 
lichen Festen  u.  dergl.  zu  suchen  und  zu  finden.  Das  ist  sehr  klar:  soll 
das  Kraftgefühl  der  Jugend,  welches  allerdings  mit  ihrer  Leibesübung 
wächst,  in  gehörigen  Schranken  bleiben,  so  7nuß  notivendig  das  männliche 
Alter  sich  selbst  an  Würde  und  an  sichtbarer  Überlegenheit  soviel  zusetzen,  daß 
das  Verhältnis  zum  mindesten  bleibe  wie  zuvor.  Und  da  unser  Zeitalter 
sich  zu  freieren  Verfassungen  hinneigt:  so  kann  die  unleugbare  Gefahr 
eines  solchen  Übergangs  nicht  anders  vermieden  werden,  als  indem  zu- 
gleich aller  jugendlicher  Übermut  zurückgewiesen  und  den  Ratschlägen 
des  reifen  Alters  ihr  ganzes,  ihnen  gebührendes.  Gewicht  beigelegt  wird. 
Aber  diesem  allen  steht  das  Turnen  auch  nicht  im  geringsten  im  Wege; 

—  sobald  es  nach  den  obigen  Vorschriften  betrieben  wird.  Erkennt  der 
Leib  den  Vorrang  des  Geistes,  so  bleiben  auch  die  Leibesübungen  an  der 
untergeordneten  Stelle,  wo  sie  den  Kräften  des  Geistes  nicht  zur  mindesten 
Eifersucht  Grund  geben  können. 

Was  sagen  nun  zu  dem  allen  die  Verf.  von  2,  3,  4,  5?  Aus  2  und  3 
erfährt  man,  daß  die  Hrn.  Professoren  Kayssler  und  Steffens,  Kollegen  an 
der  Universität  zu  Breslau,  in  Streit  geraten  sind,  der  jedoch  noch  im  freund- 
schaftlichen Tone  geführt  wird;  aus  4  und   5  geht  hervor,  daß  Hr.  Prof. 


^44  J*  F.  Herbarts  Rezensionen. 


Passow  und  Hr.  Prorektor  Menzel,  an  demselben  Orte  gegeneinander 
mit  der  heftigsten  Erbitterung  kämpfen ;  ja  aus  dem  Umschlage  von  Nr.  5 
sieht  man,  daß  dort  noch  mehrere  Federn  wegen  derselben  Sache  zu 
Felde  gezogen  sind.  Unter  solchen  Umständen  können  die  Gegner  des 
Turnwesens  gar  leicht  ohne  ihr  Verdienst  den  Sieg  davon  tragen ;  denn 
wer  Frieden  wünscht,  wird  den  Keim  der  Unruhen  zertreten.  —  Da  wir 
keinen  Beruf  finden,  uns  in  fremden  Streit  zu  mischen,  so  werden  wir 
über  4  und  5  gar  nichts  sagen,  sondern  uns  mit  der  bloßen  Anzeige  be- 
gnügen; und  über  2  und  3  uns  so  kurz  fassen,  als  der  Gegenstand,  vmd 
seine  öffentliche  Wichtigkeit,  es  gestattet. 

Alle  Philosophie,  am  unrechten  Orte  angebracht,  läuft  Gefahr  ins 
Lächerliche  zu  fallen.  Wenn  jene  des  Hrn.  Prof.  Kayssler  (im  wesent- 
lichen die  Schellingsche)  an  sich  richtig  wäre,  so  gehörte  sie  doch  nicht 
hierher;  denn  die  Nützlichkeit  des  Turnens  leuchtet  auf  dem  Standpunkte 
des  allgemeinen  Verstandes  vollkommen  ein,  und  zwar  aus  den  eigenen 
Gründen  des  Verfs.;  und  wenn  wirklich  hier  eine  Veranlassung  wäre, 
bis  zur  Ideenlehre  aufzusteigen  (freilich  könnte  man  ebensogut,  ja  noch 
eher,  ein  Mühlrad  nach  einer  Idee  würdigen),  so  paßte  doch  dies  nicht 
für  eine  Einladungsschrift  zu  einer  Schulprüfung  wie  die  gegenwärtige  es 
sein  soll;  —  wo  nicht  etwa  das  Publikum  zu  Breslau  in  einem  bisher 
unerhörten  Grade  sich  mit  Philosophie  beschäftigt.  Sollte  aber  trotz 
allem  diesen  die  ernste  Wissenschaft  und  die  muntere  Turnkunst  mit- 
einander in  Berührung  kommen:  so  müßte  die  erstere  der  andern  an 
Mut  und  Munterkeit  zum  mindesten  gleich  stehen ;  nicht  aber  in  so 
melancholischem  Tone  reden,  wie  diese  hier!  Man  höre  nur  folgende  Ex- 
pektoration: ,,Der  Verfasser  ist  durch  langes  Nachdenken  zu  der  Einsicht 
gelangt,  daß  vor  allen  Dingen  diejenigen,  welche  einen  bessern  Zustand 
aufrichtig  wünschen,  und  durch  die  Beschaffenheit  unserer  Zeit  ihn  zu 
hoffen  sich  berechtigt  glauben,  ihn  selbst  zu  erleben  oder  irgend  einen 
Vorteil  aus  der  Umgestaltung  zu  gewinnen  verzichten  müssen."  (Rez.  hat 
eine  sehr  viel  schhchteie  Meinung  als  der  Verf.  von  der  Beschaftenheit 
unserer  Zeit;  und  ist  völlig  überzeugt,  daß  heute,  wie  immer,  das  Böse 
mit  dem  Guten,  der  Irrtum  mit  der  Wahrheit  zugleich  im  Wachsen  be- 
griffen ist;  aber  dennoch  sieht  er  nicht,  was  ihn  hindern  könnte,  sich  an 
dem  geringen  Übergewichte  des  guten,  was  wirklich  vorhanden  zu  sein 
scheint,  zu  erfreuen,  und  auch  so  viele  Fortschritte,  als  er  irgend  für 
möglich  hält,  gern  erleben  zu  wollen.  Die  Ermahnung  des  Verfs.  verrät 
bloß,  daß  er  selbst  mit  überspannten  Hoffnungen  gekämpft  hatte,  weil  sein 
Denken  und  Beobachten  7iicht  rtihig  genug  war,  und  er  sich  verleiten 
ließ,  zu  glaubeji  was  er  hoffte.)  „Sodann  wandte  sich,  da  Erziehung  und 
Bildung  sein  Beruf  ist,  sein  Blick  auf  die  Jugend,  auf  die  niedern  und 
höhern  Bildungsanstalten  derselben,  und  ruhte  endlich  auf  den  Hoch- 
schulen, von  welchen  die  Pfleger  der  sittlichen  Menschheit  zunächst  aus- 
gehen, und  insbesondere  erivartete  er  von  der  deutschen  Philosophie  die 
Richtung  der  ivissenschaftlich  Gebildeten  auf  das  Göttliche  in  allen  Lebens- 
verhältnissen. Allein  er  fa?id  dort  wie  überall  keinen  Anfang;  die  Philosophie 
aber  mußte  er  endlich  als  einen  Geist  erkennen,  der  seinen  Leib  nicht  finden 
kann,   und  ohne  ihn  in   Sehnsucht  sich  verzehrt ;    und  so  überzeugte  er  sich 


