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JOE FRIEDR. HER BARTS
SÄMTLICHE WERKE.
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JOH. FR. HERBART'S
SÄMTLICHE WERKE.
IN CHRONOLOGISCHER REIHENFOLGE
HERAUSGEGEBEN
VON
tKARL KEHRBACH.
DREIZEHNTER BAND.
HERAUSGEGEBEN
VON
OTTO FLÜGEL
LANGENSALZA
HERMANN BEYER & SÖHNE
(BEYER & MANN)
HERZOG L. Sachs. Hofbüchhändler
1907
OATS ^^I/Po
/
Alle Rechte vorbehalten.
Inhalt des dreizehnten Bandes.
J. F. Herbarts Rezensionen
von
Seite
Salat, Dr. J., königl. geistlichem Rate und ordentl. Professor zu Landshut,
Handbuch der Moralwissenschaft. Eine ganz neue Bearbeitung, mit be-
sonderer Hinsicht auf den Geist und die Bedürfnisse unserer Zeit, nach
der dritten Auflage seiner Darstellung der Moralphilosophie. 1824 . 3 — 14
Ohlert, Dr. A. L, J., Die Schule; Elementarschule, Bürgerschule und
Gymnasium, in ihrer höheren Einheit und notwendigen Trennung. 1826 15 — 16
Fick, Georg Karl, Verweser der Ober- Vorbereitungs-Schule in Rothen-
burg, Vergleichende Darstellung der philosophischen Systeme von Kant,
Fichte und Schelling; nebst einer Einleitung, welche Bemerkungen
über die Entwicklung der philos. Systeme überhaupt enthält. 1825 . 16 — 27
Jäsche, Gottlieb Benj., Grundlinien der Ethik oder philosophischen
Sittenlehre. Zunächst zum Gebrauche seiner Vorlesungen entworfen. 1824.
— Jäsche, Gottlieb Benj., Der Pantheismus, nach seinen ver-
schiedenen Hauptformen, seinem Ursprünge und Fortgange, seinem speku-
lativen und praktischen Werte und Gehalte. Ein Beitrag zur Geschichte
und Kritik dieser Lehre in alter und neuer Philosophie i. Bd. 1826 27 — 40
Kiesewetter, Johann Gottfried Christian, Prof. der Philos. u.
Mathematik am medic.-chirurg. Institut in Berhn, Darstellung der
wichtigsten Wahrheiten der kritischen Philosophie. Vierte verb. Aufl.
und vermehrt durch einen gedrängten Auszug aus Kants Kritik der
reinen Vernunft und eine Uebersicht der vollständigen Literatur der
Kantischen Philosophie. Nebst einer Lebensbeschreibimg des Verfassers.
Von Christian Gottfried FHttner. 1824 40—42
Rükkert, L. J., Diaconus zu Großhennersdorf bei Herrnhut, Christliche
Philosophie, oder Philosophie, Geschichte und Bibel, nach ihren wahren
Beziehungen zu einander dargestellt. Nicht für Glaubende, sondern für
wissenschaftliche Zweifler zur Belehrung. Erster Band. Philosophie
und Geschichte. 1825 43—53
Reinhold, E., ord. Prof. der Logik und Metaph. an der Univ. zu Jena,
K. L. Reinhold's Leben und literarisches Wirken, nebst einer Auswahl
von Briefen Kant's, Fichte's, Jacobi's und anderer philosophirender
Zeitgenossen an ihn. 1825 53 — ^3
Fichte, J. H., Sätze zur Vorschule der Theologie. 1826 64 — 67
VI Inhalt des dreizehnten Bandes.
Seite
Schlegel, Friedrich von, K. K. Legationsrat und Ritter des Christus-
Ordens. Mitglied der K. K. Akademie der bildenden Künste, Die drei
ersten Vorlesungen über die Philosophie des Lebens. 1827. — Schlegel,
Friedrich von, Philosophie des Lebens. In fünfzehn Vorlesungen,
gehalten zu Wien im Jahre 1827. 1828 67 — 77
Krug, Wilh. Traug., Prof. d. Philos. zu Leipzig, Allgemeines Hand-
wörterbuch der philosoi)hischcn Wissenschaften, nebst ihrer Literatur
und Geschichte. Nach dem heutigen Standpunkt der Wissenschaft be-
arbeitet und herausgegeben. 1827 77 — 83
Troxler, Dr., Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik. 1828 83 — 97
Buquoy, Graf Georg v., Doktor der Philosophie und mehrerer gelehrten
Gesellschaften Mitglied, Anregungen für philosophisch-wissenschaftliche
Forschung und dichterische Begeisterung, in einer Reihe von Aufsätzen
eigentümlich der Erfindung nach, und der Ausführung. 1827 . . . 97 — 103
Droz, Joseph, Mitglied der französischen Akademie, Die Anwendung der
Moral auf die Politik. Aus dem Französischen übersetzt und mit einer
Einleitung versehen von Aug. v. Blumröder. 1827 104 — 113
Ritter, H., a. o. Prof. a. d. Univ. Berlin, Die Halbkantianer und der
Pantheismus. Eine Streitschrift, veranlaßt durch Meinungen der Zeit
und bei Gelegenheit von Jäsches Schrift über den Pantheismus. 1827.
— Jäsche, Gottlieb Benjamin, kaiserl. russ. Staatsrat u. Prof. d.
Philos. in Dorpat, Der Pantheismus nach seinen verschiedenen Haupt-
formen, seinem Ursprünge und Fortgange, seinem spekulativen und
praktischen Wert und Gehalt. 1828 113 — 121
Beneke, Dr. Fr. Ed., Psychologische Skizzen. 2 Bde. — Das Verhältnis
von Seele und Leib. Philosophen und Ärzten zu wohlwollender und
ernster Erwägung übergeben. 1826 121 — 132
Hillebiand, Dr. Jos., ord. öffentl. Prof. d. Philos. a. d. Univ. z. Gießen
und Pädagogiarchen daselbst, Lehrbuch der theoretischen Philosophie
und philosophischen Propädeutik, ziuu Gebrauche bei akademischen
Vorlesungen. 1826 132 — 144
Krause, K. Chr. Fr., Vorlesungen über das System der Philosophie. 1828 144 — 164
Schubarth, Dr. K. E., und Carganico, Dr. K. A„ Über Seyn, Nichts
und Werden. Einige Zweifel an der Lehre des Herrn Prof. Hegel.
1829. — Brief gegen die Hegel'sche Encyclopädie der philosophischen
Wissenschaften. Erstes Heft. Vom Standpunkte der Encyclopädie und
der Philosophie. 1829. — Über Philosophie überhaupt und Hegel's
Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften insbesondere. Ein
Beitrag zur Beurtheilung der letzten. 1829 164 — 170
Metz, Andreas, Prof. der Philos. in Würzburg, Ueber den BegrifiF der
Naturphilosophie; oder die Frage: Was hat die Philosophie zu leisten,
lun in Wahrheit sich Naturphilosophie nennen zu können? verbunden
mit der Frage: Welchen Werth hat die Naturphilosophie sowohl über-
haupt, als insbesondere für die ^Medicin ? Aus den Jahrbüchern der philos.
medic. Gesellsch. zu Würzburg besonders abgedruckt. 1829 .... 170 — 171
Heinroth, Joh. Christian August, Prof. d. psych. Heilk. auf d. Univ.
zu Leipzig, Über die Hypothese der Materie und ihren Einfluß auf
Wissenschaft und Leben. 1825 171 — 196
Inhalt des dreizehnten Bandes. VII
Seite
Mehring, G., Über philosophische Kunst. Erstes Heft: Eine historische
Vorfrage. 1828 196 — 197
Hegel, Dr. Ge. Wilh. Fr., ord. Prof. d. Philos. an d. Univ. zu Berlin,
Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zum
Gebrauche seiner Vorlesungen. 1827 -. . 198 — 216
Wörlein, J. W., Hauptlehrer in Happurg, System der Pädagogik. Erster
Band. Pädagogische Grundlehren. 1830 216 — 218
Schwarz, F. H. Ch., geh. KR. u. Prof. zu Heidelberg. Erziehungslehre.
3 Bde. 1829 218—242
Drobisch, !Moritz Wilhelm, Prof. d. Mathematik an d. Univ. zu Leipzig,
Philologie und Mathematik, als Gegenstände des Gymnasial-Unterrichts
betrachtet; mit besonderer Beziehung auf Sachsens Gelehrtenschulen,
1832 242- 250
Weisse, Chr. Herrn., Prof. an d. Univ. zu Leipzig, System der AesthetLk
als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. 1830 250 268
Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 1833 ■ • 268 270
Vorrede zu Carol. Lud. Hendewerk, Principia ethica a priori reperta, in
libris S. V. et N. T. obvia. 1833 270 271
Drobisch, Moritz Wilhelm, Prof. an d. Univ. zu Leipzig, Beiträge zur
Orientierung über Herbarts System der Philosophie. 1834 .... 271 273
Nieuwenhuis, Jacobi, philosophiae in academia Lugduno-Batava prof.
ord. caet., Elementa metaphysices historice et critice adumbrata. 1833.
Auch unter dem Titel: Initia philosophiae theoreticae, vol. secundi pars
prima. — Nieuwenhuis, Jacob us, quum magistratum academiae
Lugduno-Batavae solemni ritu deponeret, Oratio principiorum pugna in
rebus gravissimis caute diiudicanda, quam habuit. 1834 273 278
Strümpell, Dr., Erläuterungen zu Herbart's Philosophie, mit Rücksicht
auf die Berichte, Einwürfe und Mißverständnisse ihrer Gegner. 1834 278
Griepenkerl, Prof. Dr. F. K., Briefe an einen Jüngern gelehrten Freund
über Philosophie, und insbesondere über Herbart's Lehren. 1832 . 278 — 279
Herbart, Umriß pädagogischer Vorlesungen. 1835 280 282
Kappe, Dr. Alexander, erstem Oberlehrer am Archigymnasio zu Soest,
Platons Erziehungslehre als Pädagogik für die Einzelnen und als Staats-
pädagogik. Oder dessen praktische Philosophie. 1833 282 — 284
Romang, J. P., Über Willensfreiheit und Detenninismus. 1835. — ■Zur
Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens. Briefe an Herrn
Professor Griepenkerl von Herbart. 1836 285 286
Hartenstein, G., außerord. Prof. d. Philos. an d. Univ. zu Leipzig, Die
Probleme und Grundlehren der allgemeinen Metaphysik. — 1836 . . 286 — 289
Drobisch, M. W., Prof. an d. Univ. zu Leipzig, Neue Darstellung der
Logik nach ihren einfachsten Verhältnissen. Nebst einem logisch-
mathematischen Anhange. 1836 289 293
Drobisch, M. W., Quaestionum mathematico - psychologicarum specimen
primum 293—297
Suabedissen, D. Th. A., Die Gruadzüge der Metaphysik. 1836 . . . 297—300
Herbart, J. F., Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral,
zum Gebrauche beim Vortrage der practischen Philosophie. 1836 . . 301—303
Drobisch, M. W., Quaestionem mathematico-psychologicarum. vSp. 11. . 304—306
Hartenstein, G., auct. philos. theoreticae in univ. lipsiensi prof. ord.. De
ethices a Schleiermachero propositae fundamento 306—311
VIII Inhalt des dreizehnten Bandes.
Seite
Drobisch, Mauritio Guilielmo, anct., in univ. Lips. P. P. O., Quae-
stionum mathematico-psychologicarum fasiculus I. 1837 ßH— 3^3
Sample, J. W., Advocate, The metaphysic of ethics; by Immanuel Kant;
translated out of the original German, with an introduction and appendix
1836 313-316
Brzoska, Dr. Heinr. Gust., Prof. an d. Univ. zu Jena, Die Notwendig-
keit pädagogischer Seminare auf der Universität, und ihre zweckmäßige
Einrichtung. 1836 317—319
Vogel, Dr. K., Schulatlas mit Randzeichnungen. 1837 ;ji9--32i
Hartenstein, ord. Prof. d. Philos. an d. Univ. zu Leipzig, Über die neuesten
Darstellungen und Beurteilungen der Herbart'schen Philosophie . . . 321—322
Reiche, Leonh. Phil. Aug., Ulzena- Hannoveranus, De Kanti anti-
nomiis quae dicuntur theoreticis. Dissertatio inauguralis, quam scripsit 322 — 326
Callisen, Christian Friedrich, Kurzer Abriß der philosophischen
Rechts- und Sittenlehre, als Leitfaden bey Vorlesungen über diese Wissen-
schaft. 1805. — Snell, Christ. Wilh. , Prof. und Rektor des
Gymnasii zu Idstein, Die Hauptlehren der Moralphilosophie ; ein Buch
für gebildete Leser. 1805. — Snell, Christ. Wilh., und Snell,
Friedr. Wilh. Dan., Handbuch der Philosophie für Liebhaber. Vierter
Teil: Moralphilosophie. — Tieftrunk. Joh. Heinr., Professor zu
Halle, Philosophische Untersuchungen über die Tugendlehre, zur Er-
läuterung und Beurteilung der metaphysischen Anfangsgründe der Tugend-
lehre von IMM. Kant. Zweiter Teil: Ausführung der Pflichten der
Menschen gegeneinander, nach den besonderen Zuständen und Ver-
hältnissen derselben. 1805* 326 — 334
Fichte, Johann Gottlieb, Die Gründzüge des gegenwärtigen Zeitalters,
in Vorlesungen, gehalten zu Berlin, im Jahre 1804 — 5. 1806. . . . 334 — 340
Guts Muths, J. C. F., Kurzer Abriß der deutschen Gymnastik, ein Leit-
faden für Lehrer und Schüler. (Auch unter dem Titel : Katechismus der
Tumkunst.) 1818. — Kayßler, A.B., Prof. der Philos. usw., Würdigung
der Turnkunst nach der Idee. 181 8. — Steffens, Henrich, Turnziel.
— Passow, Dr. Franz, Tumziel. — Passow, Franz, Prof. an
der Königl. Univ., Zur Rechtfertigung meines Tumlebens und meines
Turnziels 340—351
* Diese und die beiden nachfolgenden Rezensionen konnten nicht mehr chrono-
logisch eingeordnet werden, weil sie erst während des Druckes dieses Bandes auf-
gefunden wurden.
J. F. HERBARTS
REZENSIONEN
(Fortsetzung.)
Hbrbarts Werke. XIII.
Salat, Dr. J., königl. geistlichem Rathe und ordentl. Professor zu Lands-
hut, Handbuch der Moralwissenschaft. Eine ganz neue Be-
arbeitung, mit besonderer Hinsicht auf den Geist und die Bedürf-
nisse unserer Zeit, nach der dritten Auflage seiner Darstellung der
Moralphilosophie. — München, bei Finsterlin, 1824. 495 S. 8.
(2 Thir.)
Gedruckt in: Jenaer Literatur-Zeitung 1827. Nr. 6. 7. SW. XIII, S. 483.
Was der Verf. von allerlei fremder Lehre sich angeeignet, wie er es
eigentümlich geformt, was er dagegen verwotfen und bestritten habe^ dies
kurz darzustellen und zu beurteilen, ist kaum möglich; denn er verwirrt
überall den Leser durch seine „Seitenblicke", die er sogar in den Über-
schriften der Paragraphen förmlich ankündigt. Wenn er nötig hatte, sich
gegen Lüge und Verleumdung auf seinen Lebenswandel und auf seine
Amtsführung seit mehr als dreißig Jahren (S. 490) zu berufen: so be-
dauern wir diesen Umstand um desto mehr, da hieraus leicht eine gereizte
Stimmung entstehen konnte, die man auch ohnedies beinahe vermuten
müßte, wenn man sieht, wie der Verf. sich überall mitten in der Wissen-
schaft auf Zeit- Erscheinungen einläßt, die ihrer Natur nach vorübergehend
sind. Da ist die Rede von einer Philosophie, die man auf die Erbsünde
gebaut hat; da wird die Behauptung angeführt: „/ot Menschen ist nur ein
stinkender Jodesborn'-': und eine andere, nach welcher der Mensch von
dem Gesetze, das er sich selbst gebe, auch sich selbst dispensieren
könnte; ferner eine dritte, nach welcher die Achtung ein kaltes, frostiges
und kraftloses Ding sein soll. Ja es werden sogar Leute redend einge-
führt mit folgender Sprache: ^MH der Moralität bleibe man mir vom Halse ;
Sittlichkeit, Moralität sind ruchlose Worte.'' Wie kann doch ein Schrift-
steller, der eine Moral- Wissenschaft verspricht, auf dergleichen Reden
hören? Sind es Philosophen, die sich also vernehmen lassen; so muß man
sich daran erinnern, daß schon das Altertum klagte, es lasse sich nichts
so Ungereimtes denken, was nicht irgend ein Philosoph gesagt habe. Hr.
S. hätte ivohl getan, statt des unnützen Streitens gegen Leute, die Glicht be-
lehrt sein wollen, Schleiermachers I\ritik der Sittenlehre ernstlich z/i
prüfen und zu beleuchten; denn dies verdient das berühmte Werk voll-
kommen, nicht aber ist es geeignet, so obenhin benutzt zu werden, wie
manche Spuren der letzten Abschnitte ziemlich deutlich verraten. Je
strenger wissenschaftlich das Buch, desto eindringlicher wäre alsdann eine
solche Klage über das Zeitalter gewesen, wie die in der Tat sehr ernst-
hafte und wichtige in der Vorrede: der Lektions-Katalog einer berühmten
norddeutschen Hochschule habe im Sommersemester 1824 und in dem
J. F. Heibarts Rezensionen.
darauffolgenden Winter auch nicht eine Ankündigung der Vorlesungen
über Moralphilosophie, dagegen zwei über Religionsphilosophie enthalten.
Rez. kennt das Faktura nicht; angenommen nun, daß Hr. S. nichts über-
sehen habe: so verdiente dieser Punkt unstreitig, daß darauf aufmerksam
gemacht werde.
Die Polemik des Verfs. zeigt sich gleich in der Vorrede als zum
Teil nützlich, zum Teil aber auch schädlich für die Wissenschaft. Nütz-
lich ist es, daß er gegen alle Mystik den Kaiitisclien Satz festhält: Man
kann ohne den eihische7i Grundbegriff kein ivissenschnflliches Wort über Gott
rede7i. Und wenn er diesen ewig wahren Satz noch ferner so erweitert :
Moralphilosophie kann ohne Religionsphilosophie nicht bestehen, aber diese
kann ohne jene nicht entstehen: so wollen wir wegen des ersten Punktes
wenigstens mit niemanden streiten; denn hier maßt sich allemal das Gefühl
eine Stimme an, und zwar eine solche, welcher Achtung gebührt. Schäd-
lich aber für die Wissenschaft ist die Polemik des Verfs. gegen den
Materialismus, so unbegreiflich ihm dieses auch scheinen mag. Denn bei
wahrer Einsicht in das Wesen der Moralphilosophie hätte der Verf. finden
müssen, daß nicht die allermindeste Gefahr von dieser Seite vorhanden
ist, so oft auch unverständige Materialisten dieselbe haben herbeiführen
wollen. Das, was sie erreichen konnten, war eine falsche Moral; die
wahre hat sich ihnen stets entzogen und kann von ihren Waffen gar nicht
getroffen ivcrden. Der Verf. aber mußte auf den an sich lächerlichen
Streit Gewicht zu legen sich um desto mehr hüten, da die Materie^ als ein
Gegenstand der tiefsten, weitläufigsten, und im wisse?ischaftlichen Sinne
schönsten^ ja erhabensten Untersuchungen, nun einmal vor Augen liegt, der-
gestalt, daß Mechanik, Chemie, Physiologie, Astronomie an Interesse immer
zunehmen und hierdurch das Bedürfnis einer echten Naturphilosophie von
Tag zu Tage noch steigern. Aber Hr. S. scheint nur daran zu denken,
daß eine gewisse Schule sich durch Usurpation einen Namen beigelegt
hat, der von jener Wissenschaft hergenommen ist. Wenn nun die
Neigung für Naturwissenschaft in rascher Progression zunimmt, wird es
dann etwas helfen, daß Hr. S. etwa ein Dutzendmal in seinem Buche
erklärt hat, er wolle „auf der Bank der Materialisten'' nicht sitzen? Es
müßte ihm gar nicht einfallen, daß bei wahrer Einsicht irgend jemand
ihn dahin samt der Moralphilosophie könne verweisen wollen. Er mußte
die ganze Untersuchung über die Materie, als etwas der Moral durchaus
Gleichgültiges, kennen.
Die Einleitung gehört zu den dunkelsten Teilen des Buchs. Es be-
ginnt: „Wenn die Philosophie weder bloße Logik, noch die Physik als
solche ist (wem war denn so etwas eingefallen?): so ist das erste, worauf
es bei derselben ankommt, die Sache oder das Reale (welcher Schluß!),
und zwar eine Sache, die sich von der, welche der Naturwissenschaft
angehört, nicht bloß de?n Grade nach unterscheidet." (Gibt es etwa Grade
der Materie?) „Neben dem Physischen nun heißt selbige füglich das
Metaphysische." (Kennt nun jemand die Sache, welche der Verf. meint?)
Auch das Moralische ist ein Metaphysisches, Übersinnliches (also vermut-
lich eine Sache?), so gewiß dasselbe weder ein Logisches, noch ein
Physisches genannt werden kann und auch der Moralphilosoph ist erstlich
Dr. J. Salat: Handbuch der Moralwissenscliaft.
Metaphysiker , zweitens Logiker. Diese Grundbestimmung verträgt sich
wohl mit der Einteilung der Sachwissenschaft in Ethik und Physik, sowie
mit der Kantischen Abteilung des Sachbegriffs in den Freiheits- und
Naturbegriff. Nur steigt sie bis zu dem Übersinnlichen =; dem ersten
Realen hinauf." Was wir hieraus lernen, ist weiter nichts,- als daß sich
Hr. S. die Kantische Lehre sehr willkürlich nach seiner Weise einrichtet.
Denn daß man die Natur, welche nur Erscheinung ist, und die Freiheit,
welche nicht erscheint, sondern des kategorischen Imperativs wegen ange-
nommen werden soll, nach Kant nicht koordinieren dürfe, brauchen wir
kaum zu erinnern. Da nun der Verf. nichts bewiesen hat: so wider-
sprechen wir sogleich seiner Behauptung, die Moralphilosophie sei Meta-
physik, ohne weiteres, und fügen nur hinzu, daß, gerade weil sie es nicht
ist, die alte Einteilung der Philosophie in Logik, Physik, Ethik, notwendig
ist, indem von diesen drei Teilen keiner mit einem andern verschmolzen
werden darf. Daß übrigens der Verf. entweder Theologie oder Psycho-
logie oder ein Gemenge aus beiden im Auge hatte, verstand sich von
selbst und bestätigt sich sogleich. „Das Übersinnliche erscheint a) so,
wie der Mensch objektiv daran teil nimmt, b) so, wie es auf ihn als
Subjekt sich bezieht. Daher das Sittliche oder Gute nach der Idee.
Was im Menschen vordringt, ist seine Erhabenheit über die Natur. Daher
die Grundsetzung: das Moralische und Physische. Auch das Moralische
ist demnach ein Objektives, aber hinweisend auf den Menschen als Subjekt,
da eben in demselben und vermittelst dessen Tätigkeit (sie!) das Über-
sinnliche, Göttliche oder beim Mangel eines anderen Worts, die Vernunft
realisiert werden soll." (Wer redet hier? Vermutlich ein Schüler und An-
hänger jenes beriihmten Mannes, der ifi dem noch nicht vergessenen Systeme
des transcendentalen Idealismus im Jahre 1800 von einer dritten Periode
der Geschichte sprach, wo das, was in den früheren als Schicksal und
als Natur erschien, sich als Vorsehung entwickeln werde und nun hinzu-
setzte : Tüenn diese Periode sein wird, dann tvird' auch Gott sein. — Will
Hr. S. mit dieser Lehre nicht in Gemeinschaft treten, so hätte er sich
hüten sollen, vom Göttlichen zu sagen, es solle erst realisiert iverden, als
ob es nicht schon real iväre ; und eben deshalb hätte er einen ganz andern
Eingang zur Moral suchen sollen.) „Wir unterscheiden nun für die
Moralphilosophie den objektiven und subjektiven Grund, also das, was
der Tätigkeit des Menschen vorangeht: Anlage, Anregung, Ankündigung
— die Gnade in dreifacher Gestalt — und dasjenige, was durch die
menschliche Tätigkeit entsteht, die Entwicklung vermittelst der Verstandes-
tätigkeit." (Also die Gnade gehört in die Grundlegung zur Moral,
obgleich ohne den ethischen Grundbegriff kein wissenschaftliches Wort von
Gott möglich sein sollte! Mit welcher Hälfte dieses Zirkels ist dem Verf.
Ernst?) ,, Indem der Grund im subjektiven Menschen gelegt wird, ergibt
sich mit dem Guten das Wahre. Wenn sodann dieser Grund mittelst
des Verstandes entwickelt wird, so entsteht die Erkenntnis der Wahrheit.
Das Wahre, Gute und Schöne gehen von dem Einen metaphysischen Ob-
jekte aus. Diese Darstellung, betreffend die Begründung der Moral-
philosophie, weiset demnach zurück auf den Entwicklungsgang der Ver-
nunft: Ankündigung, Anerkennung, Erkenntnis des Göttlichen oder, wofern
J. F. Herbarts Rezensionen.
dieses Wort hier nicht gefällt, des Übersinnlichen." Wobei wir bemerken,
daß uns dieses Wort hier allerdings keineswegs gefällt. Wer von Gott
reden will, der spreche das Wort deutlich aus; wer aber besorgt, der
heilige Name möchte irgendwo nicht am rechten Orte sein, der spare ihn
für einen besseren Platz!
Wir mögen nicht gern daran glauben, daß der Verf. hier schon mit
seiner Begründung der Moral fertig sei; wenigstens lassen wir dem Leser
vorläufig die Hoffnung, das Folgende werde klarer sein. Der erste Teil,
welcher das Moralische an sich betrachtet, zerfällt in vier Abschnitte,
worin nacheinander von der Anlage, dem Gesetze, der Triebfeder und
dem Grundsatze gehandelt wird. Und hier wird dann nun alles insofern
sehr klar, als wir uns in ein längst bekanntes Gebiet von Meinungen ver-
setzt finden, worin die beliebte Selbständigkeit , vermöge deren jeder-
mann sein eigenes System haben 7vill, dadurch behauptet ivird, daß er sich
seine eigene krmmne Linie zum Spaziergafige in dem Walde aussinnt, um
etwa hier und da eine Aussicht oder einen Sitz zu gewinnen^ wo es ihm
besser behagt^ als auf den Plätzen, die sich die andern ausgesucht haben.
Nach dem Verf., wie nach den meisten, soll man, bei der Grundlehre
von der moralischen Anlage (wenn das nur überall eine moralische Grund-
lehre wäre!) von den menschlichen Anlagen ausgehen. Kant hat zwar
längst das Gegenteil gezeigt, indem sein kategorischer Imperativ absicht-
lich ganz losgerissen von aller theoretischen Erkenntnis dasteht; aber
diesen Meisterzug versteht man heutigestages nicht mehr zu würdigen.
Die menschlichen Anlagen werfen uns natürlich in die Psychologie. Und
hier ist's die gewohnte Weise, einzuteilen nach Belieben, um sagen zu
können, man habe eine bessere Einteilung gemacht, als andere. Der
Verf. teilt erst geistige und körperliche, dann jene in reale und formale
Anlagen, wo die Worte schon das Bekenntnis enthalten, daß bloß ein
Begriff gespalten sei; denn in der Wirklichkeit giebt's keine Form ohne
Gegenstand. Das Ergebnis jener Teilung aber soll dasselbe sein, wie
wenn sogleich eine Dreiheit aufgestellt wird, Sin?i, Verstand, Vernunft
(wobei, wenn wir recht verstehen, der Sinn sich gar in eine körperliche
Anlage verwandeln wird!), nur mit dem Unterschiede, daß die philo-
sophische Darstellungsweise herabsteige, also von der Vernunft ausgehe
oder dieselbe zuerst setze. (Freilich kann man nach Belieben zuerst oder
zuletzt setzen, wenn man sich gar nicht bekümmert, in welcher Ordnung
und unter welchen Bedingungen sich die Gegenstände erkennen lassen.)
Und nun wird disputiert gegen den neuen wie gegen den alten Vernunft-
kritiker; weil nicht der persönliche Trieb (ein Unding!) neben dem mensch-
lichen und tierischen auftreten, wohl aber die Menschheit auf der geistigen
Seite in die objektive und subjektive (wir wissen wahrlich nicht, ob
Menschheit oder Seite^ abgeteilt werden soll. Der Verf. konnte um die
Zeit, da er sein Buch schrieb, längst wissen, daß neuerlich im Gebiete
der Psychologie sorgfältigere Untersuchungen angestellt worden sind, nach
welchen von allen solchen Teilen, Trieben und Seiten keine Rede ist;
in welchen Grenzen aber sein Bemühen, mit der Zeit fortzugehen, stehen
geblieben ist, davon finden wir gleich noch andere Spuren. Nachdem
wir schon lange von der übersinnlichen Anlage des Menschen haben
Dr. T. Salat: Handbuch der Moral Wissenschaft.
reden hören, sollen wir hintennach erfahren, was sie denn eigentlich sei.
Hier nun ,,erscheini wieder das Übersinnliche" (sollte man es glauben, daß
ein solches Wunder, vermöge dessen das Nicht -Erscheinende erscheinen
müßte, auch nur denkbar sei?) ^^ivie jeder Mensch an demselben teibiinimt,
und wie dasselbe folglich in alle nmischlichen Wesen als solche gelegt ist.
Indem es nun vor jeder Entwicklung erfaßt wird (natürlich im beliebigen
Abstrahieren), ergibt sich damit die sittliche Anlage. Auch diese ist
daher ein unbedingt Reales. Es kann schlechterdings nur von einer
solchen die Rede sein; denn die Einheit entspricht dem einen, von
welchem die moralische Anlage abgeleitet wird. Nur das Göttliche im
Menschen, nur das Reale^ wovon dieselbe abstammt und sonach nur Eines
geht hervor." So wären wir denn also aus einer höchst dürftigen Psycho-
logie zu einer theologischen — und zwar .spinozistisch - theologischen —
Ansicht gelangt. Denn der Verf. und mehrere ihm ähnliche, mögen sich
sträuben, wie sie wollen; der Spinozismus, dem sie e7itfliehe7i wollen, ergreift
sie ohne Mühe, weil ihre eigeiien Bewegungen^ une von magischen Blicken
angezogen, sie zu ihm hinführen. Die Eitiheit ist ihre Göttin, die Vielheil
ihre Feindin, und das Reale, als solches, ist ihnen das Beste. Daß das
Übersinnliche, wenn es nichts weiteres wäre, als real, völlig gleichgültig
sein würde, und weder gut, noch böse, das fällt ihnen nicht ein. Daß
sie, um zur Sittenlehre den Grund zu legen, von allen Gedanken an
Realität völlig loslassen müssen, ist ihnen unbegreiflich. Was beginnen
sie demnach.^ Sie setzen sich nach ihrem Bedürfnis sogleich, ohne alle
Frage nach den Gründen der Erkenntnis (die sie sogar wissentlich ver-
schmähen und sich dessen rühmen!), das ursprünglich Reale, die ab-
solute Substanz, gerade wie Spinoza. Und jetzt, nachdem sie dieselbe
gesetzt haben, darf niemand mehr daran zweifeln. Alsdann lassen sie
das Reale erscheinen, sich darstellen, auseinander gehen, in der Form
vieler Vernunftwesen. Jedes derselben hat nun sittliche Anlage, sofern
es teil hat an dem Einen. Wenn aber Spinoza und Schelling ihnen
sagen, daß sie es ebenso mit der Natur machen müssen, dann glauben
sie nur nötig zu haben, ihr geneigtes Gehör zu verweigern. Während
der langen Polemik gegen den letzteren haben sie sich jedoch dergestalt
an seinen Gedankenkreis gewöhnt, daß von Untersuchungen anderer Art
nichts mehr in ihnen ist, noch zu ihnen gelangt.
Zweifelt jemand noch an dem Spinozismus des Verfs. (nämlich an
den halben und zerbrochenen, welcher meint, die Natur beliebig weg-
lassen zu können; denn freilich den ganzen und konsequenten können
wir Hrn. S. nicht beilegen): so vernehme er folgendes: „die Vernunft ist
selbst das Göttliche, nur abgeteilt in unendliche und endliche, wo denn die
endliche Vernunft eben das Göttliche im Menschen heißt. Wer die
Sach-Einheit zwischen Geist und Geist nicht annimmt, der sehe wohl zu.
ob er nicht mit dem, welcher in dem Menschen nichts weiter sieht, als
ein gesteigertes Tier, auf einer Bank sitzen müsse !'^ (Wüßte Hr. S. nur
erst, was ein Tier ist!) „Und wenn ein neuer dogmatisierender Mystizismus
behauptet, der Mensch habe kein Göttliches in sich, sondern nur die
Empfänglichkeit dafür: so fragen wir: ist dieses Vermögen ein logisches
oder gar ein physisches?" (Was soll denn die Frage helfen? Ein wirk-
8 J. F. Herbarts Rezensionen.
liches ist es ja doch in jedem Falle, und an der Wirklichkeit klebt Hr. S.
nun einmal; ein reines Ideal kann er nicht bilden.) „Die Vernunft ist
demnach das Göttliche selbst, und als menschliche Vernunft zugleich das
Vermögen der Ankündigung des Götdichen." Wobei nun in dem eben
gebrauchten Als das Spinoztsiische quatenus deutlich ausgesprochen ist;
dieses quatenus aber ist die Seele des ganzen Spinozismus, wie wir ander-
wärts zu zeigen uns vorbehalten. Damit es aber auch recht sichtbar
werde, daß uns gar nicht in den Sinn kommt, Hrn. S. des konsequenten
Spinozismus zu beschuldigen, wollen wir nicht unterlassen, anzuzeigen, daß
der Verf. auch die Freiheit behauptet, welche Spinoza leugnet, und
welche nirgend anderswo, als in der Kantischen Lehre, wo das Sitten-
gesetz von aller Realität unabhängig auftritt und die Gegenstände der
Erfahrung, den Menschen selbst nicht ausgenommen, in Erscheinungen
verwandelt sind, ihren rechten Platz hat, indem der Glaube sich vom
Wissen losreißt. Solche Genauigkeit muß man bei Hrn. S. nicht suchen.
Ihm ist nach alter nachlässiger Weise die Freiheit erstlich ein Vermögen
des Guten und zweitens behaftet mit der Möglichkeit des Bösen ; wie nun
diese beiden Dinge es anfangen sollen, nebeneinander zu bestehen, das
kümmert ihn nicht. Bei ihm kommt in dieser Hinsicht ,,das Wissen zum
Glauben, wie der Begriff zum Gefühle". Was er weiter lehrt vom Ver-
hältnis der sittlichen Anlage zur verständigen und ästhetischen überhaupt
(wobei er gelegentlich, wie 7Jom Hörensagen, eines neuereji erwählt, der ,,tn
Versuchung gekommen sei,''' die Ethik auf den Boden der Ästhetik zu ver-
pflanzen), ferner über den Zusammenhang der moralischen Anlage mit
der Würde der Menschheit, über den Abfall und Verfall und über die
Unschuld, das übergehen wir, um ihn über das moralische Gesetz, im
zweiten Abschnitte, zu hören. Da finden wir aber statt des Gesetzes
etwas, welches wie Geschichte aussieht. „Es gibt, wie einen physischen,
so einen geistigen Vv'^inter. Darin befinden sich die ganz Unmündigen.
Wilden und Verrückten. Diesen drei Menschenklassen wird niemand, der
nicht mit den Materialisten auf einer Bank sitzen ivill, die Anlage zur
Sittlichkeit absprechen. Aber ganz unentwickelt ist in denselben diese
Anlage, weil die entsprechende Einwirkung, die Anregung, ohne die der
göttliche Keim nicht treiben kann, noch nicht oder niemals, oder nicht
mehr eintritt. Wie aber das erziehende Wort, Beispiel usw. durch Ohr
und Auge zu dem geistigen Keime gelange, dies gehört wohl zur Nacht-
seite der Wissenschaft und mag füglich das erste Geheimnis der Moral -
Philosophie genannt werden."
Sollte Hr. S., oder wer irgend ihm ähnlich denkt, zur ^uten Stunde
dahin gelangen, für ein tieferes Nachdenken, als sich in dem vorliegenden
Buche off"enbart, aufgelegt zu sein, so möge er sich zuerst fragen, ob es
denn erwüfischt und wohltätig, ob es dem moralischen Interesse angemessen
sei, dieses Geheimnis so geduldig auf sich beruhen zu lassen. Die Bildung
der menschlichen Gesellschaft hängt glücklicherweise sehr wenig davon
ab, in welcher Formel die eine oder andere Schule das Moralgesetz abfaßt,
ob sie es für Eins oder Vieles erklärt, und was sie vom göttlichen Keime
mehr oder minder erbaulich sagen mag. Die Fonnebi werden doch am
Ende an dem sittlichen Urteile, wie es unter gebildeten Menschen sich un-
Dr. J. Salat: Handbuch der Moralwissenscbaft.
v.'illküriich erzeugt und umläuft, als an ihrem Maßstabe geprüft , und ver-
mögen höchstens dieses Urteil aufmerksamer auj gewisse Punkte zu machen^
nicht aber es zu verändern. Auch ist unleugbar das allgemeine sittliche
Urteil flicht einfach und nicht stets von einerlei Art ; es geht nicht aus von einem
Prinzip, und man wird sich eiuig vergebliche Mühe geben, ihm nach allen
Schul- Vorurteilen ein solches unterzuschieben. Die Rede vom göttlichen
Keime fängt aber gerade da erst an, wichtig zu werden, wo der Verf.
sie abbricht, weil er das., luas er zu untenuchen keine Mittel hat., für ein
Geheimnis der Wissenschaft hält. Auf halb oder ganz Spinozistischeyn Wege
wird auch nimmermehr jemand dahin gelangen, nur eine Spur derjenigen
Untersuchung zu finden, welche der allerdings tief verborgenen Möglich-
keit der sittlichen Veredlung gebührt. Sondern es wird für den Erfolg
stets gleichgültig bleiben, ob einer nach echtem Spinozisnms alles Sittliche
samt dem Unsittlichen als Bestandteil der notwendigen Bewegung aller
Dinge in dem Einen, oder ob ein anderer das Gute und Böse wie eine
Reihe von Wundern der Freiheit, oder endlich ob jemand mystischer
Weise dasselbe als göttliches Wunder betrachtet. Denn alle diese Lehren
kommen darauf hinaus , daß der Mensch an der Beförderring des Guten i?i
der Welt höchstens seine Kräfte üben., niemals aber damit etwas ausrichten
könne. Daher wirken alle diese Meinungen, sobald sie ernstlich durch-
dacht werden, nur abspaniiend auf das sittliche Bemühen, und es ist bloße
Inkonsequenz, wenn jemand sich dadurch angetrieben glaubt, irgend etwas
von demjenigen zu unternehmen, was er nach Spinoza nehmen muß, wie
es ist, und nach den anderen, wenn auch im guten Glauben, doch er-
warten muß, wie es kommt. Soll für das Sittliche absichtlich und gar
kunstmäßig gewirkt werden, so ist die Voraussetzung unvermeidlich diese,
daß man in jenes Geheitnnis mehr oder weniger eindringen könne; denn so-
lange man davon nichts weiß, könnte man nur blindlings hatideln. —
Diese unsere Bemerkung würde hier ganz an der unrechten Stelle stehen,
wenn der Verf. wirklich, wie die Überschrift besagt, vom Gesetze spräche,
und auf die Frage Antwort gäbe, wie das Gesetz denn lauten solle. Statt
dessen redet er vom Treiben des göttlichen Keims, so wie eine geistige
Sonne einwirkt; damit wir recht schauen, wie das göttliche 7jieles gewor-
den sei, hier im Keime, dort in dem belebenden Sonnenstrahl, dessen
freilich ein göttlicher Keim nicht bedürfen sollte. Indem nun der Trieb
zum Antriebe wird (solche grammatische Verwechslung müssen wir uns
schon gefallen lassen): so ist mit ihm eine Kunde von dem Einen, dem
der Mensch huldigen soll, verbunden, eine Kunde, die füglich An-
kündigung heißt. Und eben als solche tritt jetzt die Vernunft ein, nach-
dem sie zuerst nur als Vermögen derselben erschienen ist. (Erzählt der
Verf. ein Feenmärchen? Oder wo ist hier der Zusammenhang?) „Wo-
durch diese Entwicklung der moralischen Anlage bewirkt werde, haben
wir gesehen." (Wir haben nichts gesehen.) Wie aber nun dieselbe inner-
lich vorgehe, ist das zweite Geheimnis der Ethik, und mag bei dem Blick
auf den Unterschied zwischen Wissenschaft und Allwissenschaft nicht
weiter stören. (Trefflicher Trost für alle Unwissenheit und Trägheit.)
Die Ankündigung des Göttlichen heißt Gewissen, und es mag gesagt
werden: Vernunft ist das unentwickelte Gewissen und Geivissen die eni-
jO J. F. Herbarts Rezensionen.
wickelte Vernunft. Nennt man übrigens das Gewissen auch Bewußtsein,
welches sonst eine Hervorbringung des Subjekts ist: so begegnet uns frei-
Hch ein Widerspruch, da jenes nur als Gabe erscheint. Und wer begreift
ein Bewußtsein, das, als gegebene Kunde, in dem Menschen, aber nicht
aus ihm ist, also keifie Hervorbringung desselben, und doch hervorgehend
aus der sittlichen Natur der objektiven Menschheit?" — Der Verf. also
gesteht, sich selbst nicht zu begreifen. Er beschuldigt sich eines Wider-
spruchs; dieser macht ihn aber keineswegs irre, führt ihn nicht rückwärts
auf seiner Bahn, sondern — je unbegreiflicher, desto schöner! Demnach
können wir die Mühe sparen, ihn zu widerlegen. Er gehört zu denjenigen,
deren Überzeugung tiicht vom Denken , nicht vom Untersuchen , sondern von
ihrem Wollen und Gutdütiken abhängt \ je tiefer die Philosophie sinkt, desto
zahlreicher wird diese Klasse.
An die Kunde von dem Einen, welchem die Huldigung gebührt,
schließt sich natürlich (!) die Kraft an, wodurch letzte oder deren Gegen-
teil eintritt. Wie die Vernunft zum Gewissen, so entwickelt sich die
Freiheit zu einer Kraft. Der Wille ist als solcher frei. Freier Wille ist
ein Pleonasmus. Daß es an diesem Orte an Polemik nach verschiedenen
Seiten hin nicht fehlt, läßt sich erwarten. Indem nnn die Vernunft zum
Gewissen sich entwickelt , ivird ihm das Eine, dem es huldigen soll^ gesetzt.
Daher das Moralgesetz. Aber welches Reale ist nun dem Menschen zur
Anstrebung vorgesetzt? Nicht bloß ein Beschränktes, sondern das Göttliche
mit Unbeschränktheit, heiße es Ideal oder Gott. Daher das Wahre in
der Sprache des Mystikers: Gott ist mein Moralgesetz. Auf die Frage
aber: wer gibt das Gesetz? wird geantwortet: man müsse zwei Ansichten,
die idealische und die ethische, unterscheiden und verbinden; nach der
Idee erscheine Gott als Gesetzgeber; und wie die Natur in jeder Ge-
staltung Heterono?nie, so sei die Menschheit im tiefsten Sinne des Wortes
Autonomie. Ein solches Amalgama aus den am weitesten entgegengesetzten
Vorstellungsarten bereitet sich der Verf., weil es ihm so beliebt.^ und weil
an kein Wort, das einen guten Klang unter den Menschen hat, verlieren
will. Zu zeigen, daß Freiheit eben selbst eine Idee, und zwar die erste
aller ethischen Ideen ist, das wäre hier zu weitläufig.
In das eben erwähnte Amalgama mischt nun der Verf. beim An-
fange des dritten Abschnittes, der von der moralischen Triebfeder handelt,
noch den Schiller sehen Formtrieb und Sachtrieb; den letzten aber teilt er
wieder in den sittlichen und sinnlichen. Gesetzt, diese Teilungen hätten
in der Tat einen Gegenstand, der aus solchen Teilen bestände, so wäre
das alles Psychologie und nicht Moral ; denn es ist keine Wertbestimmung,
sondern diese eben, wonach uns einzig verlangt, wenn man uns eine
Sittenlehre ankündigt, und ohne welche wir das Wort: sittlicher Trieb, gar-
nicht einmal verstehen können , hat schon längst allem Vorhergehenden
versteckterweise, aber freilich ebenso verworren, als verhüllt, zum Grunde
gelegen. Da uns nun nach der Psychologie des Verf nicht gelüstet, wir
ihm vielmehr noch weit eher ein treffendes, wenn auch nicht wissen-
schaftlich bestimmtes, sittliches Urteil zutrauen: so überschlagen wir den
dritten Abschnitt, und kommen zum vierten, der uns nun endlich mit
demjenigen beschäftigt, was wir im zweiten, unter der Überschrift: Moral-
Dr. J. Salat: Handbuch der Moralwissenschaft. i i
gesetz, nach allgemeinem Sprachgebrauche suchten. Der vierte Abschnitt
fängt wenigstens richtig an. „Ist gleich der Satz als solcher eine Her-
vorbringuns; des Verstandes: so kann doch der moralische Satz dadurch
nimmermehr zu stände kommen.'' Daß wir nun weiter von branclmiden
und gebrauchten Kräften lesen (der Wille nämlich soll die brauchende,
und der Verstand die gebrauchte Kraft sein), scheint zwar bloß ge-
schrieben, um die alte Psychologie lächerlich zu machen; hier aber tadeln
wir es bloß darum, weil es immer noch uns in den Weg tritt, indem wir
endlich einmal hofften, zur Sache, das heißt hier, zur ursprünglichen
Wertbestimmung zu kommen. Aber der Verf. hat noch eine andere
Kunst, uns zur Ungeduld zu reizen. Diese Kunst besteht in einer un-
glücklichen Wortklauberei^ wovon die einzige Probe genügen mag, daß er
das Gesetz der Sittlichkeit nicht einen Satz genannt wissen will. Der
Moralsatz soll nämlich als Hervorbringung des Verstandes ein Zeitliches,
das Gesetz ein Ewiges sein. So verbringt der Verf. die Zeit, indem er
ganz am unrechten Orte gegen sie disputiert, anstatt daß er sie hätte
kurz und gut beiseite setzen, und völlig ingnorieren sollen. Demi die
ursprünglichen Wertbestimmungen sagen 7iichts von der Zeit, in -welcher sie
entstehen, so wenig, wie die geometrischen Sätze., dereti Wahrheit und Gültig-
keit schlechthin zeitlos ist, obgleich sie auch Hervorbringungen des Ver-
standes sind. Wenn jemand in einer Geometrie ein Langes und Breites
reden wollte von der Würde derselben, daß sie ein Ewiges ist. und daß
ihr der Charakter des Subjektiven nicht anklebt, so würde man ihm sagen,
alles das sei ein leeres Gerede, und gehöre nicht in die Geometrie,
sondern in beliebige Betrachtungen über dieselbe. Wie wenig der Verf.
im Stande ist, die leere Stelle, die er bisher offen gelassen, richtig aus-
zufüllen, das kommt nun ganz offenbar im § 25 an den Tag. Da heißt
es: Wie auch das Wort oder die Formel laute, Jede ist gültig, welche
nicht das Sinnliche als den Einen oder letzten Zweck ausspricht, oder
aufstellt, z. B. handle vernünftig, huldige dem Göttlichen usw. So wissen
wir denn nun. daß er das Positive oder Affirmative der Sittenlehre in
bes'.immten, allgemeinen Ausdrücken aufzustellen gar nicht unternimmt;
denn die Worte vernÜ7t/tig und göttlich enthalten nichts als die Frage
7vas denn vernünftig oder vollends göttlich zu heißen verdiene.
Es hat von jeher viele würdige, moralisch gesinnte Männer gegeben,
welchen das spekulative Talent fehlte, ihrer Gesinnung das rechte Wort
dergestalt zu geben, daß die Moral, als Wissenschaft, dadurch hätte be-
gründet, und im wahren systematischen Zusammenhange aufgestellt werden
können. Wir betrachten den Verf. als einen dieser Männer; und obgleich
er uns im ersten Teile seines Werkes sehr schlecht befriedigt hat: so
versagen wir ihm dennoch nicht unsere ^Aufmerksamkeit für den zioeiten,
worin er das Moralische in seiner Erscheinung betrachtet. Doch über-
schlagen wir auch hier noch den ersten Abschnitt, welcher von der
moralischen Wirksamkeit, und hiermit wiederum in leeren Worten von der
Natur des Menschen, vom Verstände als dem Werkzeuge der Veriiunft, von
der Gestaltung des Guten zum Schönen usw. handelt. Der ziueite Abschnitt
soll die Pflichtenlehre darstellen. Ohne uns hier auf die gewöhnliche
Einteilung in Pflichten des Menschen gegen uns selbst und andere, des-
j2 J- F. Herbarts Rezensionen.
gleichen der ersten in Pflichten der Selbstachtung und Selbsterhaltung,
weiter einzulassen, bemerken wir in der Ausführung des Verfs. eine Polemik,
welche bestimmte Veranlassungen gehabt zu haben scheint. Er setzt
zuerst seine richtige Lehre von der Selbstachtung entgegen der Mönchs-
lehre, welche auf Selbstverachtung, und der Mystik, welche auf Selbst-
vernichtung und auf Selbstausleerung in betreff des Willens dringt. Er
spricht ferner gegen eine neue sogenannte Moral, die er für ein System
der Liederlichkeit und der Heuchelei erklärt. Da ist die Rede von einem
„Gleichgewichte der Vernunft und Sinnlichkeit", so daß keine die andere
„tyrannisieren" solle. Und der Verf. fragt mit Recht: Welch eine Ver-
nunft, die eine Tyrannin werden könnte oder möchte? Der Sinn der
neuen Lehre wird folgendermaßen weiter erklärt: Die Fülle der Natur
solle den Verstand nicht überwältigen, so daß ein Übermaß aus
Mangel an Besonnenheit einträte; aber auch hinwiederum solle der Ver-
stand nicht zu bedenklich sein, und vor lauter Besorgnis, einen Genuß
zu verlieren, den Zweck und die Rechte der Natur selbst verkümmern.
,,Denn, heißt es in einer Universalgeschichte nach demselben Systeme,
die Babylonische Fülle ist das Lehen der Menschheit, auf seiner realen Seite,
nämlich in der höchste?! Potenz.''- Was ist das? Der Verf. meint, es sei
weiter nichts, als der alte französische Sensualismus. Wir meinen, es sei
erstlich dieses, und zweitens obendrein noch ein literarischer Ehrgeiz, der
sein Ziel verfehlt. Denn so tief ist das Zeitalter in keiner Hinsicht ge-
sunken, daß es den Baum, worauf solche Früchte wachsen, nicht nach
seinen Früchten richtig beurteilen sollte. War der Verf., als er sein Buch
schrieb, befangen zwischen solchen Eindrücken, wie dergleichen Sensualis-
mus auf der einen und die Mönchslehre von der Selbstverachtung, die
mystische Forderung von der Selbstvernichtung auf der anderen Seite
machen mußten: so wundern wir uns nicht mehr über den Mangel an
Spekulation im Buche; wir sind vielmehr sehr geneigt, ihn über alles,
was zuvor getadelt worden, mit dieser seiner Stellung zu entschuldigen.
Denn der Kampf gegen solche Iniehren ist kaum verträglich mit dem reinen
und ruhigen Denken, tuelches die Begrimdung einer Wissenschaft erfordert. —
Der Verf. spricht sogar von einer solchen Moralphilosophie (von der Baby-
lonischen Fülle? — oder verstehen wir ihn unrecht?), welche auf irgend
einer Hochschule gelehrt, und wobei zugleich, „um Hör- und Kauflustige
herbeizuführen, verschiedene Lockspeisen, z. B. vermittelst der akademischen
Zeugnisse, ausgehängt würden". Hier muß Rez. schweigen und staunen.
Er kann nur auf S. 272 des angezeigten Buches verweisen, wo jedoch
vorsichtig gefragt wird: Gesetzt, es geschähe dergleichen, welche Grund-
sätze müßten wohl da, wenn oder soweit die neue Lehre Eingang fände,
verbreitet werden, auf Kosten der Moralität, der Menschheit des Vater-
landes? — Eine solche Frage pflegt aber nicht als ein bloßer Kasus hin-
gestellt zu werden; und so wenig Rez. sich um deren mögliche Ver-
anlassung zu bekümmern hat, so scheint es ihm doch, daß es wohl andere
Personen geben könnte, die sich darum vermöge der Pflichten ihrer Ämter
zu bekümmern haben würden. Ferner spricht der Verf. von einem Schüler
Epikurs, welcher den Satz aufstellen möge: Nicht vermindern, sondern
vermehren solle man die Bedürfnisse, und nur auf Vermehrung des Stoffes
Dr. J. Salat: Handbuch der Moralwissenschaft. i^
zur Befriedigung derselben zu gleicher Zeit wohl bedacht sein. Und mit
dem vollsten Rechte fügt er tadelnd hinzu: „Nie entschuldigt ein physischer
Vorteil, der arideren zugeht, die unsittliche Strebung. Nur ivo diese aus-
geschlossen ist, mag der Lebensgenuß stattfinden.'- Ebenso stimmen wir
seinen Bemerkungen über das Turnwesen bei. „Wie kann in dem Be-
dingten, das nur physisch ist, die Würde der Menschheit sich abspiegeln?
Nicht was man tut, sondern wie man es tut, entscheidet im Reiche der
Menschheit. Die sittliche Richtung des Willens muß, wenn das Unter-
nehmen der zweckmäßigen Körperentwicklung nicht mißlingen soll, stets
vorhergehen. Es ist dahin zu sehen, daß nicht Glanzsucht eintrete, nicht
mit dem Triebe zur Tapferkeit ein anderer sich bis zum Mißverhältnis
entwickele, und daß auch das Eigentümliche der Kriegskunst, der sich
nicht alle widmen können, nicht vergessen werde."
Wir könnten noch manche Äußerungen über einzelnes, worin wir
den wohldenkenden, fürs Gute mutig und eifrig strebenden Mann mit auf-
richtiger Achtung erkennen, hervorheben; allein der ausdrücklich angegebene
Plan des Buches macht weit höhere Ansprüche: von einer Anleitung zum
sittlichen Leben soll, laut den Worten der Vorrede, nicht die Frage sein,
sondern die Wissenschaft als solche wird verheißen! Diese Ansprüche
zwingen uns, zu einer strengeren Beurteilung zurückzukehren. Wir müssen
es demnach sagen, daß von dem., was der Wissenschaß not tut, auch hier
keine Spur zu finden ist, ebensowenig in den späteren Abschnitten, welche
ins einzelne gehen, als oben bei der Grundlegung zum Ganzen. Die
alten Fehler, welche Schleiermacher teils stehen ließ, teils beging, sind
zwar hier und da durch ein richtiges Gefühl gemildert, aber, soviel wir
bemerkt haben, nirgends in ihrem wahren Grunde gefaßt und gehoben.
Die Benutzung Schleieriiachers zeigt sich ziemlich deutlich darin, daß
zuerst (wiewohl nur gelegentlich im ersten Teile) von Gütern, dann aber
im zweiten Teile ausführlich erst von Pflichten, darauf von der Tugend
gehandelt wird; auch ist die Stellung der Pflichten in dieser Hinsicht be-
zeichnend. Aber Hr. S. hätte bedenken sollen, daß Schleiermacher
sich vorzugsweise von Spinoza hat leiten lassen, und daß dessen Werk,
die Kritik der Sittenlehre, wiewohl vielleicht die beste Zierde der neu-
spinozistischen Schule, dennoch wesentlich dieser Schule angehört, welcher
Hr. S. so gänzlich abhold ist. Daher lag es ihm sehr nahe, alle seine
Überlegung zu sammeln, bevor er auch nur das mindeste daraus aufnahm;
ja er war aufgefordert, sich kritisch dagegen zu versuchen. Wie Schleier-
macher, polemisierend gegen Kant, der Ehrliebe bei den Pflichten des
Menschen gegen sich selbst erwähnt, mußte so auch Hr. S. die Ehre auf die
Menschheit in uns selbst beziehen? Bemerkte er nicht, daß Ehrensachen
vor Gericht kommen, weil es Rechtssachen sind? Der ganze Begriff der
Ehre würde gar nicht vorhanden sein, wenn nicht aus dem Umstände, daß
jeder sein Bild in den Zuschauern erblickt, die ihn umgeben, und ihm wie
Spiegel gegenüber stehen, auch ganz natürlich gegenseitige Rechtsansprüche
entstünden. Wenn ferner Kant, und diesem kritisch nachgehend Schleier-
macher, der Wahrhaftigkeit unter den Pflichten gegen uns selbst den
Platz anweist, ist es nun genug, und erschöpft es den Gegenstand, daß
Hr. S. denselben unter die offenbar verworrene Überschrift solcher Pflichten,
I , J, F. Herbarts Rezensionen.
worin Selbstliebe und Nächstenliebe sich begegnen, hinstellt? Die Liebe
ist gewiß das letzte, woran bei der Lüge gedacht werden kann; und Hr.
S. wird zuverlässig seiji Recht verletzt fühlen, wenn ihn jemand belügt,
ebensowohl, als wenn man ihn verleumdet. Ferner, weil Kant die Billig-
keit^ deren Begriff von dem des Rechts ursprünglich vollkommen ver-
schieden ist (denn sie ist das Prinzip des Lohnes und der Strafe), mit
einem nicht hinreichend dokumentierten Rechte verwechselte (welches ein
ganz anderer Begriff ist), mußte darum Hr. S. die Billigkeit sogar mit
der Bescheidenheit in Verbindung setzen, mit der sie nicht die entfernteste
Ähnlichkeit hat, außer durch völlige Mißdeutung des Wortes? Ferner, weil
Schleiermacher sich durch die offenbarsten Sophismen die Idee des Wohl-
wollens verdorben hat, — wiederum, nachdem Kant, wegen der fehler-
haften Form seiner Moral, die rechte Stelle dafür nicht wissenschaftlich
angeben konnte, — muß darum Hr. S. sogar an der Sprache meistern,
welche ganz genau richtig den Ausdruck Güte gebraucht, um das Wohl-
wollen in seiner Äußerung zu bezeichnen? Die Sprache wird sich ihm
nicht unterwerfen; er aber hätte in diesem Punkte von ihr lernen, und
begreifen sollen, daß gerade dieser, in das tiefste Herz der Moral ein-
greifende Fehler denjenigen eine willkommene Blöße darbietet, die nur
darum die Liebe über alles preisen, damit sie die „kalte Moral" beschämen
können. Und was soll nun endlich (da wir uns weiterer Proben über-
heben müssen) aus der Rechtsphilosophie werden? Hier ist eine merkwürdige
Kette T)on Fehlern. Kant dachte sich den Staat, das Ganze der von
Einem Rechtssysteme umfaßten Personen, als unabhängig von ihrer Gut-
artigkeit oder Bösartigkeit. Fichte führte in diesem Sinne seinen Staat
als Zwangs- Anstalt aus. Schelling geht weiter; ihm ist (im Sy.stem des
transzendentalen Idealismus) die Rechtslehre gar keine praktische Wissenschaft.
,,indem sie nur den Natur-Mechanismus deduziert, unter ivelchem freie Wesen
als solche in. Wechselwirkung gedacht tverden können". Schleiermacher
verläßt sich auf diese treffliche Kunde vom Recht; ihm sind die Rechts-
pflichten, ethisch angesehen, gar nichts für sich Bestehendes ; sie haben nur
den Wert von technischen Regeln. Auch spricht er, den Schellin gschen
Ausdruck wiederholend, von einem mechanischen Gebiete des bloßen Rechts.
So stand die Sache im Jahre 1803. Jetzt, oder im Jahre 1824. da Hr.
S. schrieb, sind die Worte durch die Länge der Zeit gemildert; dennoch
weiß derselbe folgendes zu bemerken:
„Da ohne die Grundlage der Sittlichkeit überall keine dauernde Rechtlich-
keit ist : so setzet der Jurist erste wahrhaft voraus, indem er bloß von der
letzten, und hiemit von der Rechtspflicht handelt." Aber die Juristen werden
dem Hrn. S. sagen, daß sie gar nicht, oder doch nur in besonderen, seltenen
Fällen, von der Rechtlichkeit, als Charakterzug, sondern stets vom Rechte
handeln: und wir müssen hinzusetzen, daß niemand den Begriff der Recht-
lichkeit verstehen kann, wenn er nicht zuvor weiß, was Recht ist. - —
Ungern betrachten wir nun das vor uns liegende Buch als einen neuen
Beweis, daß die Schule, zu welcher Hr. Salat gerechnet wird, keine Schule
für Spekulation ist; während wir übrigens ihre Verdienste um Erhaltung
und Belebung moralischer und religiöser Gesinnungen sehr bereitwillig an-
erkennen.
Dr. A. L. J. Ohlert: Die Schule, Elementarschule, Bürgerschule und Gymnasium. i r
Ohlert, Dr. A. L. J., Die Schule; Elementarschule, Bürgerschule
und Gymnasium, in ihrer höheren Einheit und nothwendigen
Trennung. — Königsberg, 1826.
Gedruckt in: Jenaer Literatur-Zeitung 1826, Nr. 11. SW. XIII, S. 499.
Willmann, Päd. Schriften II, S. 227.
Der Verf. beruft sich auf Nachdenken und eigene Erfahrung; daß
er dazu berechtigt war, erhellt aus der Schrift selbst; er darf also
Gehör zu finden erwarten, und wir können uns um so mehr mit einer
kurzen Anzeige begnügen. Zwar gleich die erste Behauptung des Buches,
der Schulunterricht sei jetzt besser, die häusliche Erziehung aber schlechter
als sonst, möchte uns zu einer weiteren Diskussion fast auffordern. Der
Verf. ist laut der Dedikation an Herrn Diekmann (Direktor der Dom-
schule zu Königsberg, welchem die größte Verehrung bezeigt wird) offenbar
noch zu jung, als daß er aus langer Erfahrung reden, und entfernte Zeiten
vergleichen könnte; Rez.' aber, dessen sehr bestimmte Erinnerung über den
Anfang der französischen Revolution hinausgeht, hat das manierierte ver-
künstelte Wesen der damaligen Erziehung in höheren Ständen, und die
rohe Sorglosigkeit in den mittleren und unteren noch zu lebhaft im Ge-
dächtnis, um nicht zu wissen, welche Wohltat damals Campe, Salzmann usw.
dem Zeitalter erzeugten; eine Wohltat, die noch fortdauert, obgleich von
manchen jetzt schlecht verdankt wird. Der Verf. aber knüpft an seine
Meinung eine Besorgnis, welche sehr gegründet ist; diese nämlich, daß
Eltern jetzt mit Hilfe pädagogischer Bücher und Theorien die Jugend be-
obachten und erziehen wollen, ohne des richtigen Gebrauchs der all-
gemeinen Sätze mächtig zu sein. Dennoch können die Eltern nur gegen
zu großes Selbstvertrauen gewarnt werden, nicht gegen die Bücher; denn
ohne diese würden sie es noch schlechter machen, als jetzt. — Der Verf.
beträchtet nun das sechsfache Leben des Menschen in religiöser, sittlicher,
berufsmäßiger, geselliger, häuslicher und äußerlich schicklicher Hinsicht;
dafür soll die Erziehung vorbereiten. Aus der verlangten berufsmäßigen
Bildung wird die Verschiedenheit der Schulen abgeleitet. So kommt denn
allerdings ganz richtig das Gymnasium als Schule des gelehrten Standes
zum Vorschein, dessen Beruf die Bekanntschaft mit der Vergangenheit er-
fordert. Daher, und aus keinem anderen Grunde, die Notwendigkeit der
alten Sprachen, die aus gleicher Vorliebe bis auf den heutigen Tag so
oft ganz unrichtig abgeleitet, und mit unhaltbaren, untergeschobenen Be-
weisen ohne irgend eine Notwendigkeit verteidigt wird, da jener Grund
für sich allein vollkommen hinreicht. „Der Gelehrte (sagt der Verf.)
empfängt die Überlieferungen der Väter und Urväter; und den Anfängen
der Wissenschaft nachspürend und die Grundlage des jetzigen Zustandes
der Dinge aufsuchend, verfolgt er die Fäden, die sich durch alle Ge-
schlechter bis zu seiner Zeit hinziehen; er sieht die Fortschritte und Rück-
schritte, die Abweichungen vom geraden Wege ebensowohl als dessen
richtige Befolgungen. So erkennt er die Bedingungen des Fortschreitens
der Wissenschaft, wie der Menschheit; denn er sieht den Boden, auf
welchem die Bäume wurzelten, die das Schiff des Staates und der Ge-
sellschaft gebildet haben, die Klippen, an denen es Gefahr lief, zerschellet
l6 J- F- Herbarts Rezensionen.
zu werden, ja bisweilen wirklich Schaden litt, und den Hafen, wohin es
gesteuert werden soll. Dazu bedarf der gelehrte Stand notwendig jener
Kenntnis: er würde ohne sie seine Hauptbedeutung verlieren." Nachdem
dieses vom Geistlichen, vom Rechtsgelehrten, vom Philosophen und Arzte
noch insbesondere gezeigt worden, folgt der Gegensatz der anderen Stände
gegen jenen. „Der Gelehrte bestimmt die Meinungen, leitet sie, und
regiert so die Angelegenheiten der Menschheit (etwas stark hyperbolisch!);
die anderen lassen sich leiten, nehmen auf, und wenden das Empfangene
auf die Gegemvart an. Bürger, Handarbeiter, bedürfen nicht der genauen
Kenntnis der Vorzeit; die Ausübung ihrer Geschäfte beruhet nicht auf
dem, was die Menschen früher dachten, glaubten, lehrten, da sich die
Verhältnisse der Völker und Menschen geändert haben. Deshalb aber
gebrauchen sie ganz andere Vorbereitungen, als der Gelehrte. Die Sitten
der Lebenden, die gegenwärtigen Verhältnisse der Völker und Staaten, dies
ist das Element, worin sie sich ohne Mißgriffe bewegen sollen. Daß sie
nicht ein erträumtes, phantastisches Glück der Vorwelt wiederholen wollen,
sondern als ruhige Bürger und friedliche Untertanen, die bestehenden
Verhältnisse auffassen, wie sie sind, und sich in dieselben fügen; daß sie
einen richtigen Blick für das Jetzt haben, und diejenigen Kenntnisse be-
sitzen, welche zum Verstehen und Ausüben der Fertigkeiten der einzelnen
Fächer notwendig sind, das soll die Vorbereitung für diese Stände be-
wirken, und danach sind auch die Unterrichtsmittel derselben zu be-
stimmen." Der Verf. ergänzt nun die richtigen Betrachtungen durch eine
andere, die vielleicht noch mehr Gewicht hätte bekommen sollen, nämlich
durch Rücksicht auf die zugemessene, Zeit zum Unterrichte, bei welcher in
allen Fällen, wo nicht Besuch der Universität im Plane liegt, die gelehrte
Bildung nur Halbgelehrte hervorbringt, ein unglückliches Geschlecht, das
nirgends hin paßt; und welche wiederum die Elementarschulen, denen
die kürzeste Zeit gegönnt wird, absondern von den Bürgerschulen. „Z??V
nötige Einheit der Schulen (jeder Art) verlangt durchaus^ daß nur Ein Zweck,
ToenigsteJis Ein Hauptzweck^ durch dieselbe erreicht tverden solle.'-'' Der Verf.
spricht weiterhin von .^^Ampliibial-Gyynnasium und Amphibial- Bürge) schulen ;''^
er bekennt, bisweilen sei es nicht möglich, abgesonderte Gymnasien und
Bürgerschulen einzurichten, und dann sei Etwas freilich besser, als nichts.
Wir brauchen ihm dahin nicht zu folgen: die vorstehenden Proben mögen
genügen.
Fick, Georg Karl, Verweser der Ober-Vorbereitungs-Schule in Rothen-
burg, Vergleichende Darstellung der philosophischen Systeme
von Kant, Fichte und Schelling; nebst einer Einleitung, welche
Bemerkungen über die Entwicklung der philosophischen Systeme über-
haupt enthält. — Ohne Angabe des Druckortes und Verlegers. 1825.
8. (9 Gr.)
Gedruckt in: Jenaer Literatur-Zeitung 1827, Nr. 33, 34. SW. XIII, S, 502.
Die Schule des Idealismus, welcher Kant, Fichte und Schelling,
ihrer Differenzen ungeachtet, gemeinschaftlich angehören, ist zwar die
Georg Karl Fick : Vergleichende Darstellung der philosophischen Systeme. 1 7
Schule eines jeden gewesen, der sich heutzutage mit Philosophie in
Deutschland beschäftigt; und sie hat den Kreis der Meinungen für die
meisten dergestalt begrenzt, als ob außerhalb desselben keine Philosophie mehr
zu finden iväre. Dennoch wird es mit jedem Jahre deuthcher, daß sich
das Zeitalter vom Idealismus hinweg und dem Realismus zuwendet. Die
Versuche, auf andere Wissenschaften, z. B. auf Staatslehre und Heilkunde,
den Idealismus zu übertragen, verunglücken zu sichtbar, als daß man lange
dabei beharren könnte. Da nun die Menschen nach dem Eifolge am
liebsten urteilen, so verlassen sie den Idealismus zwar 7iicht, wie sich ge-
bührt, als entschieden ividerlegten Irrtum, — sondern etwa als eine un-
bequeme Hypoihese, die niemanden belästigen kann, sobald nur sich niemand
um sie bekümmert. Hieraus entsteht ein sonderbares Verhältnis. Sagt
man diesem Zeitalter, daß die Periode des Idealismus vorbei sei, und daß
sie nichts anderes war, noch werden konnte, als eine Episode in der Ge-
schichte der Philosophie.^ so erschrecken noch immer die Ohren vor dem
ungewohnten Klange der Worte. Denn wofern auch Fichtes eigentlicher
und ganzer Idealismus zu schroff erscheint: so gilt doch der halbe, nach
Kantischer oder Schellingischer Art, denen für ein notwendiges Übel, die
sich einen ganzen und echten Realismus nicht anders denken können, als in
den materialistischen oder andern verhaßten Gestallen. Auch ist nichts öfter
wiederholt, und nichts lieber geglaubt worden, als die Behauptung: alle erdenk-
baren philosophischen lehren seien längst dagewesen ; man müsse wählen unter
dem Vorhandenen, weil sich nichts Neues mehr erfinden lasse; die Dreistig-
keit der Spekulation sei nur zu weit gegangen, und statt im Forschen noch
weiter zu gehen, müsse man vielmehr umkehren, keinesweges aber sich
und andere noch länger beunruhigen. Dennoch ist das Zeitalter nicht
eigentlich im Umkehren begriffen, wenn wir uns dabei eine absichtliche
und geregehe Bewegung denken, — sondern vielmehr im Zurücks inken.
Es begnügt sich mit Halbheiten und Mitteldingen^ nachdem es den Mut
verlor, e'.was Ganzes zu fassen.
Unter solchen Umständen könnte nun eine vergleichende Darstellung
der Lehren jener drei Männer recht nützlich werden, wofern sie im
historischen Geiste geschrieben wäre. Denn auf Geschichte hören auch
diejenigen noch, welche vom Räsonnement längst ermüdet sind. Und
wollte jemand sagen, der Gegenstand sei gegenwärtig noch nicht reif für
die Geschichte, er stehe uns noch zu nahe, als daß wir seine Umrisse
schon ganz zusammenfassen könnten: so scheint doch dieser, im all-
gemieinen sehr gegründete Einwurf nicht die IMöglichkeit auszuschließen,
daß irgend ein vorzüglicher Kopf sich könnte in hinreichender Entfernung
einen Standpunkt schaffen, aus welchem betrachtet, die Kantische Lehre
wieder als das erscheinen würde, was sie ursprünghch war, nämlich Kritik;
welche nicht selbst System sein will, aber wohl dem System eine Reform
anmutet. Aus dem nämlichen Standpunkte ließe sich dann weiter zeigen^
erstlich: weshalb in der älteren, schon kraftlos gewordenen Schule die
vom Kritiker geforderte Reform unterblieb, und zweitens: welche Folgen
nun eintreten mußten, da die Kantische Kritik selbst die Gestalt eines
Systems bekam. Daß der halbe Idealismus Kants nicht bleiben konnte,
dieser zweite Punkt würde seine genügende Aufklärung erst dann mit
Herbakts Werke. XIII. 2
l8 J- F- Herbarts Rezensionen,
Sicherheit erlangen, wenn zuvor jener erste historisch entwickelt wäre, was
eigentlich der Reformator der älteren Schule in ihr hätte wirken müssen,
damit sein halber Idealismus, welcher einen Fehler andeutete, aber nicht
heilte, unnötig geworden wäre. Über der Nachweisung, daß Fichte habe
vollenden müssen, was Kant anfing, ist nur zu sehr die Frage in Schatten
getreten, worum denn nicht in Kants eigene?i Augen sein Werk ein halbes
gewesen sei, und wie es ihm habe scheinen können, das zu leisten, was
es leisten soll. — Wer über Kants Beginnen in historischem Geiste
schreiben wollte, der müßte sich natürlich hüten, in die Verhältnisse, worin
jener sich bildete, die späteren Ansichten hineinzutragen. Ebenso be-
stimmt müßte er aber auch Fichtes Versuch, eine Lehre zu ergänzen,
die zum Bruchstück geworden war, seitdem sie, ihre kritische Bestimmung
verlierend, die Rolle des Systems spielte, — als einen Versuch von ganz
anderer Art und Richtung charakterisieren. Nicht minder würde die
besondere Stellung, in welcher, nachdem durch Fichtes Arbeiten das
ethische Feld besetzt schien, Schellings Augenmerk auf die noch wenig
bearbeitete Naturlehre fallen mußte, genau zu bezeichnen, und in ihren
Folgen zu würdigen sein. Endlich müßte Reinholds höchst bedeutender
Einfluß auf die mit Übertreibung geforderte Einheit in der Philosophie
nicht mit Stillschweigen übergangen werden.
Das erste nun, was uns beim Hineinblicken in die vor uns liegende
kleine Schrift — deren geringer Umfang durch den reichhaltigen Gegen-
stand die gedrängteste Fülle hätte erhalten sollen — aufifällt und be-
fremdet, ist das ganz unhistorische Stillschweigen von dem, was der Lehre
Kants zunächst vorherging, nämlich die Leibnizisch - Wolffsche Schule, und
was ihr zunächst folgte, insbesondere Reinholds Bemühungen. So fehlt
der Kritik ihr nächster Beziehungspunkt, und ihr Schicksal, daß sie den
Schein eines Systems gewann und hierdurch aus der Rolle fiel, bleibt
unerklärt. Statt dessen aber, was man fordern konnte, gibt der Verf.
etwas ganz Unnötiges, nämlich eine „Darstellung der griechischen Philo-
sophie bis auf Platon" von Seite 17 — 26. Wie war es dem Verf.
möglich, in solcher Kürze von Altem und Neuem zu sprechen? Die
Antwort findet sich bald. Weit entfernt von dem Streben, welches den.
Historiker bezeichnen würde, den allzu nahe liegenden Gegenstand so
weit als möglich in die Ferne zu rücken, scheint er vielmehr noch in
Schellings Auditorium festzusitzen, welches er in Erlangen besuchte
(laut S. 78); und von der hochgepriesenen Einheit geblendet, sieht er
nicht nur in Heraklits Lehre das Identitätssystem (und sogar den Ideal-
Realismus), sondern auch in Platon, dem offenbaren Gegner des Heraklit,
erblickt er den Bekenner des nämlichen Systems; desgleichen stellte, wenn
wir ihm glauben, Fichte kein eigenes System auf, da er ja nur das
Kantische weiter ausbildet; und endlich findet sich auch bei Schelling
große Annäherung an Fichte! Es fehlt also nicht viel daran, daß in der
philosophischen Welt alles Eins sei; und die Philosophen müssen sehr
böse Leute sein, da sie, wiewohl im Grunde beinahe einverstanden, doch
soviel streiten, und den Schein großer Mißhelligkeit erkünsteln! — Wirk-
lich, wenn man bedenkt, wieviel Unheil der Zwiespalt der Meinungen in
der Welt stiftet: so kann man eine solche Lust am unnützen Hader
Georg Karl Fick: Vergleichende Darstellung der philosophischen Systeme. jq
nicht hart genug anklagen. Wie aber soll man diejenigen beurteilen, welche
den Verdacht, als sei der Streit unter den Philosophen nur ein leeres
Gezänk, begünstigen, ohne die Gründe des Streits gehörig studiert zu
haben? Sollten sie vielleicht kein Gewicht haben, um die Schwere eines
solchen Verdachts abwägen zu können? — Rez. würde nun freilich weder
Kant noch Fichte noch Schelling zu kennen glauben, wenn er in
einer vergleichenden Darstellung ihrer Lehren nichts mehr zu sagen
hätte, als was man hier davon liest; indessen ist seine Aufmerksamkeit
auf das Büchlein verlängert worden durch den Umstand, daß, wie schon
erwähnt, der Verf. Schellings Zuhörer in Erlangen gewesen ist; und
anderen kann es vielleicht ebenso gehen. Wir dürfen zwar keineswegs
darum einen Bericht oder auch reine Proben der dort empfangenen Ein-
drücke hier zu finden glauben ; besonders da der Verf., obgleich er wohl
,,das System nach seiner neuesten Form dar stellen köJinte/' sich doch, um
nicht vorzugreifen, begnügen will, es in der älteren Form zu zeigen.
Allein gerade von dieser älteren Form scheint er ungemein wenig zu
wissen; besonders ist der Naturphilosophie, also gerade dem Wichtigsten
und Eigensten, kaum eine flüchtige Erwähnung gegönnt; überdies bildet
der äußerst schlichte und prosaische Vortrag einen so auffallenden Kon-
trast gegen den bunten Schimmer, welcher in früherer Zeit alles umgab,
was aus der nämlichen Schule kam, daß man sich veranlaßt findet, irgend
eine Veränderung zu mutmaßen. Wir wollen daher dem Büchlein,
welchem, an sich betrachtet, eine kurze Anzeige hätte genügen können,
ins Einzelne folgen.
Die Einleitung meint: es müsse für die philosophischen Systeme
einen höheren Einheitspunkt im menschlichen Geiste geben; sonst müßte
entweder alle Einheit des menschlichen Geistes gänzlich wegfallen oder
die Verschiedenheit der Systeme würde von Verrücktheit herrühren.
Also werde man durch das Studium der Philosophie nur desjenigen
Systems sich bewußt, welches ursprünglich in unserem Denkvermögen be-
gründet liege. Rez. hat nun das Unglück, an gar kein T)e\\k- Vermögen
zu glauben, und noch viel weniger an ein System, das darin liege; daher
denn auch die klare, und aus dem natürlichen Ursprünge unserer Er-
kenntnis gar leicht begreifliche Tatsache der großen Verschiedenheit unter
den Systemen keine Sorge wegen Verrücktheit nach sich zieht. Indessen
mag dem Verf. eingeräumt werden (wenn schon unter vielen, ihm un-
bekannten, näheren Bestimmungen), daß die Systeme bloß einzelne Momente
des wahren und ganzen Systems hervorheben, oder auch Momente der
Entwicklung aus Unstetigkeit in ungehöriger Ordnung sich folgen lassen,
wodurch Verwechselungen zwischen Giund und Begründetem veranlaßt
werden. Von denjenigen Systemen, worin der Grundtypus aller anderen
gegeben ist, versucht er nun folgende Deduktion : Zwei entgegengesetzte
Pole finden sich bei jedem Menschen vom ersten Augenblicke an, da er
sich seiner bewußt ist. (Also gibt es einen solchen Augenblick? Und
zwar einen bestimmten ersten?; Denn eben durch dieses Bewußtsein seiner
selbst wird er ein Einzelnes für sich, da er im Gegenteil als physisches
Wesen, abhängig von Natureinflüssen, bloß Glied des Weltganzen ist.
(Die wohlbekannte Sprache des Spinozismus !) Ebenso ist er durch das
20 J- F- Herbarts Rezensioneu.
Moralgesetz und die Ideen als Einzelnes dem Allgemeinen oder Ganzen
verknüpft (spinozistische res cogitans, die mit der res extensa Eine Sub-
stanz sein soll), da ja das Moralgesetz nichts toeiter fordert, als eine Unter-
werfung des Einzelnen unter die Gesetze dos Allgemeinen, und er durch
die Ideen des Allgemeinen inne wird! (Glückliche Verschmelzung des
Kontianismus und Spinozismns ! Aber warum fordert denn das Moralgesetz
noch erst die Verknüpfung, die schon vorhanden, und völlig unzer-
reißbar ist? Vermutlich, weil der Verf. nichts weiter davon weiß.) In
den verschiedenen Verhältnissen dieser beiden Pole (seltsamer Magnet,
dessen Pole verschiedene Verhältnisse gestatten !) beruht alle theoretische
und praktische Verschiedenheit der Menschen (dürftige Psychologie!) und
diese Entgegengesetztheit der beiden Pole begründet zwei entgegengesetzte
Vermögen unseres Geistes, welche, wie die Pole, eins ohne das andere
nicht sein können. (Der menschliche Geist also wäre so einförmig, wie
der Magnet oder wie die Voltaische Säule!) Und diese Vermögen sind:
Vernunft und Verstand! Wo bleibt die Sinnlichkeit? Wo bleibt Begehren,
Fütilen, Wollen; wo bleiben die Affekten? Wo bleibt die Kontinuität,
wo die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Gedanken und der Gemüts-
zustände? — Alles das, wofür die Sprachen aller Völker zu arm sind,
um es auszudrücken, geht unter in dem U7iiversaiisierenden Vermögen und
dem individualisierenden. Und wir ?ollen uns gefallen lassen, in diesen
ärmlichen Gegensatz, der mit Vernunft und Verstand nicht einmal eine
Ähnlichkeit hat (denn zum Verstände rechnet jedermann auch den Besitz
und Gebrauch der allgemeinen Begriffe, und zur Vernunft gehört auch das
Gewissen, welches in einzelnen Fällen klarer und lauter zu sprechen pflegt,
als in allgemeinen Formeln), alles das hineinzuzwängen, was die Psycho-
logen so überreichlich an die Woite Vernunft und Verstand geknüpft
haben, daß diesen Ausdrücken kaum eine bestimmte Bedeutung übrig
bleiben konnte? — Doch weiter! Nun kann es aber auch sein, daß der
Mensch in dem Gebrauche seiner Denkvermögen"- (wer ist der Brauchende?