J.  C.  F.  Guts  Muths:  Kurzer  Abriß  der  deutschen  Gymnastik.  34^ 


endlich!;'-  (in  der  Tat  sehr  spät  von  einer  so  leichten  Sache!)  „daß  mit 
bloßem  Denken  und  Meinen,  mit  Reden  und  Beraten  so  wesentHche  Dinge 
nicht  gemacht  werden,  sondern  daß  der  gründhche  Anfang  zur  wahren 
und  fortwachsenden  Verbesserung  unseres  Zustandes  nuf-  (sage  nur!  ein 
Sprung  von  einem  Extrem  aufs  andere!)  „von  kräftigen  Lebenstaten  zu 
erwarten  sei,  wie  sich  die  Geschichte  der  Menschheit  ja  auch  sonst  in 
Zeiten^  die  zu  einer  großem  Umgestaltung  reif  waren,  erwiesen  hat.  Und 
diese  kräftigen  Lebenstaten  —  welche  sind  sie?  Für  eine  derselben  wird 
nunmehr  —  sehr  ernsthaft  —  das  Turnen  erklärt;  und  damit  man  ja 
nichts  mißverstehe,  noch  obendrein  hinzugesetzt,  der  Verf.  habe  eben  nur 
den  wahren  Anfang  und  den  ersten  festen  Grund  einer  wirklich  bessern  und 
bleibenden  Gestaltung  des  Lebens  gesucht^  und  Hin  in  der  Turnkunst  ge- 
funden!! ! 

Und  jetzt,  o  ihr  guten  Turner,  wenn  euch  eure  Kunst,  wenn  eure 
Turnplätze  euch  lieb  sind,  —  betet  recht  inbrünstig  folgendes  bekannte 
Gebet:  Schütze  uns,  o  Herr!  vor  unsern  Freunden,  denn  vor  unsern 
Feinden  brauchen  wir  uns  nicht  zu  fürchten. 

Daß    die   Sehnsucht    eines    redlich    forschenden    Denkers    durch   den 
Schellingschen  Irrtum    nicht   gestillt   wurde,    ist  natürlich;    daß  er  nun  mit 
dieser  Sehnsucht   sich  nicht  zu  lassen  weiß,    daß  er  Seufzer  ausstößt  der- 
gleichen man  von  wahrer  Wissenschaft  niemals  hören  wird,  läßt  sich  auch 
begreifen.    Aber  Rez.  hat  wirklich  Mühe,  sich  in  den  Grad  von  Gedanken- 
verwirrung   hinein    zu    versetzen,    der   nötig   ist,    um   alle  die  heterogenen 
Dinge,  die  hier  durcheinander  gemengt,  und  ineinander  gezerrt  sind,  sich 
nach  Art  des  Verfs.  vorzustellen.    In  der  Tat,  einem  wachenden  Menschen 
tut    es   wehe,    sich   künstlich   in   den  Zustand   des  Traums   zu    versetzen; 
und    hier   wird    gleichwohl    nichts   weniger   als    das    erfordert.      Doch    wir 
wollen  die  Mühe  nicht  scheuen !  Also  —  die  Grundfarbe  unseres  Traums 
ist:    Erwartung    einer  größeren    Umgestaltung.      Gesetzt,    diese    ereigne    sich, 
und   unsere  Zeit  sei  dazu  reif:   was  wird  zum  Vorschein  kommen?    Etwa 
eine    bessere    Verfassung?     Verantwortliche    Minister?     Beschränkung    des 
stehenden  Heeres?    Nein!    sondern  Richtung  auf  das   Göttliche.     Wessen? 
Etwa   des  Volkes  im  ganzen  genommen,  dessen  Zustand  sich  umgestaltet 
hat?    Nein!    sondern    der  ivissenschaftlich    Gebildeten.      Diese  also  sollen  im 
Strome    schwimmen,    statt    ihn    zu    leiten?    Ja!    denn   die   deutsche   (sage: 
Schellingsche)    Philosophie    ist    ein    Geist,    der   seinen   Leib    nicht   finden    kann. 
Und  was  folgt  daraus?  Etwa,  daß  die  deutsche  Philosophie  von  vorn  an- 
fangen   muß,   um    sich   auf  ihre  ersten  Probleme,    und  auf  die  Mittel,    sie 
zu  lösen,  besser  zu  besinnen,  wie  bisher?  Nein!   Hr.  Professor  Kayssler 
weiß,  ohne  Zweifel,  daß  die  deutsche  Philosophie  schon  das  Mögliche  ver- 
sucht   hat    (wir    wissen    das    gerade    Gegenteil).      Die    Denker    können    so 
wesentliche  Dinge  (Richtung  der  wissenschaftlich  Gebildeten  auf  das  Gött- 
liche!)   nicht    machen,    sondern    die     Verbesserung    unseres    Zustandes    (hier 
wenigstens    wird    doch    wohl    der    innere    und    äußere    Zustand    der    Ge- 
sellschaft   gemeint    sein?)    muß   durch   kräftige  Lebenstaten    begonnen    werden. 
Also    das  Philosophieren,    was   man   sonst   für    eine   der   kräftigsten  Taten 
des   innern,    wahren  Lebens   hielt,    ist   keine   solche?     Was   sollen  die  ge- 
forderten Taten  denn  eigentlich  tun?    Und  welches  ist  das  Werk,  das  sie. 


■346  J-  F.  Herbarts  Rezensionen. 


nicht  etwa  vorbereiten,  sondern  unmittelbar  vollbringen,  um  dessentwillen 
sie  Tale?i^  kräftige  Taten,  kräftige  Lebens -Taten  genannt  werden?  Wollt 
ihr  es  sehen?  Schaut  auf  die  Turnplätze;  schaut,  wie  man  springt,  ringt, 
schwingt,  schwimmt,  klettert  usw.  Zwar,  die  Turner  selbst  wissen  nichts 
von  den  Taten,  die  sie  tun,  sie  glauben  bloß  sich  zu  erholen  von  geistiger 
Arbeit,  und  sich  zu  üben  auf  künftige  Dienste,  welche  der  Leib  dem 
Geiste,  als  Gehilfe  zu  dessen  Taten,  schuldig  sein  wird.  Die  Turner 
hoffen  auf  die  Schätze  der  Wissenschaft,  welche  in  dem  Besitze  der 
Männer  seien,  und  welche  man  ihnen  in  reiferen  Jahren  darbieten  werde, 
damit  sie  lernen,  zu  loas  für  Zivecken  denn  eigentlich  die  Körperkraft 
geübt  sei,  indejii  diese  Kraft  nur  äiißeie  Erscheinungen  hei-vorbnngeii  kann^ 
die  keinen  Weit  in  sich  selbst  haben.  Hoffet  nur  nicht,  ihr  Turner!  Die 
oberste  Wissenschaft,  welche  alle  Zwecke  wägt  und  ordnet,  und  in  der 
zugleich  selbst  die  vollkommenste  Turnkunst,  nämlich  die  Gymnastik  des 
Geistes  enthalten  ist,  —  sie  hat,  laut  Hrn.  Prof.  Kaysslers  Versicherung, 
in  sehnsüchtigen  Seufzern  ihr  Leben  verhaucht!  —  Aber  hütet  euch,  wir 
raten  es  euch  ernstlich,  vor  den  Lobpreisungen,  mit  denen  man  eure 
jugendliche  Übungen  jetzo  in  die  Wolken  erhebt.  Ihr  wißt,  daß  euer 
Gerät  auf  dem  Turnplatze  stark  und  fest,  und  ja  nicht  übermäßig  hoch, 
sondern  in  allen  Teilen  wohl  abgemessen  sein,  daß  auch  in  euren  Übungen 
Ordnung,  und  in  den  Bewegungen  eurer  Gliedmaßen  Zusammenhang  und 
eine  richtige  Folge  sein  muß,  wenn  alles  wohl  gelingen  soll.  Nun  ist  aber 
in  den  Lobeserhebungen,  durch  w^elche  man  eure  Köpfe  schwindlig  macht, 
an  einer  sehr  wesentlichen  Stelle,  die  gerade  recht  fest  und  wohlgefugt 
sein  mußte,  Maß  und  Zusammenhang  vermißt  worden.  Also  gleichen 
diese  Lobeserhebungen  einem  Kletterbaume,  der  viel  zu  hoch,  und  unten 
beschädigt  ist;  wenn  nun  eure  Turnkunst  dahinauf  steigt,  so  stürzt  sie 
unfehlbar  herunter  und  bricht  den   Hals.   — 