Wie ist er verschieden von den gebrauchten Vermögen? Wie faßt er sie
an, wie setzt er sie in Bewegung, wann er sie brauchen will? Woher
kommt ihm der Wille, sie zu brauchen ?) „durch etwas, von dem vorzugs-
weise bestimmt wird, wodurch er Glied des Ganzen oder ein Einzelnes
für sich ist, dadurch, daß er gerade dieses vorzugsweise festhält, wodurch
die Macht des anderen Bestimmenden, welches die beiden Pole in sich
schließen, gewählt wird" (Nichts von dem allen kann sein! Wenn einmal
ein echtes polarisches Naturverhältnis vorhanden ist, so sind beide Pole
zugleich stark und schwach; und wo der Zufall mit einem regellosen Sein-
Können anfängt zu spielen, da ist das einzige, was vom Spinozismus mit
einigem Grunde des Rechtes mag gerühmt werden, nämlich die Konsequenz
völlig verdorben.) „Ist nun die Vernunft vorherrschend; so entsteht
Pa?ttheismus ; ist der Verstand vorherrschend, so entsteht Atomistik.'' Wir
haben hier die Hauptsache kurz zusammengezogen, beim Verf. aber
gibt es dazwischen allerlei mögliche Systeme, deren Deduktion schon durch
den einzigen Umstand zu nichts wird, daß dabei auf ein unbestimmtes
Mehr oder Weniger im Vorherrschen des einen oder des andern Ver-
mögens gerechnet ist. Nur das einzige wollen wir bemerken, daß, wie
Georg Karl Fick : Vergleichende Darstellung der philosophischen Systeme. 2 I
zu erwarten war, das Identitäts- System als dasjenige gepriesen wird, worin
Vernunft und Verstand Hand in Hand gehen, — doch mit der, selbst
diesen Ruhm, wenn es einer wäre, wieder vernichtenden Nebenbestimmung,
daß Vernunft das leitende, also überwiegende Prinzip sei. mdem Ja erst
ans der Einheit die Mannigfaltigkeit hervorgehen könne, — '- eine offenbare
petitio priiicipii. Wir hatten zwar nichts Wahres und gründlich Untersuchtes,
jedoch wenigstens Nachklänge eines geistreichen Vortrages hier erwartet.
Wir finden aber weder den Pantheismus vernünftig, noch die Atomistik
verständig, noch das Identitätssystem vernünftig- verständig, noch das Vor-
getragene geistreich. Sondern Pantheismus und Atomistik sind rohe Versuche
früherer Zeit, die von mangelhafter Auffassmtg der metaphysischen Probletne
herrühren ; Proben eines jugendlichen Schaifsinnes, denen das Zeitalter endlich
entwachsen sein sollte; daher man zur Empfehlung eines neueren Systems
kaum etwas Schlechteres sagen kann, als daß es zwischen jene beiden in
die Mitte falle. Damit wird jedoch nicht geleugnet, daß für jene friihere?i
Stufen der philosophischen Bildung, wo Pantheismus und Atomistik ihren
Platz haben, beide Lehren recht sehr vernünftig und verständig zu-
gleich sein konnten. Gemeine Köpfe waren es gewiß nicht, von denen
solche Lehren erfunden wurden. Aber gemein und trivial ist die Wort-
spielerei und Deutelei, welche mit den Worten Vernunft und Verstand
noch immer fortgesetzt wird, ohne Spur von Überlegung, daß diese Aus-
drücke sich auf die allerverschiedensten Stufen der geistigen Ausbildung
übertragen lassen, und deshalb durchaus nicht gebraucht werden können,
um irgend welche Produkte bestimmter Bildungsstufen damit zu be-
zeichnen.
Der Verf. eröffnet nun seine Darstellung der Lehre Kants mit
folgender Poesie:
o^
/n des Wissens trüglich helle Höhen
it/ögst du nicht zu weit versteigen dich,
A/ancher glaubt das Höchste zu verstehen,
.^ber täuscht jedoch gewaltig sich.
iVicht wird der Vernunft es je gelingen,
Z7ebersinniichs klar zu machen sich,
.£"s kann niemand dieses je erringen,
Zaß doch, IMensch, nur sein, was nicht für dich.
^eine Kenntnis von der Dinge Wesen können wir erhalten,
^iles denken wir nach der Erscheinung Form ;
Nwr als Regel deines Handelns möge Gott im Innern walten,
Transcendentes ist nur subjektive Norm.
Wie hier der Name Immanuel Kant, so werden späterhin durch
ähnliche Verse auch Fichtes und Schellings Namen verherrlicht. In
den Bemerkungen über Kants Lehre hätte nun der historische Geist
sich zeigen sollen , der dem historischen Gegenstande gebührte. Daß
Kant das Geschäft übernahm, eine Vernunft zu kritisieren, die aus falscher
Ontologie und Kosmologie Beweise fürs Dasein Gottes hernehmen wollte ;
daß diese falsche Ontologie von einem ens realissimum redete, und daß
mit ihr Spinoza gemeine Sache machte durch den Satz: quo plus reali-
22 J- F. Herbarts Rezensionen.
tatis, aut Esse, unaquaeque res habet, eo plura attiibuta ipsi competunt;
daß dagegen Kant in der Vernunftkritik erklärte: ^,Sein ist kein reales
Prädikat, sondern bloß die Position eines Dinoes ;" daß nun ferner diese
richtige Einsicht in den wahren Begriff vom Sein ihm die ganze alte
Metaphysik, samt dem Spinozisnms, würde in die Hände geliefert haben,
wenn er seinen Vorteil gehörig verfolgt hätte ; daß er statt dessen der
Vernunftkritik eine Kritik des Verstandes und der Sinnlichkeit vorschob,
wobei er gänzlich unkritisch die alte empirische Psychologie veraussetzte;
daß er gleichwohl mit richtigem Blicke die Frage vom Ursprünge dem Er-
kenntnis auf die Formen der Erfahrung hinlenkte, worauf es allein an-
kommt, weil die Materie der Erfahrung, die Empfindungen, gar kein
Wissen, sondern lediglich subjektive Zustände sind ; daß überdies hier
bloß von der empirischen Wissenschaft die Rede war, indem gefragt
wurde, ob die Anschaming sich nach den Gegenständen, oder ob um-
gekehrt, die gegebeiien Gegenstände sich nach den Formen des Anschauens
und Denkens richteten; daß dieser Frage der halbe Idealismus Kants
völlig zu genügen schien, weil die Formen der Erfahrung noch aus keiner
Mechanik des Geistes erklärt worden waren; daß eben deshalb das da-
malige Zeitalter mit jener Antwort auf die Frage vom Urspmnge des
Wissens so sehr zufrieden war, indem die Antwort zur Frage paßte; daß
erst in späterer Zeit die Unhaltbarkeit des halben Idealismus zum Vor-
schein kam, sowie dereinst die Unhaltbarkeit auch des ganzen Idealismus
den vollkommenen Realismus zurückführen wird : — dies wären ungefähr
die Momente gewesen, deren Entwicklung der Verf., auch wenn er inner-
halb der engsten Grenzen hätte stehen bleiben wollen, sich doch zur
Pflicht rechnen mußte; und das um so mehr, da er selbst bemerkt, daß
neue philosophische Systeme gerade durch den Gegensatz gegen die frühern
zu entstehen pflegen, woraus sogleich folgt, daß Hr. F. seine Arbeit da-
mit anfangen mußte, die Ontologie der älteren, vorkaiitischen Schule zu
studieren, und von den Eifolgen dieses Stjtdiiims den Leser sehr genau zu
unterrichten , imi ihn auf den rechten Standpunkt zu stellen. Aber was . hat
er uns von der älteren Schule zu berichten? Es ist so kurz, daß wir es
wörtlich anführen können: „Die früheren Systeme machten von den
Dingen außer uns die Erkenntnis abhängig, und erklärten dieselbe aus
der Beschaffenheit der ersten; andrerseits sprachen sie von Gott, Frei-
heit, Unsterblichkeit, ohne ein höheres Prinzip der Einheit aufzusuchen,
wodurch diese Ideen zu einem organischen Ganzen verknüpft werden
könnten. Da man von den Dingen außer uns ausging, und auf diesem
Wege nichts fand, glaubte Kant den entgegengesetzten Weg einschlagen
zu müssen." Sollten denn wirklich die älteren Systeme ein noch höheres
Prinzip aufsuchen als Gott? War denn das ens realissim.um noch nicht
die Einheit? Fand die Schule wirklich nichts, da sie doch ein sehr ge-
ordnetes System der Metaphysik nach allen vier Teilen derselben auf-
stellte, welches wenigstens äußerlich einen Anblick von Rundung und
Ausarbeitung gewährt, dessen kein neueres System sich in gleichem Grade
rühmen kann? Und was das Ausgehen von den Dingen außer uns anlangt,
so ist dies noch immer Sitte bei den Physikern, Naturhistorikern, Ärzten,
Geschichtsschreibern. Staatsmännern usw., und so wird es auch stets
Georg Karl Fick: Vergleichende Darstellung der philosophischen Systeme. 23
bleiben. Die Erfahrtmg hat ihre Macht und Gewalt gegen alle Systeme,
die ihr nicht hinreichende Ehrfurcht zollen, so kräftig geltend gemacht,
daß die Philosophie in Gefahr schwebt, an ihrer eigenen früheren Über-
spannung — in der Periode Kants , Fichtes und Schellings — zu
sterben. Eben jetzt liegt uns ein Tageblatt vor Augen, worin von der
Büchermesse des Herbstes 1826 berichtet wird; von der Philosophie
heißt es darin: sie trachtet in der historischen Richtung das Gewonnene zu
ordjien; offenbar das Klügste, was sie tun kann. So unphilosophisch diese
Äußerung, so gewiß ist sie der Stimmung des Zeitalters im Ganzen ge-
mäß. Der Empirismus ist an der Tagesordnung; und er wird solange
daran bleiben, bis man endlich begreift, daß gerade die Erfahrung selbst
es ist, welche nicht bloß berechtigt, sondern treibt und zwingt, und von
jeher gezwungen hat, über sie hinaus zu gehen, um ihre übersinnliche
Ergänzung durchs Nachdenken zu suchen.
Anstatt nun die wahre Eigenheit der Kantischen Lehre aus ihrem
Verhältnisse zu dem, was hervorging, zu entwickeln, braucht der Verf.
sie bloß zum Vorspiel, um durch Erniedrigung derselben Fichte und
ScHELLiNG zu erhöhen. „Welche objektive Erkenntnis räumt uns Kant
ein? Keine!" Und wie sucht ihn der Verf. deshalb zurechtzuweisen?
„Will Kant konsequent bleiben, so muß er zugestehen, daß die Erkennt-
nis von Menschen, welche man verrückt zu nennen pflegt, ebenso unum-
stößlich ist, als jene der Gescheuteren." Dabei fiel dem Rez. das jüngst
vernommene Wort eines Arztes ein: „jetzt herrscht die Manie der Seelen-
krankheitskunde." Dann wird die längst bekannte Bemerkung wiederholt,
daß es in Kants Lehre inkonsequent sei, von Dingen außer uns noch
zu reden. So wahr dieses ist, so begreift man denn doch auch leicht,
daß Kant den Vorschlag, sich zum vollkommenen Idealismus zu wenden,
nicht annehmen konnte, mdem bekanntlich die unbegreifliche Schranke im
Ich, worauf die Welt der Objekte zurückgeführt werden soll, weit entfernt,
irgend einen Knoten zu lösen, vielmehr selbst den unauflöslichsten aller
Knoten darstellt. Es sind zweierlei ganz verschiedene Dinge: das eine,
zu zeigen, daß die Konsequenz der Kantischen Lehre unwillkürlich auf den
vollen Idealismus führe; das andere, im Ernste gegen Kant die Zu-
mutung auszusprechen, er hätte, wie unser Verf. sich ausdrückt, ,,lieber
aus dem Ich alles deduzieren, mid die Objektenwelt bloß für eine dem Ich ge-
setzte Schranke erklären sollen." Woher denn die Schranke? Wer setzt
sie, und wie kommt sie in das Ich? Über diese Frage würde sich Kants
Besonnenheit nimmermehr durch irgend eine falsche Vorspiegelung be-
ruhicft haben. Freilich über den unermeßlichen Reichtum der Natur,
über die Bestimmtheit jedes einzelnen Dinges, über die Ordnung und
Folge, worin die Gegenstände uns gegeben werden, sucht man bei Kant
jeden Aufschluß vergebens, seine vorgeblichen Formen, welche allem auf
gleiche Weise zum Grunde liegen sollen, erklären im einzelnen nicht das
mindeste. Aber gerade ebenso unfähig ist in diesem Punkte der voll-
kommene Idealismus. Es ist zwar sehr leicht, aus dem Ich die Unmög-
lichkeit, daß es allein gesetzt werden könne, zu zeigen; irgend ein
Mannigfaltiges, mit einigen näheren Bestimmungen, forderte Fichte mit
Recht als Bedingung des Selbstbewußtseins. Aber damit wird soviel wie
J. F. Herbarts Rezensionen.
nichts geleistet. Die individuale Erfahrungswelt jedes einzelnen sollte
deduziert werden ; dies fordern wir vom Idealismus, wohl wissend, daß er
es nicht leisten kann. Bis hierher nun würde Kant sich niemals ein-
gelassen haben. Hätte er gesehen, wohin die Konsequenz ihn treibe:
so wäre er rückwärts gegangen und hätte seine psychologischen Voraus-
setzungen schärfer untersucht. In Fichtes Geist eindringen, heißt, sich
in die Individualität eines Mannes von seltener Kühnheit, von unauflialt-
samem Unternehmung^geiste, hineinversetzen; man wird alsdann von Be-
wunderung erfüllt, aber man erlangt keine wissenschaftliche Evidenz; und
man kann nicht wünschen, daß die nämliche Individualität sich in einem
anderen wiederhole, am wenigsten in einem solchen, der durch sich
selbst so groß ist wie Kant.
Sehr flach und den Gegenständen ebensowenig als den Personen
angemessen, finden wir das Folgende: „Da Kant uns alle Erkenntnis
des Übersinnlichen absprach, allein unser Ich doch übersinnliche Ideen
hat: so sah er wohl ein, daß er, um nicht sich selbst zu widersprechen,
diese Ideen, welche er zu einer Tür herausgewiesen hatte, zu einer anderen
wieder hereinlassen mußte." (Was soll hier der Satz: unser Ich hat
übersinnliche Ideen? Es hat sie als anthromorphistische und deshalb viel-
fach problematische Vorstellungen; daran ist kein Zweifel; aber die bloße
Tatsache des Habens reicht auch ni( ht weiter. In dieser Beziehung mußte
Kant gar nichts; er brauchte sie nicht hereinzulassen, denn er hatte sie
nicht hinausgewiesen.) „Vermcge seines subjektiven Standpunktes ließ er
sie bloß als regulativ gelten. Er berief sich dabei auf die moralische
Natur des Ich, welches die Idee einer moralischen Wellordnung in sich
trage.*' (Fast scheint es, der Verf. verwechsele die Lehren der Vernunft-
kritik vom empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips gar mit den
Glaubenslehren, welche Kant auf das Sittengesetz baute!) „Wie kann aber
ein Moralgesetz für mich etwas Beseligendes haben, von dessen objektiver
Realität iih nicht überzeugt bin? Wie kann ich wissen, ob nicht das^
was ich, nach den Bedingungen, welchen mein Ich unterworfen ist, für
Moralilät halte, gerade die größte Immoralität ist?-' Wovon redet tier
Verf.? Von der Moralität, die ein inneres Verhältnis des vernünftigen
Wesens zu sich selbst ist, — oder von einer äußeren Sache? Etwa von
einem Dinge an sich; oder auch von einem Verhältnis der Dinge an
sich? Wäre Moralität ein solches Verhältnis, so hätte es einen Sinn, zu
sagen : ich weiß nicht, ob das, was in meinen Augen sittlich ist, nicht
vielleicht in den Dmgen an sich die höchste Unsittlichkeit sein mag.
Und allerdirgs erinnern wir uns, daß der Verf. schon oben im Namen
des Moralgesetzes nichts weiter zu fordern wußte, als Unterwerfung des
Einzelnen unter die Gesetze des Allgemeinen. Kein Wunder nun, daß
eine solche Vorstellungsart (die gerade mit dem, was an Kants Dar-
stellung des sogenannten kategorischen Imperativs das Unzulängliche
ausmacht, obenhin übereinstimmt) sogleich in Verwirrung gerät, wenn sie
ihre objektive Realität nachweisen soll. Denn unstreitig muß man das
Allgemeine, — das heißt in der Sprache des Spinozismtis: das Ganze, —
kennen und im Auge haben, um sich ihm zu unterwerfen; falls nämlich
diese Unterwerfung nicht schon von selbst vorhanden ist! Glücklicherweise
Georg Karl Fick: Vergleichende Darstellung der philosophischen Systeme. 25
aber ist sie, der Spinozistischen Ansicht zufolge, vorhanden; denn der
Mensch kann aus der Einheit des Universums nicht herausfallen! Wozu
denn noch die unnütze Sorge wegen der Moralität? Wir würden allen
Anhängern des Spinozisnms raten, für Moralität nur ganz ruhig die Natur
sorgen zu lassen. Alsdann würden sie weniger von Gegenständen reden,
deren sie, wissenschaftlich genommen, nicht mächtig werden können.
Wenigstens wer außer der subjektiven Überzeugung von der Moralität,
so wie sie mit vollständiger Ichheit, das heißt hier, mit vollem, gebildetem,,
persönlichem Selbstbewußtsein zusammenhängt, noch eine davon ver-
schiedene, objektive Kenntnis fordert, welche nicht bloß verpflichtend^
sondern beseligend sein und mit der Erkenntnis der Weltordnung zu-
sammenhängen soll, — der hat uns in diesem Punkte ein Bekenntnis
abgelegt, über welches hinaus wir kein stärkeres vei langen. Der wahre
Gehalt der Kantischen Lehre war ein ganz anderer; die Rückblicke auf-
Seligkeit und Welt waren dort, wo es auf Anerkennung der Pflicht ankam,
ausdrücklich verboten. Was sein W/, war dort streng geschieden, von dem,
was sein miiß. Vieles fehlte bei Kant an der Entwicklung der Sittenlehre;
aber der Geist der Lehre im allgemeinen war gut, und die Zeitgeno.ssen
bezeugten einstimmig, es sei ein edler Geist. Tiefer können wir auf
diesen Geo-enstand hier nicht einiiehen.
Noch schwächer, als das vorige, sind die Bemerkungen des Verfs.
über Fichte. „Die Gründe, worauf das Fichlesche System gebaut ist,
sind unumstößlich, und es hängt alles mit solcher mathematischen Kon-
sequenz zusammen, daß nicht leicht etwas ganz Falsches nachgeiviesen werden
kann\ nur die große Ausdehnung seiner Grundsätze läßt das System in
den Vorwurf der Einseitigkeit verfallen.'- Was möchte doch ein Mathe-
matiker sagen, wenn er eine solche Rede zu lesen bekäme! Eine
mathematische Konsequenz aus unumstößlichen Gründen, gibt klare
Wahrheit. Daran etwas iiicht gaftz Wahres nachzuweisen, ist unmöglich.
Wo aber nicht leicht etwas ganz Falsches kann nachgewiesen werden, da
sind wir im Gebiete der schwankenden Meinung, weit entfernt von
mathematischer Schärfe. Was nun Fichtes Lehre anlangt, so müssen
wir in der Tat jeden bedauern, der noch nicht Zeit genug gehabt hat,
diesem, schon ziemlich alt gewordenen, ja schon ziemlich verlassenen,
durch keine Vorliebe des Zeitalters unterstützten Systeme die gänzliche
Unhaltbarkeit seiner Grundlage anzusehen; und ebenso das äußerst lose
Gewebe seiner Folgerungen. Eine Lehre, die so wenig eine feste Form
gewinnen kann, wie jene von ihrem Urheber selbst immer von neuem
umhergeworfene, verrät schon dadurch ihre Subjektivität, ihre Unfähigkeit,
jemals ein festes Objekt der Erkenntnis darzubieten, das bei aller Ver-
schiedenheit der Individualitäten allgemein gültig werden müßte. Ein
Leser, den Fichtes eigene Unbeständigkeit der Darstellung nicht auf-
merksam macht auf den, in der Sache liegenden Mangel an Festigkeit,
wird nimmermehr zum Kritiker werden. Hätte aber auch Fichte sich
zur reifsten Darstellung erhoben; wäre das Ich vollständig analysiert;
wären die Untersuchungen, die von hier ausgehen müssen, gehörig
gesondert von denen, welchen das davon ganz verschiedene Verhältnis
zwischen dem Ich und Nicht-Ich zum Grunde liegt; lägen die verschiedenen
20 ]• ^- Herbarts Rezensionen.
Reflexionspunkte, auf welche sich das Fichtesche Ich nach und nach
erheben muß, nicht bunt durcheinander geworfen; wäre die Ordnung,
die SCHELLING im Systeme des transcendentalen Ideahsmus in diese
Verwirrung mit rühmücher Bemühung hineinzubringen suchte, wirklich
wohl gelungen (während sie an den auffallendsten Fehlern leidet), sähe
man nicht bei Fichte immer ein Streben nach vorausbestimmten Ziel-
punkten, eine Unterwürfigkeit der Spekulation unter vorgefaßte Meinungen,
eine Begrenzung durch Mangel an historischer, mathematischer und
physikalischer Kenntnis; hätte die Manier der Vereinigung widersprechender
Glieder, die dort Methode genannt wird, je eine bestimmte Form ange-
nommen, und bestimmte Verfolgung erlangt: so müßte dennoch die
vollkommene Unmöglichkeit sowohl der Methode, als der Prinzipien (wir
sprechen von Prinzipien in der INIehrzahl, weil in der Tat die Fichtesche
Lehre nicht Ein Prinzip gehabt hat), klar einleuchten und den Denker
nach der gerade entgegengesetzten Richtung hinweisen. Wir haben nicht
Ursache, hier nochmals zu sagen, was längst ausführlich genug entwickelt
worden ist; für vorurteilsvolle Köpfe aber, die nicht wollen geirrt haben,
sind alle Entwicklungen vergebens; vollends, wenn sie mit dem Verf.
Geiuicht darauf legen^ daß ihnen das System, was sie gerade zu lernen
Gelegenheit hatten, da sie jung waren, damals schon als das natürlichste
erschien! Soweit geht die Vorliebe der Menschen für ihre Täuschungen!
Nach allerlei Lobreden auf Fichtes Lehre fallen dem Verf. zwar
hintennach ein paar Fragen ein, die er hätte mit Ernst verfolgen und
als Keime der Untersuchung benutzen sollen; statt dessen wirft er sie in
den seltsamsten Ausdrücken hin, z. B. : Warum ist das Ich verbunden,
sich ein anderes entgegenzusetzen? — und sogleich beruhigt er sich mit
der Bemerkung: diese Fragen möchten einem Fichtianer sehr schwer zu
beantworten sein. Er eilt nämlich jetzt zu seinem ,, höheren Einheits-
punkte, in welchem die Übereinstimmung unseres denkenden Ich mit der
uns umgebenden Außenwelt vermittelt wird;" durch diesen soll es für
uns allerdings möglich werden, die Dinge nach ihrem inneren Wesen zu
erkennen; es soll sich die Zusammenstimmung unseres denkenden Ich und
der sinnlichen Anschauung genügend erklären lassen.
Am kürzesten ist der Verf. über Schelling; und er sagt uns
bekannte Dinge. Die Frage : wiefern Erkenntnis der Außenwelt uns
zukommt, steht im Vordergrunde; aber die schlechterdings notwendige
Analyse der Erfahrung, ihre Zerlegung in Maieric (Empfindung) und Form
(Verknüpfung der Empfindungen, wodurch Dinge und Veränderungen
erst gegeben werden, und worauf alles Wissen beruht), diese Zerlegung fehlt
gänzlich. Das Absolute ist nach alter Gewohnheit ein absolut Ideales,
welches ebensogut auch absolut real ist; im Beispiele liegt die Idee des
Dreiecks, platonisierend, jedem einzelnen Dreiecke zum Grunde, und im
Gegenteile spiegelt jedes einzelne Dreieck die Idee des Dreiecks zurück,
,,und wir sehen also, daß das Ideale zugleich das Reale ist'' ; — vergessen
aber nach hergebrachter Weise, daß die Idee — es sollte heißen: der
allgemeine Begriff des Dreiecks, — von weiterem logischen Umfange und
minderem Inhalte ist, als jedes bestimmte Dreieck, daher der Spiegel
sehr schlecht beschaffen sein muß, indem er, gleich allen schlechten
Gottlieb Benj. Jäsche: Der Pantheismus, nach seinen verschiedenen Hauptfonnen. 27
Spiegeln, seine eigene Farbe mit einmischt in das Bild. Mit ähnlicher
Nachlässigkeit geht's fort. Die Einheit, insofern sie dem Gegensatze als
über ihm befindlich entgegensteht, ist Gott. „Nur dadurch^^ daß Gott dem
Gegensatze entgegensieht, daß er als durch denselben beschränkt gedacht
wird, läßt sich die Persönlichkeit Gottes und das Bervi/ßtsein desselben er-
kläten.'' Demgemäß besteht der Hauptunterschied des Fichteschen und
Schellingschen Systems darin: daß das Schellingsche System das in das
Absolute setzte was Fichte in das Ich setzte. Vergessen sind dabei die
obigen, vom Ich ins Absolute versetzten Fragen, „welche einem Fichtianer
schwer zu beantworten sein möchten''. Eine Schranke, die das Ich in
sich setze, war unbegreiflich. Wie mag denn wohl, um des Verfs. Sprache
zu reden, das Absolute verbunden sein, dem Gegensatze entgegenzustehen?
Wieviel Sinn die Frage oben hatte, gerade soviel hat sie hier; und
geradeso wenig ist daran zu denken, daß sie jemals beantwortet werden
könnte. Auch mit der Polarität ist noch alles beim Alten; und die Miß-
deutung der (ohnehin schon mit sich selbst zerfallenden) Kantischen
Anfangsgründe der Naturlehre — jene Mißdeutung, welche einst den
Magnetismus zur ersten Dimension der Materie stempelte, — scheint
{wenn wir schließen dürfen nach dem, was wir hier lesen) auch noch
keiner Verbesserung unterworfen zu sein. Desgleichen ist im Menschen
noch immer „die höchste Entfernung vom Absoluten gegeben; doch soll
durch den Menschen die bewußte Einheit hergestellt werden, da, ehe die
Gegensätze herausgetreten waren, zwar auch eine Einheit war, aber eine
unbewußte.'- Dabei fallen uns nun zwar allerlei Fragen ein, wegen der
Persönlichkeit und wegen des Bewußtseins in Gott, welches oben bestimmt
behauptet wurde. Allein wir mögen dergleichen Fragen, die leicht das
Gefühl verletzen, gern den Theologen überlassen. Fragt man uns, was
der .Verf. geleistet habe, so antworten wir: er warnt durch sein Beispiel;
keiner möge mit gleicher Befangenheit und gleich unzulänglicher Vor-
bereitung, sich an den höchst interessanten Gegenstand wagen!
Jäsche, Gottlieb Benj., Grundlinien der Ethik oder philosophi-
schen Sittenlehre. Zunächst zum Gebrauche seiner Vorlesungen
entworfen. — Dorpat 1824.
Jäsche, Gottlieb Benj., Der Pantheismus, nach seinen verschie-
denen Hauptformen, seinem Ursprünge und Fortgange,
seinem spekulativen und praktischen Werthe und Gehalte.
Ein Beitrag zur Geschichte und Kritik dieser Lehre in alter und
neuer Philosophie. I. Bd. — Berlin 1826.
Gedruckt in: Leipziger Literatur-Zeitung 1827, Nr. 76, 77. SW. XII, S. 552.
Erst durch das zweite dieser Werke, welches vermutlich viele Leser
finden wird, da es ein Wort zu seiner Zeit und nicht so schwach ist, als
manches neuere von ähnlicher Tendenz, ist Rez. aufmerksam geworden
28 J- F- Herbarts Rezensionen.
auch auf das frühere, das, für sich allein betrachtet, nur das Interesse
eines Kompendiums von bekanntem Inhalte gewähren würde, Hr. J. ist
Kantianer im guten Sinne; d. h. die Kantischen Vorstellungsarten haben
zwar bei ihm ein merkliches Übergewicht, und machen ihn befangen, wo
es darauf ankommt, andere Ansichten vorurteilsfrei zu prüfen; aber sie
sind sein geistiges Eigentum geworden; er weiß sie darzustellen und sie
haben ihn nicht gehindert, mit der neueren philosophischen Literatur auf-
merksam fortzugehen. Er fühlt, daß der Kantianismus Beruf hat, mit
dem neuerlich überhandnehmenden, und in allerlei Formen künstlich ver-
hüllten Pantheismus sich ernstlich in Streit einzulassen; einen Streit, der
länger dauern kann, als man sich auf beiden Seiten vorzustellen scheint.
Zwar hat der Kantianismus seine großen Schwächen, und als transcenden-
taler Idealismus wird er den Sieg wohl nicht davon tragen. Aber er
hat auch zwei feste Punkte; den einen besitzt er in dem richtigen Be-
griffe vom Sein, wodurch Kant, wenn er ihn nur gehörig benutzt hätte,
nicht bloß einen bekannten ontologischen Beweis würae widerlegt,
sondern eine wahre Ontologie begründet haben, die sich mit keinem
Pantheismus verträgt. Den andern starken Punkt befestigte Kant, indem
er gleich dem Platon gegen allen Eudämonismus protestierte; wodurch
eine kosmische Sittenlehre, welche als Darstellung eines Realen auftreten
und die Form einer Güterlehre vorzugsweise annehmen will, entschieden
zurückgewiesen ist, wie sehr sie auch den Pi.aton gegen dessen klare
Worte in ihr Interesse zu ziehen sucht. Es könnte wohl einmal jemanden
einfallen, die ganze Psychologie oder psychische Anthropologie des
Kantianismus zusamt der Freiheitslehre, als bloße Nebensachen darzustellen;
die man als vorgeschoben und angefügt jenen beiden Punkten anzusehen
hätte; indem Kant nach Erläuterungen und nach Hilfsmitteln suchte, um
das, was er beabsichtigte, nämlich Kritik der Theologie und der Moral,
zu Stande zu bringen. Alsdann würde freilich der Streit zwischen Kants
Lehre und dem Pantheismus anders als jetzt zu stehen kommen, und
es würde sich zeigen, daß in Kants Kritik der spekulativen Theologie
nicht bloß die Leibnizisch -Wolffische Lehre, sondern vollkommen ebenso
scharf der Spinozismus getroffen und verwundet ist, so daß ihm alle seine
proteusartigen Verwandlungen auf die Länge nicht helfen können. Allein
wie die Sache liegt, muß Rez., so gewiß er im wesentlichen auf des Verfs.
Seite steht, sich doch hüten, für diesmal sich in den Streit dergestalt ein-
zulassen, als ob er sich für eine oder die andere Partie zu erklären hätte.
Denn Hr. J. endigt mit der Andeutung, „daß überhaupt jede auf Einheit
und Ganzheit Anspruch machende Philosophie als eine positive Wissen-
schaft und Theorie des fV y.ui nüy auf Leugnung der Freiheit hinaus-
laufe;'' und er meint, diese Überzeugung würde nur die Wahl übrig lassen,
entweder der Freiheit den Rücken zu kehren, oder von jedem Versuche
zu wissenschaftlicher Ausbildung eines mit der Freiheit unvert inbaren
Systems abzustehen. „Wofür wir uns bei dieser Alternative zu entscheiden
haben möchten, das wird ohne Zweifel hauptsächlich darauf ankommen,
ob wir dem theoretischen Verstandes- oder dem praktischen Vernunft-
Interesse das Primat einräumen sollen?'' Die Antwort jedes Kantianers
auf diese Frage ist bekannt; wir haben jedoch hier mancherlei zu er-
Gottlieb Benj. Jäsche: Der Pantheismus, nach seinen verschiedenen Hauptformen. 29
innern. Erstlich wollen wir eine Stelle aus Kants Kritik der praktischen
Vernunft, welche von dem erwähnten Primat handelt, wörtlich hersetzen.
,.Wenn reine Vernunft für sich praktisch sein kann, so ist es doch immer
7iur eine und dieselbe Vertiiinft, die, es sei in theoretischer oder praktischer
Absicht, nach Prinzipien a priori urteilt, und da ist es klar, daß sie,
wenn ihr Vermögen in der erstem gleich nicht zulangt, gewisse Sätze be-
hauptend festzustellen, indessen, daß sie ihr auch eben nicht widersprechen,
eben diese Sätze, sobald sie unabtrennlich zum praktischen Interesse ge-
hören, annehmen, und mit allem, was sie als spekulative Vernunft in
ihrer Macht hat, zu vergleichen und zu verknüpfen suchen müsse"
Hier spricht Kant gar nicht von dem Falle, wo ein theoretisches Interesse
vorhanden, noch weniger von dem Umstände, daß die theoretische Unter-
suchung auf ein entscheidendes Resultat könnte geführt haben. Wer
praktische Interessen gegen klare theoretische Beweise würde aufbieten
•wollen, der könnte nicht ohne großes Unrecht Kants Autorität für sich
anführen, da ja offenbar diese Autorität nur soweit gilt, als eine Lücke
des Wissens durch einen vernünftigen Glauben soll ausgefüllt werden.
Keineswegs nun begnügt sich der Pantheismus damit, bloß eine Lücke
des Wissens zu bezeichnen. In ihm liegt vielmehr die Behauptung eines
positiven VVissens und folglich muß Wissen gegen Wissen auftreten, wenn
er soll überwältigt werden. Unsere zweite Bemerkung sei folgende: der
Verf begeht einen Fehler, indem er sich auf die Voraussetzung, ,,jede
auf Einheit und Ganzheit Anspruch machende Philosophie sei Theorie
der All-Einheit," überall nur einläßt: das heißt den Gegnern gewonnenes
Spiel zugestehen. Er mußte gegen solche Art von Totalität, welche die
Philosophie nur durch Pantheismus erreichen könnte, geradezu protestieren,
als gegen ein ganz falsches Ideal Der Verf. war schon auf besserem W'ege,
als er in § 58 seiner Ethik schrieb: ,,Jede bloß theoretische Behandlung
der Ethik kann immer nur die praktisch bedeutungs- und gehaltlosen
Ideen von ewiger Einheit und Notwendigkeit im Sein und Wesen der
Dinge, und von ewiger Ordnung der Dinge zum Grunde legen, woraus
aber kein Prinzip der praktischen Notwendigkeit des Sollens und der
Pflicht sich ableiten läßt.'' Hierbei verspricht die Anmerkung für die
mündlichen Vorlesungen eine Kritik verschiedener Versuche zur Be-
gründung der Ethik durch Ideen und Prinzipien einer bloß theoretischen
Spekulation, z. B. von Spinoza, Fichte, Schei.ling, Hegel u. a. m.
Ferner hat sich der Verf. auch von der theoretischen Seite her (die durch
kein Primat der praktischen Vernunft entbehrlich werden kann) auf einen
besseren Weg leiten lassen durch den, zwar unvollendeten aber gehalt-
vollen Aufsatz von Kraus in dessen nachgelassenen philosophischen
Schriften (Königsberg 1812), welchen er gleich in der Vorrede erwähnt,
und den jeder kennen und durchdenken sollte, wer immer über Pantheis-
mus für oder wider, zu sprechen gedenkt. Denn in diesem Aufsatze
herrscht ein Grad von ontologischer Besinnung, den man zum aller-
wenigsten sich völlig muß zu eigen gemacht haben, und der doch manchem
berühmten Manne, z. B dem Spinoza, ganz offenbar gefehlt hat. Wir
werden darüber anderwärts weiter sprechen; genug für jetzt, daß der
Verf. eben nicht nötig hatte, sich seinen Gegnern soweit hinzugeben, als
■jQ J. F. Herbarts Rezensionen.
in obiger Äußerung, die den ersten Band beschließt, leider geschehen ist.
Die Philosophie wird zur Einheit und Ganzheit insoweit, als es sich für
sie gebührt, dann gelangen, wenn sie soviel Zusammenhang, als in ihren
Gegenständen wirklich enthalten ist, auch wirklich darstellt; nicht aber, wenn
sie das an sich Ungleichartige, welches gesondert einander gegenüber zu
stellen ihr obliegt, in eine chaotische Masse zusammenzwängt, wodurch
alle wahre Erkenntnis verloren geht.
Das Vorstehende wird im allgemeinen die Stellung bezeichnen, welche
der Verf. gegen den Pantheismus genommen hat; jetzt wollen wir über das
Einzelne kürzlich berichten. Der erste Abschnitt enthält allgemeine Be-
trachtungen über den Pantheismus mit Rücksicht auf die verschiedenen,
darüber herrschenden Ansichten. „Wie viele verschiedene Bedeutungen
muß docli der Begriff des Pantheismus zulassen," ruft der Verf. aus, nach-
dem er es als eine seltsame und befremdende Erscheinung angeführt hat^
daß der Lehrer der absoluten Identität, welcher sich, gemäß seiner aus-
drücklichen Versicherung, sowohl dem Inhalte als der Sache nach dem
Spinoza am meisten zu nähern geglaubt hatte, späterhin gestand, niemand
stimme mehr als er in den Wunsch ein, der unmännliche pantheistische
Schwindel möge aufhören; überdies aber vergönnte, man möge sein System
Pantheismus nennen, weil in Bezug auf das Absolute schlechthin betrachtet,
alle Gegensätze verschwänden. Wobei wir gelegentlich bemerken, daß,
wenn diese Lehre auch nicht Pantheismus heißen müßte, sie doch gewiß
den Namen Spinozismus nicht verweigern kann, indem ein überall wieder-
kehrendes, durch nichts begründetes und verteidigtes Quatenus, d. h. ein
beliebiges Betrachten in diesem oder jenem Bezüge, von dieser und von
jener Seite, ohne irgend eine genügende Nachweisung über den Ursprung^
und die Möglichkeit aller dieser vielen Seiten, gerade die Seele des-
Spinozismus und sein Grundfehler ist. — Hr. J. trägt übrigens kein Be-
denken, diese Lehre unter die Kategorien der pantheistischen Systeme mit
aufzunehmen, worin wir ihm alsdann beistimmen werden, wann dieselbe
irgend ein, in gleichem Grade wie Spinozas Ethik folgerecht ausgearbeitetes
Werk wird aufzuweisen haben, wodurch sie den Namen eines Systems
verdienen könne. — Die Nominal -Definition, durch welche der Verf.
fürs erste den Begriff zu fixieren sucht, lautet nun so: Pantheismus ist
dasjenige System, nach welchem Gott alles, oder das All ist. Aber hierin
(fährt er fort) liegt eine Vieldeutigkeit. Entweder Gott ist Vereinigungs-
punkt aller Realität der von ihm abzuleitenden Wesen, oder es ist nichts
außer ihm, in welchem letzteren Falle die Welt der Dinge geleugnet
wird. Beide Bestimmungen aber sind noch nicht treffend. Nach der
ersten Bedeutung würde der Pantheist sich vom Theisten nicht unter-
scheiden ; nach der zweiten würde der Begriff seine Anwendbarkeit auf
die pantheistischen Systeme, selbst auf das eleatische, verlieren. (Wir
werden auf diesen Punkt tiefer unten zurückkommen.) „Welche Be-
wandtnis es aber auch mit der eleatischen Lehre haben möge" (fügt der
Verf. mit Recht zweifelnd an der Wahrheit seines vorigen Ausspruches
hinzu), „dies wenigstens leidet keinen Zweifel, daß auf Spinoza, und mit
ihm auf eine nicht unbedeutende Anzahl alter und neuer Denker die
Benennung eines Pantheisten anzuwenden sei." Hier wird Herder er-
Gottlieb Benj. Jäsche: Der Pantheismus, nach seinen verschiedenen Hauptformen. 31
wähnt, durch welchen Spinoza von dem Vorwurf der Identifikation Gottes
mit den Dingen soll befreit sein; auch Schelling, nach welchem der
Unterschied des Grundes und der Folge, des Ursprünglichen und des Ab-
geleiteten, Gott und die Dinge weit genug trennen soll; (Wir können
damit nicht einstimmen. Man zeige uns erst die Ableitung! Diese fehlt
bekanntlich bei Spinoza ganz und gar, und zwar deswegen, weil er sich
vor dem Anstößigen, das man bei ihm gefunden und wogegen man ihn
alsdann mit unnötiger Mühe verteidigt hat, überall gar nicht fürchtete.
Nichts Anstößigeres kann ersonnen werden, als die offenbare, völlig un-
umwunden ausgesprochene Unrechtslehre im zweiten Kapitel des tractatus
politicus. Und in der Ethik kann man die erste beste Seite aufschlagen,
um zu lesen, daß Gott affiziert sei u. dergl.; wie in der propositio IX,
partis II, die uns gerade zufällig ins Auge fällt, und die so lautet: idea
rei singularis, actu existentis, Deum pro causa habet, non quatenus infinitus
est, sed quatenus alia rei singularis actu existentis idea affectus conside-
ratur, cuius etiam Deus est causa, quatenus alia tertia aff'ectus est, et sie
in infinitum. Affektionen aber beziehen sich nach bekannter Schulsprache
auf die Substanz, und hiermit fällt der Satz nicht in die Sphäre der Be-
griffe von Grund und Folge, sondern von Substanz und Accidenz. Daß
aber Schilling allerlei Ableitungen, den Worten nach, versucht hat,
wissen wir gar wohl. Wir besinnen uns recht wohl auf den Satz: „das
Unendliche ist absolut nur als absolute Verneinung des Nichts, als ab-
solutes Bejahen seiner selbst in allen Form.en, als unendliche Copula."