Wer  eine  ausführliche  Rezension  der  Kayßlerschen  Schrift  verlangt, 
dem  bietet  sich  auf  den  ersten  Bogen  von  Nr.  3  eine  solche  dar;  und 
zwar  eine  strenge,  scharf  tadelnde,  dennoch  aber  in  die  Form  eines 
freundschaftlichen  Briefes  —  nicht  eingekleidete,  sondern  hineingezwungene; 
so  daß  diese  Form  dem  Leser  weh  tut,  dem  sie  nicht  anders  als  unnatür- 
lich bei  solchem  Inhalte  vorkommen  kann.  Was  Hr.  Prof.  Kayssler, 
als  I'rennd,  als  Kollege,  dabei  empfinden  mußte,  —  das  hat  zwar  der 
entferntstehende  Leser  nicht  zu  entscheiden;  aber  die  Fiage  danach  kann 
er  nicht  los  werden;  daher  wir  unsererseits,  unbekannt  mit  den  Personen, 
und  um  sie  unbekümmert,  das  Buch  für  ein  in  der  Form  verunglücktes 
literarisches  Produkt  halten;  so  wie  wir  es  dafür  auch  dann  halten  würden, 
wenn  der  Name  Kayssler  bloß  erdichtet  wäre.  Die  Philosophie  des 
Hrn.  Prof.  Steffens  ist  hier  ebenso  unnütz,  als  die  des  Hrn.  Kayssler: 
selbst  das  Schauspiel,  was  dargestellt  wird,  nämlich:  das  Schellingsche  Reich 
in  Unfrieden  mit  sifch  selbst.^  kann  hier  nicht  einmal  die  Gegner  des  ge- 
nannten Reichs  interessieren;  denn  es  ist  jetzt  vom  Turnwesen  die  Rede 
und  nicht  von  den  Krämpfen  einer  auf  dem  Kopfe  stehenden  Philosophie. 
Am  Schlüsse  wird  indessen  Rez.  über  diesen  Punkt  noch  etwas  beifügen. 

Vom  Turnwesen  vernimmt  man  hier  allerdings  einiges,  das  Bedenken 
erregen  kann.     „Schon   in   den  traurigen   Tagen  des   allgemeinen  Drucks, 


J.  C.  F.  Guts  Muths:  Kurzer  Abriß  der  deutschen  Gymnastik.  ^547 


als    wenige    Freunde    in    gefährlicher  Verbindung    lebten,    nahm    ich   unter 
diesen  eine  Richtung  wahr,    die  mir    Sorge    machte.     Sie    trat  im  Kriege 
entschiedener  hervor.    Ich  habe  sie.   wo  sie  erschien,   vom  ersten  Anfaiig  an 
bekämpft,   immer  bestimmter  und  stärker,  je  mächtiger  sie  ward.     Den  Früh- 
ling  181 7  bracht'  ich  in  Berlin  zu.    Ich  erfuhr  dort,  wie  sehr  eine  falsche 
Ansicht   herrschend    zu  werden   drohte    —    ich  sah  es  wohl    ein,    wieviel 
ich  wagte,  wenn  ich,   eben  nach  der  Art,   ivie  ich  bis  hierher  erschienen  war, 
diese  Ansicht  bekämpfen  luollte}'     (Wie  hängt  das   zusammen?    Nachdem 
einer  scliou  gekämpft   lial ,    nennt  er  es  noch  gewagt,    kämpfen     zu  loolien, 
und  das  wegen   der  Art,   wie  er  bisher  seinen  vertrauten,  sogar  in  gefähr- 
licher   Verbindung    mit   ihm    ausdauernden    Freunden,  erschiefi})    „Als  ich 
Berlin  verließ,   war  dieser   Kampf  beschlossen.      Die   Unternehmungen  der 
Turnfreunde  machten    nur    einen    Teil  der    zu   bekämpfenden    Massen  (!) 
aus.   —   Die    Sache   ist    von    großer    Bedeutung,    es    gilt  einen  gefährlichen 
Irrtum,  der  die  Redlichsten  umstnckt   hat.''     (Hört!    hört!)    „Ich    gesteh'   es, 
daß,   obgleich    ich  von    der    Schädlichkeit  der    Uiiternehmting    überzeugt  bin, 
ich  dennoch  keineswegs  wünsche,  daß  sie  durch  Verbote  von  oben  unter- 
drückt   werde.      Verbote    können    nur    hemmen ,    niemals   vernichten ,    was 
innerlich   die  Gesinnung  in   Anspruch  genommen   hat."      Hier  müssen   wir 
Hrn.  St.  geradezu  widersprechen,  und  ihn  einer  Verwechslung  beschuldigen. 
Wäre  von   Untersuchungen,  von  Meinungen,   von  Gegenständen   eines  fort- 
schreitenden Denkens  die  Rede,    dann    hätte    Hr.  St.  recht;    das    Denken 
würde  sich  nicht  verbieten    lassen.      Aber    Gesinnungen,    vollends    Unter- 
nehmungen, sind  viel  wandelbarer;  ihre  scheinbare  Härte  ist  nur  Sprödig- 
keit,   es  sei  denn,    daß  ihnen    ganz   klare    Gedanken,    lange    Erfahrungen, 
ursprüngliche    Triebe    der    menschlichen    Natur    zum    Grunde    liegen.      So 
etwas  sich   einzubilden,  könnte  höchstens  einigen  ganz  verblendeten  Turn- 
freunden  durch  grobe    Selbsttäuschung    begegnen;    und  das    erste  kräftige, 
durch   ein  paar  Beispiele  nachdrücklicher  Bestrafung  betätigte  Verbot  würde 
ihnen  bald  die  Augen   öffnen.      Die   Frage  ist    also  bloß:   ob  denn  vuirklich 
etwas  Strafbares,   oder  auch  nur  etwas  Gefährliches  vorhanden  sei?  In  diesem 
Falle  wäre  der  Staat  nicht  bloß  berechtigt,  sondern  verpflichtet,  und  über- 
dies  mit    w^eit    mehr  als    hinreichender    Macht   versehen,    die  junge    Gift- 
pflanze auszureißen  und  samt  allen  ihren  Wurzeln  zu  vernichten.    Unseres 
Bedünkens   hätte  daher  Hr.  St.  wohl  Ursache    gehabt,    etwas  behutsamer 
zu  Werke  zu  gehen.    Wir  (Hr.  St.   und  Rez.)  leben  zwar  unter  einem  sehr 
milden  Scepter,  aber  einen  großen  Kreis  von  Freunden  eines  gefährlichen 
Unternehmens  beschuldigen,  heißt   dennoch,  die  Machthaber  aufmerksam 
machen;   und   was    daraus   entstehen  kann,   läßt  sich    nicht    durch  hinzu- 
gefügten  guten  Rat:    sie   möchten    die  Sache  nicht  durch  Verbote  unter- 
drücken,   beliebig    abwenden.*     Hr.    Prof.  St.  aber  ist   nichts  weniger  als 
behutsam;    denn  gleich  nachdem  er  mit  Hrn.   Kayssler  fertig  geworden, 
erinnert  er  an  Georg  Forster;    einen  Namen,    den    er  höchst  sorgfältig 
verschweigen    mußte,    wenn    er    freundschaftlich    warnen    und   nichts  Ver- 
dächtiges anregen    wollte.     Leider  aber  ist  das    der  heutige    Ton    unserer 
Schriftsteller  über  öffentliche    Dinge!    Sie  sprechen,    wie  es  ihnen    einfällt, 

*  Ist  vor  dem  bekannten  Verbote  geschrieben.     A.  d.  R. 


,  .g  J-  F-  Herbarts  Rezensionen. 


ohne  alle  Scheu,  daß  etwas  höheren  Orts  auftauen  könne.  Aber  die  Ehre 
ihrer  unüberlegten  Freimütigkeit  gebührt  nicht  ihnen,  sondern  ihren 
Regierungen,  die  weise  und  schonend  genug  sind,  von  der  Gewalt  nicht 
eher  Gebrauch  zu  machen,  als  bis  es  nötig  ist.  Gleichwohl  ist  der  Schade 
nicht  gering;  denn  die  Regierungen  können  für  ein  freimütiges  Wort  nur 
dann  Achtung  empfinden,  wenn  es  gehörig  begrenzt,  und  mit  der  Wirkung, 
die  es  beabsichtigt,  genau  ins  Gleichgewicht  gesetzt  ist.  Und  was  ist 
wichtiger  als  eben  diese  Achtung;  insbesondere  für  Schriftsteller,  die  wirken 
und  nicht  bloß  laut  reden  wollen? 

Was  ist  denn  nun  endlich  das  Gefährliche,  wogegen  wir  gewarnt 
werden?  Es  kostet  Mühe,  dies  aus  dem  seltsamen  Gerede  in  Schellingscher 
Manier,  aus  den  langgestreckten,  von  Rhythmus  weit  entfernten  Perioden, 
aus  dem  schalen  Witze  von  „Butter,  Milch,  Sahne,  enfin  Fett,"  (S.  68 
und   ög   dreimal  wiederholt!)  herauszufinden. 

„Die  Unternehmung  ist  keineswegs  bloß  abwehrend,  sie  hat,  auch 
auf  eine  positive  Weise,  ein  neues  Organ  erzeugt,  welches,  da  es  in  der 
Erscheinung  als  ein  besonderes  hervortritt,  ohne  Reaktion  auf  die  übrigen 
Formen  niemals  gedacht  werden  kann;  und  dieses  ist  aus  der  vermeintlichen 
Einsicht  hervorgegangen^  daß  es  die  hinlängliche  Kraft  besitze,  diejenige  Ge- 
sinnung zu  erivecken^  die  bei  den  Bürgern  notwendig  ist,  ivenn  der  in  sich 
gelähmte  Staat  sich  mit  neuer  Tätigkeit  kraftvoll  gestalten  soll''  Das  ist  des 
Hrn.  St.  Bericht  von  der  Tatsache.  Nun  seine  Gründe  dawider:  Die 
Erfahrung  konnte  nicht  leiten;  denn  eine  ähnliche  kennt  die  ganze  Ge- 
schichte nicht.  Man  kann  nicht  wissen,  ob  Vertrauen  und  Liebe,  auf 
den  Turnplätzen  entstanden,  für  das  ganze  Leben  bestehen,  und  in  allen 
Verhältnissen  richtig  wirken  werde.  Das  Zusammenleben,  wo  Leibes- 
übungen das  verbindende  Mittel  sind,  kann  für  sich  nichts  Geistiges  er- 
zeugen. (Man  sieht,  Hr.  St.  schickt  die  leichten  Truppen  voraus.  Der 
letzte  Satz  ist  übrigens  offenbar  falsch;  schon  darum,  weil  reine  bloße 
Leibesübung,  ohne  geistiges  Wollen  und  Wirken,  ein  Unding  ist.  Jetzt 
aber  kommt  schwere  Artillerie.)  „Eine  Anstalt,  die  bei  einem  ganzen 
Volke  alle  Knaben  und  Jünglinge  in  ein  großes  Bündnis  vereinigt,  hat, 
nachdem  die  Richtung  gegeben  worden,  das  Maß  nicht  in  ihrer  Gewalt. 
Es  entsteht  ein  Streben  nach  physischer  Kraftausbildung,  welches  die 
eigentümliche  Gestaltung  der  Zeit  überfliegend,  in  eine  formlose  Unend- 
lichkeit hineinspielt.  Spritzen  kann  man  für  mögliche  Feuersbrünste  auf- 
bewahren, mancherlei  Geräte  für  mögliche  Gefahren;  aber  ein  Magazin 
von  physisch  ausgebildeten  menschlichen  Kräften,  die  sich  mit  Bewußtsein 
ausbilden,  für  einen  zukünftigen  möglichen  Gebrauch  aufzuhäufen,  wäre 
ein  gefährliches  Experiment;  denn  sie  verhalten  sich  nicht  so  ruhig,  wie 
das  Gerät.  —  Wie  wollt  ihr  die  Gefahr  abwehren?  durch  euren  guten 
Willen  ?  durch  eure  Versicherung,  daß  ihr  es  nicht  so  meint  ?  durch  Sitten 
und  Lehrsprüche,  daß  der  Turner  nicht  sein  solle  ein  Schlagetot,  sondern 
fein  bescheiden?  traut  ihr  wirklich  euren  Lehren  eine  solche  Kraft  z\x'> 
Jetzt  liegt  die  ganze  Sache  deutlich  vor  Augen;  als  Einbildung  und 
Torheit  auf  beiden  Seiten.  Die  Turnfreunde  haben  die  ganze  Welt  um 
sich  her  vergessen,  bis  auf  den  schmeichelhaften  Wahn,  die  Welt  sei  ein 
Stoff,   der  seine  Bearbeitung    von    ihnen  erwarte.     Hr.  St.  erhebt  sich  zur 