Wir wissen, daß diese Selbst- Bejahung in der Form des Endlichen ge-
schehen soll, und bezweifeln vollkommen, daß dies absolut ungereimt ist,
indem Unendliches in der Form des Endlichen sich keineswegs selbst be-
jahen, sondern selbst verneinen würde. So offenbar vergebliche Versuche
des Ableitens, wodurch Grund und Folge sollen getrennt werden, über-
zeugen uns denn vollends von dem, was wir ohnehin wußten, daß keine
Ableitung, keine Trennung, keine Sonderung der Folge vom Grunde hier
anzubringen ist, sondern daß es bei Spinozas klaren Worten bleibt: Gott
ist affiziert vom Endlichen; wobei wir noch hinzusetzen, daß wir uns auf
das doppelte quatenus^ in dem quatenus infinitus und quatenus affectus
est, nicht einlassen, indem 7?jan auf die Weise allen möglichen Unsinn ver-
teidigen könnte) Der Verf., hier wie anderwärts den Gegnern zu viel ein-
räumend, hilft sich endlich mit dem Ausspruche: „Pantheismus ist die
Lehre, welche das Verhältnis Gottes zur Welt als ein Verhältnis der
Immanenz oder des Begriffenseins der Dinge in Gott vorstellt." Aber
nun drückt ihn wiederum der Umstand, daß alsdann die Emanations-
Systeme von der Klasse der pantheistischen würden ausgeschlossen sein,
wohin sie doch pflegen gerechnet zu werden. Darum soll eine weitere
und engere Bedeutung des pantheistischen Grundbegriffes unterschieden,
und hiermit Immanenz und Emanation als zwei besondere Formen be-
trachtet werden. Nun die Fragen: ist der Pantheismus, als solcher,
Atheismus? Fatalismus? Und wie verhält er sich zum Materialismus?
Intellektualismus? Realismus? Idealismus? Dualismus? Aber der Verf.
scheint hier nur die Größe und Wichtigkeit des fraglichen Gegenstandes
zeigen zu wollen; einerseits, indem er die Schwierigkeit bemerkt, den
^2 J- F- Herbarts Rezensionen.
Pantheismus in irgend einer seiner Gestalten festzuhalten ; andrerseits,
indem die Furcht vor diesem Proteus keine leere Furcht vor einem bloßen
Namen, sondern durch die Geschichte unserer neuern und neuesten Philo-
sophie nur zu wohl begründet sei. Ja freilich! Diese Furcht ist voll-
kommen begründet, besonders u'eil daraus eine voreilige Furcht und Scheu
vor aller Philosophie — nicht etwa bloß entstehen kann, sondern wirklich
entstanden ist; woraus eine Gewalt und ein Streit alier Arten von Vor-
urteilen, denen nunmehr das Gegengewicht des Denkens fehlt, gar bald
ferner entstehen muß. Der Verf. selbst aber scheint uns hier eine Neigung
zu einem theologischen Dogmatismus zu verraten, den wir bei einem
kritischen Philosophen nicht erwartet hätten. Wir lesen da etwas von
einem „Dualismus, welcher den Gegenstand der höchsten Idee nicht bloß
über die Nalur, als Inbegriff der Erscheinungen, sondern auch über die
übersinnliche Welt erhebe;" da indessen die Absicht dieser Stelle nicht ganz
deutlich ist, so erinnern wir bloß an die Frage: Was kann ich wissen?
Dem Verf. ist doch gewiß bekannt und gegenwärtig, daß jeder übereilte
Dogmatismus sich wider seine Absicht in Nahrung für die Zweifelsucht
verwandelt? — Er lehrt ja selbst, daß „diejenigen Denker, welche dem
echten Kritizismus treu bleiben, den letzten Zweck aller Philosophie nicht
in Erweiterung und Vollendung eines allumfassenden, keiner Ergänzung
durch Glauben bedürfenden Wissens, sondern in Rechtfertigung eines
rein vernünftigen Glaubens setzen;" womit Rez. sehr nahe übereinstimmen
würde, sähe er nicht die große Unbehutsamkeit vor Augen, welche in
Bestimmung der Gegenstände des Glaubens, und in Bestreitung der
Gegner, überall begangen wird. — Der Verf. schließt nun seinen ersten
Abschnitt mit der folgenden Erklärung: „Es ist unsere bestimmt aus-
gesprochene Absicht bei den folgenden Untersuchungen, den Rationalismus
des rein vernünftigen Glaubens in seinen wohlgegründeten Rechten und
Ansprüchen gegen die widerrechtlichen Anforderungen des Rationalismus
eines falschen^ angemaßten Wissens geltend zu machen. Denn diese Unter-
suchungen sollen hoffentlich zu dem Resultate führen, daß die .von
manchen so hoch gepriesene Schlußfestigkeit aller Hvperphysik des Pantheis-
mus kein haltbares Fundament habe, sondern auf einem Prinzipe beruhe,
welches nur für die um ergeordnete Sphäre des niederen Wissens um Dinge
der Stnnenwelt gültig ist, für die höchste Region der Ideen ewiger Wahrheit
aber, zu welcher die Vernunjt im Glauben sich erhebt, keine Gültigkeit habe,
weil hier ein höheres Gesetz waltet, dem das niedere Prinzip sich unter-
werfen muß." Über beide Prinzipien, das höhere und niedere^ soll der
nächstfolgende Abschnitt bereits einige genügende Aufschlüsse geben.
„Welcher Theist wird es leugnen wollen,'' sagt Hr. J gleich auf den
ersten Seiten des zweiten Abschnittes, „welcher wird es anstößig und be-
denklich finden, der Welt der Dinge schon vor ihrer ivirkliclmi Existenz
eine Art von Dasein in Gott zuzuschreiben^ und sonach eine ursprüngliche
Immanenz des Seins und Wesens derselben im göttlichen Urwesen und Ursein
vorauszusetzen!" (Eine starke Probe der oben bemerkten Unbehutsamkeit!)
.„Aber welche verschiedene Deutungen läßt derselbe Begriff von Immanenz
zu!" Der weiteren Entwicklung vorarbeitend, teilt nun Hr. J. den Grund-
gedanken der pantheistischen Lehre in zwei Hauptgedanken, eigentlich
Gottlieb Benj. Jäsche: Der Pantheismus, nach seinen verschiedenen Ilauptformeu. ^3
nur zwei verschiedene Seiten; nämlich Alles ist Eines, und, das alleinige
Wesen ist zugleich Alles. Der erste Satz hebt alle qualitative Differenz in
dem Realen gänzlich auf. Er kann drei verschiedene Gestalten annehmen,
indem der Pantheismus sich bald mit dem Materialismus, bald dem /«-
tellektualismus, bald dem gemeinsamen Grundprinzipe der Materie und des
Geistes vorzugsweise befreundet. In der ersten Form ist der Pantheismus
Naturvergötterung, Hylozoismus, ionische und stoische Naturlehre. Die
zweite war ursprünglich orientalisch, indisch, gnostisch, tienplatonisch ; später
findet sie sich bei Malebranche, endlich bei Fichte, Hegel u. s. f
Die dritte, dualistische Form, worin gleiche Realität der Körper- und
Geisterwelt anerkannt wird, zeigt sich bei Spinoza und Schelling, bei
letzterem in einer geläuterten (oder auch getrübten?) Eigenheit. Der
zweite Satz war: ein alleiniges Wesen ist Alles. Dies ist der Ausdruck der
quantitativen Einheit eines vollendeten Ganzen, welches nichts außer sich
hat, als das Nichts. (Also doch das Nichts hat es außer sich? Wir stellen
diese Frage nicht hierher in Beziehung auf den Verf, sondern in Be-
ziehung auf Schelling, nach welchem, wie oben bemerkt, das Unendlich
sich damit beschäftigt, das Nichts zit verneinen, wie auch das Band
Raum und Zeit verneint, und dadurch sehr wichtige Dinge zu stände
bringt, worüber das Buch von der Weltseele Auskunft gibt.) „Die ein-
zelnen Weltwesen und deren Veränderungen sind nun im Systeme des
materialistischen Pantheismus besondere Teile und Äußerungen der Ur-
materie und Weltseele; in dem des idealistischen sind sie Gedanken der
absoluten Intelligenz; im dualistischen Pantheismus sind sie besondere Er-
scheinungsweisen der zugleich denkenden und undenkenden Natur." —
Derselbe Grundgedanke aber nimmt noch mehrere mögliche Bestimmungen
an. Ersdich, das wahre Identitätssystem ist das des Parmenides und
Melissos, nach dem Satze A = A; worin das Sein lediglich als sein eigejies
Prääikat auftritt, ohne Trübung durch irgend eine Differenz, daher un-
fähig zur Erklärung der Welt. Zweitens, wenn das eine als Substanz be-
stimmt wird, so wird ihr, als dem ursprünglichen, ein anderes Sein, ein
abgeleitetes, als Accidenz beigelegt; es entsteht eine Differenz in der In-
diff'erenz; ein Gegensatz zwischen Ursein und abgeleitetem Sein, zwischen
Grund und Folge. (Und rückwärts, fügen wir hinzu, liegt diesem Gegen-
satze der Begriff des Verhältnisses zwischen Substanz und Accidenz zu
Grunde, daher hätte der Verf. nicht unvorsichtigerweise dem von ihm S. 47
genannten Schriftsteller Fries beistimmen sollen, welcher alle Schwierigkeit
zu beseitigen meinte, wenn er den Gegenstand lieber durch die Kategorie
der Ursache als durch die der Substanz auffaßte. Das hilft zu nichts, wie
wir segen den nämlichen Schriftsteller schon früher in diesen Blättern
bemerkt haben.) Dieser dynamische Pantheismus kaim nun die vor-
erwähnten drei Formen, die materialistische, idealistische und dualistische
Form, annehmen. Wiederum aber gibt es für den letztern, dualistischen
Pantheismus einen höheren und einen niederen Standpunkt. Entweder
er betrachtet Raum und Zeit als Formen der Dinge an sich; macht Sein
und Wirken von ihnen abhängig; erfüllt mit der Ausdehnung der unend-
lichen Substanz den Raum, und mit dem Werden der Dinge die Zeit:
alsdann kann er dem Vorwurfe einer Identifikation Gottes mit der Sinnen-
HüRBARis Werke. XIII. 3
T^ ]. F. Herbarts Rezensionen.
weit nicht entgehen; vielmehr kommt zu dem Verhältnisse der Innnanenz
zwar noch das der Dependenz hinzu, aber der Unterschied des Unend-
lichen und des Endlichen ist doch lediglich quantitativ, der Qualität nach
hingegen bleibt das Sein der Dinge immer das Sein Gottes. Oder der
dualistische Pantheismus wird durch den Kritizismus befreit von dem
Ankleben an Raum und Zeit; er setzt nun eine qualitative, wesentliche
Differenz zwischen dem Sein in der Erscheinung, und dem wahren Sein
an sich. Dieser letztere ist der Schellingsche Pantheismus. — Nun muß
noch die Emanationslehre in ihrem Gegensatze gegen strengen Pantheismus
betrachtet werden. Nach dem echten Pantheismus gibt es keine Übcr-
oän<re, keine Atisgänge; das Weltall besitzt ewig die gleiche Vollkommenheit
(und Unvollkommenheit!); es verschwindet der Unterschied zwischen dem
Guteil und Bösen. Hingegen in der Emanationslehre scheint die Welt
außergöttlich und Gott außei-weltlich. Doch scheint es nur so! Denn da
Gott die notwendige Ursache der Emanation sein soll, so sind die daher
fließenden Dinge yiicht wirklich außer ihm. Die Grundlage beider Lehren
bleibt dieselbe. „Gott kann unter keiner andern Form sein und gedacht
werden, als unter der Form des Universums, welches sonach Gott selbst
ist. Der ganze Unterschied aber läuft darauf hinaus, daß nach dem
Pantheismus in Gott nicht das Wesen ohne die Form, ivie auch die Form
nicht ohne das Wesen sein kann; dagegen im Emanationssysteme die Form
erst nach und nach zu dem Wesen hinzukommt. Das Übergehen von
Wesen zu Form, und das Hineinbilden des Wesens in die Form, mag nun
entweder als ein Herniedersteigen von den vollkommensten, oder umgekehrt,
als ein Hinaufsteigen von den niedrigsten zu den höchsten Stufen dar-
sestellt werden: immer bleibt das Verhältnis der besonderen Formen zum
Wesen Gottes ein Verhältnis der Einheit und Identität. Wir wollen und
können es der Emanationslehre wohl einräumen, daß sie die Individualität
der Weltwesen nicht leugne und aufhebe, aber wir können ihr nicht zu-
cestehen, daß hierdurch eine reale Verschiedenheit zwischen Gott und der
Welt begründet werde. Die Welt ist der von sich selbst gleichsam durch
einen Abfall getrennte Gott." — „Möge man auch die, im intellektualen
Emanationssysteme herrschende, Vorstellungsart mit Schelling so deuten
wollen, daß Gott hier, wenigstens als ruhiger Giund der Dinge an-
genommen werden könne, und die Tätigkeit oder Handlung vielmehr in
das Emanierende, als in das, woraus es emaniert, gelegt werde: so ist
doch immer die Trennung des ersteren vom zweiten in der Notwendigkeit
gegründet, sofern das Überfließeti in die Welt durch die Überfülle des Ui-
wesens an unendlicher Realität, die eben deswegen dadurch auch überall
nicht vermindert werden kann, notwendig erfolgt. Das Ubetßießende reißt
durch seine eigeyie Schwere sich los ; das Urivesen wird dadurch setner Ubci-
fülle entledigt.'''
Unsere Leser mögen nach den vorstehenden, freilich sehr ins Kurze
gezogenen, Proben die ungemein schätzbare Klarheit beurteilen; womit
der Verf. seinen Gegenstand behandelt, und welche gewiß vielen sehr
belehrend werden kann. Vom dritten Abschnitte können wir keine Aus-
züge weiter machen, er ist historisch; in der ersten Abteilung desselben
wird von den Eleaten gehandelt, in der zweiten von dem physischen
Gottlieb Benj. Jäsche: Der Pantheismus, nach seinen verschiedenen Hauptforaien. 35
Pantheismus, unter mehreren Rubriken, nämlich zuerst vom Begriffe der
Weltseele, als bloßer Bewegungskraft des Alls (hier von Anaximander
und Empedokles), dann von derselben, als Lebenskraft der Natur (Thaies
und Anaximenes), darauf von der Weltseele als Intelligenz (Pythagoras,
Diogenes, Heraklit), endlich von der stoischen Naturphilosophie. Im
nächstfolgenden Bande soll diese historische Darstellung fortgesetzt werden.
— Wir müssen nun hier einen vorhin übergangenen Punkt nachholen.
Der Verf. hat nämlich in Ansehung der eleatischen Lehre zwar die vom
Rez. längst gegebene Erklärung mit einer dankenswerten Sorgfalt be-
rücksichtigt, und sich im ganzen beistimmend geäußert; dennoch läßt er
sich den hergebrachten Satz nicht nehmen : die Eleaten seien Pantheisten.
Nun fehlt aber in der ausgebildeten eleatischen Lehre zweieriei am
Pantheismus, nämlich erstlich der Begriff der Welt, oder des Universums,
als einer Vielheit wandelbarer Dinge; zweitens der Begriff von Gott, als
dem Oberhaupte einer sittlichen Welt. Auch räumt Hr. J. soviel ein: die
Eleaten haben das Dasein der Sinnenwelt geleugnet, welchen Umstand
insbesondere die Gründe des Zeno gegen die Bewegung ganz unleugbar
dartun. Allein jetzt meint Hr. J., die Eleaten könnten wohl eine zeit-
und raumlose intelligible Welt nach Fichtes Weise angenommen haben.
Wirklich ist diese Ausrede, um die Eleaten nicht von der Liste der
Pantheisten wegstreichen zu müssen, die einzige noch übrige, und sie
findet Veranlassung in dem Satze des Parmenides: das Erkennen selbst
sei das Seiende. Dennoch wird damit nichts gewonnen. Freilich konnte
die wahre Erkenntnis nirgends anders bleiben, sie hätte sonst außer dem
Seienden Platz nehmen müssen, das heißt, sie wären für nichts erklärt
worden. Aber dies zufällige Ziisavimentreffen mit dem Idealistnus gibt fioch
lange keine fichtesche Atisicht. Zu der letzteren gehört ein vorausgehe?ider
Realismus, ivie ihn Fichte im Anfange des Buches über die Bestimmung
des Menschen sehr deutlich beschreibt. Dieser muß umgekehrt, aber nicht
ganz weggeworfen werden, wie es die eleatische Spekulation getan hatte.
Sie behielt ebensowenig ein wirkliches Erscheinen, als eine Vielheit der
Dinge. Denn dazu wäre Fichtes produktive Phantasie nötig gewesen, ein
Man?iigfaltiges von Tätigkeiten im Innern des Realen, welches dessen einfache
Qualität gar nicht zidäßt. Fichten mußte Descartes, Locke, Leibniz,
Kant vorangehen; seine Lehre hat ihre bestimmte Stelle in der Geschichte,
und kann ebensowenig auf eine frühere hinausgerückt werden., als irgend
welche historischen Zeugnisse vorhanden sind, die uns dazu berechtigen
würden. Es geschieht übrigens nur aus Achtung gegen den Verf., daß
Rez. sich hier auf eine Antwort einläßt. — Weit richtiger ohne Zweifel
ist aber die Tendenz des ganzen Werkes. Sie geht dahin, dem Pantheis-
mus die Lehre von Schöpfung durch Freiheit entgegenzustellen. Dieses
nun führt auf die Bemerkung, daß beide Meinungen schon seit undenk-
lichen Zeiten einander entgegen gestanden haben. Könnte eine von
ihnen die andere besiegen, so ist nicht abzusehen, warum das nicht längst
geschehen wäre. Auf Begreiflichkeit tut der Verf. für seine Ansicht voll-
kommen Verzicht (S. 103), woraus natüriich folgt, daß den Gegnern
unter solchen Umständen auch nicht im mindesten bange sein darf, man
werde ihnen ihre Unbegreiflichkeiten vorrücken, indem sie den Vorwurf
J. F. Herbarts Rezensionen.
sonst sogleich zurückgeben könnten. Schade nur um den Scharfsinn,
womit der Verf. bisher die Begriffe entwickelt hat, da am Ende doch
nichts Begreifliches herauskommt und herauskommen soll! Das Schlimmste
aber ist, daß dieser Scharfsinn, wie wir in ähnlichen Fällen oft bemerkt
haben, immer nur den Gegnern in die Hände arbeitet. Denn was er-
reicht der Verf. durch alle seine Mühe? Dies, daß der Pantheismus die
Freiheit muß fahren lassen, und daß also die offenbare Torheit eines
berühmten Schriftstellers, Kantische transcendentale Freiheit dem Spinozis-
mus einpflanzen zu wollen, rückgängig gemacht wird. Hierbei kann der
Pantheismus nur gewinnen. Denn die Schwierigkeit, welche der Ursprung
des Bösen hervorbringt, fällt nun ganz auf die entgegenstehende Lehre,
welche dort, wo schlechterdings irgend eine dunkle Notwendigkeit muß
anerkannt werden, statt des Schleiers, vor welchem die Gedanken des
Menschen still stehen sollten, ein grelles Licht anbringt, indem sie so
entscheidend als möglich das Wort Freiheit ausspricht! Es ist schon
schwer, sich irgend welche Umstände so vorzustellen, daß in Rücksicht
auf dieselben ein heiliger Wille das Böse vorhersehen und doch zulassen
konnte, damit Gutes entweder daraus entstehe, oder doch überhaupt
durch sein Übergewicht dafür Ersatz schaffe! Wenn aber die strenge
Lehre von eigentlicher Schöpfung alle möglichen Rücksichten hinwegnimmt
(indem gar nichts da sein soll, worauf irgend Rücksicht könnte genommen
sein), wenn alsdann die freie Tat alle Verantwortung auf sich nimmt, so
kann wohl der Pantheismus sich rühmen, er bringe wenigstens das Böse
ohne Verschuldung in die Welt, weil er kein Wissen und kein Wollen
dabei voraussetze. Es leidet kaum einen Zweifel, daß konsequente
Pantheisten diesen Vorzug ihrer Lehre sehr wohl gefühlt haben. Ob
aber dem Verf. die Erinnerung hieran gegenwärtig gewesen sei? das kann
Rez. nicht bestimmen. Soviel ist gewiß: die Schwierigkeit würde abnehmen
in dem Grade, wie ein Schriftsteller sich mehr neigen möchte zu einer
laxen Moral. Wer unter gewissen Bestimmungen für erlaubt hält, Böses
herbeizuführen, als Mittel und Veranstaltungen des Guten, dem ist über-
haupt das Problem der Theodicee minder wichtig, und er hat nicht nötig,
noch außer dem heiligen Willen einen Grund der Unvollkommenheit an-
zunehmen. Rez. hat sich in dieser Hinsicht in dem zuerst angeführten
Buche, der Sittenlehre des Verf. umgesehen, wovon nun noch einige Nach-
richt muß gegeben werden. Vorläufig nur die Bemerkung, daß darin keines-
wegs eine laxe Moral, wohl aber dagegen eine starke Kantische Befangen-
heit, und sehr wenig Studium der entgegenstehenden Lehren anzutreffen ist;
welches unangenehm auffällt, wenn man eben von dem Werke über den
Pantheismus herkommt, und darin mit Vergnügen die Sorgfalt des Verf., sich
in die verschiedensten Gesichtspunkte zu versetzen, wahrgenommen hat.
Die Vorrede von Nr. i enthält die ungemein dreiste Behauptung:
ohne bestimmte Anerkennung einer ethischen Metaphysik werde jede
Lehre der Ethik entweder zu einer bloßen Physik der Sitten herabgesetzt,
zum Systeme irgend eines praktischen Sensualismus und Empirismus sich
gestaltend, in welchem die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der
Pflichtgebote verloren gehe, — oder in eine bloße Logik des Sittlichen
verwandelt; welche die gehaltleere Form der bloßen Verständlichkeit unserer
Gottlieb Benj. Jäsche: Der Pantheismus, nach seinen verschiedenen Hauptformen. ^7
Handlungen zum obersten Grundsatze der Sittlichkeit erhebe, — oder
endlich in einer Begründung der Ethik durch Ästhetik das Heil der
praktischen Philosophie suche. Daß aber nach Kants Ansichten die
Ethik ebensowenig bloße Logik, als bloße Physik oder Ästhetik sein
solle, — „das bezeugen die authentischen ebenso klaren und bestimmten,
als gehalt- und würdevollen Erklärungen des, vom Gefühle der Erhabenheit
und Würde des Pfiichtgebots so lebendig ergriffenen und begeisterten
Moralphilosophen". Wirklich haben wir Mühe, in dieser etwas ungehaltenen
Rede den ruhigen und klaren Denker, den uns die Schrift über den
Pantheismus vor Augen stellte, wieder zu erkennen. Nicht von Kants
Ansichten, von seiner persönlichen Denkart, — sondern von dem wissen-
schaftlichen Werte seiner Formeln ist die Frage, wenn man ihn beschuldigt,
daß sein kategorischer Imperativ den sittlichen Wert der Gesinnungen
in logische Allgemeingültigkeit der Maximen verwandele. Die Gehalt-
losigkeit der Grundformel hat er freilich durch Hilfsformeln, und durch
Vorschriften ohne richtige Ableitung un der Rechts- und Tugendlehre)
zu verbessern gesucht, aber solche Nachhilfen verraten eben den Fehler
der ursprünglich angegebenen Hauptformel. Ebenso unpassend, als diese
Berufung auf die Ansichten und Gesinnungen Kants, wo es auf seine
wissenschaftliche Genauigkeit ankam, ist nun ferner jene Zusammenstellung
der Physik der Sitten mit der ästhetischen Beurteilung derselben. Diese
letztere ist eine Wertbestimmung, jene erstere dagegen ist eine psycho-
logische Erklärung, wie die Sitten entstehen und sich fortbilden können.
Nun ist die Wertbestimmung gerade das, was die Sittenlehre leisten soll;
die psychologische Erklärung aber ist das, worum sie sich nicht bekümmern
soll. Noch mehr! Die Wertbestimmung ist das, was in allem sittlichen
Urteile wirklich vollzogen wird, wiewohl im gemeinen Leben mit manchem
Irrtum vermengt: die psychologischen Erklärungen aber, wodurch bald
unzeitige Entschuldigungen eines Vergehens herbeigeführt, bald durch die
Frage nach der Tunlichkeit des Geforderten allerlei Zweifel an der For-
derung selbst aufgeregt werden, — diese meist übel angebrachten Reflexionen
haben von jeher die Sittenlehre verunstaltet, und die schlimmsten Zweifel
dann veranlaßt, wann die Physik der Sitten gar eine ethische Metaphysik
vorstellen wollte, als ob der Stolz des Namens die niedrige Verwandtschaft
bedecken könnte. Es wäre eine wichtige Aufgabe für einen Historiker,
alles das Unheil zusammenzustellen, was aus solcher Verunreinigung der
Sittenlehre schon entstanden ist. Platon stellt in der Republik die edelsten
Grundsätze des echten sittlichen Geschmackes auf, aber er kann es nicht
lassen, ihnen eine falsche Psychologie [Xoyog, S^v/nog (■nidr/Ai'u) unter-
zuschieben. Die Stoiker haben nicht genug an dem ofio).oyui\ianog t^»'
sie müssen noch allerlei Betrachtungen über die ersten Strebungen der
Natur einmengen. Kant knüpft an seine Sittengesetze noch eine Freiheits-
lehre, die ihn allen metaphysischen Zweifeln preisgibt. Spinoza und
Fichte stellen gar ihre falsche Metaphysik dergestalt in den Vordergrund,
als ob das Sittliche darauf beruhte, und damit stünde und fiele! Alle
diese Mißgriffe, samt denen der Engländer, die von Gefühl und Sympathie
reden, gehören in Eine Klasse, weil sie da, wo es lediglich auf Wert-
bestimmungen ankommt, unnütze Zusätze einmengen, welche nichts vermögen ,
ß8 J- F- Herbarts Rezensionen.
als Mißhelligkeiten herbeizuführen, und dasjenige, worüber im Grunde
alle Parteien einverstanden sind, in Schatten zu stellen. Rez. verwirft
die sogenannte ethische Metaphysik des Verfs. durchaus, und mit der
reifsten Überzeugung, wohl wissend gleichwohl, daß er sich mit dem
Verf. über die eigentlichen Wertbestimmungen ziemlich leicht vereinigen
würde, weil diese von jener gar nicht abhängen. Der Grund aber, weshalb
wir diesen Streitpunkt hier hervorheben, liegt in einer Rücksicht auf den
zu erwartenden 2. Teil des Werkes über den Pantheismus, dessen
spekulativen nicht bloß, sondern auch praktischen Gehalt zu würdigen
der Verf. sich vorgesetzt hat. Hierzu nun wird erfordert werden, daß
sich der Verf. besonders genau mit Schleiermachers Kritik der Sittenlehre
beschäftige; einem Werke, dessen Einfluß fortdauernd wächst^ während
es sowohl eine starke Polemik gegen Kant, als eine entschiedene Vorliebe
für Spinoza deutlich an den Tag legt. Solange aber in der Kantischen
Schule noch einiges Leben ist, kann sie unmöglich zugeben, daß dieser
Einfluß ohne Gegenwirkung von ihrer Seite bleibe; und wir haben uns
längst gar sehr über die Sorglosigkeit gewundert, womit sie es geschehen
läßt, daß über die Fehler der Kantischen Sittenlehre triumphiert wird
mit Hilfe anderer, weit größerer Fehler. Wird dagegen der Streit von
beiden Seiten so ausgeführt, daß aller Vorrat an Mitteln dabei in Be-
wegung kommt, so kann das Ende desselben ein großer Gewinn für die
Wissenschaft sein.
Der Verf. handelt seine Ethik im ersten Teile allgemein als Ideen-
und Prinzipienlehre ab; darauf im zweiten Teile besonders als Tugend-
lehre. Von der vorausgeschickten anthropologischen Untersuchung der
praktischen Vermögen des menschlichen Geistes schweigt Rez. ganz, weil
er sonst alles Einzelne würde angreifen müssen. Wie sehr aber in diesem
Buche alles beim alten geblieben, wie wenig selbst auf das Bekannteste
aus Schleiermachers Kritik ist Rücksicht genommen worden: dies zeigt
sich sogleich § 34, wo als drei ethische Haupt- oder Kardinalbegriffe
nebeneinander genannt werden Tugend, Pflicht und Recht. Jedermann
erwartet zu hören: Tugenden, Pflichten und Güter; nachdem ScHLEfER-
MACHER die Verwirrung unter diesen Begriffen stark genug getadelt, auch
deutlich genug gezeigt hat, daß sie sich verhalten wie Gesinnung, Tat
und Werk. Aber der Verf., hierum ganz unbekümmert, scheint seine
drei Begriffe zusammenzustellen wie Wirklichkeit (der sittlichen Güte),
Notwendigkeit (im Pflichtgebote) und Möglichkeit (nach dem Begriöe des
Erlaubten). Denn er gibt dem Rechte die allgemeine Bedeutung des
Moralisch - Möglichen. Wir wollen uns hier nicht darauf einlassen, zu
fragen, ob irgend etwas von ethischer Bedeutung vorkommen könnte,
das nicht logisch genommen unter den Begriff des Notwendigen fiele?
Soviel wenigstens ist klar, daß, wer mit Kant und dem Verf. alles auf
einen kategorischen Imperativ baut, dieser nirgends das Sollen, nirgends
die Notwendigkeit los werden kann, — weder bei der Tugend noch beim
Rechte, — und daß, wenn dennoch ein Begriff von dem, was nicht
schlechthin gesollt wird, ethische Bedeutung vorgibt, dies nur durch
Künstelei geschehen kann. Das schlimmste aber ist, daß sogar in An-
sehung des Rechtes alle neueren Untersuchungen vom Verf. sind vernach-
Gottlieb Benj. Jäsche: Der Pantheismus, nach seinen verschiedenen Hauptformen. ^q
lässigt worden. Da wird noch behauptet, das Recht betreffe nur das
äußere Verhältnis, als ob Unrechtes zu wünschen keine Gewissenssache
wäre! Noch mehr! Aus dem Rechtsgesetze fließen Pflichten, welche
Zwangspflichten heißen, weil die Erfüllung der Verbindfichkeit bei ihnen
kann erzwungen werden! Wie lange wird doch dieser alte Irrtum noch
wiederkehren! Daß schon Hr. Hofr. Hugo das alte Naturrecht eine
Totschlags - Moral nannte (denn: „wer gezwungen werden soll, den muß
man allenfalls auch töten dürfen!"), dieses ist, wie es scheint, wieder
vergessen. Daß Kant selbst, in seiner Rechtslehre, wenn schon wider
Willen, die Falschheit des eingebildeten Zwangsrechtes verraten hat, ist
unbeachtet geblieben. (Kant führt nämlich den Begrift des Unrechtes
als den des Hindernisses der allgemeinen Freiheit auf; Zwang aber, der
dem Unrechte wehrt, ist nun wiederum Hindernis -des Hindernisses der
Freiheit, also ist, „nach dem Satze des Widerspruches" mit dem Rechte
die Befugnis zu zwingen verknüpft; und jetzt braucht der Leser nur
noch einen Schritt im Nachdenken weiter zu gehen, um zu finden, daß
jeder Zwang, der mehr ist, als bloße Negation der Negation des Rechtes,
— d. h. jede zwingende Gewalt, welche an sich eine positive Tätigkeit
enthält, und die bloße Entziehung willkürlicher Gefälligkeiten überschreitet,
außerhalb der Grenzen jener nach dem Satze des Widerspruches gefundenen
Befugnis liegt; daher denn diese Befugnis beinahe in nichts verschwindet,
und zwar keine Totschlagsmoral, aber auch nichts Brauchbares ergibt.)
Rez. hat längst anderwärts die wahren Gründe desjenigen Zwanges ent-
wickelt, welcher in unseren Staaten und Gesetzgebungen angewendet wird;
aber es ist hier nicht der Ort, darauf weiter einzugehen, da der Verf
zwar die streitigen und schwierigen Gegenstände berührt, aber nirgends
tiefer eindringt, sondern sich in die engsten Grenzen eines bloßen Lehr-
buchs einschließt. Die besondere Ethik, oder Tugendlehre, benutzt zuerst
die vier Kardinaltugenden der Alten (wobei die Gerechtigkeit nach Platon
für sittliche Güte überhaupt genommen ist), um die tugendhafte Gesinnung
zu beschreiben, welches nicht unrichtig, aber mangelhaft ist. Dann folgt
die Lehre vom tugendhaften Verhalten, oder von den Pflichten; wo nun
leicht zu zeigen sein würde, daß hier, nachdem die Formel des kate-
gorischen Imperativs so gut als ganz verlassen ist, weil sich in der Tat
nichts aus ihr machen läßt, dagegen der echte ästhetische Begriff von
der Würde der Persönlichkeit eigentlich alles allein leisten muß, welcher
jedoch wiederum sehr unbestimmt aufgefaßt ist, weil es an der notwendigen
Sonderung der ursprünglich untereinander verschiedenen ästhetischen
Beurteilungen fehlt; ohne welche nichts in der ganzen Sittenlehre deutlich
auseinander treten kann. Allein es darf nicht scheinen, als sollte dem
geehrten Verf. insbesondere irgend etwas von demjenigen, was er mit so
vielen gemein hat, ungünstig ausgelegt werden. Rez. beschränkt sich
vielmehr auf den Wunsch, Hr. J. möchte im 2. Teile seines Werkes über
den Pantheismus dieselbe Umsicht auf den verschiedenen Feldern der
Systeme, welche den i. Teil so rühmlich auszeichnet, auch in Ansehung
der praktischen Philosophie zu Tage legen, die wirklich heutigestages
Gefahr läuft, in eine höchst nachteilige Dienstbarkeit gegen den Spino-
zismus zu geraten. Zwar auf die Länge der Zeiten ist die Gefahr gering.
AQ J. F. Herbaris Rezensionen.
Es war eine falsche, höchst oberflächliche Naturphilosophie, welche dem
Spinozismus unter uns zu neuem Ansehen verhalf. Dereinst kann sich
eine Zusaramenwirkung wahrer Naturphilosophie und wahrer Psychologie
entwickeln. Allein beide Wissenschaften sind schwer, und das Zeitalter
liebt in der Philosophie das Leichte. Der Empirismus hat eine entfernte
Verwandtschaft mit dem Spinozismus; beide begegnen sich leicht in einer
Art von angenehmer Plauderei über die Natur der Dinge; wobei man
zwar eigentlich auf der Oberfläche bleibt, aber sich doch gelegentlich ein
Ansehen von Tiefsinn oder poetischer Ahnung gibt. Hiervon ist der
geehrte Verf. der vorliegenden Schriften vüUig frei; daher wir auf die
Fortsetzung seiner literarischen Bemühungen uns freuen, und denselben
einen weiten Wirkungskreis wünschen.
Kiesewetter, Johann Gottfried Christian, Prof. der Philosophie und
Mathematik am medic.-chirurg. Institut in Berlin, Darstellung der
wichtigsten Wahrheiten der kritischen Philosophie. Vierte
verb. Aufl. und vermehrt durch einen gedrängten Auszug aus Kants
Kritik der reinen Vernunft und eine Uebersicht der vollständigen Lite-
ratur der Kantischen Philosophie. Nebst einer Lebensbeschreibung
des Verfassers. Von Christian Gottfried Flittner. — Berlin, in
der Flittnerschen Buchhandl., 1824. XXII, 264 und in der zweiten
Abtheilung noch 348 Seiten. (2 Rthlr. 12 Gr.)
Gedruckt in: Jenaer Literatur- Zeitung 1827, Nr. 87. SW. XIII, S. 517.
Die dritte Auflage dieses Buches ist vom Jahre 1803. Daß über
20 Jahre später noch eine vierte Auflage eines Buches erscheinen würde,
welches schon damals zu den ///;■ die Wissenschaft unbedeutenden gehörte,
konnte sich zu jener Zeit wohl kein Urteilsfähiger vorstellen. Aber die
Tatsache liegt vor Augen, und sie ist ein Zeichen der Zeit! In diesen
Jahren von 1803 — 1824 ist die Philosophie zwar vorwärts, aber zugleich
auf anderen Seiten so sehr rückwärts geschritten, daß beides sich in ein
Gleichgewicht stellt, wovon die natürliche Folge nun vorhanden ist. Eine
nicht unbedeutende Zahl von Menschen blieb auf dem vorigen Punkte
stehen, empfahl im stillen das reine unveränderte System Kants und
hierzu muß denn wohl Kiesewetter ein treuerer Führer geschienen haben,
als Krug und Fries. Das Publikum mag sich wohl erschemen wie ein
Mann, der die verlebten Jahre noch einmal, jedoch besser, zu durch-
leben wünscht. Was nun das Individuum nicht vermag, das versucht
die Menge; sie will den früheren Zeitpunkt zum gegenwärtigen machen,
und hofft alsdann von dort her den Lauf noch einmal und glücklicher
zu beginnen. So können jedoch nur diejenigen hoffen, welche das Ver-
hältnis Kants zu seinen Vorgängern, und vollends zu den Zeitgenossen
nicht kennen. Weder der Grad von Abspannung in aller Spekulation,
wie zu Kants Zeiten, noch der Rest eines ungeprüften Dogmatismus
aus der früheren Periode, wogegen sich im Laufe seines Lebens sein
J. G. Chr. Kiesewetter: Darstellung der wichtigsten Wahrheiten us^v. 41
Geist übte und bildete, ist heutigestages vorhanden. Kant hat gewirkt,
und die Zeit hat sich bewegt; darum ivürde jener, falls sein Geist eiii neues
flehen jetzt begönne, eine ganz andere Kritik atis sich entwickeln, als jene
Kritiken der Vernunft und der Urteilskraft. Aber davon begreifen die-
jenigen nichts, welche das Heil der Wissenschaft, sowie der Welt, im
Stillstehen suchen. Und wir lassen uns ihre Täuschung gern gefallen;
unter einer Bedingung jedoch, die sie uns nach ihren eigenen Ansichten
zugestehen müssen. Es ist diese: daß sie nicht die Darstellung eines
andern, sei es nun Kiesewetter oder wer sonst, — an die Stelle der
eigenen Schriften Kants setzen sollen. Dies ist der Punkt, worin wir
den Grund des Zweifels finden, ob wir das vorliegende Buch empfehlen
dürfen oder nicht. Wenn es mit Sicherheit dahin wirkte^ die Werke Kants
in neuen Umlauf zu bringen, so würde es luohltätig wirken; denn der
Geist des großen Mannes lebt in seinen Werken, unbeachtet der Mängel des
Systems. Aber daß man vorgebe, die ivichtigsten Wahrheiten herausgezogen
zu haben (daher es denn nicht mehr dringend nötig scheinen wird, die
Originalschriften zu studieren), während sich in dem Auszuge neben den
Wahrheiten auch die ivichtigsten Irrtümer beisammen finden, die nun, da
sie von ihrer Stelle gerückt, von der Eigentümlichkeit des Vortrages ent-
kleidet sind, nicht mehr das Streben und Arbeiten des Kantischen Geistes
in verwandten Geistern aufregen können; — dies ist's, was uns den Wert
des vorliegenden Buches und seine mögliche Wirksamkeit sehr verdächtig
macht. Jedoch allerdings kann es wirken, indem die Kantische Lehre,
als steifer Dogmatismus dargestellt., gfgen einen kritischen Kopf ebenso
anstößt, wie der alte Wolffische Dogmatismus verstieß gegen Kants
Prüfungsgeist. Und was folgt daraus? Eine Wirkung zwar, aber gerade
die entgegengesetzte von der beabsichtigten. Ja, diese Wirkung ist längst
vorhanden. Der Kantianismus ist ein Stein des Anstoßes geworden, nicht
durch Kant, sondern durch die Zudringlichkeit anderer, welche meinten
für ihn kämpfen zu müssen, statt, wie sich's für Denker gebührt, ihn zu
prüfen.
Ein Buch, das schon durch drei Auflagen bekannt ist, müßte uns
sehr wichtig scheinen, wenn wir uns bewogen und selbst berechtigt glauben
sollen, es ausführlich zu rezensieren. Wir geben demnach zuerst Rechen-
schaft von den Veränderunger» der vierten Auflage, und alsdann ein paar
Proben von Kiesewetters Beredsamkeit aus der Einleitung, welche, wie
es uns scheint, das Buch für diejenigen, die es noch nicht kennen, von
seiner besten Seite zeigen werden. Nach dem Willen des Verfs. ist die
erste Abteilung mit einem gedrängten Auszuge aus der Vernunftkritik
vermehrt, nebst Erklärungen der Kunstworte. Dieser Teil des Buches
beträgt zwar nur 15 Seiten, er scheint uns aber gut geraten, und wie er
sollte, im Geiste des Verfs. gearbeitet. Ebenso liest man gern die Bio-
graphie Kiesewetters. Was die angehängte Literatur betrifft, welche
nicht bloß Kants eigene Schriften, sondern auch das, was über dessen
System geschrieben ist, enthalten sollte, so ist es freilich seltsam zu ver-
gleichen, was darin aufgenommen und was darin weggelassen wurde. Da
steht z. B. Schopenhauer wegen des Anhanges zu seiner Well als Vot-
stellung und Wille: es fehlen aber Krug und Fries! Doch wer hat in
42 J- F. Herbarts Rezensionen.
den letzten dreißig Jahren nicht über Kant geschrieben?-* Das Unter-
nehmen hätte müssen anders begrenzt und die Literatur nicht bloß
alphabetisch geordnet werden, wenn es hätte zweckmäßig ausgeführt werden
sollen. Übrigens ist die erste Abteilung unverändert geblieben; die zweite
im Ausdrucke verbessert worden. — In der Einleitung redet Kiesewetter
von den Freunden und Gegnern der Philosophie. Er geht nicht sanft
um mit den letzten. „Der wahre Anhänger der Philosophie hat allen
Vorurteilen den Krieg auf Leben und Tod angekündigt ; er reißt dem
Gleißner, der durch falsche Religionssätze die Tugend und das Recht
untergräbt und Götzendienst statt Gottesverehrung predigt, die Maske
vom Angesicht; er gewöhnt das blöde Auge nach und nach an die
Strahlen der Sonne der Wahrheit, und macht die glimmende dunstende
Lampe des Herkommens verlöschen; er führt den, welcher gewöhnt war,
an den morschen Stützen fremder Meinung einherzugehen, und sich ohne
diesen Stab für verlassen hielt, mit mächtigem Arm, erweckt in ihm das
Gefühl seiner eigenen Kraft und gewöhnt ihn, selbst zu denken und zu
handeln; er erzieht das Kind zum Manne; er eifert gegen Anarchie, die
alle Bande der bürgerlichen Ordnung zerreißt und Menschen in blutgierige
Tiger und wütende Hyänen umwandelt; aber auch gegen Despotismus,
der den Keim der Menschheit zerstört, und den Menschen zum Vieh
herabwürdigt; und dringt auf gesetzliche Freiheit. — Sie (die Gegner)
kämpfen nicht mit erlaubten Waffen; im Gefühl ihrer Nichtigkeit schleichen
sie sich herbei und suchen durch einen versteckten Dolch von hinten zu
durchbohren. Daher ihre Klagen über die Abnahme der wahren Re-
ligiosität und Tugend, die sie auf Rechnung der durch die Philosophie
bewirkten Aufklärung schreiben. An euch lieg/ die Schuld, an euch, die
ihr Götzen statt Gott verehren lasset! Eure Lehren verfinstern den Ver-
stand und machen das Herz welk. Sobald der Mensch aus dem Schlummer
des Herkommens erwacht, fühlt sich sein Gemüt durch die kräftige Sprache
der Pflicht gestärkt; euer Geschwätz von Glück, Belohnung, Strafe ekelt
ihn an; er fühlt die Nichtigkeit ^?^i?;^/- Behauptungen, er will durch Gründe
bestimmt werden. Wenn der Philosoph gegen Despotismus aller Art
eifert, wenn er die Herrscher an ihre Pflichten erinnert: so schreit ihr,
er predigt Anarchie. — Eine andere Klasse von Gegnern verachtet, was
sie nicht kennt, um der Mühe des Lernens überhoben zu sein. Sie er-
heben die Erfahrungskenntnis, und wissen nicht, daß die Erfahrung ihre
letzten Gründe aus der Philosophie nimmt; daß die Gesetze, nach welcher
Erfahrung allein möglich ist, nicht aus der Erfahrung selbst geschöpft
werden können usw." Man sieht, diese Beredsamkeit kämpft gegen eine
Roheit, welche in dem Kreise, wo Wissenschaft soll gepflegt werden, der-
gestalt vorbei sein muß. daß man nicht mehr nötig habe, daran zu
denken.
L. J. Rükkert: Christliche Philosophie usw. 4^
Rükkert, L. J., Diaconus zu Großhennersdorf bei Herrnhut, Christ-
liche Philosophie, oder Philosophie, Geschichte und Bibel,
nach ihren wahren Beziehungen zu einander dargestellt.
Nicht für Glaubende, sondern für wissenschaftliche Zweifler zur Be-
lehrung. Erster Band. Philosophie und Geschichte. — Leipzig,
b. Hartmann, 1825. 467 S. Zweyter Band. 488 S. 8. (3 Rthlr.)
Gedruckt in: Leipziger Literatur - Zeitung 1827, Nr. iii, 112. S\V. XII, S. 575.
Christliche Philosophie ist, den Worten nach, eine Art von Philosophie;
ihr Gegenstück, philosophisches Christentuin , gleichfalls wörtlich genommen,
muß eine Art 7>oii Christejitum sein. Um klare Begriffe zu gewinnen,
wird es gut sein, beides näher zu betrachten. Ist im ersten Falle das
Christentum das Bestimmende, welches aus dem ganzen Umfange der Philo-
sophie eine geivisse Art heraushebt: so rühren die herrschenden Ge-
danken dieser Philosophie von ihm her; der Christ, als solcher, ist als-
dann übergegangen ins Philosophieren. Ist dagegen im zweiten Falle die
Bestimmung, woraus eine Art oder Ansicht des Christentums hervorgeht,
der Philosophie eigen: so gibt sie den Anstoß; der Philosoph hat jenes
zum Objekte seiner Betrachtung gemacht. Natürlich kann gezweifelt
werden, welches besser sei; allein wenn wir nicht irren, so ist beides
nicht frei von Bedenklichkeiten. Wir erinnern zuerst an die Zeit, wo
das philosophische Christentum mehr Freunde, oder wenigstens lauter
sprechende Stimmen für sich hatte, als jetzt. Damals wollte man das
Christentum der Philosophie näher bringen; es sollte begrcißichet werden;
man hörte selbst von exegetischen Versuchen zu diesem Zwecke. Aber es
dauerte nicht lange, so forderte das Christentum den Respekt zurück,
welcher den urkundlichen Worten gebührt. Also Respekt trat wieder an
die Stelle einer gewissen Vertratdichheit , welche zu weit gegangen war, und
sich nicht rein von Zudriiiglichkeit erhalten hatte! Nun können wir uns
aber nicht verhehlen, daß Zudringlichkeit von beiden Seiten möglich,
und daß, von welcher Seite sie auch komme, sie stets gefährlich ist für
das gute Vernehmen zweier Mächte, die einander berühren können, und
deren jede ein selbständiges Dasein besitzt. Dies selbständige Dasein hat
sowohl die Philosophie als das Christentum. Jene ist, historisch betrachtet.,
älter, und in Ansehung ihres Inhaltes beschäftigt sie sich mit einer Menge
von Problemen, um welche sich dieses nicht kümmert. Dazu kommt,
daß sie stets in Untersuchung schwebt, und wo sie Haltung und Festigkeit
gewinnt, dieselbe doch nur sofern behaupten kann, als sich die Untersuchung
fortwährend bereitwillig zeigt ^ die Behauptung zu bekräftigen. Sie steht
überdies ihrer Natur nach in sehr enger Verbindung mit der Mathematik,
und in wichtiger Beziehung auf Physik und Geschichte. Daß nun manche
in ihr noch immer die alte ancilla theologiae sehen: dies scheinen die
einseitigen Darstellungen einiger Schulen zu veranlassen. Man keimt aber
die Philosophie schlecht, so lange man mir diese oder jene Schule kennt/
Welche Einseitigkeit auf den Verf. des vorliegenden Buches gewirkt
habe, das liegt deutlich am Tage; er hätte indessen wohl getan, darüber
offen zu sprechen. Schon die Äußerung der Vorrede: „was die Form
44 J- F- Herbarts Rezensionen.
als Vorlesjingen anlangt (in dieser Form ist das Buch geschrieben), so
war sie mir die einzig mögliche; ich haUe den mündhchen Vortrag für
den einzigen, durch welchen der Zweck des Unterrichts vollständig erreicht
werden könne, und kann meine Abneigung gegen den schriftlichen nicht
ablegen;" — schon diese besondere Meinung, und der Versuch, ein
Buch zu einer Nachahmung des mündlichen Vortrages zu machen, während
man den gewöhnlichen Kathedervortrag, auch bei aller Freiheit der Rede,
ebensogut als eine Nachahmung des schriftlichen Vortrages betrachten
kann, — erinnerte uns an Fichtes Grundzüge des gegenwärtigen Zeit-
alters, wo S. 92 eine leicht erklärbare Anwandlung von übler Laune
gegen Leserei und Schriftstellerei vorkommt. Und aus dem Buche selbst
kam uns gleich beim Aufschlagen eine Art von scharfem Luftzuge entgegen,
der die schon entstandene Vermutung bestätigte. Man vernahm die
Ankündigung: ,,Ich halte für meine Pflicht, Ihnen darüber, was ich
eigentlich vorhabe, eine so bestimmte Auskunft zu erteilen, als mir nur
möglich sein wird, wovon der Erfolg der sein soll, daß — für den Fall,
da einer oder einige von Ihnen zu der Einsicht kämen, diese Vorträge
hätten ihm entweder gar nichts genützt, oder wohl gar geschadet — für
diesen Fall ich aller Verantwortlichkeit los und ledig sei, und niemand
sagen könne, er habe sich das nicht ziorgestelll.'^ (Treffliche Wendung,
um die Neugier zu spannen!) ,,Daß ich 's also gleich mit Einem Worte
sage: Ich will Ihne?i zimi Gewinn einer festeti religiösen, oder richtiger,
theologischen Überzeugimg, behilflich sein.''' (Dies Eine Wort wird sicher
niemanden abschrecken.) „Ich werde von nichts anderm handeln, als von
dem, was man gememhin Sachen des Glaubens nennt, das heißt, von
demjenigen, was der Mensch als währ annehmen müsse, in Hinsicht auf
die Frage: Wer bin ich, und was bin ich? (eine psychologische Frage!)
und was soll ich sein?" (eine moralische Frage!) „Wodurch bin ich das,
was ich bin, und wodurch kann ich das werden, was ich sein soll ?"^
(Fragen, die in der Naturphilosophie und Psychologie gerade ebenso-
sehr, als in die Theologie hineingreifen. Wo sind nun die Sachen des
Glaubens?) „Der Mensch also ist der eigentliche, und, genau genohimen,
einzige Gegenstand aller unserer künftigen Untersuchungen; und zwar
nicht der sichtbare Mensch oder Körper — sondern der Geist. Und
wenn es möglich wäre, über diesen zu einer festen Überzeugung ^u
gelangen, ohne uns um irgend etwas, was nicht er selbst ist zu bekümmern,
so — dürften wir uns berechtigt halten, alle Bemühungen um Wissenschaft
ohne Einfluß hierauf als unnütz und vom Ziele abführend, zu verlachen
oder zu bemitleiden!'''- Mit diesen Worten ist das ganze Werk, gleich auf
der vierten Seite, scharf gezeichnet. Allmählich aber erweitert sich der
Kreis. Es kommen hinein: i. die Untersuchungen über Gott und Welt,
insbesondere über die Geisterwelt, 2. die Erforschung des Menschen.
3. die Feststellung seiner Bestimmung. Dies macht nur den ersten
Hauptteil ; der zweite gibt die Betrachtung der Geschichte des Menschen-
lebens. Der dritte will die wesentliche Lehre des Christentums darstellen
und den Wert desselben beurteilen. — Das wäre der natürliche Plan
einer Entwicklung des — philosophischen Christentums \ denn bei christlicher
Philosophie mußte das Christentum im Vordergrunde stehen , und das
L. J. Rükkert: Christliche Philosophie usw. 4^
Philosophieren von ihm ausgehen. Aber unser Verf. betritt in Ge-
danken das Katheder, weil er mehr Redner ist, als Denker.
Damit nun die Schule, worin er festhängt, deutlicher zum Vorscheine
komme, wollen wir ihn reden lassen. „Ein nicht philosophisches Ver-
fahren nimmt das Vorhandene, wenn es ihm dargeboten wird; oder sucht
auch dasselbe auf, aber in der Erfahrung und ohne Prinzip, und bildet
sich aus dem Gefundenen die Begriffe, und ordnet dasselbe denn wohl
auch, wie man sich ausdrückt, systematisch, oder was sonst damit tun
mögen, welche so verfahren. Das wissenschaftliche Verfahren sucht in
sich selber die Grundformen alles Vorhandenen auf, und beurteilt nacli
ihnen diese letztere ; der festen Überzeugung, daß der Mensch über
nichts ein völlig gültiges und sicheres Urteil fällen könne, was er nicht
zuförderst als Idee angeschaut hat, also natürlich auch über nichts, was
als Idee gar nicht geschaut werden kann " (Das letztere ist vermutlich
ein Caput mortuum, was man wegwerfen kann, wie die alte Chemie es
mit den Rückständen ihrer Versuche machte, als sie noch im Zustande
der Barbarei war.) Das Hauptgeschäft ist also, über die Ideen selbst
zur Klarheit zu gelangen, als welche die Grundlage aller Untersuchung
bilden; und das andere dann, das Wirkliche mit den Ideen zu vergleichen,
und die Mittel aufzusuchen, wie das Wirkliche und das Ideale eins und
dasselbe werden mögend'- Ja freilich! So ungefähr gewöhnte man sich vor
fünfundzwanzig Jahren, zu reden! Daß seitdem etwas mehr Besinnung
in die Philosophie gekommen, davon weiß der Verf. nichts. Er verwechselt
noch die Vergleichung der Ideen und des Wirklichen, welche in die
praktische Philosophie gehört, und dort an der rechten Stelle ist, mit
dem in der Metaphysik nötigen Verfahren. Daß jenes, von ihm be-
schriebene Beginnen, nun lange genug ohne Kritik geherrscht, in allen
möglichen Erschleichungen sich herumgetrieben, Widersprüche auf Wider-
sprüche gehäuft, Erfahrung und Philosophie entzweit, eifie Menge der
würdigsten Gelehrten zurückgestoßen, und den Wirkungskreis der Philo-
sophie nicht erweitert, sondern verengt hat, und fortdauernd verengen wird,
solange es anhält, — warum sollten wir dem Verf. das hier beweisen und
entwickeln ? Seine Anmaßungen mögen versuchen, wie weit sie gelangen
können; für uns sind sie ein Schauspiel. Als ob Fichtes mangelhafter
Aufsatz über den Begriff der Wissenschafislehre vom Jahre 1794, erst
dreißig Jahre später erschienen wäre; als ob man seitdem nicht Zeit
genug gehabt hätte, über die Bedingungen nachzudenken, unter denen ein
philosophisches Prinzip, sich selbst überschreitend, noch etivas anderes außer
sich selbst gewiß machen könne^ als ob noch niemand eingesehen hätte,
ein Prinzip könne^ wenn es nicht vom Zufalle der logischen Verknüpfung
einer Pjämisse mit anderen und wieder anderen Prämissen abhängen solle,
unmöglich die Form eines Satzes, sondern müsse die Form eines Begriffs
haben (denn an eine Idee ist hier gar nicht zu denken, falls jemand wirklich
denken und nicht schwärmen ivill), mit Einem Worte, als ob das Philo-
sophieren des Verf. darin bestände, freunde, halb veraltete Irrtümer für die
seinigen auszugeben ; erzählt er uns höchst ernsthaft: „Die Grundlage muß
gewiß und unumstößlich, — etwas schlechthin Wahres sein, — über allen
Beweis erhaben, völlig unbeweisbar sein, — einen solchen Grundsatz, oder
a() J. f. Herbarts Rezensionen.
eine mit solcher Eigenschaft begabte Grundidee werden wir (der Verf. und
seine Zuhörer!) zu suchen haben." Doch nein! Die Zuhörer behalten
nicht Zeit zum Suchen. ,,Gott ist: das ist der Satz, dessen wir bedürfen.
Sie erstaunen, meine Herren, und fragen voll Verwunderung, ob Sie richtig
hören? — Daß der Satz unumstößlich sei, wird Ihnen sogleich einleuchten,
wenn ich Ihnen sagen werde, was der Satz bedeute. Indem ich nämlich
sage, Gott ist, sage ich nichts anderes, als: Die sittliche Weltordnung,
deren Idee meinem Geiste ursprünglich und notwendig einwohnt, hat
Wirklichkeit, d. h. sie besteht nicht allein in mir, als ein objektloses Gebilde
meiner Vernunft, sondern auch außer mir, und ist Objekt für die Be-
trachtung meines Geistes. Sobald wir jenen Worten diesen Sinn beilegen,
— und einen anderen können sie nicht haben, — so befinden wir uns
ganz auf dem Gebiete der Sittlichkeit; auf diesem ist alles gewiß. —
Aber hier höre ich Sie sagen: Das also wäre unser Gott? Eine bloße
Idee, die die Welt regiert? Nichts Lebendiges? — Ich werde auf Ihren
Einwand Rücksicht nehmen. Sagten wir weitergehend: eine Idee können
wir uns nicht denken ohne ein Wesen, das die Idee hat, — es muß
mithin ein solches Wesen da sein, denkend und wollend, ähnlich unserm
Geiste: sagen wir dies, so will ich zwar gar nicht gegen diese Rede
streiten; allein ich behaupte mit Bestimmtheit, daß wir weiter gehen, als
wir gehen können. Es kann sehr wohl Menschen geben, welche sich mit
dem begnügen, was wir als unumstößlich gefunden haben; und alle
vernünftige Pantheisten werden sich damit begnügen, oder haben sich
damit begnügt." (Also auch Spinozas Substanz war ursprünglich eine
sittliche Weltordnung? Wieviel mag doch der Verf. von Spinoza gelesen
haben?) „Sodann, zugegeben, daß wirklich jeder Mensch so denken
müsse, so folgt hieraus noch keineswegs, daß dem wirklich so sei; nach
der Beschaffenheit unseres Denkvermögens sind wir dann allerdings
genötigt, so zu denken, aber, wer sagt uns, daß nicht anders beschaffene
Wesen anders denken müssen?" (Haben nun die Zuhörer des Verfs.
etwas Gedächtnis, so fragen sie ihn hier unfehlbar, wie Er denn vorhin
dazu gekommen sei, sich auf eine innerlich angeschaute Idee zu berufen,
da ja wohl anders beschaffene Wesen auch andere Ideen haben könnten.
Und seine Antwort wird ein Machtspruch sein ; oder im besten Falle
wird er ihnen etwas von der Kantischen Lehre erzählen.) „Hiermit wird
gar nicht die Vorstellung von einem lebendigen Gotte ausgeschlossen; sie
kann sehr wohl dabei bestehen. Auch ich bin nicht im stände, einen
Gedanken zu denken, ohne ein Denkendes, eine Ordnung ohne Ordnendes.
Ich denke mir daher solches; wenn ich mich aber nun frage, was es
sei? so antworte ich mir sogleich, daß ich dies nicht wisse. Ich weiß
nur soviel, daß ich meinen Glauben an die sittliche Weltordnung eine
Form gegeben habe, unter welcher er meiner Beschränktheit näher gebracht
wird; — wollte ich dieselbe weiter ausmalen, so zöge ich sie ganz herab
in mein Vorstellen." Aber darin war sie von Anfang an ganz und gar!
Wir sehen hier ein Bruchstück von Fichteschem Idealismus aus einer Periode,
die wir nicht genauer in Erinnerung bringen mögen. Wer jene Periode
kennt, der weiß, daß damals die Philosophie in einem schnellen Übergange
begriffen war: und daß seitdem von allen Seiten Bemühungen angewendet
L. J. Rükkert: Christliche Philosophie usw. aj
wurden, um der idealistischen Überspannung abzuhelfen. Was aber soll
uns das verlorene Fragment einer beinahe vergessenen Verirrung, wie es
hier, als ob es eine ewige Wahrheit wäre, mit unvergleichlicher Dreistig-
keit wieder zum Vorscheine kommt? Sollen die Literaturzeitungen dem
Verf. sagen, und buchstäblich zeigen, woher seine Weisheit stammt? —
Fichte schrieb in der Appellation, S. 38, folgende Worte: daß der
Mensch die verschiedenen Beziehungen jener Ordnung auf sich und sein
Handeln, ivenn er mit andern davon zu reden hat^ in dein Begriffe eines
existierenden Wesens zusammenfasse und fixiere, — ist die Folge der Endlich-
keit seines Verstandes, aber unschädlich usiu. Wir enthalten uns einer genaueren
Vergleichung, so nahe sie gelegt ist; und fragen nun noch den Verf., ob
er denn auch, gleich Fichten, eine Reihe tiefsinniger, streng wissen-
schaftlicher Werke, — gleichsam eine esoterische Philosophie — auf-
zuweisen habe, die seinen Beruf, als Philosoph aufzutreten, dokumentieren
könnte? — Duo cum faciunt idem, non est idem! Es war schlimm genug,
daß Fichte eine Lehre populär aussprach, die nur in der Geschichte der
Philosophie, als einzelne Ansicht vo7i einein geiüissen Standpunkte aus, in der
Mitte vieler andereri und entgegengesetzten Ansichten bemerkt werden muß ; es
ist aber noch ungleich schlimmer, daß ein Mann, der kein selbständiges
Denken verrät, sich dergleichen erlaubt.
Es hat ihm beliebt, in der Vorrede zu sagen, „die Sachen seien ganz
sein Eigentum, Frucht seines Nachdenkens; was er nicht aus sich selbst
nehmen konnte, das habe er durch Angabe seiner Gewährsleute ehrlich
angezeigt !"■ Zugleich hat ihn beliebt, Fichten zwar nicht zu nennen, aber
wohl auf eine Weise, wogegen wir im Namen eines jeden philosophischen
Systems alles Ernstes protestieren müssen, Fichtes Lehren durcheinander
zu werfen, so daß nichts mehr am rechten Platze steht; zum klaren
Beweise, daß er keinen Begriff davon hat, wie man ein System behandeln
muß,, um es zu benutzen. Es ist Mißhandlung der Fichteschen Lehre,
daß jetzt in der dritten Vorlesung, nachdem die sittliche Weltordnung
gleich an die Spitze gestellt, und zum ersten Prinzipe gemacht worden
war, dasjenige hintennach kommt, was an die ersten Sätze der Wissen-
schaftslehre erinnert. Denn da heißt es nun: „Gott ist Gott, das wird
nun unser zweiter Hauptsatz werden müssen; d. h. wir müssen die Idee
Gottes, deren Realität unser erster Satz besagte, zum Subjekte machen,
um im Prädikate, nach dem Grundsatze A = A die nämliche Idee,
in ihre Merkmale zerlegt, wieder hinzustellen." Sollen wir nun hier etwa
aus Fichtes Wissenschaftslehre wörtlich abschreiben, was Fichte dort
an den (sehr unnützen) Satz: Ich bin ich, mit Hilfe der (ebenso unnützen)
Formel A = A anknüpft ? Besäße der Verf. kritischen Geist : so hätte
er begriffen, daß dies eine sehr schwache Stelle ist, die niemand nach-
ahmen darf; statt dessen reißt er die Form los vom Gegenstande, und
wirft das Losgerissene an einen Ort hin, wo es zu gar nichts dient. Von
einer Zerlegung in Merkmale liegt nichts in der Formel A = A ; und
der Verf. verrät hier, ohne den mindesten, auch nur scheinbaren Gewinn,
daß er Nachahmer und nicht Selbstdenker ist. Wer mit Gott, als sittlicher
Weltordnung, anhebt, der ist gleich in der Aufstellung des Prinzips so
freigebig gewesen, daß er keiner leeren Formel mehr bedarf, um alles
48 J- F. Herbarts Rezensionen.
mögliche herzuleiten. Die bekanntesten Begriffe, welche jedermann aus
den Kinderjahren mitbringt, drängen sich von selbst herbei; und es
kostet keine Mühe, die Prädikate: Ewigkeit, Allgegenwart, Einheit,
Absolutheit, Allgen ugsamkeit, Heiligkeit, Güte herbeizuschaffen. Widrig
aber sind die leeren Künsteleien des Verfs. und wir wollen bei einem
solchen Gegenstande davon keine Notiz nehmen. Mit der allgemeinen
Gotteslehre sind wir fertig; es folgt die allgemeine Weltlehre. Daß nun
hier eine Spur von einigen physikahschen und mathematischen Kenntnissen
zu sehen sein solite, daran ist nicht zu denken; nichts als die Leicht-
fertigkeit der alten Kosmologie kommt zum Vorscheine; ein kurzes
Pröbchen reicht hin. „Der Glaube an das Sein der sittlichen Weltordnung
fordert den Glauben an das Sein der Welt; denn — eine Ordnung fordert
ein Geordnetes! — So wahr ich selbst bin" (hier wird das Fichtesche Ich
zum Prinzipe!), „so wahr bin ich zur Sittlichkeit bestimmt" (wir wissen
zwar noch nicht, was das Wort Sittlichkeit eigentlich bedeute!), ,,so wahr
ich zur Sitllichkeit beslimvit bin^ so wahr ist Gott und sittliche Weltoi'dnungy
(Hier ist, nach Fichtes Weise, aus dem Ich, als dem Prinzipe, derjenige
Gegenstand, welchen der Verfasser vorhin proprio Marte zum Prinzipe
machen wollte, geschlossen und abgeleitet!) Also: „So wahr ich selbst
bin, so wahr ist die Welt." So ist durch einen leichten Schluß Fichtes
Lehre zugleich benutzt und widerlegt! Denn der Schlußsatz klingt wenigstens
vollkommen realistisch; und die Zuhörer des Verfs., wenn sie den
Idealismus nicht anderswoher gründlich kennen, werden sich nur wundern,
daß Fichtes Idealismus so leicht könne zurecht gewiesen werden ! —
Die kleine Frage, ob die Materie der Welt ihr Sein etwa durch sich
selbst, oder durch ein ungöttliches Prinzip habe? wird mit leichter Hand
zur Seite geschoben; sie ist ja unbedeutend! Ebenso leicht kommen nun
die bekannten Sätze hervor: die Welt sei ewige Wirkung Gottes, sie sei
nur Eine, und ein vollkommenes Werk Gottes. Wir haben in der Tat
nicht Lust, die alten kosmologischen Sätze aus der vorkantischen Schule
genauer zu vergleichen, um darzutun, wie auch hier die Gedanken des
Verfs. im fremden Gleise fortgehen. Es folgt die allgemeine Geisterlehre:
„Die Annahme einer sittlichen Weltordnung setzt das Sein solcher
Wesen voraus, welche der Sittlichkeit fähig seien. Weil wir also an Gott
glauben, glauben wir an die Geisterwelt." Natürlich kommt der Verf.
jetzt auf die Frage von der Freiheit des Willens; und faßt dieselbe auf
eine Weise, womit wir in einer populären theologischen Schrift wohl
zufrieden sein würden. „Alle Geister müssen in Ewigkeit beitragen zur
Vollführung der einen göttlichen Idee. Es kann und darf nicht gedacht
werden, daß die freie Tätigkeit der Geister je zu einem Erfolge führe,
der der göttlichen Idee nicht angemessen wäre ; es ist nicht möglich, daß
die Geisterwelt, als Ganzes, oder ein Teil von ihr, dem einen und ewigen
göttlichen Gedanken mit Erfolg entgegenstehe; auch nur eins der göttlichen
Werke wider Gottes Willen zerstöre, oder irgend wie verändere ; auch nur
einen der göttlichen Zwecke in der Ausführung verhindere. — Die Geister-
welt, unbedingt unterworfen dem Prinzipe der sittlichen Weltordnung, ist
demselben ursprünglich frei unie7'tan; sie soll heilig sein und ivill es sein ; sie
erkennt die Notwendigkeit es zu sein, sie ist daher ursprünglich heilig und
L. J. Rükkert : Christliche Philosophie usw. ^g
selig. — Ursprünglich: das heißt, inwiefern sie ein Werk Gottes ist," aber
nun kommen die Schwierigkeiten! „Nötigung hebt die Freiheit auf.'' Wie
hilft sich der Verf.? Erstlich fällt der Philosoph aus den Wolken, indem
er behauptet: „Was wir von der Freiheit wissen, das wissen wir nicht
a priori, sondern vermöge der in der Erfahrung gegebenen Tatsache
unseres Bewußtseins." Hier mag Kant — der Urheber der neuern
Freiheitslehre — seinen gewichtvollen Einspruch tun; denn bei so grenzen-
loser Leichtfertigkeit, womit immer von neuem der nämliche Gegenstand
falsch behandelt wird, müssen wir denn doch wohl dazu beitragen, daß der
ohne Vergleich bessere Denker, obgleich er in diesem Punkte vom Irrtume
nicht frei war, nicht in Vergessenheit gerate. Kant also, am Ende
seiner langen Erörterungen über die Freiheit, in der Kritik der reinen
Vernunft, schärft folgendes ein : Man muß wohl bemerken^ daß ivir nicht
die Wirklichkeit der Freiheit haben dartiin ivollen. Denn wir köfinen aus
der Erfahrung tiiemals auf etwas^ was gar nicht nach Effahrungsgesitzen
gedacht werden muß, schließen. Ferner haben wir auch nicht eininal die
Möglichkeit der Freiheit beweisen wollen; daß Natur der Kausalität aus
Freiheit wenigstens nicht widerstreite, dies zu zeigen, war das einzige,
was wir leisten konnten.'' Und hiermit im genauesten Zusammenhange
steht kurz vorher die Note: Die eigentliche Moralität der Handlungen,
Verdienst und Schuld, bleibt uns daher selbst in unserm eigenen Ver-
halten gänzlich v^erborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den
empirischen Charakter bezogen werden; wieviel aber reine Wirkung der
Freiheit sei, kann niemand ergründen. So weit Kant. Jetzt müssen wir
noch ein paar Worte an die obige Populär- Philosophie vom Erfolge wenden^
den die Geister.^ frei wie sie sind, doch nicht sollen ändern können. Was für
ein Erfolg mag denn das sein, worauf in der sittlichen Weltordnung
Wert gelegt wird? Welches sind die göttlichen Werke, die von der
Freiheit unangetastet bleiben? Etwa der Bau des Himmels; oder die
Ordnung im Leben und Sterben der Menschen? An solchen Werken
vergreift sich gewöhnlich die Freiheit nicht; oder wenn sie es im kleinen
versucht etwa (durch die Vaccine, oder durch Blitzableiter), so fällt dem
nachdenkenden Menschen sogleich ein, daß die möglichen Erfolge solcher
Versuche doch in die sittliche Weltordnung nicht störend eingreifen, und
also nicht Sünde sein werden. Woran liegt denn aber dieser oft genannten
sittlichen Weltordnung? Das Wort selbst spricht deutlich: am Sittlichen,
das heißt an den Gesinnungen. Daher ist allerdings der gefürchtete
Erfolg vorhanden, die Vollführung der göttlichen Idee ist in ihrer Wurzel
angegriffen, indem die Gesinnungen von der Sittlichkeit abweichen; und
der theologische Dogmatismus des Verfs. hätte es vorhersehen sollen, daß
er an dieser Klippe unfehlbar scheitern mußte, so gewiß das Übel und
das Böse zu den unleugbaren Tatsachen in unserer Welt gehört. Der
Fehler liegt aber darin, daß ursprünglich Gott = der sittlichen Weltordnimg..
wie eine mathematische Gleichung, war hingestellt worden, aus welcher
man nun mit aller dogmatischen Dreistigkeit Schlüsse ohne Ende ableiten
könne; unbesorgt, wie hart man auf die Grenzen des menschlichen
Wissens stoßen werde. Die Welt ist ein Gegenstand der Erfahrung;
dieser Gegenstand aber ist unermeßlich; die Erfahrung auf unsern Planeten
Herbarts Werke. XIII. 4
CQ J- F. Herbarts Rezensionen.
höchst unvollstnndig; die Ordnung der Welt ist uns beinahe gänzlich un-
bekannt; obgleich einige Proben uns zur Bewunderung erheben. Kein an-
maßendes Urteil über die Weltordnung darf dem Menschen in den Sinn
kommen; Demut und Glaube ist unser Los. — Wenn aber dies ein
Theolog nicht weiß, wer soll es denn wissen? Müssen durchaus die Philo-
sophen Glaubejislehrcr iverden, und ist es nicht genug, wenn sie sich von
demjenigen, was man nicht wissen kann, still zurückziehen?
Unser Verf. jedoch ist noch lange nicht am Ende mit seinem Wissen.
Er überträot die conservatio mundi auf die Freiheit; nicht nur einmal,
sondern unaufhörlich werden die Geister durch Gotl freie Wesen. Hierin
findet er einen göttlichen Einfluß auf die Freiheit; und warnt vor dem
Stolze, womit der Mensch sich vor Gott hinstelle, sprechend: Siehe ich
hätte böse sein können, und bin so gut; gib mir nun meinen Lohn!
Natürlich spannt er unsere Erwartung nun desto höher, zu erfahren,
wie denn die unter beständigem göttlichen Einßnsse seiende Freiheit ivird
dennoch zum Bösen., — das ja nur um so böser sein muß! verirren
könne? Liegt etwa die Schuld an der Materie? Keinesweges! Der Verf.
weiß zwar nicht, ob eine Materie wirklich vorhanden ist; aber das behauptet
er: Herrschen könne die materielle Welt niemals über die geistige. Und
auch der Mensch hat sein tvahres und eigentliches Wesen in der sittlichen
Natur; er kann keine Störung in der göttlichen Ordnung wirken, er ist
ursprünglich heilig und selig! Was wird nun der Verf. beginnen, wenn
sich die Tatsache des Bösen dennoch aufdringt? — Er macht daraus
einen Gegenstand der breitesten kanzelmäßigen Rhetorik, indem er die
Erfahrung, die er nicht zu erklären weiß, und zu deren richtiger Auf-
fassung er sich mit Gewalt (wie so manche Theologen zu tun pflegen)
die Wege versperrt hat, nackt hinstellt. Aus dem ganzen Gerede, das
geradeso langweilig ist, wäe es bei ähnlicher Überspannung erst neuerlich
anderwärts vorkam, heben wir nur den einzigen charakteristischen Zug
heraus, daß es dem Kinde übel ge7iommen 7vird, gleich nach der Geburt
schon sein leibliches Wohlbefinden zum einzigen Zivecke zu machen. _ Jeder
Unbefangene kann aus dieser Probe sehen, daß der Verf., indem er von
,;Irrtum über das Wesen des Guten und Bösen" redet, sich selbst gerade
am tiefsten und am schädlichsten in solchen Irrtümern befindet, die zu
schwärmerischen Vorstellungen verleiten müssen, sobald sie sich zu weiteren
Folgerungen entwickeln. Was wird es helfen, wenn wir ihm sagen, daß
Gutes und Böses nur in Verhältnissen des Willens liegt, und daß an solche
Verhältnisse bei dem Wollen des neugeborenen Kindes noch nicht aufs
entfernteste zu denken ist? Der Gegenstand ist anderwärts deutlich genug
vorgetragen; hier ist nicht der Ort dazu. Andere werden sagen', die
Vernunft des Kindes sei noch nicht entwickelt, die Zurechnung könne
noch nicht stattfinden; und auch dies ist richtig, obgleich nicht allgemein
genug. Wir würden uns näher erklären, wenn das vorliegende — ohne
Zweifel gut gemeinte, und nicht geistlose Buch, worin wir hier und da
manches Beifallswerte finden, — und gründliches Studium auch nur irgend
eines einzigen philosophischen Systems an den Tag legte.
Eines Philosophen Geist, Mut, Kraft, Kenntnisse, Übungen, Hilfs-
mittel haben wir nun beim Verf. keineswegs gefunden. Aber es gibt
L. J. Rükkert: Christliclie Philosophie usw. ci
manche, die in ihrem Siaunefi und Nichfbegreifen, welches nur dazu dient,
anzuzeigen, daß sie der Philosophie bedürfen, schon die Berechtigung
finden, sich selbst für Philosophen auszugeben. Es gibt auch deren, die,
iveil Erlösung bedingt ist durch Besserting^ den Menschen auf
dem kürzesten Wege dadurch bessern wollen, daß sie ihm die Hölle recht
heiß^ den Teufel recht schivarz schildern. Dadurch meinen sie, die Ver-
mittler der göttlichen Wohltat zu werden, und zur Erlösung ihrerseits mit-
zuwirken. Sie kennen den Menschen nicht, sie unterscheiden die Übel nicht .^
an welchen dieser und jener leidet; sie gleichen den Ärzten, die nur
einerlei Krankheit allenthalben erblicken, und überall mit einem Universal-
mittel zu Diensten stehen. Das Böse und die Freiheit und die Wieder-
herstellung ursprünglicher Herrlichkeit. — Diese allgemeinen Begriffe füllen
ihren Geist; und während sie dafür und dawider schwärmen, kommen sie
weder zum Beobachten, noch zum Nachdenken. Wir unsererseits beobachten
nun zwar den Verf, sofern er sich in seinem Buche zeigt; allein wir
sind weit entfernt, einen bestimmten Ausspruch darüber zu tun, inwieweit
seine Ansichten noch einer Veränderung zugänglich sein mögen. Einen
geringen Versuch wollen wir machen, ihn auf andere Gedanken zu leiten.
Zuvörderst müssen wir zu diesem Zwecke noch ein Zeichen seines Staunens
und Nichtbegreifens, das in seinen eigenen Augen gleichwohl schon eine
gediegene Lehre ist, anführen. „Wie es möglich gewesen sei, daß der,
vermöge seiner ursprünglichen Natur gute und heilige, Mensch diesen
Zustand verlassen und unheilig werden konnte; wie das Umkehren des
menschlichen Willens zur Unsittlichkeit mit dem Einflüsse des götdichen
Geistes, seine Freiheit zu erhalten, verträglich sei: das sind Fragen, deren
Beantwortung hier auf Erden unmögHch ist; über die wir denken können
Tag für Tag, Jahr für Jahr, und niemals Licht erblicken; ich wenigstens
kann versichern, daß ich seit einer Reihe von Jahren hierüber zu forschen
niemals aufgehört, aber bis diese Stunde nicht gefunden habe." Nun
muß natürlich dem Wunder des Verderbnisses auch das Wunder der Wieder-
herstellung entsprechen. ,,Der Wille muß wieder anfangen, sich den ewigen
Endzweck seines Daseins zum eigenen Zwecke zu setzen; wieder zu
wollen, was er soll. Dies Erwachen miß ein Werk der Freiheit sein.''''
Den Schlaf vor dem Erwachen schildert der Verf. recht rhetorisch als
einen wahren Totenschlaf; veimutlich, damit es recht hervorspringe, daß
eben im Schlafe, welcher nichts anderes ist, als Untätigkeit des Geistes,
Unfähigkeit zum Tun, — oder allenfalls im Traume, worin das Tun des
Vorstellens und Begehrens sich zwar regt, aber ohne Vernunft und ohne
Freiheit — eben in diesem, vom Verf. angenommenen und behaupteten
Zustande der völligen Unmöglichkeit freier Wirksamkeit, das Erwachen
durch einen Entschluß erfolge, und die Freiheit ein Werk, ja sogar das
größte ihrer Werke, die Besserung nämlich, vollbringen soll. Nicht im
mindesten zweifelnd an seiner Weisheit, setzt er hinzu: „Dies Erwachen
hat aber des Unbegreiflichen soviel, daß wohl kein Wunder ist, wenn,
wer es erfährt, ohiie auf dem Boden loissenschaftlicher Forschung auf genährt
(sie!) zu sein, es einzig für Gottes Werk ansieht'' (was allerdings viel ver-
nünftiger wäre), „ja wir wollen gern zugeben, daß es, menschlich zu be-
trachten" (das vorige war ohne Zweifel eine übermenschliche Betrachtung?),
4*
^2 J- F' Herbarts Rezensionen.
„auch wohl vorzugsweise als Gottes Werk, als eine neue Schöpfung der
geistigen Natur, betrachtet werden mag. So wenig unser Verstand be-
greifen mag, wie der menschliche Geist aus dem ursprünglichen Zustande
der Sittlichkeit in den entgegengesetzten übergehen könne: so wenig können
wir die umgekehrte Veränderung nach ihrem Wesen fassen; aber wenn
wir aus dieser Unbegreifiichkeit den Schluß ziehen wollten, daß sie kein
Werk der Freiheit sei, sondern schlechthin Gottes Werk, so würden wir
der Veränderung den sittlichen Gehalt entziehen, und auch die vorher-
gehende Verschlechterung nicht als ein Werk der Freiheit betrachten."
Ehe wir uns verabschieden, wollen wir nun einen Wink geben, bloß damit
der Verf. nicht klagen könne, daß wir ihm einige Hilfe auch nicht einmal
angeboten hätten. Er gehe von dem Punkte, wo er soeben stand, noch
einen Schritt weiter rückwärts — wie wir ihm denn die rückwärts gehenden
Bewegungen (von offenbar ungereimten Folgen zur Kritik der Gründe,
aus denen sie entstanden) nicht genug empfehlen können. Also rück-
wärts gehend, wird er sich erinnern, daß er den Menschen als ursprünglich
gut, heilig, selig betrachtete. War denn diese Güte muh ein Werk der
menschlichen Freiheit? — Ferner, der Verfasser endigt so: „Wir erkennen
das Leben nicht allein als Strafe für die ursprüngliche Verschuldung,
sondern auch als Züchtigungsanstalt Gottes für die Wiederherstellung des
Menschen zur ursprünglichen Herrlichkeit." Wird denn die zirspi angliche
Herrlichkeit Jetzt, nachdem das Erwachen dazu ein Werk der Freiheit toar^
etwa noch übertroffen werden^ oder nicht? Und wird dies Werk der Freiheit
ein für allemal feststehen, oder gibt es vielleicht Perioden des Abfalles
und der Wiederherstellung? Wir beabsichtigen unsererseits keinesweges,
irgend jemandem eine Beantwortung dieser Fragen aufzudringen. Weil
aber der Verf. doch einmal philosophiert, und zwar nicht für Glaubende,
sondern für Zweifler: so überlegen wir in seinem Namen, was er wohl
bei Gelegenheit der ersten Frage weiter zu bedenken hätte. Er behauptete
oben recht deutlich: Die Geisterwelt ist unbedingt unterworfen dem
Prinzipe der sittlichen Weltordnung. Es ist ihm also wenigstens nicht
so übel ergangen, daß er die Freiheit selbst für ein Werk der mensch-
lichen Freiheit erklärt hätte; sondern nach ihm hat der Mensch ursprüng-
lich eine Güte, die nicht sein eigenes Werk ist. Also gibt es eine Güte,
ohne daß sie ihr eigenes freies Werk ist? — Hier öffnen sich drei Wege.