T.  C.  F.  Guts  Muths:  Kurzer  Abriß  der  deutschen  Gymnastik,  340 


Hälfte  aus  diesem  Wahn,  er  zeigt  ihnen  diese  Welt  als  rohe,  wider- 
spenstige Kraft,  die  ihneyi  wohl  zu  mächtig  werden  könne,  und  darin  hat 
er  recht ;  er  vergißt  aber  mit  ihnen  gemeinschaftlich,  daß  es  noch  andere 
Kräfte  gebe,  die  ordnend  und  regierend  in  die  Welt  hineinwirken,  und 
denen  das  Regiment  nicht  merklich  schwerer  noch  leichter  werden  wird, 
ob  nun  eine  Tumanstalt  in  dieser  Welt  ist  oder  nicht.  Das  Wunder- 
barste aber  ist,  daß  dem  Hrn.  St.  nicht  bei  dem  Magazine  physischer 
Menschenkräfte,  ein  weit  größeres  Experiment  ähnlicher  Art  einfiel,  näm- 
lich die  LandivehA  Knaben  und  Jünglinge  sind  noch  keine  Männer;  aber 
ein  bewaffnetes,  und  zum  Kriege  vorgeübtes  Volk  würde  allerdings  furcht- 
bar sein,  wenn  nicht  das  allgemeine  Bedürfnis  der  Ordnung,  und  die 
verständige  Fürsorge  der  Regierung  einander  unaufhöriich  entgegenkämen, 
wenn  nicht  die  leiblichen  Kräfte  von  den  noch  weit  stärkeren  und  ebenso 
fortwährend  neu  erzeugten  geistigen  Kräften  gebändigt  und  verbraucht 
würden,  —  mit  einem  Worte,  wenn  nicht  Staat,  Kirche  und  Schule  vor- 
handen wären,  von  denen  der  erstere  den  Mißbrauch  des  jugendlichen 
Turnens  so  gut  als  der  männlichen  Wafien  bewacht  und  verhindert,  die 
beiden  andern  aber  dafür  sorgen,  daß  Lehr-  und  Sitlensprüche,  gleichviel 
ob  auf  dem  Turn  platze  oder  wo  immer  anderwärts  gelernt,  nicht  leere 
Worte  bleiben,  sondern  in  die  Gesinnungen  der  Menschen  eindringen, 
und  als  Taten  wiederum  aus  ihnen  hervorgehen.  Ist  aber  irgendwo  der 
Staat  gelähmt,  die  Kirche  in  Lauheit  und  die  Schule  in  Trägheit  ver- 
sunken —  den  preußischen  Staat,  worin  Hr.  St.  lebt,  kennt  Rez.  von  der 
entgegengesetzten  Seite,  und  von  ihm  kann  also  hier  nicht  die  Rede  sein 
—  dann  müssen  wir  freilich  die  Turnanstalt  in  eine  solche  unglückliche 
Gegend  nicht  einlassen,  sondern  die  nötige  Verbesserung,  anstatt  ein 
„neues  Organ"  zu  erzeugen,  bei  den  längst  bekannten  Haupt -Organen 
des  gesellschaftlichen  Lebens  anbringen,  deren  Funktionen  durch  keine 
krankhafte  Metastase  auf  andere  Punkte  dürfen  veriegt  werden. 