Entweder die Frage ivird verneint. Alsdann war eine Übereilung vor-
gefallen, indem die sittHche Weltordnung, mit ursprünglichen heiligen
menschlichen Geistern, so schlechthin gesetzt wurde, und der Verf. über-
legt weiter, ob es nicht besser sei, erst eine Möglichkeit für Werke der
Freiheit zu eröffnen, ehe man die sittliche Weltordnung eintreten lasse?
Auf diesem Wege möchte er denn vielleicht finden, daß jene Fichtesche
Ansicht.^ nach welcher die Weltordnung geradezu Gott selbst sein sollte., ihn
verleitet habe; und daß allemal das absolute Sein, wie stark man auch
berechtigt ist, demselben sittliche Prädikate beizulegen, doch wenigstens
in Begriffen sorgfältig von diesen Prädikaten muß unterschieden werden.
— Oder zweitens: die Frage loird bejaht. Alsdann steckt irgendwo ein
Fehler in der Verbindung zwischen Güte und Freiheit; und falls die
letztere einen wesentlichen Wert hat, so mag sie wohl einen Zusatz zur
E. Reinhold : K. L. Reinholds Leben und literarisches Wirken. e^
Güte geben; es gibt dann nicht bloß einerlei Gutes und einerlei Böses,
sondern verschiedenes auf verschiedenen Standpunkten; einiges vor der
freien Tätigkeit, anderes nach derselben, und vermöge ihrer; auch ist das
Leben alsdann nicht Strafe und nicht Züchtigungsanstalt, sondern es ist
Spielraum für freie Tätigkeit, durch welche noch etwas mehr, als bloße
Wiederherstellung, beabsichtigt wird. — Oder endlich drittens: die Frage
wird in getvisser Hinsicht verneiiit, in anderer bejaht. Dann mag auf beiden
Seiten, welche wir soeben nacheinander andeuteten, etwas Wahres liegen.
Die Philosophie des Verfs. aber ist alsdann doppelt verkehrt, und ein so
verworrener Knäuel, daß kein Wunder ist, wenn sie ihn in Unruhe versetzt
(laut der ersten Zeilen der Vorrede). Da er jedoch, wie wir nach-
gewiesen haben, kein originaler Denker ist, so liegt dann die Schuld an
der Zeitphilosophie überhaupt, die sich in ihm spiegelt, und die wir nur
unbescheiden nennen können, we7t?i sie sich dem Christeniume aufdringt, ja
wohl gar christliche Philosophie heißen will, anstatt höchstens den Namen
einer philosophischen Ansicht des Christentums anzunehmen. Soviel ist
offenbar, daß, wenn erst falsche Philosophie für orthodox imd für legitim
ausgegeben ivird, man alsdann von der Hoffnung, sie werde dereinst ihres
Irrtums inne werdeii, noch sehr viel weiter entfernt zvird, als solange ihre
Versuche im eigenen Kreise bleiben., wo sich die Schulen aneinander messen,
und keift Irrtum gefährlich ivitd, weil sich sogleich ei?i entgegengesetzter findet,
mit welchem er sich in der Wirkung aufhebt. Gleichwohl war es nicht
Sache des Rez., das vorliegende Werk von der Seite zu betrachten, da
es christliche Lehre zu sein behauptet; sondern nur, sofern es Philo-
sophie zu sein vorgibt. Was die theologische Gelehrsamkeit des Verfs.
anlangt: so mag diese vielleicht sehr rühmenswert sein; sie wird dann
ihre Anerkennung in irgend welchen anderen kritischen Blättern finden, an
welchen ja kein Mangel ist. Da der Verf. die Nennung seiner Beurteiler
in der Vorrede verlangt: so wird hier noch bemerkt, daß der Name des
Rez. kein Geheimnis ist, sondern bei der Redaktion kann erfragt werden.
Reinhold, E., ord. Prof. der Logik und Metaph. an der Univ. zu Jena,
K. L. Reinhold's Leben und literarisches Wirken, nebst
einer Auswahl von Briefen Kant's, Fichte's, Jacobi's und
anderer philosophirender Zeitgenossen an ihn. — Jena,
1825.
Gedruckt in: Jenaer Literatur-Zeitung 1827, Nr. 165, 166. Kl. Seh. III, S. 662.
sw. xn, S. 588.
Dieses interessante Buch versetzt uns in die Blütezeit der neuen
deutschen Philosophie, die vermutlich unseren jüngeren Zeitgenossen nicht
ganz so bekannt ist, als sie zu sein verdient, während andere, denen sie
noch als gegenwärtig vorschwebt, eher Mühe haben mögen, die Ent-
fernung, in welche sie schon entwichen ist, groß genug zu schätzen.
54 J- F- Herbarts Rezensionen.
Wiederkehren wird sie nicht; aber kennen muß sie jeder, der die Kantische
Umänderung der Meinungen gehörig im Zusammenhange überschauen,
und den Ursprung dessen, was jetzt die Köpfe beschäftigt, richtig be-
urteilen will. Unstreitig spiegelt sich in ihr die Eigentümlichkeit des
deutschen Geistes; dennoch ist sie nicht aus der Mitte des gelehrten
Deutschlands hervorgegangen. Beinahe an der Grenze des deutschen
Sprachgebietes war Kant aus einem sehr geistreichen geselligen Kreise
(von welchem Rez. den verstorbenen Kriegsrat Scheffner noch persönlich
zu kennen das Glück hattej hervorgetreten, und hatte ein weitläufiges
spekulatives Werk herausgegeben, auf die Gefahr hin, daß es vergessen
werde. Um es lebhaft aufzufassen, und ihm eine große Wirksamkeit zu
schaffen, mußte am entgegengesetzten Ende des deutschen Bodens, mitten
unter Jesuiten und Barnabiten^ ein anderer Kreis von trefflichen Köpfen
heranwachsen, aus welchem fliehend und entführt Reinhold sich von
seinen Gönnern an Wieland nach Weimar gewiesen sah; und hier nicht
bloß häusliches Glück, sondern auch die günstigsten Verhältnisse für lite-
rarisches Wirken fand, sich zueignete und benutzte. Jedermann weiß, daß
er der neuen Lehre vornehmster Apostel wurde; die näheren Umstände
lernt man aus dem vorliegenden Buche kennen. Ungefähr der vierte Teil
desselben ist ein Denkmal, vom Sohne dem Vater gesetzt; darauf folgen
Briefe an Reinhold, welche nur zu oft Reinholds Briefe vermissen
lassen. Auch so noch erblickt man Reinhold im Mittelpunkte des red-
lichsten, des seltensten Bemühens, Eintracht nnter den Philosophen zu stiften,
wodurch die Philosophie eine bis dahin ungekannte Wirksamkeit würde
gewonnen haben. Wirklich gewann sie öffentliches Vertrauen, ja Be-
geisterung, in einem größeren Kreise, als wohl jemals zuvor und anderswo.
Aber wie in den ersten beiden Akten eines Trauerspiels, sieht man auch
mitten im Glücke, aus überspannten Hoffnungen und Ansprüchen, aus
den abweichenden Richtungen des Strebens und Meinens solche Übel
entstehen, die einen notwendigen Verfall schon ahnen lassen würden,
wenn man auch die Entwicklung noch nicht wüßte. Die Spekulation,
welche stets vom Selbstbewußtsein und vom Ich redete, kannte gleich-
wohl sich selbst nicht. Sie war in jeder Hinsicht viel zu unreif, um auf
die Länge einem größeren Publikum genießbar zu bleiben; und die besten
Köpfe strebten zu früh nach außen, lebten zu wenig in sich selbst, um
sie zur Reife zu bringen. Man glitt allmählich zurück in einen alten
Dogmatismus; Spinoza wurde mächtig; vom kritischen Geiste Kants blieb
nicht viel mehr als der Buchstabe.
Die Lebensbeschreibung Reinholds gereicht der Darstellungsgabe
des Verfs. zur Ehre. Dem Werte derselben scheint uns jedoch ein Um-
stand, der an sich natürlich genug ist, Eintrag getan zu haben. Der
Sohn hatte nicht die glänzende Periode der Wirksamkeit seines Vaters
aus eigenem Anschauen kennen gelernt; er sah das Hauptwerk, die Theorie
des Vorstellungsvermögens, schon veraltet, als er sie lesen konnte; dagegen
wirkte auf ihn der Vater, als dessen spätere Schriften schon keinen Ein-
gang in der gelehrten Welt mehr fanden. Hieraus glauben wir uns er-
klären zu müssen, daß die Lebensbeschreibung (S. 57) an jenem Haupt-
werke beinahe scheu vorübergeht, anstatt daß historisch die große Wichtig-
E. Reinhold: K. L. Reinholds Leben und literarisches Wirken. 515
keit desselben für die Zeit seiner Erscheinung eine ausführliche Dar-
stellung verdient hätte. Die kurze, nachholende Übersicht, S. 87 usw.,
gewährt dafür keinen Ersatz; ebensowenig, als Reinholu durch spätere
Berichtigung den Einfluß, welchen sein Buch einmal erlangt hatte, auf-
heben konnte; dazu wäre wenigstens eine ungleich größere Energie des
spekulativen Aufschwunges nötig gewesen, als man von einem Philosophen,
der sein System ändert, hintennach erwarten darf, nachdem die besten
Kräfte erschöpft sind. Zwar bezeichnet der Verf. die im Jahre 18 12 er-
schienene Synonymik für den allgemeinen Sprachgebrauch in den philosophischen
Wissenschaften als das Hauptwerk; allein nach den davon gegebenen Proben
können wir der dadurch ausgedrückten Meinung nicht beitreten. Und
auch hiervon abgesehen, so führt schon die Auswahl der mitgeteilten
Briefe zu dem Wunsche, der Verf. möchte die Periode der größten öffent-
lichen Wirksamkeit Reinholds in ein helleres Licht gestellt haben. Die
Briefe fallen nämlich meistenteils in diese Periode. Die von Kant gehen
von 1787 — 1795. Die weit interessanteren von Fichte, 15 an der Zahl,
sind von den Jahren 1793 — 1800. Von Jacobi sind deren 22; sie um-
fassen einen etwas größeren Zeitraum 1789 — 1804. Von Bardili finden
wir 18 Briefe; sie fallen zwischen 1802 und 1806. Von Thorild 7;
zwischen 1800 und 1802. Die Briefe von verschiedenen (Abicht,
Heydenreich, Garve, Fülleborn, Nicolai, Platner, B arthold y,
Salomo Maimon, Feder, Fernow, Lavater und Villers) versetzen
uns meistens wieder ans Ende des vorigen Jahrhunderts. Warum von
1806 — 1823 keine Briefe mitteilbar gefunden worden, dürfen wir nun
zwar nicht fragen. Aber den vorhandenen, die offenbar der glänzenden
Periode R.s angehören, fehlt der eigentliche Beziehungspunkt, weil die
Theorie des Vorstellungs Vermögens, und was ihr zunächst in der philo-
sophischen Welt folgte, dem Leser bekannt sein muß, um die Briefe zu
verstehen ; und doch jetzt gewiß selbst denen, die noch Reinholds lite-
rarische Blüte gekannt haben, die Erinnerung daran dunkel geworden ist.
Rez. behält sich vor, anderwärts über Metaphysik als historische
Tatsache, und bei der Gelegenheit auch über Reinholds Theorie des
Vorstellungsvermögens, zu sprechen. Hier können wir uns begnügen, einem
• Fingerzeige Fichtes nachzugehen. Fichte nennt nämlich (S. 167) die
Schrift über das Fundament des philosophischen Wissens das Meisterstück
unter Reinholds Meisterstücken. Schlagen wir nun das Buch auf, so
finden wir im Vordergrunde nicht sowohl das spekulative Interesse, als
das moralische, in edler Aufregung begriffen. ,,Der menschliche Geist
. (sagt Reinhold) kann sich nach seinen eigenen Gesetzen nur insofern
regieren, als er über diese Gesetze mit sich selbst einig ist. Wie lange
nun die sehr kleine Zahl der Selbstdenker noch unter sich uneinig sein
wird über die letzten Gründe unserer Pflichten und Rechte in diesem,
und unserer Erwartung vom zukünftigen Leben, solange muß der Mensch
unmündig bleiben unter der Vormundschaft der Naturnotwendigkeit, die
ihm in dem Verhältnisse drückender wird, als er seine Kräfte mehr fühlen
lernt." Schon diese wenigen Worte charakterisieren nicht bloß Reinholds
sondern auch Fichtes nachmaliges Streben, wie es besonders in dessen
System der Sittenlehre hervortritt. Aber nicht bloß im Sittlichen, sondern
e() J. F. Herbarts Rezensionen.
auch in Ansehung der wissenschaftlichen Form, erhielt Fichte seine
Richtung zunächst durch Reinhold, Dieser war es, der zuerst behauptete,
„es fehlt der Logik, der Metaphysik, der Moral, dem Naturrechte, der
natürlichen Theologie, selbst der Kritik der reinen Vernunft und allen
empirisch -philosophischen Wissenschaften an feststehenden, anerkannten,
allgemeingeltenden Fundamenten, und mu/J und 7vtr(/ ihnen so lange daran
fehlen, als es an einer Elementarphilosophie, d. h. an einer Wissenschaft
der gemeinschaftlichen Prinzipien aller besonderen philosophischen Wissen-
schaften fehlt; — an einer solchen Wissenschaft, worin das, was die
übrigen bei ihrer Grundlegung voraussetzen, durchgängig bestimmt auf-
gestellt wird. Die Entdeckung und Anerkennung dieses Fundaments,
geschehe sie über kurz oder lang, ist Revolution im eigentlichsten Ver-
stände ; denn durch sie wird das kurz vorher Unbedeutendste, Streitigste,
Verkannteste unter den Philosophen — zum Unentbehrlichsten, Aus-
gemachtesten, Bekanntesten in der Philosophie werden müssen.'' So fort-
redend entzündete Reinhold einen Enthusiasmus, den er späterhin, als
derselbe in Fichte und Schelling neu aufflammte, nicht mehr lenken
konnte. Die Zügel der Revolutionen bleiben niemals in den Händen der
Stifter. — Aber wo blieb denn die alte Einteilung der Philosophie in
Logik, Physik, Ethik, welche noch Kant, in den ersten Worten der
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, als vollkommen der Sache an-
gemessen anerkannt hatte (wie es wirklich zu allen Zeiten sein und bleiben
wird)? Die Antwort ist: Kant selbst, mit seiner idealistischen Geistesrichtung,
hatte dazu Anlaß gegeben, daß sie hintangesetzt wurde. Nach ihm sollte
die Kritik der praktischen Vernunft, und die Kritik der theoretischen, in
einem gemeinschaftlichen Prinzipe Einheit besitzen, „weil es doch am
Ende nur eine imd dieselbe Vernunft sein könne, die sich nur in ihren
Anwendungen unterscheide." Nichts Neues also war es, als späterhin
Reinhold von Fichte gelobt wurde, er habe sich das unsterbliche Ver-
dienst erworben, aufmerksam zu machen auf die Notwendigkeit, daß die
gesamte Philosophie auf einen einzigen Grundsatz zurückgeführt werden
müsse, und daß man das System der dauernden Handlungsweisen des
menschlichen Geistes nicht eher auffinden werde, bis man den Schluß-
stein desselben aufgefunden habe (S. i66 des angezeigten Briefes). Freilich
suchte man seitdem nach dem eingebildeten Schlußsteine, wie nach dem
Steine der Weisen; und die Philosophie ist in der Tat sattsam zuriick-
geführt worden, indem man sie nach dem falschen Ideal einer unmöglichen
Einheit bearbeitete. Der Ursprung des Übels war das eingebildete Seelen-
vermögen, Vernunft genannt, welches zugleich theoretisch und praktisch
sein sollte; die Folgen des Irrtums zeigten sich in Fichtes Sittenlehre,
welches Buch zwar von Schleiermacher (man sehe dessen Kritik der
Sittenlehre S. '^'j') mit dem vollständigsten Rechte, der Verzvechsehu/o des
Seins mit dem Sollen ist beschuldigt worden; aber so, daß der Beschuldiger
gerade denselben Fehler, den er an anderen rügt, an seiner davon
gänzlich durchdrungenen Arbeit nicht sehen kann. Das, und weit mehr
noch, waren die bedauernswerten Folgen der Übereilung, womit Reinhold,
voll der edelsten Absichten, den einen, einzigen Grundsatz der Philo-
sophie als das Heil der Wissenschaften und der Welt anpries, in der
E. Reinhold: K. L. Reinholds Leben und literarisches Wirken. cy
Voraussetzung, die Wahrheit der Kantischen Lehre sei schon so rein und
so vollständig, daß man nur noch nötig habe, sie zu ordnen, um sie all-
gemein begreiflich und geltend zu machen. „Die philosophierende Ver-
nunft (sagt Reinhold in der genannten Abhandlung S. 55) schien in
einem gänzlichen Stillstande begriffen, als sie durch einen Mann, der
Leibnizs systematischen mit Humes skeptischem Geiste, Lockes gesunde
Urteilskraft mit Newtons schöpferischem Genie in sich vereinigt, Fort-
schritte tat, dergleichen sie bisher noch durch keinen einzelnen Denker getan
hat. Kant entdeckte ein neues Fundament des philosophischen Wissens.
Den Charakter desselben, die Utiveränderlichkeit, leitete er weder mit Locke
aus dem unmittelbar aus der Erfahrung Geschöpften, dem Einfachen, noch
mit Leibniz aus den angeboreiien Vorstellungen ab, sondern aus der im
Gemüte vor aller Erfahrung bestimmten Möglichkeit der Erfahning. Die
Vernunftkritik untergräbt Skeptizismus, Empirismus, Rationalismus; dennoch
vi'ürden Hume, Locke, Leibniz ihr Wahres im kritischen Systeme wieder-
finden. — Allein es ist nicht zu leugnen, daß Kants Fundament nur
einen Teil des philosophischen Wissens, nämlich die Metaphysik, be-
gründet." (In der Tat ein rühmliches Zeugnis; daß nämlich Kant noch
entfernt davon war, das Sein mit dem Sollen aus einerlei Elementar-
philosophie zu deduzieren, welches schlechthin unmöglich ist, so oft auch
Reinholds Nachfolger es versuchten.) „Der Grundsatz der Metaphysik
heißt: jedem erkennbaren Gegenstande kommen die formalen, im Erkenntnis-
vermögen bestimmten, und die maierialen, in dem durch Eindruck ge-
gebenen Stoffe bestehenden Bedingungen der Erfahrung zu." (Welcher
Grundsatz doppelt falsch ist , denn es gibt ebensowenig vorbestimmte
Formen im Erkenntnisvermögen, als eigentliche Eindrücke und wahrhaft
von außen kommenden Stoff.) „Dieser, an der Spitze der Metaphysik
stehende, alle Erweislichkeit derselben begründende Satz nun ist in der-
selbefi und durch sie, wie es bei jedem ersten Grundsatze sein muß, un-
enveislich. Die Vernunftkritik, als Propädeutik, hat den Sinn desselben
begründet; aber sie selbst, diese Propädeutik, muß zur Wissenschaft des
Erkenntnisvermögens erhoben werden; und vorhergehen muß ihr die
Wissenschaft der im Gemüte bestimmten Form des Vorstellens, von der
•sowohl die Form des Erkennens, als des Begehrens abhängt." So klebte
Reinhold an Kants Notbehelfen , und glaubte dennoch den letzten
Schritt zum eigentlichen Fundamente der Philosophie zu tun. Die Formen
der Erfahrung hatte Kant gegen Hume verteidigen wollen; er hatte ge-
sehen, daß sie in der Empfindung nicht liegen, daß sie sich gleichwohl
in der Erfahrung, als deren notwendige Bestimmungen, erzeugen; aber
den Prozeß dieser Erzeugung kannte damals keine Psychologie; daher
schrieb Kant diese Formen dem Erkenntnisvermögen als dessen ur-
sprüngliche Einrichtung zu. Statt nun zu bemerken, daß die bestimmten
Gestaltungen der einzelnen Dinge, welche eigentlich das Problem aus-
machen, hierbei völlig unerklärbar werden, legte Reinhold den Notbehelf
angenommener Einrichtungen, die ein für allemal im Erkenntnisvermögen
sein und liegen sollten (während vielmehr jede einzelne Wahrnehmung
in einen besonders für sie sich erzeugende^i Mechanismus eingeht), einer
logischen Abstraktion zum Grunde. Vorstellen überhaupt ist ein höherer
5 8 J- F- Herharts Rezensionen.
Gattungsbegriff als Erkennen und Begehren; darum, meinte Reinhold,
müßte es auch erst ein Vermögen des Vorstellens und eine Theorie des-
selben geben, ehe man zu den Theorien des Erkennens und Begehrens
gelangen könne.
Hier kann das eintreten, was Hr. Prof. Reinhold der Jüngere von
jener Lehre seines Vaters anführt. „Das Erkennen, nahm er an, sei mit
dem Wollen gemeinschaftlich unter dem allgemeineren Begriff des Vor-
stellens als Art unter der Gattung enthalten. Die Gattungsmerkmale
müßten aber zuvor mit Deutlichkeit von uns gedacht sein, ehe die Merk-
male der Art, nämlich des Erkenntnisvermögens in seinen drei Richtungen,
als Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft, mit hinlänglicher Sicherheit und Ge-
nauigkeit von uns festgestellt werden könnten. — Nun kündige sich die
Beschaffenheit der bloßen Vorstellung in dem Bewußtsein an, wie das-
selbe in einem jeden Menschen, als die allgemeinste Tatsache des inneren
Lebens, vorhanden sei. Sie werde daher durch den einfachen Akt des
Reflektierens , den jeder stets in sich anstellen könne, gefunden; und
Reinhold hatte sie in folgenden Worten ausgedrückt : es wird im Beivußl-
sein die Vorstellung durch das ^ubjekt voin Subjekte und Objekte unterschieden
und auf beide bezogen. Aus diesem Satze, der so ganz durch sich selbst
verständlich (?) und so leicht verständlich (?) ist, hatte Reinhold mit
«iner überraschenden Konsequenz und Klarheit eine Reihe für seinen
Zweck wichtiger und reichhaltiger Bestimmungen entwickelt. Er hatte
aus ihm die drei höchsten Begriffe, der Vorstellung, des Subjektes und
des Objektes, zu erörtern ; ferner die Charaktere des Stoffes und der
Form der Vorstellung, der Spontaneität und der Rezeptivität des Vor-
stellungsvermögens zu definieren, kurz (ja leider viel zu kurz!) alle, die
Natur und Wirksamkeit dieses Vermögens betreffenden Lehrsätze her-
zuleiten gewußt, durch welche er die Richtigkeit der Kantischen Distinktion
zwischen dem Vonaußen - Gegebensein des Stoffes und dem Im- Gemüt-
Vorhandensein der Form des Erkennens erklärt, und hiermit die wissen-
schaftliche Basis der Philosophie olme Beinamen aufgeführt zu haben ver-
meinte."
So kurz können wir nicht einmal hier, in dieser Rezension, uns aus
der Sache ziehen; denn es soll ja von Reinholds literarischem Wirken
die Rede sein! Erinnern müssen wir daran, daß Reinhold seinen Grund-
satz durch Vergleichung dessen, was im Bewußtsein vorgehe, wollte ge-
funden haben; oder durch bloße Reflexion über die Tatsache des Be-
wußtseins. Dies achtete Reinhold für zugänglich, indem der erste
Grundsatz keiner Beweise durch Vernunft Schlüsse bedürfen, sondern etwas
an sich Gewisses aufstellen sollte; hingegen Fichte wollte sich mit Tat-
sachen nicht begnügen, vielmehr stellte er denselben eine Tathandlung
entgegen; und durch die abstrahierende Reflexion sollte nur das erkannt
werden, daß man jene als Grundlage alles Bewußtseins notwendig denken
müsse. Nun wäre es das Amt des Verfs. gewesen, erstlich zu zeigen,
wie Reinhold zu Fichtes Verfahren Anlaß durch die Weise gegeben
hatte, seinen Grundsatz anzuwenden; zweitens aber hätte er seinem Vater
einen großen Vorzug darin vindizieren können, daß dieser wenigstens bei
der ersten Aufstellung seines Satzes den Begriff eines wissenschaftlichen
E. Reinhold: K. L. Reinholds Leben und literarisches Wirken. ^g
Erkenntnisprinzips nicht verletzte, während Fichte, gleich anfangs ungestüm
hinter den Vorhang schauend, unmittelbar ein Reales setzen wollte, und
auf schlechthin unwissenschaftliche Weise das Erkenntnisprinzip durch
Anspruch an eine Bedeutung, die einem solchen durchaus nicht zukommt,
so gänzlich verdarb, daß er in seinem nachherigen Leben aus dem einmal
zugelassenen Irrtum nicht hat wieder auftauchen können; vielmehr
ScHELLiNG und wer weiß, wie viele andere, in denselben Strudel mit
hineingezogen wurden. Erinnern müssen wir ferner, daß Reinhold seinen
Grundsatz einen durch sich selbst bestimmten Satz nannte. „Die Tat-
sache des Bewußtseins läßt sich nicht weiter zergliedern, und auf keine
einfacheren Merkmale zurückführen, als welche durch ihn selbst bezeichnet
werden." Hierin zeigt sich Reinholds logische Sorgfalt zu seinem Ruhme;
aber dahinter verbarg sich ihm die Frage: wie denn nun aus seinem
Grundsatze etwas weiteres folgen möge. Er dachte sich das Folgern
lediglich unter der Form logischer Syllogismen, und achtete wenig auf die
Schwierio-keit, welche dann entstehen würde, wann nun die Untersätze
zum Obersatze würden gesucht werden ; diese, meinte er, wären schon da,
nämlich in Kants Lehre. Noch weniger fiel ihm ein, daß ganz neue
Formen der Untersuchung entstehen mußten, wenn nun die Probleme
des Selbstbewußtseins zum Vorschein kamen, auf welche Fichte stieß,
wie auf harten Stein, den man in dem fruchtbaren Boden gar nicht er-
wartet, und auf dessen Behandlung man nicht gefaßt ist. Reinhold meinte,
daß der Satz des Bewußtseins nichts als eine Tatsache ausdrücke, soweit
sie durch bloße Reflexion einleuchte: so könne er durch kein falsches
Räsonnement verkannt werden. So ungefähr wollen die neueren Physiker
nur die reinen Tatsachen in ihren Naturlehren angeben ; sie merken nicht,
daß sie diese Tatsachen gar nicht aussprechen können, ohne sogleich
metaphysische Begriffe zu bilden, die entweder wahr oder falsch sind.
Jener meinte ferner, ja er sagte ausdrücklich (S. iio der Schrift über das
Fundament des philosophischen Wissens): ,,Die Form der Wissenschaft
iiherhaupt ist in der Philosophie etwas längst Bekanntes. Man wußte längst,
daß sie im Systematischen bestehe, und folglich durch Grundsätze, die
'alle einem ersten untergeordnet sein müssen, bestimmt werden müsse." Daß
nun eine so höchst dürftige Form gar nicht darauf eingerichtet ist, neuen
Entdeckungen Raum zu geben, viel weniger selbst dahin zu leiten ; daß
vielmehr für diese Form des bloßen logischen Registrierens alles schon
vorrätig liegen muß, um hineingetragen zu werden; daß von einem Be-
dürfnisse der Spekulation nun gar nicht die Rede sein kann: auch dieses
kann Reinholden wohl nicht ganz entgangen sein; er sagt wenigstens
(a. a. O. S. 94): „die Richtigkeit der untergeordneten Merkmale wird zwar
nicht durch die Richtigkeit der obersten allein bestimmt, aber durch die
Unrichtigkeit der obersten wird jene unmöglich.'^ Also jene systematische
Form des logischen Registrierens sollte einen negativen Nutzen haben, den
Nutzen aller klaren Darstellung, wodurch Mißverständnisse verhütet
werden; einen didaktischen Vorteil sollte sie schaffen, aber zum Erfinden,
zum Erweitern der Erkenntnis, konnte sie nicht taugen. Wenn demnach
eine Erkenntnis des Realen gesucht wird in der Wissenschaft: so wird
vermutlich das allgemeinste Reale (falls nur wirklich Sinn in diesen Worten
5o J- F. Herbarts Rezensionen.
wäre!) schon in dem ersten Grundsatze liegen müssen? Wirklich scheinen
sich manche das einzubilden, weil sie von Schlüssen aus der Erscheinung
auf das zum Grunde liegende Reale keinen Begriff haben, indem aller-
dings kein logisches Herabsteigen von einem Prinzip, welches eine Er-
scheinung darstellt, zu einem Realen, als ob dasselbe ihm untergeordnet
wäre, wie Art der Gattung, möglich ist.
Hierher passen die Worte, womit Hr. Prof. R. d. J. die Meinungs-
änderung seines Vaters, als derselbe sich zu Fichte wendete, bezeichnet.
„Nunmehr aber gelangte er zu der, in der Tat das uQunov xfjevdog seiner
Theorie berichtigenden Ansicht, daß er die bloß empirisch gegebene Ta/-
sache des Bewußtseins nicht als letzten Erklärunosgrimd der transcenden-
talen Gesetze des Erkennens gebrauchen dürfe." Hatte er sie denn
anfangs auch wirklich mit der Absicht eines solchen Gebrauchs aufgestellt?
Nichts weniger! Er wollte nur die Kantische Lehre ordnen, nicht er-
weitern. Und die Kantische Lehre enthält keine Erklärungsgründe, —
das heißt, sie unternimmt gar nicht, aus Rea/grimden die Gesetze des
Erkennens zu erklären; sie will nichts wissen von der Substanz und von
der Kraft der Seele; sie will sich begnügen mit inneren Erscheinungen,
zu welchen sie Seelenvermögen nach alter Weise hinzudenkt, ohne zu
fragen, ob in diesem Hinzudenken irgend ein Sinn zu finden sei, oder nicht.
— Aber hätte denn nicht Reixhold nach letzten Erklärungsgründen der
Gesetze des Erkennens suchen sollen? Unstreitig; und wirklich hat er in
der Amvendung seinen, darauf nicht eingerichteten, zu solchem Gebrauche
nicht aufgestellten Satz des Bewußtseins späterhin so gemißbraucht, als
ob derselbe den verborgenen Mechanismus des Bewußtseins unmittelbar
anzeige. Noch später jedoch schien es ihm, daß ihn Fichte hier über-
troffen habe, und tiefer sehe, als er selbst. — Hatte denn Fichte diesen
Vorzug durch einen Satz gewonnen, der einen besseren realen Erklärungs-
grund der Gesetze des Erkennens enthielt, als der Reinholdische Satz des
Bewußtseins? Nichts weniger! Das Fichtesche Ich ist von der Wahrheit des
Realen womöglich noch weiter entfernt! und wir müssen sehr zweifeln, ob
Reinhold bei der Art, ivie er von Fcihte zu lernen, wie er sich ihm an-
zuschließen suchte, auch nur das geringste gewonnen habe. Der große
Hauptirrtum blieb; dieser nämlich, daß, der systematischen Form zu gefallen,
— oder vielmehr aus völliger Befangenheit in den Ansichten des damals
herrschenden Idealismus, — die ganze Philosophie ein einziges Fundament
haben, und daß dieses Fundament ein Grundsatz sein müsse. Das wirkliche
Fundament der Philosophie ist aber alles, was zur Untersuchung vorliegt:
es ist mannigfaltig, wo immer dieses Vorliegende sich als ein gegenseitig
unabhängiges Mancherlei darstellt; es ist eine Summe von Erkenntnis-
prinzipien, und diese Summe ist so groß, als wievielmal die Notwendig-
keit eintritt, zu den Erscheinungen, die sich nicht für sich allein denken
lassen, das Reale, das ihnen zum Grunde liegen muß, hinzuzudenken. Hin-
gegen die Einbildung von einem Grundsatze, und von der Aufgabe, ver-
mittelst seiner das Universum zu umspannen, hat unsäglich geschadet;
denn aus ihr sind die Künsteleien hervorgegangen, wodurch die Philo-
sophie widerlich wurde; und die wahren Untersuchungen konnten um
desto leichter von diesem Unkraute erstickt werden, weil weder Reinhold,
E. Reinliold : K. L. Reinholds Leben und literarisches Wirken. 6l
noch Fichte Mathematiker waren, und durch ihr übles Beispiel Mathe-
matik und Philosophie, welche schon Kant nicht genug verband, vollends
durch Mangel an Übung und durch ganz falsche Ansichten getrennt
wurden.
Von den Umwandelungen, welche Reinholds Ansichten im Laufe
der Zeit erfuhren, haben wir nach Anleitung des Verfs. nun noch folgendes
zu berichten. Er fand, das reine Ich der Wissen Schaftslehre sei nicht
das auf ein Objekt sich beziehende bloße Subjekt des natürlichen Be-
wußtseins, sondern die ursprüngliche, allem anderen in uns zum Grunde
liegende Tätigkeit, welche die Vernunftkritik für das Wesen der reinen
Vernunft fordere; und eben darum sei die Idee dieses Ich die einzige,
welche den Grund ihrer Verständlichkeit und Gültigkeit in sich selbst
enthalte. Aber jetzt, nachdem die von ihm lange gesuchte Grundlage
des transcendentalen Idealismus durch Fichte zu stände gebracht schien,
gewann er Muße, um die wichtigsten philosophischen Fragen mit den er-
haltenen Antworten zu vergleichen; er empfand die Unzulänglichkeit des
Fichteschen Systems in Ansehung der Religion. Noch eine Zeitlang be-
fangen in Kants Lehre, nahm er einen unvermeidlichen Gegensatz an
zwischen Spekulation und Gewissen; so jedoch, daß beides nebeneinander
bestehe. Er stellte sich demnach vermittelnd zwischen Fichle und
Jacobi, und betrachtete deren Lehren als sich gegenseitig ergänzend.
Allein es bedurfte nur der Aussicht auf die Möglichkeit, die Vernunft-
forschung über die Subjektivität des menschlichen Erkennens zu erheben,
und durch sie ein objektives Wissen von Gott hervorzubringen, um ihn
zum Zweifel an der Gültigkeit der Kantischen Bestimmungen zu bewegen.
„Hier sehen wir den einzigen eigentlichen Wendepunkt in dem Gange
seines Forschens, da er von der Vorstellung, daß nur die Beschaffenheit
und Gesetzmäßigkeit der Funktionen unserer Intelligenz Gegenstand der
Erkenntnis sei, überging zu der entgegengesetzten: die Charaktere des
objektiven Seins alles dessen, was unabhängig von der menschlichen
Intelligenz wirklich ist, seien die Gegenstände dieser Erkenntnis." Die
ersten Andeutungen hiervon fand er in Bardilis Logik. Nun entstanden
ihm folgende Hauptgedanken: die Vernunft, wie sie an sich selbst ist,
muß von der im menschlichen Bewußtsein hervortretenden Vernunft unter-
schieden werden. Die Vernunft an sich selbst ist die Manifestation
Gottes, das Prinzip alles Seins und Erkennens. Sie äußert sich in unserem
Bewußtsein, wo ihre Äußerung durch das sinnliche Vorstellen bedingt ist,
und mit demselben unzertrennUch verbunden den Charakter unseres
menschlichen Denkens annimmt, zunächst durch unsere Zurückführung
des Vielen auf die quantitative Einheit, der Folgen auf die Gründe, der
Wirkungen auf die Ursachen, der Handlungen auf die Absichten; durch
Anerkennung des Gedachtseins, des Berechneten, der Zweckmäßigkeit
im Weltall; ferner aber durch Zurückführung der quantitativen Einheit
auf die absolute Einheit, der Gründe auf den Urgrund, der Ursachen
auf das Urwesen, der Zwecke auf den Endzweck, kurz, durch Zurück-
führung des Weltalls auf das Eine, in welchem und durch welches
alles berechnet, begründet, beabsichtigt und bewirkt ist. Indem der Philo-
soph sich der Vernunfttätigkeit, ungeachtet sie im Menschen nur in der
62 J. F- Herbarts Rezensionen.
Verbindung mit dem sinnlichen Vorstellen hervortritt, dennoch als der ab-
soluten, als des göttlichen Denkens, bewußt wird: so wird er in ihr sich
auch des, durch dieses Denken bestimmten Seins alles Realen bewußt.
So ergibt sich denn für ihn die Aufgabe, die Charaktere des Seins in
ihrem Unterschiede und Zusammenhange in der philosophischen Analysis
der Vernunftideen zu entwickeln. — Die Vernunftideen stellen ein ab-
solutes, teils Allgemeines, teils Einziges dar, welches ein Reales, unab-
hängig von unserem Erkennen Wirkliches, aber für unsere Vernunft, eben
weil sie Vernunft ist, schlechterdings Erkennbares, mithin Real-Ideales ist.
Nun aber ist das deutliche Vernehmen des beharrlichen Seins in den Ver-
nunftideen nicht eigen dem bloßen gemeinen gesunden Verstände, oder
dem entfalteten natürlichen Bewußtsein, solange dasselbe noch nicht zum
Philosophieren — (? oder zum Schwärmen?) sich erhoben hat. Von
diesem Bewußtsein werden die Charaktere und Verhältnisse des schlechthin
Allgemeinen und Einzigen ;///;- in Gefühlen und Ahnungen vernommen.
Sie stellen sich, auf diese Weise vernommen, nu?- in negativen Begriffen
dar, nämlich in bloßen Negationen des Endlichen und Beschränkten,
welches den Objekten des empirischen Erkennens als positiver Charakter
(Beschränktheit als positiver Charakter^) zukommt.
Wenn nun Reinholds Gegner fragen, wie weit er wohl noch davon
entfernt gewesen sei, in den neueren Spinozismus zu verfallen — (der
bekanntlich vom Real-Idealen viel zu reden hatj: so werden wir uns über
die Frage nicht wundern; allein wir bedauern aufrichtig, daß sich hier
eine Verwirrung der Begriffe ankündigt, welche um nichts besser zu sein
scheint, als in Fichtes späteren Schriften. Die Philosophen waren müde
geworden, und die Müdigkeit zeigt sich bei mehreren in ähnlichen Sym-
ptomen. Das ist menschliches Schicksal. Aber man muß nur nicht glauben,
daß die Philosophie selbst müde werde. Sie behält offene Augen für
alles, was zu sehen ist, während der einzelne Mann in späteren Jahren
sein Interesse, und hiermit seinen Gesichtskreis, auf dasjenige beschränkt,
was ihm lieb ist zu sehen, und was mit den früheren Jugendeindrücken
am besten zusammenstimmt. — Die Unzulänglichkeit des Fichteschen
Systems in Ansehung der Religion leugnet heutigestages niemand; aber
darin liegt nichts Besonderes, denn die nämliche Lehre war ebenso un-
zulänglich in Ansehung der Natur, und zwar ganz begreiflich deswegen,
weil sie ein neuer, noch unreifer Versuch war, dessen Wert und Ver-
dienst nicht in neuen Aufschlüssen, sondern im Aufstellen der bis dahin
wenig gekannten Probleme der inneren Erfahrung besteht. Fichte ist
für unsere Zeit^ was Heraldit für das Altertum rrar. — Daß Reinhold
sich zwischen Jacobi und Fichte in der Mitte befand, und von beiden
zugleich starke Eindrücke empfing, war ein Schicksal seines Lebens, wie
seines Zeitalters; aber nicht ein Schicksal für die Wissenschaft, die wohl
niemals wird anzeigen können, daß ihr Jacobi irgend einen wesentlichen
Dienst geleistet hätte. Jacobis Verdienst liegt anderwärts. Er hat das
Gefühl geschützt und geheilt, als es verletzt zu werden Gefahr lief, und
zum Teil wirklich verletzt wurde durch die gymnastischen Übungen einer
noch jugendlichen und deshalb unbehutsamen Spekulation, die allerdings
weit vorsichtiger in ihren Äußerungen hätte sein sollen. Wenn Reinhold
E. Reinhold: K. L. Reinholds Leben und literarisches Wirken. 63
sich von Kant losriß, so war damit noch nicht nötig, daß er zu Bardili
überging; und da dies gleichwohl geschah, so werden wir immer das Er-
löschen des kritischen Geistes, den Kant in ihm angefacht hatte, be-
dauern müssen. Es ist nicht einerlei, wie, auf welche Weise, aus welchen
Gründen, man sich von dem großen Kritiker trennt, dessen schwache
Seite erst da anfing, wo seine Kritik aufhörte. Was Reinhold redete
von einer Vernunft, wie sie an sich selbst ist, verschieden von der im
menschlichen Bewußtsein hervortretenden, das mußte ihn sogleich zu der
Frage veranlassen: luie fange ich es an, von dieser Vernunft etwas zu
wissen? Mit welcher Notwendigkeit denke ich sie, die nicht im Bewußt-
sein erscheint, zu den Tatsachen des Bewußtseins hinzu? Ist es eine
subjektive, aus den Bedürfnissen meiner jetzigen Gefühle entspringende,
von irgend einer unbefriedigten Sehnsucht vorgespiegelte Notwendigkeit?
Oder hat sie objektive Gründe? Und können diese Gründe vor einem
Kritiker, wie Kant, bestehen? — Diese Fragen bekamen desto mehr
Gewicht, als Reinhold bemerkte, daß jene Vernunft, wie sie an sich ist,
denn doch sich äußern, demnach allerdings im Bewußtsein hervortreten
sollte; ja gar in einer seltsamen und zu ihr wenig passenden Ver-
bindung mit einem Mancherlei, das ihr, als ein gemeiner Stoff ihrer Tätig-
keit, viel reiner oreo-enüberstehen, sich von ihr viel bestimmter absondern
lassen sollte, als dies in irgend eines Menschen Bewußtsein möglich ist.
Daß Reinhold, ungeachtet des Hervortretens in Verbindung mit dem
sinnlichen Vorstellen, dennoch den Philosophen sich der Vernunft, als des
göttlichen Denkens, bewußt werden ließ, zeigt ein absichtliches Nicht -Be-
achten der Gegengründe, die seine Ansicht widerlegten; eine Nicht- Achtung,
die er in früheren kräftigeren Jahren sicherlich keinem seiner Gegner
ungerügt hätte hingehen lassen. Offenbar war diese eingebildete Ver-
nunft nichts als eine psychologische Erschleichung. Sie wurde hinzugedacht
zu den Meinungen, welche Reinhold eben jetzt für vernünftig hielt, weil
er sich auf seinem früheren Standpunkte nicht länger halten konnte. Man
sagt von den Ärzten, daß sie die Speisen für gesund erklären, die sie
gern essen. So machen es die verschiedenen Schulen mit dem, was jede
vernünftig nennt, und darnach richten sich die eingebildeten Erkenntnisse,
deren Gegenstand die Vernunft sein soll. Eine Vernunftidee nun vollends,
die ein Absolutes teils als ein Allgemeines und teils als ein Einziges dar-
stellen sollte, hätte Reinhold füglich den spinozistisch-platonisierenden
Schulen überlassen können.
Ungeachtet dieser Bemerkungen wird uns Reinholds Andenken stets
teuer und ehrenwert bleiben. Über die angehängten Briefe glaubt Rez.
nichts sagen zu dürfen, denn sie waren nicht zur öffentlichen Ausstellung
bestimmt; es sei genug, sie dem stillen Nachdenken zu empfehlen, und
die Mitteilung derselben dem Hrn. Prof. R. zu verdanken. Solche Doku-
mente bleiben immer schätzbar, gesetzt auch, daß die heutige Zeit wenig
Wert darauf legte. Eine andere Zeit wird kommen, zu ernten, wo früher
gesät wurde.
^4 !• F. Herbarts Rezensionen.
Fichte, J. H., Sätze zur Vorschule der Theologie. - Stuttgart
und Tübingen in der Cotta'schen Buchhandlung, 1826. LV und
239 S. 8. (I Thlr.)
Gedruckt in: Jenaer Literatur-Zeitung 1828, Nr. 185. SW. XIII, S. 534.
Der Verf. beginnt mit Besorgnissen, denen wir nicht widersprechen
können. Seine Ansicht möge vielfach dem Gewohnten und Geltenden
entgegenstehen; daher werde man ihm die Hingebung versagen, die jeder
Schriftsteller sich wenigstens vorläufig wünschen müsse. Solches Müssen
bezweifeln wir für alle die Fälle, wo der Bedingung nicht Genüge geleistet
wird, welche der Schriftsteller erfüllen muß, um sich jenen Wunsch auch
nur erlauben zu dürfen ; nämlich Hingebung an Bekanntes und Zugestandenes,
von wo man gemeinschaftlich ausgelien kö?ine. Dieser Bedingung sucht der
Verf. schon in den ersten Zeilen zu entschlüpfen, indem er versichert,
der Inhalt seiner Blätter sei wesentlich nur das, worüber die wahrhafte
Spekulation zu allen Zeiten mit sich einig geivesen ; welche Behauptung verrät,
daß er selbst sich die Entscheidung vorbehalte, wie und wodurch wahre
von falscher Spekulation solle unterschieden werden. Wir vcisagen ihm
nun sogleich die verlangte Hingebung, indem wir lesen: „die vi^hxe produktive
Methode abstrahiere ursprÜ7iglich von allem Gegebenen und Gegenständlichen;
sie suche vielmehr aus sich selbst, durch i-eines Denken ihren Gegenstand
zu crzeuoe?i, und aus innerer Notrve7idis:keit weiter zu bestimmen, indem
Widersprüche auf Ergänzungen führen, solange, bis die weitertreibejiden
Widersprüche in sich versöhnt seien. Hierin zeige sie sich als erschöpfte
Analyse der ursprünglichen Synithesis, die im Begriffe liege, und es komme
in ihr die Notwendigkeit des Betrachteten zum Bewußtsein, während alles
andere Wissen, vom Faktum und von der Gelegenheit ausgehend, auch
nur in dieser Weise der Betrachtung stehen bleibe. Das Denken aber
setze voraus, daß die Notwendigkeit desselben unmittelbar die des Seins
oder der Realität sei; oder, daß Sein und Denken in der Wurzel Eins
sei. Was nun sonst überall Voraussetzung bleibe (z. B. in der Mathe-
matik und in der Kunst), davon müsse dennoch die Philosophie den
Beweis führen; sie müsse jene ursprüngliche Einheit, worauf das Wissen
beruhe, selbst wiederum auflösen und denkend entstehen lassen; und
zwar durch eine erschöpfende Theorie des Bewußtseins. Die gegenwärtige
Abhandlung aber solle keineswegs die theoretische Philosophie im all-
gemeinen, sondern nur einen bestimmten Teil derselben darstellen; daher
behalte alles, was sich auf ihren Anfang beziehe, den Charakter bloßer
Voraussetzung!" Ein schlimmer Umstand für das Buch, das vor uns liegt!
Indessen will der Verf. statt des fehlenden positiven Beweises einen
negativen versuchen, indem er zeige, daß Reflexion^ konsequejit durchgeführt,
sich selbst vernichte.^ und in ihr eignes Gegenteil "oenvandle. Darin finden
wir nun keinen Ersatz; vielmehr zeigen uns die obigen Äußerungen über
Methode soviel Nachgeahmtes und nicht Verbessertes, worin der Sohn dem
Vater folgte, daß wir, überhaupt wenig begierig auf des Verfs. vermeintlich
methodisches Verfahren, uns sogleich in dem Buche etwas weiter um-
sehen, um die Gesinnungen und den Gedankenkreis kennen zu lernen,
J. H. Fichte: Sätze zur Vorschule der Theologie. 65
dem es weit mehr, als irgend einer Methode, das Dasein verdankt. In
den jetzigen polemischen Zeiten ?iun pflegt sich ein Schriftsteller selbst am
kürzesten durch die Vorwürfe zu bezeichnen, die er andern tnacht. So auch
unser Verf. Er sieht im Geiste gewisse Kritiker auf sich eindringen mit
dem Vorwurfe: daß Gott ihm offenbar nur die Weltseele sei; und was
sie dann noch für leidige Konsequenzen daraus zu ziehen wissen. Diese
fragt er, ob denn nicht auch ihnen Gott die Urseele der Welt sei? Ja, er
schöpft Verdacht, sie hätten weniger Gottes Ruhm und Ehre, als das
Ansehen ihrer eigenen toten und abstrakten Begriffe im Auge; wenigstens
(fährt er fort) wissen sie wenig Besseres darüber vorzutragen, vielmehr
halten sie dergleichen Fragen und Untersuchungen soviel als möglich von
sich ab, indem sie wohl ahnen, wie gerade hieran die ganze wissenschaft-
liche Ansicht sich entscheide. ,,Ist der Glaube ein wahrhafter und lebendig
überwältigender, meint ihr dann, daß er von so geringfügiger Bedeutung
sei, gleichsam mit einem so engen Platze in euerem Geiste sich begnügen
werde, um nicht, wenn ihr wissenschaftlich zu erkennen strebt, diese Er-
kenntnis selbst belebend durchdringen und nach sich umgestalten zu
müssen?" Wo nun Rez. eine solche starke Rede vernimmt, da verlangt
er nicht viel mehr von der Methode der Untersuchung zu hören. Für
methodisches Denken muß der Geist still tind ruhig sein; das Feuer einer
theologischen Polemik pflegt sich schlecht damit zu vertragen.
Die Lehre, welche der Verf. vorträgt, ist so wenig neu, daß wir, um
darüber zu berichten, keinen weitläufigen Auszug davon zu geben nötig
haben; einige Proben von dem, worin der Verf. seine eigene und besondere
Meinung darzustellen sucht, können genügen. „Was wir als die einzige
Realität nachgewiesen haben, ist die Einheit der Mannigfaltigkeit, samt der
ganzen Synthesis , die daraus entwickelt worden. Wissen und Erkennen
ist das Schauen der Realität: daher vermag es auch die von allen end-
lichen Relationen befreite unbedingte Realität zu denken. Gott aber
kann sich nicht als leidendes Objekt zum Erkennen verhalten, sondern
nur insofern ist ein Bewußtsein desselben möglich, als er selbst sich dem-
selben offenbart. Weil Gott den Menschen theojnorphisierte, darum muß der
Mensch im Erkennen ihn anthropomorphisieren. Die Idee des Geschöpfes
in Gott ist eine bestimmte; so ist auch das Geschöpf ein durchaus
individuelles; weit entfernt daher, daß die Individualität das Nichtige,
Vergängliche der Kreatur sein sollte, wie dies eine im Tode mechanischer
Vorstellungen erstarrte Philosophie wähnt, ist gerade die Individualität das
von Gott, dem Schöpfer und Liebhaber eigentümlichen Lebens, Bejahte
und Bestätigte. Das Geschöpf ist ein Ansich; sonst wäre es konkretes
Dasein; aber an dieser Bestimmtheit hat es ebensosehr seine Schranke,
seine Relation gegen das unendlich Andere. — Frei ist dasjenige zu nennen,
welches, was es ist, aus sich selbst ist ; dessen Bestimmungen schlechthin
nur aus dem eigenen Wesen stammen. Daher ist das Geschöpf nur in-
sofern als wirkliches Geschöpf, oder als objektives Dasein außer dem
göttlichen Wesen begriffen, wiefern es zugleich als freies gedacht werden
kann. Nur in freien Geschöpfen vermag Gott eigentlich objektiv zu
werden. Die einzige Schwierigkeit könnte liegen in der Frage, wie die
Freiheit zum Bösen damit auszugleichen sei, und ob wir behaupten wollen,
Herbarts Werke. XIII. 5
66 J- ^- Herbarts Rezensionen.
daß auch im Bösen Gottes Kraft wirksam werde, wie allerdings aus der
Konsequenz der Theorie zu folgen scheint. Es ist das ursprüngliche
Verhältnis der Kreatur zu Gott, daß sie selbständig und mit Eigenheit
begabt, dennoch Eins bleibe mit ihm. Dieser formale Widerspruch ist
im Sein schon dadurch gelöst, daß diese Eigenheit aus Gott stammt, und
von ihm verliehen ist. Im Bewußtsein der Kreatur aber könnte er nur
dadurch gelöst werden, daß sie als freie und selbständige sich dennoch
nur durch Gott und in Gott wüßte, d. h. nur in hingebender Liebe wäre
er gelöst. Indem aber die Kreatur ihre Freiheit begreifen soll, als
schlechthin Eins mit Gott, damit er, gleichsam ungehemmt von ihr, in
ihr sich offenbaren könne, so zerfällt dadurch notwendig das Bewußtsein
dieser Einheit in zwei entgegengesetzte Momente: die Kreatur wird sich
zunächst ihrer Eigenheit, als einer schlechthin freien, bewußt; dann bricht
die Anschauung hindurch, die Freiheit sei nur dadurch vollendet, daß sie
sich als Eins ergreife mit Gott; was nur als ein von der Freiheit Ge-
tragenes, und darum gleichsam (wieder gleichsam !) immer wieder von ihr
Zurückzunehmendes erscheinen kann. Was sonach in Gott ursprünglich
Eins ist, das unterliegt in der Kreatur einer Zertrennung in geschiedene
Momente. Im Bewußtsein der Kreatur trennt sich ihr Ansich von ihrem
ganzen Sein, eben weil dies Ansich kein wahrhaftes, sondern ein ent-
lehntes ist. (Wieviel Wahres bleibt denn nun an dem Satze: in freien
Geschöpfen werde Gott eigentlich objektiv?) Indem die Kreatur sich in
ihrer Selbstheit ergreift, ist sie noch nicht die vollendete, sie ist nicht,
was sie sein soll: ihre Freiheit ist zunächst nur noch die formale, leere;
nur Schranke, die zunächst die Kreatur von Gott nur scheiden kann,
(Wir fragen nochmals: wieviel Wahrheit ist denn nun in diesem Scheiden
und Geschiedensein? Der Verf. weiß ohne Zweifel, daß dies der Punkt
ist, auf welchen es im Streite der heutigen Parteien vorzüglich ankommt.)
Hier ergreift sich die Freiheit noch als sich -hingeben -könnend dem
Guten oder dem Gegenteil, während sie in ihrer Vollendung sich gerade
darin frei fühlen oder das Eigenste und Innerste zu offenbaren sich be-
wußt sein wird, wenn sie dem Göttlichen in ihr Genüge tut. (Was ist
denn wohl das Minder- Eigene, das Nicht-Innere oder Nicht-Innerste, mit
welchem jene Superlative im Gegensatze stehen?) V/ir werden auch an
dem, was man gewöhnlich bewußtlose Natur zu nennen pflegt, dieselbe
Grundform, wie im Kreatürlichen, nachweisen können; überall eine Wurzel
der Selbstheit, woraus das Naturwesen sich organisch entfaltet, und seinen
Lebenskreis (wenn es nämlich lebt!) erfüllt. (Freilich, wenn man sich
erlaubt, hier an der Natur, dort am Sittlichen, zu drehen und zu deuteln,
dann gibt's eine Menge spielender Analogien.) Die Kreatur ist wegen
der Zertrennung ihrer Lebensmomente einer Krisis unterworfen, die sie
selbst entscheidet; es kommt darauf an, wie sie ursprünglich ihre Freiheit
ergreift. (Dabei ist also die Freiheit ein Ding geworden, das sich greifen
läßt!) In der Vorkehrung der Freiheit liegt der Ursprung des Bösen.
Dies bleibt für die reine Spekulation ein bloß M()gliches; keineswegs als
wirklich Abzuleitendes. Bei der Frage nach der Wirklichkeit des Bösen
werden wir auf ein anderes Gebiet der Untersuchung gewiesen; den
Verlauf spekulativer Entwicklung unterbrechend, wenden wir uns zu
Fr. V. Schlegel: Die drei ersten Vorlesungen über die Philosophie des Lebens. 6?
Reflexionen über das Gegebene." Also wenn die reine Spekulation aus
ihren Träumen nicht früher erwacht: so weckt sie doch endlich das
Böse!
Das ist's, was von Anfang an vorauszusehen war. Nicht immer läßt
sich das Gegebene ignorieren. So löst sich nun für den unbefangenen
Zuschauer das Tun des Verfs. von hintenher, — oder eigentlich schon
von der Mitte her, nach vorn hin wieder auf; um das Sträuben wider die
Erfahrung (welches sogar S. 41. mit Schelling^ in den lebenden Organis-
mus die Bestimmung, ein perpetuum mobile zu sein, hineindichten will),
hatte nichts geholfen. Übrigens ist ohne Zweifel der Sohn eines berühmten
Vaters leicht zu entschuldigen, wenn er sich bemüht, in dessen Bahn zu
bleiben; und Rez. bemerkt mit Vergnügen die bekannten Züge einer sehr
ausgezeichneten Individualität, die auf immer einer großen Hochachtung
wert bleibt, obgleich sie nur durch Selbsttäuschung sich für Allgemeinheit
hielt. Talent, Gelehrsamkeit und Darstellungsgabe wird im angezeigten
Buche niemand verkennen.
1. Schlegel, Friedrich von, K. K. Legationsrath und Ritter des Christus-
Ordens, Mitglied der K. K. Akademie der bildenden Künste, Die
drei ersten Vorlesungen über die Philosophie des Lebens.
— Wien, bei Schaumburg & Comp., 1827. 92 S. (20 Gr.)
2. Schlegel, Friedrich von, Philosophie des Lebens. In fünfzehn
Vorlesungen, gehalten zu Wien im Jahre 1827. — Wien, bei dem-
selben, 1828. 482 S. (2 Thlr.)
Gedruckt in: Leipziger Literatur - Zeitung 1828, Nr. 255, 256. SW. XIII, S. 520.
Die drei ersten von diesen fünfzehn Vorlesungen wurden, laut der
Vorrede zu Nr. i, für später eingetretene Zuhörer gedruckt; sie finden
sich, soviel wir bemerkt haben, durchaus unverändert in Nr. 2 wieder;
und jetzt möchte daher Nr. i völlig überflüssig sein, wenn nicht etwa als
Probe des Ganzen.
Hr. VON Schlegel scheint auf seinen berühmten Namen gerechnet
zu haben; denn dieser muß die Vieldeutigkeit des Titels wieder gut
machen. Wer die Worte genau nimmt, der denkt beim Leben an die
ganze Tierwelt und Pflanzenwelt und könnte hier etwa eine philosophische
Ergänzung zu Treviranus Biologie erwarten. Vom Verf. dieses Buches
aber erwartet man freilich das, was im Kreise seiner Gelehrsamkeit und
seiner Meinungen liegt; und darin wird nun allerdings der Leser nicht
getäuscht, wenn er Hrn. von Schlegel schon kennt; er findet ihn als-
dann auch als denselben wieder, wie man ihn schon kennt; nicht obetflächlich
genug für das, zvas im gerneinen Sinne das Leben im Gegensatze der Schule
heißt; nicht gründlich genug für die Schule, aber sehr geneigt, in den an-
ständigsten Formen heftig gegen sie zu polemisieren. Wer mit Ansichten zu-
frieden ist, wo Untersuchungen nötig sind, und wer auf geistreiche Dar-
- *
3
68 J' ^' Herbarts Rezensionen.
Stellungen großen Wert legt, der wird hier ein für ihn interessantes Werk
finden. Um es genauer zu bezeichnen, könnte man in Versuchung geraten,
es eine poetische Psychologie zu nennen; allein dazu hat es, wie uns dünkt,
doch nicht Leben genug. Bunt gemischte Vorlesungen, deren jede ein-
zeln genommen ein buntes Auditorium unterhalten soll, berühren natürlich
gar manche poetische Elemente, aber ohne sie zu verarbeiten ; man hört
immer Vorlesungen, und deren schwerfällige, unpoetische Natur gönnt
dem Dichter keine freie Bewegung. Er bleibt in der Schule, während er
lieber außer der Schule sein möchte, wohl fühlend, daß er in ihr keinen
rechten Platz hat.
Daher läßt er sich gleich anfangs in Klagen und Vorwürfen ver-
nehmen. Die Philosophie träumt; sie ahnt gar nichts von dem, was sie
eigentlich wissen sollte. Ihre eigentliche Region ist die des geistigen
inneren Lebens zwischen Himmel und Erde: aber sie verirrt sich bald
in den Himmel, bald in die Erde. Schon die Alten fehlten auf beiden
Seiten; Platons Republik erregt nur Bedauern; den andern Alten mag
man ihre Elemente und Atomen verzeihen: aber die Menschheit ist jetzt
um drittehalbtausend Jahre älter geworden; sie soll jetzt nicht mehr ge-
fährliche Experimente machen; während freilich jugendliche Gemüter, von
großen Ideen überwältigt, sich auch heute noch eine neue Religion bilden
und alles Bestehende heute noch ändern möchten. Der Verf. will hiermit
nur aufmerksam darauf machen, wie nachteilig dies für die Philosophie
selbst sei. Sie bringt sich in üblen Ruf. Enthielte sie sich jeder Einmischung
in das Positive und Wirkliche, so könnte sie indirekt sehr heilsam wirken,
indem sie die Gegenstände in einem aligemeineren und freieren Lichte
betrachten lehrte; so würde sie von selbst manchen Nebel zerstreuen,
manchen Stein des Anstoßes wegräumen. — Recht wohl! aber wozu das
alles hier? — Damit man begreife: Gegenstand der Philosophie sei das
innere geistige Leben, und zwar in seiner ganzen Fülle; nicht bloß diese
oder jene einzelne Kraft desselben, in irgend einer einseitigen Richtung.
— Aber die zuvor gepredigte Enthaltsamkeit kann wohl die Fülle des
äußeren Lebens vermindern: dagegen vermissen wir hier jeden Gedanken
sowohl an die Tiefe der geistigen, als an den Umfang der äußeren Natur;
wir sehen vielmehr einen Gelehrten, der\ im Kreise seiner Bücher nrid Streitig-
keiten beschäftigt, seine Einseitigkeit nicht gewahr zuird, indem er spricht von
dem, was ihn beschäftigt, als ob die Philosophie selbst auch nichts anderes
zu bedenken hätte, und als ob seit jener Zeit, der jene Predigten gebührten,
gar keine Zeit mehr verlaufen sei. Wie er noch heute gegen Einmischung
in Politik warnt, so warnt er auch noch gegen Nachahmung mathematischer
Methode. Und worin besteht denn nach Hrn. von Schlegel die mathe-
matische Methode? In einem „algebraischen Formelwesen, worin sich alles,
auch das Entgegengesetzte, leicht hineinbringen und zusammengießen läßt."
Gerade umgekehrt würden wir einem Schriftsteller, in dessen Formeln sich
alles gar zu leicht hineinbringen läßt, raten, Algebra zu studieren, damit er
sich das leichtfertige Zusammengießen abgewöhne. Die Philosophie leidet
heutigestages nicht an zu viel, sondern an zu wenig Mathematik; und
wir mögen nicht verhehlen, daß gerade Hr. von Schlegel uns durch
sein vorliegendes Buch sehr lebhaft das Gefühl dieses Leidens erneuert
Fr. V. Schlegel: Die drei ersten Vorlesungen über die Philosophie des Lebens. 6q
hat. Er entschlüpft den Forderungen der Methode mit der vornehmsten
Miene von der Welt. Erstlich spottet er (mit Recht) über die Künstelei
die nur Unverständlichkeit bewirkt; dann über d\Q populäreii Darstellungen
welche dennoch unverständlich bleiben, weil das Dargestellte falsch ist
nun glaubt er sein Spiel gewonnen : Er will es anders, also besser machen
In der Philosophie des Lebens muß auch die Methode eine lebendige sein
sie darf keineswegs vernachlässigt, aber auch nicht mehr, als der Zweck
fordert, hervorgestellt werden. Und nun folgen Gleichnisse, welche den
Schein erregen sollen, die gründlichsten Untersuchungen lägen still-
schweigend da, und würden jetzt nur in Anwendung gebracht. Welches
ist denn das System, dem Hr. von Schlegel folgt? Ist es noch das
Schellingsche? Oder welche neuere Forschungen hat er benutzt? — Un-
mittelbar nach der Äußerung: es sei fast gleichgültig, von welchem Punkte
der Peripherie man in den Mittelpunkt gelange (als ob dem Philosophen
die Wege und Steige der Untersuchung so offen vorlägen wie die Radien
eines Kreises), also unmittelbar nach einem sehr offenen Geständnis der
Unwissenheit in Ansehung der Bedingungen, welche erfüllt sein wollen,
ehe von gründlicher Untersuchung die Rede sein kann, — erlaubt sich
der Verf. herbe Ausfälle auf andere. Da ist zuerst von auslöndisclier
Philosophie die Rede, auf eine Weise, als ob er niemals einen Blick in
LocKES Werke getan hätte, auch nicht wüßte, welche hohe Achtung die
Gesinnung des Mannes jedem einflößt, der es aufmerksam liest; sondern
als ob er nur französische Schriftsteller kennte. Dann ergießt sich seine
Polemik über Kant, Fichte, Schelling und Hegel; oder haben wir,
was den letzten anlangt, etwa die Stelle nicht recht gedeutet, wo es heißt:
, Jn der letzten Zeit ist die deutsche Philosophie teilweise auch wieder
ganz (?) zurückgekehrt in den leeren Raum des absoluten Denkens. Ob-
gleich nun hier dieses und der darin erfaßte absolute Vernunft- Abgott
nicht mehr bloß innerlich verstanden, sondern objektiv genommen, und
als Grundprinzip alles Seins aufgestellt wird, so scheint doch dabei, wenn
wir erwägen, wie das Wesen des Geistes ausdrücklich in die Verneinung
gesetzt wird und wie auch der Geist der Verneinung in dem ganzen
Systeme der herrschende ist, fast eine noch ärgere Verwechselung statt-
zufinden, indem vielmehr, anstatt des lebendigen Gottes, dieser ihm
entgegenstehende Geist der Verneinung in abstrakter Verwirrung auf-
gestellt und vergöttert wird; so daß also auch hier wieder nur eine meta-
physische Lüge an die Stelle der göttlichen Wirklichkeit tritt." Wie eine
solche Sprache pflegt vergolten zu werden, das muß Hr. von Schlegel
ohne Zweifel wissen; was er damit auszurichten hoffe, ist schwer zu be-
greifen. Als ob er nicht eilig genug seinen Gegnern Blößen darbieten
könnte, erhebt er sich sogleich, indem er seinen „rechten und sicheren
Weg einer vollständigen Nachforschung" bezeichnen will, ins Gebiet dessen,
was niemand weiß und 7iie7nand erforschen kanfi. Um das Eigene des
menschlichen Bewußtseins zu charakterisieren, genügt ihm nicht die be-
kannte Vergleichung zwischen Mensch und Tier; er sucht sich andere
erschaffene Geister, z. B. den Genius des Sokrates; er weiß zwar, ja er
gesteht ausdrücklich, die Sache sei nur Voraussetzung infolge einer Über-
lieferung: dennoch bedient er sich dieser Wendung, um den Spruch her-
70 J- F. Herbarts Rezensionen.
beizurufen: Dein Wissen teilest du mit vorgezognen Geistern; die Kunst,,
o Mensch, hast du allein. So sind wir beim Zentruvi der poetischen Psycho-
logie, bei der leicht beweglichen, vielgestaltigen, immer erfinderischen
Phantasie: und wenn das vorliegende Werk ein wirklich poetisches Werk
wäre, wenn nicht der bittere Ernst der Prosa es von vorn bis hinten ganz
durchdränge, so möchten wir uns das vielleicht gefallen lassen. Wie
aber nun die Sache vor uns liegt, so hält es Rez., der bei der Psycho-
logie des Verfs. schwerlich würde ernsthaft bleiben können, und der doch
Hrn. VON Schlegel alle schuldige Achtung zu bezeugen wünscht, fürs
geratenste, dasselbe Biich^ dessen erste Vorlesung bisher den Gegenstand
dieses Berichtes ausmachte, jetzt einmal von hinten anzufangen, und es
dergestalt umzuwenden, daß die eigentliche Absicht des Ganzen gleich
zu Tage komme. Es mag unterhaltend genug gewesen sein für die Zu-
hörer, daß in der ersten Vorlesung von der denkenden Seele, und der
falschen Vernunft, — in der zweiten Vorlesung von der liebenden Seele,
und von der Ehe, — in der dritten vom Anteile der Seele am Wissen
und von der Offenbarung gehandelt wurde: aber um den Lesern dieser
unserer Rezension einen Begriff von dem Buche zu schaffen, ist's am
besten, ihnen sogleich zu berichten, das letzte Kapitel desselben handle von
der Theokratie, indem es streitet wider diejenigen, „welche die religiöse
Grundlage, die höhere Sanktion und göttliche Autorität des Staates öffent-
lich bekämpfen und heimlich anfeinden." Und damit man deutlich wisse,
wovon gesprochen wird, so versichert der Verf. wörtlich folgendes: Eigent-
lich läßt sich die Theokratie des Staates nur an dem Beispiele des hebräischen
Volkes, und aus der Geschichte desselben, als eine wirklich historisch vor-
handene und historisch gegebene Staatsform, vollständig entwickeln ; geradeso
wie sich der Übergang aus Revolution, Bürgerkrieg und Anarchie in eine
absolute Staatsform, genetisch am lehrreichsten in der römischen Geschichte
nachweisen läßt; und wie die Natur des dynamischen Staats besser aus
dessen wirklicher Beschaffenheit in England, als aus bloßer Theorie erkannt
wird. Moses, von dem jene Theokratie ausging, kann auch nach dem
strengsten juristischen Begriffe gewiß nicht für einen Usurpator im dema-
gogischen Sinne des Wortes gehalten werden. (Diese Rechtfertigung scheint
auf irgend eine, uns unbekannt gebliebene, Anklage zu deuten.) Ein ge-
wöhnlicher historischer Beurteiler möchte sagen, Moses gehöre einer uns sehr
fremden Welt an, und es gehe aus allem nur sein heroischer Charakter
hervor; wenn nun eine solche falsche, der göttlichen Erklärung aus-
weichende, Ansicht sich auf den Moses scheinbar genug anwenden ließe,
so paßt sie doch nicht auf dessen Nachfolger. Auch diese herrschten nicht
durch Erbrecht, nicht durch förmliche Wahl, sie waren auch nicht Priester,
so wenig wie Moses; unmittelbar von Gott berufen, standen sie da.
Anders war es in der christlichen Welt. Die ersten Begründer der neuen
Gnadenlehre brauchten ihre unmittelbare Wunderkraft nur zur Ver-
herrlichung der Religion, nie gegen den Staat. Auch in allen nach-
folgenden Epochen des Christentums hat eine solche, von Zeit zu Zeit
hervortretende und persönhch verliehene, außerordentliche Gewalt immer
nur zur Verbreitung und zur inneren Entfaltung desselben gedient; nicht
zu irgend einer äußeren Machtbegründung oder gar politischen Herrschaft.
Fr. V. Schlegel: Die drei ersten Vorlesungen über die Philosophie des Lebens. 71
Jedoch läßt sich das Wunder der Theokratie überhaupt nur historisch
nehmen; in gewöhnlichen Zeiten ist der Lauf der Weltgeschichte ein natür-
lich menschlicher; höchstens kann man dazwischen einzelne theokratische
Augenblicke bemerken. Das allgemeine Gefühl erkennt sie im ersten
Augenblicke des Erfolges nur pflegt die Begeisterung der Dankbarkeit gegen
Gott noch schneller zu verrauschen, als jede andere Begeisterung; wovon
unsere Zeitgeschichte ein merkwürdiges Beispiel dargeboten hat. (Rez.
bezeugt gern, daß er hier einen Punkt der lebhaften Übereinstimmung
mit dem Verf. findet. Es ist wahrhaft niederschlagend, zu sehen, wie
schwach das Geschlecht ist, was sich jetzt wieder von Bewunderung für
einen Mann hinreißen läßt, der noch weit mehr durch äußere Umstände,
als durch eigene Kraft dahin gelangte, die Geißel von Europa, und be-
sonders der Schrecken Deutschlands zu werden. Daß er es verstand, für
sich einzunehmen, wenn er wollte; daß sein Sturz Mitleid erregte; daß sein
Bild sich recht füglich von der Phantasie ausschmücken läßt, und daß er
Personen hinterließ, die aus Dankbarkeit seine Lobredner bleiben, wissen
•wir alle ; aber die große Wohltat, welche der Welt widerfuhr, als es ver-
gönnt war, ihm Einhalt zu tun, scheint man kaum noch zu fühlen.) Es
gibt aber auch eine Theokratie der Wissenschaft, oder eine göttliche
Macht der Wahrheit in derselben. Diese kann nicht auf einer einzelnen,
noch so genialen Kraft beruhen, sondern nur auf einem gemeinsamen
Zusammenwirken. ,,Der einzelne Lichtstrahl, wenn er an sich genommen
noch so rein und hell und wahrhaft göttlich zu nennen wäre, der einzelne
Schwertstreich, wenn er auch noch so scharf und durchschneidend geführt,
die einzelne hemmende Schranke, wenn auch mit noch so umfassendem
Verstände, was weit mehr sagen will, als bloße Klugheit, gezogen und
bewahrt; diese alle können nicht helfen gegen diese neue Sündflut von
Irrtum und Unglauben'"; usw. Wir kürzen ab; denn wir müssen notwendig
den Verf. noch reden lassen von der Theokratie in der Natur. ,,Sie selbst,
die Natur, als die seufzende Kreatur, harrt auch ihrer göttlichen Wieder-
herstellung und Vollendung entgegen; und dies ist die einzige in der
Wahrheit gegründete und christliche Ansicht von derselben, welche nicht
zusammenstimmt mit der bloß dynamischen Naturwissenschaft, da in dieser
letzten die Natur als etwas Absolutes und in sich Fertiges vorausgesetzt
wird, was sie doch so ganz off^enbar (!) nicht ist. Ja auch die Betrachtung
über die Zweckmäßigkeit der Natur ist von der Seite mangelhaft, daß
man voraussetzt, unsere Natur sei noch ebendieselbe, wie Gott sie ur-
sprünglich erschaffen hat." Hier möchte man doch ernstlich fragen, ob
der Verf. sich erlauben wolle, an der Natur zu meistern, anstatt sie
dankbar zu nehmen, wie sie ist? Indessen wollen wir ihn reden lassen.
„Dagegen (fährt er fort) spricht die ausdrücklich gegebene Verheißung
eines neuen Himmels und einer neuen Erde für die letzte Zeit; womit
also schon ausgesprochen ist, daß auch die Natur einer großen Wieder-
herstellung bedarf, die über den gewöhnlichen Lauf hinausgeht und nur
durch unmittelbare Einwirkung der himmlischen Theokratie denkbar wäre."
Und nun ruft der Verf. manche medizinische Erfahrungen, Krankheiten,
Insekten, ja die Tatsache (sie!) der Mondsucht, als Zerrüttung durch
siderischen Einfluß, — und endlich gar die Kometen zu Hilfe, denn diese
72 J- F« Herbarts Rezensionen.
sollen doch wohl die excentrischen Revolutions- Gestirne sein, die das
Element der Erde bald flüssig, bald feurig aufregen, deren Bahn die
Astronomie wohl berechnet hat, aber ohne daß dieselben immer Folge
leisteten. (Von solchen Dingen sollte Hr. von Schlegel doch schweigen!
Er weiß offenbar nichts davon, inwieweit die Astronomen ihre Rechnungen
mit mehr oder minder Bestimmtheit abschließen, und mit welcher Sorg-
falt sie damit die Beobachtungen zu vergleichen gewohnt sind.) Unser
ganzes übriges Wissen von der Natur geht nur auf die Oberfläche der
Erde, mithin nur auf die eine Seite derselben ; vielleicht ist die andere,
uns verschlossene, innere, mehr dem Ewigen verwandt. Auf jener gilt
das Gesetz des Todes: aber wenn es wahr ist, daß durch jenen Geist,
oder jene Macht des Bösen, die. sich zuerst von Gott losriß, der Tod
in die Welt, und also auch in die Natur gekommen ist, so muß auch
der jetzt natürliche Tod vom Urheber des ewigen Todes hergeleitet
werden. Sehr zu bezweifeln dürfte es demnach sein, ob die ersten und
ursprünglichen Natur- Geschöpfe andere als unsterbliche gewesen seien."
An dieser Stelle ist der Verf. noch in bescheidenem Zweifel stehen ge-
blieben; anderwärts spricht er mit prophetischer Bestimmtheit: Das
Menschengeschlecht, wie es einen Anfang hatte, wird auch ein Ende
nehmen. Wie diese Sterblichkeit und jene ursprüngliche Unsterblichkeit
sich zusammen reimen, und was man bei einer so gebrechlichen Un-
sterblichkeit, welche verloren gehen kann, eigentlich denken solle, mag
Hr. VON Schlegel wissen. Er tut wohl, oder es gewährt wenigstens
eine Art von Erholung, in einem Buche, welches der schroffen und ab-
stoßenden Behauptungen viele enthält, wenigstens hier und da auf Stellen
zu stoßen, die einen bescheidenen Geist atmen und eine redliche Wahr-
heitsliebe spüren lassen. Dahin gehört die Äußerung über die Theodicee,
soweit diese nach menschlichen Kräften (das ist der Hauptpunkt!) zu er-
reichen steht. Meinesteils (spricht der Verf.) würde ich lieber eine Theo-
dicee für das Gefühl, in einem durchaus liebevollen Sinne vor Augen
haben, als eine künstliche Hypothese, wobei eine Menge von Absichten
Gottes scharfsinnig in die Natur hineingelegt werden, von denen man
weder recht wissen, noch auch bestimmt nachweisen kann, weder, ob es
wahrhaft Absichten Gottes sind, noch auch, ob sie wirklich so in der Natur
liegen. Man muß in dieser ganzen Angelegenheit und Sphäre des Nach-
denkens nicht alles zu genau, und besonders nicht zu systematisch bestimmen
wollen; vorzüglich muß man sich hüten, die logische Notwendigkeit, die uns
angeboren, und für uns ein unentbehrlicher Behelf unserer Beschränktheit
geworden ist, nun noch weiter, selbst auf Gott, wie es so viele Denker tun,
übertragen zu wollen: was dann nur auf ein Phantom von einem Schick-
sale, auf die irrige Idee von einem blinden Fatum hinführen kann. Dagegen
gibt es (viele) gewisse fragende Gefühle in der menschlichen Brust, die oft
beim Anblicke der Natur rege werden, welche bei weitem noch keine
Zweifel oder Einwürfe sind, wenigstens keine wissenschaftlich anmaßenden
oder bestimmt ausgesprochenen, die aber eine Antwort zu erfordern
scheinen. Das klagende Geschrei eines wehrlosen, gutartigen Tieres, wie
es der Mensch tötet, oder auf der andern Seite das giftige Zischen einer
bösartigen (?) Schlange, der Anblick eines scheußlichen Würmerhaufens in
Fr. V. Schlegel: Die drei ersten Vorlesungen über die Philosophie des Lebens. 73
dem Leichname der Verwesung; das sind solche stumme Ausrufungen, die
gleichsam die Frage nur eben zurückhalten: Sind denn das die Hervor-
bringungen, die Geschöpfe des vollkommensten Wesens, des höchsten
Geistes? — Dürfte man nicht die Tatsache von krankhaften Erzeugnissen
eines falchen Lebens noch weiter ausdehnen? Könnte man nicht die
Schlangen z. B. als die Eingeweidewürmer der Erde betrachten? Daß auch
die feindlichen Geister nicht ohne Einfluß auf die Natur sind, ist wohl
unleugbar. Auch die AfTen sind von manchen schon nicht sowohl für
ein ursprüngliches Geschöpf gehalten worden, als für einen satanischen
Einfall zur boshaften Parodie auf den Menschen, als den beneideten Lieb-
ling Gottes. Daß der Fürst dieser Welt auch auf die Produktionskraft
dieser entarteten und verderbten Natur hier und da, bis auf einen ge-
wissen (?) Grad, einen giftigen Einfluß haben kann, daß es also auch eine
Produktionskraft des Bösen in der Natur gibt, läßt sich wohl nicht leugnen.
Nur aber muß jene vergiftende Einwirkung als in bestimmte Grenzen
eingeschlossen gedacht werden. — Sah denn der Verf. nicht, daß sein
eigenes Denken hier schon längst alle Grenzen überschritten hat? Kein
Leben ist falsch, denn es ist wirklich; keine Schlange ist böse; sie kann
nicht überlegen und wählen. Aber diejenige ästhetische Ansicht, welche
nur das Äußere wahrnimmt, und den Dichtern geläufig ist, maßt sich hier
Beurteilungen an, die ihr nicht zukommen. Wir kennen längst diese
poetischen Übereilungen; Hr. von Schlegel wird sich wohl erinnern, wo
er sie zuerst gefunden hat; denn seine Erfindung sind sie nicht; er aber
scheint überhaupt sehr vieles auf seine Rechnung zu nehmen, wovon wir
vielmehr erwarten konnten, er würde es mit seiner Polemik verfolgen und
zurückweisen. Religiös sind dergleichen fragende Gefühle, wie er sie nennt,
gewiß nicht; sondern es sind Versuche, die Vorsehung zu meistern. Und
diese Versuche sind offenbar gefährlich; es gibt für sie keine Grenze. W^er
einmal den Affen tadelt, der kann sehr gut auch bis zu den Hottentotten
und zu den Kannibalen fortschreiten; und am Ende wird nichts übrig
bleiben, welches nicht als gemein oder als unvollkommen könnte bezeichnet
und in jene fragenden Gefühle hineingezogen werden. Jede Tragödie kann
sie erregen, die auf der Weltbühne sich unseren Augen darstellt. Wer
ein philosophisches Buch zu schreiben unternimmt, muß das voraussehen
und sich vor dem unbescheidenen Dogmatismus, welcher schon von Kant
so sorgfältig vermieden wurde, zeitig genug hüten. Sonst wird man von
dem Gespenste des Fürsten dieser Welt, oder vielmehr des Fiirsten der
Finsternis, bald überall am hellen Tage verfolgt werden. Also wollen wir
es lieber mit dem Verf. dabei lassen: man muß in dieser Sphäre nichts
systematisch bestimmen.
Eine andere Sphäre, worin der Verf. dies sein eignes Wort eben-
falls hätte festhalten "sollen, ist die der historisch dunkeln alten Philo-
sophen. Bei den Freunden der Mystik mid Symbolik sind besonders die
Pythagoräer beliebt ; Hr. von Schl. läßt sich darüber also vernehmen : Am
höchsten unter allem standen unstreitig (bei einem so bestrittenen Gegen-
stande?) die Pythagoräer, deren Sinn und Streben durchaus auf das Gött-
liche gerichtet war. Auch in der Naturwissenschaft haben sie das Wesent-
lichste und Beste (was ist denn in der Naturwissenschaft das Beste, die
'1 A J. F. Herbarts Rezensionen.