•  Weiterhin  macht  sich  Hr.  St.  noch  Sorge  wegen  des  Erstickens 
eigentümlicher  Keime  in  der  still  sinnenden  Seele  mancher  Kinder.  „In- 
dem jede  freie  Stunde,  die  dem  Kinde  übrig  bleibt,  in  Anspruch  ge- 
nommen wird,  sind  alle  unbefangene  Kinderspiele  verscheucht,  oder 
wenigstens  zurückgedrängt."  Wo  das  geschieht,  wo  nicht  das  Kind  be- 
obachtet und  seiner  Entwicklung  gemäß  behandelt  wird :  da  ist's  allerdings 
schlimm;  da  ist  eine  starke  Rüge  begründet.  Aber  wie  kommt  denn  das 
Turnwesen  dazu,  daß  dieser  Vorwurf  gerade  ihm  aufgebürdet  wird  ?  Musik 
und  Zeichnen,  Tanzen  und  Französisch  oder  Englisch  —  das  sind  die 
gewöhnlichen  Lückenbüßer,  die  man  in  jede  leere  Stunde  der  Kinder 
glaubt  einschieben  zu  müssen,  ohne  beachtet  zu  haben,  ob  wirklich  die 
Muße  sich  in  Müßiggang  verwandelt  hatte  oder  nicht. 

„Gibt  es  aber  nicht  eine  körperiiche  Stärke,  die  in  unbegrenzter  und 
zerstreuender  Umgebung  errungen,  der  eigentümlichen  geistigen  Ausbildung 
schädlich  werden  kann?"  Gewiß!  —  „Mancherlei  andere  Mittel  der 
physischen  Erziehung  lassen  sich  denken  ;  öffnet  nur  den  Käfig,  und  der 
Vogel  wird  von  selbst  heraushüpfen."  Vielleicht;  und  nach  Umständen! 
—  „Das  eigentlich  Positive  in  der  Ausbildung  für  den  Krieg  ist  der  Mut; 
diesen  beleben  die  Turnplätze  nicht,  weil  von  ihnen  die  Gefahr  (die  eigent- 


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-Q  T.  F.  Herbarts  Rezensionen. 


liehe  Schule  des  Mutes)  entfernt  gehalten  wird."  Halb  wahr  und  halb 
falsch.  Der  Mut  hat  zwei  Faktoren;  Unerschrockenheit  ist  der  eine, 
und  diesen  gibt  der  Turnplatz  nicht;  Bewußtsein  der  Fähigkeit  zum 
Handeln  und  Dulden  ist  der  andere,  und  dieser  wächst  allerdings  aus 
der  Übung;  und  am  besten  aus  vollständiger  Übung  hervor.  —  „Das 
ist  das  Tadelnswürdige,  ja  Schädliche  und  auf  alle  Weise  zu  Ver- 
werfende, daß  ihr  das  Heiligste,  was  uns  an  das  Vaterland  bindet,  nicht 
in  den  gegebenen  Formen,  sondern  in  leeren  Begriffen  und  Gefühlen,, 
für  welche  ihr  ein  neues  Organ  willkürlich  bildet ,  zu  suchen  wagt.  Ihr 
habt  gar  kein  Vaterland;  habt  es  vernichtet,  um  alle  Zuneigung  einem 
Phantom  zuzuwenden,  welches  nirgends  ist."  Hoch  tragisch!  Wen  aber 
diese  Vorwürfe  treffen  mögen,  das  wissen  wir  nicht  zu  sagen.  —  „Eure 
Unternehmung,  in  ihrer  formlosen,  unbestimmten  „Unendlichkeit"  (gibt 
es  auch  eine  geformte  bestimmte  Unendlichkeit?)  „muß  die  Aufmerk- 
samkeit der  Schlechten  fesseln.  Lauernd  steht  das  Böse,  um  unter  die 
unreifen  Begriffe  allerlei  Unkraut  zu  säen.  Jede  irdische  Unternehmung 
von  Bedeutung  erregt  Widerstand ;  wenn  dieser  nun  bedenklich  wird, 
wenn  alsdann  der  Verführer  in  lockender  Gestalt  erscheint,  Unterstützung 
anbietend,  werdet  ihr  stark  genug  sein,  die  Verführung  abzuweisen?  Die 
Notwendigkeit  zusammenzuhalten,  um  den  äußern  Widerstand  abzuwehren, 
wird  euch  verblenden.''  Diese  Worte  haben  wir  nur  unvollkommen  aus- 
gezogen, und  legen  dabei  die  Hand  auf  den  Mund.  Gibt  es  Personen, 
die  sich  so  etwas  mußten  sagen  lassen,  so  mögen  sie  sich  verteidigen, 
oder  ihr  Herz  reinigen.  Der  Zusatz:  „Ich  beschuldige  keinen",  soll  in- 
dessen  auch  hier  nicht  fehlen. 

Und  jetzt  zum  Schlüsse,  nachdem  über  das  Turnwesen  vermutlich 
genug  gesagt  worden,  noch  einige  Worte  über  den  Streit  zwischen 
Kayssler  und  Steffens.  Beide  sind  Männer  von  literarischem  Ruf; 
und  wenn  nicht  tiefe  Denker,  doch  achtungswerte  Gelehrte.  Von  diesen 
erklärt  einer  den  andern,  ganz  freundschaftlich  und  mit  dem  traulichen 
Du  ihn  anredend,  öffentlich  für  „ein  unglückliches  Opfer  der  neuern 
spekulativen  Regung  der  Zeit,  die  in  ihrer  mächtigen  Erscheinung  für  das 
Ganze  so  segensreich  ist.  Was  in  Deinen  (Kaysslers)  Darstellungen  als 
spekulative  Vernunft  hervortritt,  ist  einem  neckenden  Dämon  ähnlich, 
denn  w-enn  Du  sie  aufsuchen  willst,  entflieht  sie,  indem  sie  die  Formen 
des  irdischen  Verstandes  mit  defie7i  des  göttlichen''''  (die  Hrn.  Prof  Steffens 
ohne  Zweifel  sehr  wohl  bekannt  sind?)  ^^sinnverwirrend  vermischt,  als 
hemmende  Fesseln  Dir  anlegt,  und  wenn  Du  über  irdische  Verhältnisse 
einen  Ausspruch  wagst,  dann  drängt  sie  sich  Dir  wieder  auf,  allenthalben 
die  traurigsten  Verwüstungen  anrichtend.''  —  Uns  fallen  dabei  die  be- 
kannten Verse  ein: 

Da  Götter  menschlicher  noch  waren, 
Waren  Menschen  göttlicher. 

Dies  ist  auch  der  Umkehrung  fähig.  Die  Menschen  sind  heutiges- 
tages  so  göttlich,  daß  sie  sogar  die  Formen  des  göttlichen  Verstandes 
mit  denen  des  irdischen  zu  vergleichen  wissen;  man  bedenke  nun,  ivie 
menschlich  die  Gottheit  muß  geworden  sein\  Jetzt  möchte  wohl  jemand 
glauben,  mit  diesen  wenigen  Worten  wäre  Hrn.  Kayssler  geholfen:  allem 


J.  C.  F.  Guts  Muths:  Kurzer  Abriß  der  deutschen  Gymnastik.  3^1 


zum  Unglück  kann  er  sie  nicht  brauchen.  Denn  er  ist  selbst  ein  Philo- 
soph nach  Schellingscher  Art,  und  soll  demnach  allerdings  die  göttlichen 
Verstandesformen  kennen,  und  sich  wohl  hüten,  sie  mit  den  irdischen  zu 
vermischen.  —  Abgesehen  nun  von  der  Wahrheit,  von  der  hier  gar  nicht 
die  Rede  sein  kann,  ist  soviel  klar,  daß  Hr.  Steffens  die  Konsequenz 
des  Schellingschen  Systems  besser  inne  hat,  als  Herr  Kayssler.  Ob  aber 
die  Inkonsequenz  des  letzten  nicht  vielleicht  von  einer  dämmernden  Ahnung 
herrühre,  daß  die  ganze  Lehre,  welcher  er  anhängt,  ein  neckender  Dämon 
sei,  der  ihm  nicht  bloß  hemmende,  sondern  schnürende,  und  beinahe 
würgende  Fesseln  anlege  —  das  können  wir  nicht  entscheiden.  Übrigens 
erinnert  sich  Rez.,  früher  eine  Schrift  von  Hrn.  Kayssler  gesehen  zu 
haben,  in  der  mehr  Präzision  herrschte,  und  die  für  seinen  Scharfsinn 
rühmlicher  war,  als  die  gegenwärtige.  Und  wenn  es  ihm  belieben  sollte, 
sich  Genugtuung  zu  nehmen,  so  bietet  ihm  das  Ende  von  der  Schrift  des 
Hrn.  Steffens  reiche  Gelegenheit  dar;  es  kommt  nur  darauf  an,  ob  er 
sich  entschließen  kann,  dies  gräuliche  Wortgewirre  durchzuarbeiten.  Den 
Rez.  schreckt  der  bloße  Anblick  schon,  und  erinnert  ihn,  daß  es  Zeit 
ist,  die   Feder  wegzulegen.* 

*  Nachdem  alles  Vorstehende  niedergeschrieben,  und  zum  Absenden  schon  ein- 
gesiegelt war,  erhielt  Rez.  das  neueste  Büchlein  des  Hrn.  Prof.  Steffens  betitelt: 
Die  gute  Sache  usw.  veranlafst  durch  des  Verf.  letzte  Begegnisse  in  Berlin.  Nicht 
beauftragt,  dasselbe  zu  beurteilen,  schweigt  Rez.  darüber  gänzlich ;  findet  aber  sehr  nötig 
zu  bemerken,  daß  er  von  jenen  sogenannten  Begegnissen  nichts  gewußt,  und  ebenso- 
wenig mit  Hrn.  Steffens  jemals  in  einem  andern  Verhältnisse,  als  in  dem  seines 
philosophierenden  Gegners,  in  diese7n  aber  freilich  mit  dem  klarsten  Bewußtsein  und  der 
vollkommensten  Entschiedenheit  gestanden  habe  und  noch  stehe.  Daß  nun  aus  wider- 
streitenden philosophischen  Prinzipien  auch  entgegengesetzte  Ansichten  über  Lebensver- 
hältnisse und  deren  richtige  Behandlung  entstehen,  soll  jeder  wissen,  der  mit  der  Philo- 
sophie nicht  bloß  gespielt,  sondern  sich  ein  ernstliches  Studium  daraus  gemacht  hat. 
Hieraus  allein  ist  die  vorstehende  Rezension  zu  erklären;  es  soll  in  dieselbe  nichts  hin- 
eingelesen, wohl  aber  nicht  mehr  noch  weniger  herausgelesen  werden,  als  was  wirklich 
und  deutlich  darin  steht. 

Anmerkzing.  Über  das  Buch:  Die  gute  Sache  hat  Herbart  18 19  eine  längere 
Abhandlung  ,,über  die  gute  Sache"  geschrieben.  Vergl.  Kehrbachs  Ausgabe  IV,  557. 
Hartensteins  Ausgabe  IX,  133.  O-  F. 


-r^^SßSiS' 


JDruck  von  Hermann  Beyer  &  Söhne  (Beyer  &  Mann)  in  Langensalza. 


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300M 

KMM 

1887 

BD. 13 

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