Kenntnis der Planeten oder die der Doppelsterne und Nebelflecke? die
der Saitenschwingungen oder die der Voltaischen Säule ? die höchst
mangelhafte Kenntnis einiger Tatsachen oder die Berechnung derselben
nach allgemeinen Gesetzen ?) von dem gekannt und gewußt, worauf unsere
Geschichte der Entdeckungen seit drei Jahrhunderten stolz ist; und vielleicht
hier und da noch etwas mehr. — Wir könnten den Vorschlag tun, man
möge einmal einem heutigen tüchtigen Physiker, Astronomen, Chemiker,
jenes eingebildete Beste und noch etwas mehr, das den Pythagoräern in
der allerglänzendsten Darstellung ihres Wissens kann zugeschrieben werden,
vor Augen legen, um zu hören, ob er darin etwas anderes als die ent-
ferntesten Elemente einer dem früheren Altertum allerdings rühmlichen
Einsicht erkennen werde? Ferner wären alsdann noch die Philologen, und
unter diesen die Antisymboliker zu fragen, wegen der historischen Ge-
nauigkeit des abgestatteten Berichts. Rez. hat seine Meinung, daß die
Pythagoräer die griechische Philosophie durch ihre Anmaßungen mehr ver-
dorben, als durch ihre wirklichen mathematischen Kenntnisse erleuchtet
haben, anderwärts ausgesprochen. Sie hätten viel sein können, wenn
sie nicht alles hätten sein wollen, wie es auch heute so manchen geht.
Es gehört wesentlich zur Charakteristik des vorliegenden Buches, daß
wir der Symbolik erwähnen. ,,Die Theorie der Kunst, oder die sogenannte
Ästhetik, könnte viel richtiger Symbolik genannt werden. Denn die
Schönheit, — jene nämlich, welche die Kunst im Auge und zum Gegen-
stande hat, — bildet die bildliche Seite der ewigen Wahrheit, und ist
nicht von ihr geschieden; vorausgesetzt, daß die Kunst sich wirklich auf
jener Höhe hält, und auch den sinnlichen Reiz nur als Bild, und wegen
dieser höhern Bedeutung, welche sie ihm leihet und hineinlegt, aufnimmt,
und ihn nicht seiner selbst wegen sucht." Das klingt nun zwar vortreff-
lich; es enthält aber zugleich das Geständnis daß es sehr einseitig ist.
Der Schönheit, — jener nämlich, welche nicht die Kunst, sondern
die Natur darbietet, geschieht unrecht, indem sie, abgesehen von Bild-
lichen, als bloßer Reiz^ und gar noch als Sinnenreiz bezeichnet wird.
Der Ästhetik, die alles Schöne, wie mannigfaltig verschieden es auch
ist, auf seine einfachsten Formen zurückführen soll, geschieht aber-
mals unrecht, indem sie bloß als Anleitu7ig fiir den Künstler betrachtet
wird. Der ewigen Wahrheit endlich geschieht auch unrecht, indem der
Mensch, der sie so unvollkommen erkennt, ihr eine bildliche Seite zu-
schreibt, als ob er (jenen, vorhin erwähnten und für so anstößig ge-
haltenen, Schlangen und Affen zum Trotze!) sie wirklich in einem Bilde,
welches er mit ihr selbst vergleichen dürfte, geschaut hätte. Der Kunst
aber geschieht kein Dienst, indem man sie auf ein absichtliches Wirken,
auf ein Leihen und Hineinlegen beschränkt. Man merkt die Absicht und
ist verstimmt. Der Künstler verstimmt sich selbst zuerst, wenn er, der
geradezu auf Produktion des Schönen, — welches an sich schön sei, —
hinarbeiten soll, sich fragt, was man dabei denken werde? und wenn er
meint, etwas geleistet zu haben, weil er etwas ausgedrückt habe. Hier
ist ein ganzer Knäuel 7'o?i Irrtümern aus einer Zeit, die wir kennen, und
von der es uns einigermaßen befremdet, daß sie für Hrn. von Schlegel
noch nicht vorbei ist. Aber weit entfernt, sich herauszureißen, hat er
Fr. V. Schlegel: Die drei ersten Vorlesungen über die Philosophie des Lebens. ye.
sich mehr hineingearbeitet. Jetzt, und in diesem Buche noch, erzählt er
uns, die Musik sei eine Darstellung der Seelengefühle, und die Skulptur eine
' Darstellung der organischen Entwicklung des Körpers. Wir nehmen uns
die Freiheit, ihm zu sagen, daß das erste ebenso unwahr ist als das
zweite; obgleich es nur bei dem zweiten offenbar in die Augen springt,
daß die Verhältnisse der Reproduktion, Irritabilität und Sensibilität, worauf
das organische Leben beruht, dem Bildhauer unbekannt sind; und dem
Zuschauer seiner Werke unbekannt bleiben; auch überhaupt sich jeder
sinnlichen Darstellung, jeder Andeutung durchaus entziehen; und selbst
durch das anatomische Messer nicht können aufgefunden, viel weniger
durch den Meißel nachgeahmt werden. Wußte das Hr. von Schlegel
nicht? Er wußte es wohl, aber er wollte es nicht wissen. Statt zu fragen,
was die Kunst in Wahrheit sei ? will er ihr Gesetze geben , und sie zu
etwas Höherem machen , als was sie wirklich ist. Dies Hinwegspringen
über die Wahrheit, die ihm zu niedrig liegt, charakterisiert ihn, so wie es
dasjenige Zeitalter charakterisiert, aus dem er stammt. Dadurch hat er sich
seine Aussichten verdüstert und verkümmert. Nun klagt er: ,, Während
in dem allgemein herrschenden politischen Unglauben, der eine natürliche
Folge des religiösen Unglaubens ist, das ganze Leben, besonders auch
das öffentliche, nach seiner symbolischen Bedeutung und Würde nicht
mehr (?) erkannt und nicht mehr verstanden wird" (wann und wo ist denn
das Leben selbst, das ganze, das öffentliche, als ein Symbol von irgend
etwas anderem verstanden worden, anstatt den Gegenstand symbolischer
Darstellungen auszumachen?) ,,und dadurch auch der Staat und alles
Große desselben, viel von seinem alten (?) ehrwürdigen Glänze und seiner
ehemaligen (?) Heiligkeit verloren hat (wovon soll denn der Staat ein
Symbol sein? etwa von der Kirche?); während selbst das religiöse Gefühl,
was wirklich noch vorhanden ist, mehr oder minder in den Parteienkampf
hinabgerissen wurde und kaum eine reine Freistätte des einfachen frommen
Glaubens, die unverletzt und unangefochten wäre, mehr zu finden weiß;
ist für eine sehr große Anzahl von Menschen aus der gebildeten Klasse
die Kunst und das Schöne das letzte ihnen übrig gebliebene Kleinod
des Göttlichen, und wird auch als ein solches und als das eigentliche
l'alladium des höheren und inneren Lebens von ihnen betrachtet, was es,
so isoliert genommen, doch in keiner Weise sein kann. Unser Zeitalter
ist in dieser Hinsicht einem ehemals reichbegüterten, nun aber herab-
gekommenen edlen Hause zu vergleichen." Man erwartet vielleicht, hier
werde nun das Lob des Mittelalters angestimmt werden; allein der Verf.
scheint wenigstens soviel von der heutigen Zeit zu wissen, daß es dazu
nicht mehr Zeit ist, so manches auch in ihm aus Gewohnheit fortlebt,
was heute nicht mehr recht passen will.
Doch wir irren uns! Es folgt allerdings noch das symbolische Zeichen
des nach allen vier Winden oder Weltgegenden hinaus bewegten Schwertes,
als der Insignie des ehemaligen Kaisertums im Mittelalter. Nach dieser
war es nicht bloß eine Verschiedenheit der Macht, des Ranges oder im
Titel, zwischen der einen und der andern, der kaiserlichen oder der könig-
lichen Würde; sondern es fand eine totale Verschiedenheit statt in dem
Begriffe und dem Zwecke des einen und des andern geheiligten Amtes,
76 J- F- Herbarts Rezensionen.
zwischen dem gewählten Kaiser und dem erblichen Könige. Jener war
der mit dem Schwerte der ganzen Christenheit bewaffnete Verteidiger für
das ganze System der abendländischen Staaten. War es ivirklich? oder
sollte es sein? Die Dinge passen so oftmals nicht zu den Begriffen, daß
man sich nicht wundern, und eben nicht betrüben darf, wenn sie auch
nicht immer zu den glänzenden Symbolen passen, die zu den Begriffen
erfunden werden, noch ehe man gefragt hat, wieviel wahrer und fester
Grund und Boden für diese letzteren vorhanden ist. Wir können es un-
möglich bedauern, wenn das, was man heutigestages gesunde Politik zu
nennen pflegt, von der genauen Erwägung der wirklichen Verhältnisse
ausgeht, und diesen alsdann keinen übertriebenen, sondern einen ange-
messenen, und — was nicht zu allen Zeiten die Tugend der Politik war,
— einen aufrichtigen Ausdruck beifügt. Hr. von Schlegel scheint
Hallers Lehre vermeiden zu wollen, indem er sich ebensowohl gegen
den absoluten Zustand faktischer Präponderanz, als gegen den dynamischen
des sogenannten Gleichgewichts erklärt; allein durch seine sogenannte
symbolische Bedeutung des Lebens wird in der Sache nichts geändert. Auf
die Gesvmtmgen kommt es an ; sind diese im richtigen Einverständnisse, so
versteht sich ganz von selbst, daß der Monarch und der Priester als Ver-
treter einer höheren göttlichen Macht erscheinen ; und das braucht als-
dann nicht gelehrt noch gelernt zu werden; jeder sieht es von selbst.
Sind aber die Gesinmingen herrisch inid sklavisch oder streit süchtig, so helfen
die Symbole nicht mehr, als die papiernen Konstitiitiojien ; ja die Anmaßung^
daß ei7i Mensch das höchste Wesen repräsentieren wolle oder solle, ist alsdann
noch ärgerlicher und anstößiger, als jene vom Verj. sogena7i7iten ,, Volks-Re-
präsentanten schrecklichen Ajidenkens". Man möchte faßt glauben, Hr. von
Schlegel habe noch immer nicht Zeit gefunden, seines Schreckens Meister
zu werden; obgleich wir in Deutschland nun schon so lange die große
Wohltat wahrhaft friedliebender Regierungen genießen und im Besitze
einer glückUchen Wirklichkeit recht füglich die bloßen Zeichen entbehren,
und vergangene Dinge als vergangen betrachten können. Es ist indessen
kein Wunder, wenn in den Büchern der Nachklang des früheren Donners
noch forttönt; nur mi'isseii die Bücher nicht eine Ängstlichkeit vor eingebildeten
Gefahren unterhalten ; und die Schriftsteller möchten wohl Ursache haben,
sich vor dem Verdachte zu hüten, als gingen sie darauf aus, sich wichtig
zu machen; während doch die Staatsmänner sehr gut wissen, daß sie
selbst, und nicht die Schriftsteller es sind, welche die Macht in -den
Händen haben.
Aber Hr. von ScHL. glaubt eine andere Macht ^ die der Wissenschaft,
zum Teil in seiner Hand zu besitzen und in Ausübung zu bringen.
Solche Männer sollten wissen, daß ein sehr wesentlicher Teil von dieser
geistigen Macht auf der Ordnung der Gedanken beruht. Welcher Grund
aber hat Hrn. von Schlegel bewogen, seine Philosophie des Lebens so
einzurichten, daß (nach seinem eigenen Geständnisse in der letzten Vor-
lesung) zuerst der Psychologie — und zwar nicht etwa, wie manche be-
liebt haben, bloß propädeutisch, sondern nach dem ursprünglichen Um-
fange ihrer großen Verhältnisse im Leben, und auch zur Natur und zu
Gott, — dann der natürlichen Theologie, welche entweder ganz vorn
W. T. Krug: A'lgeraeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften. 77
oder ganz am Ende stehen mußte, — dann einer sogenannten höheren
Logik, die man nach Belieben auch Ontologie soll nennen dürfen, oder,
wenn man lieber will, angewandte Theologie; — und endlich der Meta-
physik des Lebens, welches, wiederum nach Belieben, auch Kosmologie
in geistiger, ja sogar sittlicher Hinsicht heißen kann, der Platz angewiesen
werde? Hr. von Schlegel ist oftmals schon als Freund und als Ver-
teidiger des Alten aufgetreten; er hat darin mehr richtigen Sinn, mehr
reife Überlegung gefunden, als in dem Neueren. Daß er aber irgend
ein älteres Kompendium der Logik und Metaphysik aus der Periode der
Leibnizisch-Wolftischen Schule solange studiere, bis er den Grund und
den Sinn der alten Ordnung begreift, dies wäre ohne Zweifel zu viel ver-
langt; daher wird es am besten sein, keine weiteren Ansprüche an das
vorliegende Buch zu machen.
Krug, Wilh. Traug., Prof. d. Philos. zu Leipzig, Allgemeines Hand-
wörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer
Literatur und Geschichte. Nach dem heutigen Standpunkt
der Wissenschaft bearbeitet und herausgegeben. — Leipzig,
bei Brockhaus, 1827. i. Bd. A— E. X u. 755 S. 2. Bd. F— M.
831 8. Oct. (2 Rthlr. 16 Gr.)
Gedruckt in: Leipziger Literatur-Zeitung 1828, Nr. 225. SW. XIII, S. 538.
Herr Professor Krug gehört bekanntlich zu denjenigen philosophischen
Schriftstellern, die sich einen großen Kreis von Lesern gebildet haben.
In diesem Kreise herrscht nicht sowohl das Bemühen, neues Licht an-
zuzünden, als vielmehr das Bedürfnis, bei dem einmal vorhandenen Lichte
in praktisch wichtigen Dingen hell zu sehen. So allgemein das Bedürfnis,
soviel Achtung verdient der Mann, der es zu befriedigen weiß. Daher
wäre zu wünschen, daß uns das vorliegende Werk in den Stand setzen
möchte, es ganz unumwunden für angemessen dem ehrenvollen und wohl-
erworbenen Rufe zu erklären, welchen sein Verf. bereits besitzt. Es finden
jedoch in dieser Hinsicht einige Bedenklichkeiten statt, welche, dem sehr
freimütigen Manne gegenüber, auch freimütig ausgesprochen werden müssen ;
zumal da der Titel die nicht geringe Forderung anregt, das Werk solle
nach dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft bearbeitet sein. Welcher
ist dieser Standpunkt? Ist er der des Hrn. Prof. Krug? Soll ein all-
gemeines Handwörterbuch sich nach seinem individuellen Urteile richten.-'
— Wenn hier die einseitigen Entscheidungen bestrittener Gegenstände
sollten vermieden werden, so mußte sich der Verf. ein sehr gründliches
Studium der verschiedenen heutigen Systeme angelegen sein lassen, um
dieselben historisch treu und genau in den Hauptartikeln des Werkes dar-
legen zu können, auf welche alsdann in anderen kürzeren Artikeln zu
verweisen war. Eine solche Arbeit ist unstreitig sehr schwierig, und
würde lange Zeit gekostet haben; aber es scheint uns, die bekanntlich
sehr beschäftigte Feder des Hrn. K. habe sich diesmal gar zu wenig
Zeit genommen, um die zwei starken Bände, welche vor uns liegen, nieder-
yg J. F. Herbarts Rezensionen.
zuschreiben. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß die Vorrede unsere
Erwartungen selbst herabstimmt. „Wer eine Wissenschaft ex professo
studieren will (sagt Hr. K.), wird vernünftigerweise nicht nach einem
solchen Werke greifen. Denn da würde er nur Bruchstücke finden."
Warum das? Er kann ja hoflfen, eine Sammlung gründlicher Abhandlungen
zu finden, die vollständig genug sei, um die verschiedensten Seiten und
bekannten Versuche in der Wissenschaft auf einmal vorzulegen, und den
Leser zu mannigfaltiger und beliebiger Verknüpfung derselben einzuladen.
Aber Hr. K. fährt fort: „Wer ein Wörterbuch zur Hand nimmt, sucht
nur augenblickliche Belehrung'''' ; wobei sich die Frage aufdrängt, ob solche
in der Philosophie überall möglich sei! — Die notwendigen Eigenschaften
eines solchen Werks sollen nun sein: möglichste Vollständigkeit, Deut-
lichkeit, Kürze und Bequemlichkeit. Kürze bei einem Werke von vier
Bänden, zu 45 — 50 Bogen, bei ziemlich engem Druck? Ein solcher
Raum scheint doch wirklich groß genug, um bei präziser Schreibart und
Weslassung des Unbedeutenden, recht viel Wesentliches in sich auf-
zunehmen; zumal wenn der heutige Standpunkt festgehalten, und nicht zu
viel von älteren Dingen aufgenommen wird, die sich besser für ausführ-
liche Werke über die Geschichte der Philosophie eignen möchten. Was
die jetzt lebenden Philosophen betrifft, so war Hr. K. anfangs zweifelhaft,
ob er auch sie in dies Wörterbuch aufnehmen sollte. „Sie können," sagt
er, ,,ihre Ansichten ändern ; manche sind überdies so kitzlich, daß sie jedes
nicht beifällige Urteil übel nehmen, und bitter rügen.'' Er nennt nun einige,
deren Namen er dennoch aufnehme, weil mancher Leser nach ihren
Namen suchen werde; und fügt hinzu, des Urteils über Zeitgenossen habe
er sich meist enthalten. Hier ist uns der Zweifel und dessen Gründe
nicht recht klar; und die Enthaltsamkeit könnte leicht auf ein Zuviel und
Zuwenig zugleich führen. Nach dem heutigen Standpunkte der Wissen-
schaft konnte das Wörterbuch unmöglich bearbeitet werden, wenn es
nicht die Unterschiede der philosophischen Schulen dieser Zeit vor Augen
legte; daher war die Nennung einiger Häupter der Schulen ganz unvermeid-
lich, und niemand hatte ein Recht, beifällige Urteile von Hrn. K. zu
verlangen, sondern nur faktisch richtige und nicht gehässige Darstellungen
der einmal bekannt gemachten Lehren. Jetzt aber, da Hr. K. sich auf
die Sorge wegen des Übelnehmens und bitteren Rügens einmal eingelassen,
und hiermit sich in Ansehung der Zeitgenossen auf ein Minimum der
Berichte und Urteile eingeschränkt hat, läuft er Gefahr, daß alle Schulen
gegen ihn zugleich mit der Beschuldigung auftreten, sein Werk gebe kein
Bild des heutigen Zustandes der Wissenschaft, sondern enthalte bloß seine
individuellen Ansichten, so daß er sich selbst an die Stelle des Zeitalters
gesetzt habe. Daß wir es nun nicht übernehmen können, ihn gegen eine
solche Klage vollständig zu verteidigen, wird sich leicht zeigen, wenn
wir die Wahl der Artikel, welche aufgenommen sind, und deren Bearbeitung,
durch einige Proben kenntlich machen.
Gleich der erste Artikel liefert eine Probe derjenigen Bequemlichkeit,
welche das Werk darbietet. Irgend ein Leser könnte möglicherweise
irgendwo den Buchstaben A als Zeichen des Ersten in irgend einer Hin-
sicht gebraucht finden; darum belehrt ihn der Verf. in den ersten Zeilen :
W. T. Krug: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften. -iq
„A ohne weiteren Beisatz bedeutet in der Philosophie das Erste, was
schlechthin und ohne irgend eine anderweite Bedingung gesetzt ist, und
daher auch das Absolute heißt! Ob es ein solches A in und für die
menschliche Erkenntnis gebe, ist streitig: daher sollte man nicht die Philo-
sophie geradezu für eine Wissenschaft vom Absoluten erklären." —
Ferner: ,,Dem Leser kann oft genug die Formel: A = A aufstoßen ; wenn
nun dieser Leser nicht weiß, daß man dieselbe Formel auch B = B, oder
C = C, oder mit jedem andern Buchstaben gerade ebenso passend
schreiben kann, dann wird allerdings ein so unwissender Leser die Er-
klärung im Wörterbuche unter dem Artikel A aufschlagen, statt des
andern etwa den Artikel: Einstimmung, oder Satz der Einstimmung^ oder
Gleichheit zu Rate ziehen möchten." Für jenen ersten Leser nun Sorge
tragend, spricht Hr. K. wirklich bei den Buchstaben A auch von der
Formel A = A, und lehrt nebenbei, es sei ein großer Mißgriff einiger
neueren Philosophen gewesen (insonderheit Fichtes), daß sie die erwähnte
Formel an die Spitze ihres Systems stellten, imi daraus die ganze Philo-
sophie abzuleiten: — wobei zu bemerken, daß Fichte die Philosophie
nicht aus dem A, sondern aus dem Ich oder dem Selbstbewußtsein ab-
leiten wollte, und sich hierbei nui zur Einkleidung den Mißgriff gestattete,
welchen Hr. K. nicht ganz ohne Grund, aber viel zu hart, tadelt. Endlich
fällt ihm noch ein, daß zuweilen das Subjekt eines Urteils mit A, und
das Prädikat mit B, — zuweilen auch mit A A A der erste Modus der
ersten Schlußfigur (barbara) bezeichnet wird. Aus allen diesen heterogenen
Elementen nun bildet der Verf. seinen ersten Artikel, für den Buch-
staben A. Es fehlt, wie man sieht, hier nicht an Polemik, die Gelegen-
heit aber, wobei sie angebracht ist, hätte unserer Meinung nach füglich
unbenutzt bleiben, und der ganze Artikel wegbleiben können, wenn alles
einzelne an seine gehörigen Orte wäre gestellt worden. Ob nun Hr. K.
anderwärts den Raum seines Wörterbuchs besser gespart, und zweckmäßiger
benutzt habe, dies ist uns oftmals zweifelhaft geworden.
Es ist nötig, daß wir jetzt zuerst die Auswahl der Artikel andeuten,
worin uns manches überflüssig erscheint. Unter Ab steht die Formel :
ab esse ad posse valet consequentia; desgleichen: ab universali ad particu-
lare valet consequentia ; bei der ersten steht sogar ein Paar konzentrischer
Kreise, welches Wirkliches, als enthalten im Gebiete des Möglichen ver-
sinnlichen soll. Darauf Abälard, Abä7tderung, Abaris, Abart, Abbild^ Ab-
bitte^ Abbrei'ieii, Abt, Abhiißung und Abbüßungsvertrag^ mit Polemik gegen
Fichtes Naturrecht, wobei dennoch die Rückweisung auf den Artikel
Strafe (wohin der Gegenstand gehört) nicht vermieden werden konnte;
wozu also der ausführliche Artikel, der doch ein Bruchstück bleibt? Ab-
druck, Abel. Abenteuer (wer sucht Abenteuer im philosophischen Wörter-
buche?), Aberglaube (mit dem unnützen Beweise, daß er schädlich sei,
und dennoch oft aus Politik begünstigt werde), Aberration (gehört den
Astronomen), Aberwitz^ Abfall (hierbei wenige, aber sehr treffende Worte,
gegen Schelling, in Hrn. Ks. bester ^Manier. Wäre das Buch durch-
gehends so gearbeitet, so würde es bedeutende Wirkung tun; es wäre
dann die reine Opposition des geraden, gesunden Verstandes gegen ver-
irrte Spekulation), Abgaben^ Abgebrochen, Abgekürzt (hierbei ein Bruchstück
8o J- F. Herbarts Rezensionen.
aus der Syllogistik, worauf lediglich hätte verwiesen werden sollen), Ab-
geleitel (wo nur auf Folgenmg oder auf Deduktion zu verweisen war), Ab-
gemessen, Abgeschmackt (entbehrlich!), Abgesondert oder abgezogen (ein
logisches Bruchstück, das sehr leicht durch Rückweisung auf irgend einen
größeren Artikel konnte vermieden werden), Abgott (wo man unter anderem
erfährt, daß auch der Bauch und das Geld Abgötter sein können für
den Schlemmer und den Geizigen), Abgrund und Abgnnst. Wir stehen
hier am Ende des Bogens, aber natürlich noch lange nicht am Ende
der Vorsilbe Ab. Kaum haben wir sie im Rücken, so stoßen wir auf
den Artikel wie: Accreditierung ., Ackerbau., Ackergesetze^ Adam usw., die
schwerlich jemand von diesem Buche gefordert hätte. Auch selbst Be-
rauschung und Bestialität sind nicht übergangen; und S. 327 findet sich
gar ein Artikel, den wir nicht nennen mögen. Auch im zweiten Bande
bleibt die Neigung zum Überflüssigen sich gleich ; so hat der Satz : mundus
vult decipi etc. seinen eigenen Artikel, der ihn zwar zurückweist, aber
doch nicht aus dem Buche verbannt.
Man wird nun verlangen, daß wir die Hauptartikel anzeigen; wenn
diese nur zu finden wären! Rez. hat vergeblich nach ausführlicheren Ab-
handlungen gesucht; der Verf. bleibt seinem Vorsatz treu, für augenblick-
liche Belehrung zu sorgen; nur für wenige Minuten traut er der Auf-
merksamkeit seiner Leser. Doch müssen wir einiges zur Probe aus-
heben. Der Artikel Metaphysik beginnt mit übertriebenen Klagen über
die Unbestimmtheit dieses Wortes; welche Unbestimmtheit sich bald
heben ließe, wenn man, wie sich's gebührt, dem Sinne des Aus-
drucks gemäß denjenigen Sprachgebrauch festhielte, welcher in der Blüte-
zeit der Leibnizisch- Wolffischen Philosophie vorhanden war. Hiermit
würde man auch in dem Kreise von Begriffen bleiben, worin Aristoteles
in seinen, unter diesem Namen gesammelten Büchern sich bewegt.
Hr. K. hat den Hauptgrund der heutigen Sprachverwirrung zwar be-
rührt, da er die Kantische Abteilung der Metaphysik, nämlich in Meta-
physik der Natur und der Sitten, für völlig unstatthaft erklärt, indem die
Metaphysik an die Stelle der alten Physik trat, und daher stets als eine
theoretische oder spekulative Wissenschaft betrachtet wurde. Aber so wahr
dieses ist, so verdirbt doch der Verf die Sache wieder dadurch, daß er
viel zu unbestimmt die Metaphysik für eine philosophische Erkenntnis-
lehre erklärt. Darin soll die Erkenntnis durch Analyse der Tatsachen des
Bewußtseins in ihre letzten Elemente zerlegt werden; und man soll an-
ftehmen, daß der Stoff gegeben, aber die Form der Erkenntnis durchs
Subjekt bestimmt sei! Sind wir noch soweit zurück? Und haben dreißig
Jahre nichts vermocht, um diese Kantisch-Reinholdischen Meinungen in
ihrer Unzulänglichkeit vor Augen zu stellen? Man sollte doch jetzt
wenigstens aus Erfahrung gelernt haben, wenn man es nicht aus Gründen
begreift, daß eine solche vorgebliche Analyse weder einen festen Gegen-
stand hat, noch im stände ist, der metaphysischen Fragen und Zweifel
mächtig zu werden. Man solle wissen, daß es bei Kant noch einen
anderen Keim wahrer Metaphysik gibt, der mit der vorgeblichen Analyse
des Erkenntnisvermögens nichts zu tun hat. Allein hier ist nicht Anlaß
zu weiterer Auseinandersetzung; denn der Verf. belehrt die, welche ihm
W. T. Krug: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften. 8l
aufs Wort glauben wollen, nach seiner Weise, ohne ihnen zu sagen, daß
schon längst andere Schulen sich gänzlich außer diesem Kreise von
psychologischen Analysen bewegen, und daß die Unmöglichkeit, auf solche
Art von der Stelle zu kommen, dargetan worden ist. Darüber Auskunft
zu geben, hat er nicht Platz genug in dem von überflüssigen Dingen an-
gefüllten Buche; und dennoch soll es die Philosophie nach ihrem heutigen
Standpunkte darstellen ! — Wir suchen jetzt, wie billig, nach einer anderen
Probe, die mehr genügen, und zugleich das Werk charakterisieren könne.
Dazu mag in der Nähe des vorigen ^der Artikel Erde dienen. Nach
wenigen Worten über die unvollkommenen Kenntnisse des Altertums in
diesem Punkte heißt es weiter: ,,Es dauerte überhaupt sehr lange, bis
sich der menschliche Geist zu dem Gedanken erheben konnte, daß die
Erde, wie groß und unermeßlich sie auch unseren Augen erscheint, doch
nur ein Punkt im Weltall, und daß es daher ganz ungereimt sei, alles
auf diesen Punkt, als den bedeutendsten in der Welt, zu beziehe?i] — eine
Vorstellungsart, die, trotz ihrer handgreiflichen Falschheit, doch der mensch-
lichen Eitelkeit so sehr schmeichelt, daß noch bis auf den heutigen Tag
viele Theologen, und selbst sogenannte Natiirphilosophen ^ nicht davon lassen
wollen. Wer da meint, daß die Götter vom Himmel auf die Erde herab-
gestiegen seien, um wie Menschen zu leben und zu sterben, befindet
sich in einem nicht geringeren Irrtume, als der, welcher den Menschen,
das gebrechliche Erdengewächs, für das Meisterstück der gesamten Schöpfung
erklärt; — wer so etwas behaupten kann, vergißt die Beobachtungen
Herschels usw. — Da wir nur den kleinsten Teil der Erdoberfläche
kennen, so wäre es wohl am ratsamsten, erst die Erde selbst noch ge-
nauer zu erforschen, bevor man in sogenannten Geogonien über den Ur-
sprung derselben haltungslos philosophierte." Sehr wahr, doch möchten
wir, wenn Newtons Name genannt wird, um mehr Respekt bitten, als die
Worte verraten ; etwas vernünftiger ist die Hypothese Newtons, daß die Erdmasse
ursprünglich flüssig gewesen sei. In diesem Tone spricht von dem großen, ja
unvergleichlichen New^ton niemand, der ihn nur einigermaßen kennt. Auch
braucht für Newtons Lehre von der Erhebung des Äquators und von
der Verkürzung der Polar -Axe durch die Axendrehung, nicht gerade
Flüssigkeit, sondern nur Weichheit der Erdmasse, oder überhaupt Nachgiebig-
keit der Teile gegen die Wirkung des Schwunges, angenommen zu werden.
Am meisten Sorgfalt scheint der Verf. auf die naturrechtlichen Artikel ver-
wandt zu haben; sein Interesse dafür und seine x\nsichten, sind zu bekannt,
als daß davon noch Proben nötig wären. Seine sehr ausgebreitete Bücher-
kenntnis kam den historischen Artikeln zu statten ; gewöhnlich aber ist bei
ihm die Literatur mehr hingestellt, als verarbeitet und zur Darstellung
benutzt. Will jemand andere Wörterbücher, z. B. das physikalische von
Gehler (sowohl das ältere, als das neue, welches jetzt herauskommt),
oder auch das physiologische von Pierer, oder vollends das mathematische
von KlüGEL, mit dem vorliegenden philosophischen vergleichen, so wird
leicht die Frage entstehen, ob denn die Philosophie etwa nicht geeignet
sei, so interessanten Darstellungen, wie man dort findet, Stoff" zu geben.
Freilich wird sich daran die Frage knüpfen, ob es denn auch einem
einzelnen Manne zuzumuten sei, daß er allein ein philosophisches Wörter-
Herbarts Werke. XIII. 6
82 J- F. Herbarts Rezensionen.
buch ausarbeite. Unseres Erachtens hätte Hr. K. weit besser für die
Wissenschaft gesorgt, wenn er Mitarbeiter angenommen, und sich an die
Spitze eines Unternehmens gestellt hätte, welches ihm ohne alle Gehilfen
notwendig sehr schwer fallen mußte. Die Ungleichheit der Ansichten,
welche alsdann in den verschiedenen Artikeln hervorgetreten wäre, ist
kein großes Übel, wofern nur für alles, was aus Einer Feder kommt,
die nötige Bezeichnung nicht fehlt. Aber den heutigen Philosophen scheint
leider kein anderer Gedanke so fremd zu sein, als der, daß sie ihre
Kräfte vereinigen müßten; höchstens sieht man noch einen Meister, um-
geben von einer Schule, die ihm zu sehr ergeben ist, um Andersdenkende
zu interessieren. Unter denen, welche die Wissenschaft selbständig be-
arbeiten, fehlt durchgehends das Bemühen, einer den anderen genau und
gründlich zu studieren. Daher Klagen über Dunkelheit; daher ein be-
ständiges Mißverstehen und Nicht- Verstehen ; daher Äußerungen von gegen-
seitiger Geringschätzung, als ob jeder Hoffnung hätte, die anderen würden
wohl irgend einmal durch ihre eigenen Fehler scheitern und zu Grunde
gehen. Die leichte Art von Polemik, womit Hr. K. freigebig ist, liegt
zwar zum Teil in kurzen und treffenden Bemerkungen, zum Teil aber
auch in Machtsprüchen, wie folgender: Gefühlsphilosophie taugt nichts^ weil
sie der Ei?ibildtmg Tür und Tor öffnet!'-' Ist es denn wahr, daß diejenigen
Lehren, welche unter diesem Namen bekannt sind, so geradezu nichts
taugen? Und wenn dieselben allerdings sehr mangelhaft sind, liegt der
Grund des Mangels gerade vorzugsweise an besonderer Fülle von Ein-
bildungen? Wir kennen ganz andere, weit mehr phantastische Schulen,
die keinesweges durch jene Benennung sich charakterisieren lassen. Ferner,
es ist sehr leicht, eine solche Polemik nachzuahmen; wir könnten z. B.
sagen, Hrn. Krugs angenommenes Bestrebuugsvermögen tauge nichts, weil
es einer eingebildeten tianseuuten Tätigkeit Tür und Tor öffne. Schwer-
lich wird er hiermit seine Lehre von zwei Hauptvermögen der Seele für
widerlegt halten; und wir können es ihm auch nicht eher anmuten, als
bis eine ausführliche Nachweisung hinzukommt, daß aus der Seele nichts
hinaus streben kann, und daß nur durch große Mißdeutung bei den Be-
gehrungen an ein transire gedacht wird. Was hilft nun eine solche
Polemik, die durch spitzig klingende Reden oder gar durch harte Worte
etwas ausrichten will? Was hilft die Klage über Dunkelheit, welche bei
Hrn. K. nicht selten wiederkehrt? Diese Klage — sollte man es glauben?
— erhebt Hr. K. sogar über Fries, indem er bei Anführung der Schriften
des letzten hinzufügt: sie seien oft wegen Mangels einer klai-en und bestimmten
Darstellung schwer zu verstehen! Nun fehlt nur noch, daß rückwärts ge-
klagt werde, Hr. K. sei schwer zu verstehen! Gebe man sich doch nur
die Mühe, einer den andern zu verstehen; nehme man sich nur Zeit,
einer den anderen zu lesen , so wird sich schon finden, daß Zeitgenossen,
die aus denselben Quellen schöpften, — daß Gelehrte, denen dieselben
Hilfsmittel zu Gebote stehen, einander nicht unerreichar sind. — Mit Hegeln
macht es Hr. K. noch schlimmer; ja es ist sogar irgendwo von .,Ho/-
philosophen'"'' die Rede, welche lehren, was wirklich sei, das sei auch vernünftig.
Was ist nun schlimmer, eine solche Lehre, oder eine solche Art, sie anzu-
greifen? Mag immerhin eine auffallende politische Orthodoxie in jenem
Dr. Troxler: Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik. 8^
Satze liegen: er ist dennoch nicht aus der Orthodoxie, sondern aus dem
Geiste eines Systems entsprungen, das sich dem Spinozismus nähert; und
Hr. K. würde Dank verdient haben, wenn er diese historische Beziehung
kaltblütig entwickelt hätte. — Allein wir verweilen schon zu lange bei
den Mängeln eines Werkes, das so, wie es nun einmal ist, immer noch
einer zahlreichen Klasse von Lesern recht willkommen und nützlich werden
kann. Dem geehrten Verf. wünschen wir Ausdauer seiner Kraft und Lust,
uns in der Folge noch mit anderen, mehr gefeilten Werken seiner Feder,
dergleichen wir von ihm wohl kennen und aufrichtig schätzen, zu erfreuen.
Troxler, Dr., Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder
Metaphysik. — Aarau, 1828.
Gedruckt in: Hall. Literatur-Zeitung 1829, Nr. 10 — 12. Kl. Seh. III, S. 675.
SW. XII, S. 600.
Der Verf. dieses Buches ist zu bekannt, seine Schreibart zu geist-
reich, und er besitzt zuviel Kenntnis und Belesenheit, als daß wir seine
Arbeit so leicht abfertigen dürften, wie er selbst dasjenige abzufertigen
pflegt, was seinen Ansichten nicht entspricht. Da wir ihm nun nicht zu-
geben können, Metaphysik sei Naturlehre des menschlichen Erkennens,
auch den Lesern dieser Blätter nicht versprechen dürfen, sie würden in
dem Buche e?itweder eine Metaphysik, oder eine Naturlehre der mensch-
lichen Erkenntnis finden: so sind wir genötigt, uns tiefer einzulassen.
Dies geschieht mit dem aufrichtigen Bedauern, daß ein Mann, der vor
einem Vierteljahrhundert jung war, noch jetzt eine Art zu philosophieren
forttreibt, welcher das Zeitalter mehr und mehr müde wird. Li dieser
Art ist längst gewirkt worden, was gewirkt werden konnte; weitere Er-
folge sind kaum zu erwarten. Eher möchte Kants Philosophie sich ver-
jüngen, oder ist zu erwarten, daß ältere Formen wiederkehren; denn das
Zeitalter sucht Ordnung und Bestimmtheit, der Enthusiasmus aber ist er-
kaltet. Wer jetzt noch in alten Ordnungen das Gute verkennt, was sie
hatten, der ist im Begriff, zu veralten. Hiermit soll nun zwar nicht gesagt
sein, daß ein Philosoph Gewicht legen dürfe auf die Frage: was dem Zeit-
alter beliebe günstig aufzunehmen? Aber jedes Individuum läuft in späteren
Lebensjahren Gefahr, hinter neueren Fortschritten zurückzubleiben. Der
Verf. mag immerhin in dieser Rezension Veranlassung finden, sich zu
fragen, ob ihm etwa so etwas begegnet sei?
Der Tadler der alten gute7t Ordnung läßt sich in seinem Vorworte
also vernehmen: „Nach der alten Einteilung der Philosophie, welche
eigentlich nur Teile und kein Ganzes hatte, hätte diese Schrift ins Gebiet
der theoretischen Philosophie fallen müssen, welche Logik und Metaphysik
begriff. Beide wurden wieder voneinander getrennt, wobei sich das sonder-
bare (?) Verhältnis ergab, daß die Logik, als die allgemeine Wissenschaft
vom reinen und angewandten Denken, eine alle Gegenstände des mensch-
lichen Erkennens in sich enthaltende Wissenschaft, die Metaphysik, als
Lehre von Gott, von der Seele, von der Welt, sich gegenüber hatte; ab-
6*
8^ J- F. Herbarts Rezensionen.
gesehen von der als Hauptteil bereits ausgeschlossenen sogenannten prak-
tischen Philosophie, welche denn doch wohl auch wieder, als die aufs
Gewissen, auf die Sittlichkeit, und auf das Handeln gerichtete, Gott,
Seele und Welt zum Gegenstande haben mußte." Wenn nun Einer fort-
führe, es sonderbar zu finden, daß Geschichte, Geographie, Astronomie usw.,
noch neben der weltumfassenden Metaphysik ihre eigene Existenz als be-
sondere Wissenschaften behaupten : so würde der Verf. selbst ohne Zweifel
sogleich einen solchen Tadler mit der Erinnerung, an die Arl des Forschens
zurückweisen, welche in den genannten Wissenschaften notwendig eine
ganz andere sei, als in der Metaphysik. Eben dasselbe haben wir ihm
zu sagen, und lediglich die Bemerkung wegen der attgetvandtefi Logik
beizufügen, daß diese allerdings auch in unseren Augen nur eine proble-
matische Existenz haben kann, da sie sich nicht in eine Summe von
Methodcnlehren der andern Wissenschaften verwandeln, noch viel weniger
aber deren Stelle vertreten kann. Übrigens aber fügt sich ein Ganzes
aus Teilen sehr wohl zusammen, sobald nur die einzelnen Teile nicht so
ungeschickt gearbeitet sind, als ob jeder seine rechte Grenze überschreiten,
und wohl gar selbst das Ganze vorstellen wollte. Das ist eben der Irrtum,
welchen der Verf. aus der Schule seiner Jugendjahre mitgebracht und
festgehalten hat, daß er eine Totalität will, wo keine ist. Zwar im Geiste
des ausgebildeten Denkers durchdringt sich alles, was ihm die verschiedenen
Wissenschaften darbieten; aber die Einheit dieser innigen Durchdringung
in einem Buche, oder auch nur in einem Kathedervortrage darlegen zu
wollen, heißt nicht wissen, was man will. Und hier ist der Anfangspunkt
einer Schwärmerei, in deren Schöße gar mancher Irrtum verzärtelt und
verzogen wird, der sich späterhin in die Welt nicht zu finden und zu
schicken weiß. Darüber gehen Fleiß und Pünktlichkeit, die allein etwas
ausrichten können, verloren, und ein spielender Witz- tritt an deren Stelle.
Es lassen sich Reden vernehmen wie folgende: „Es ist nun weltbekannt,
daß die Metaphysik seit jener unglücklichen Teilung, bei welcher sie,
wohl kaum mehr ihrer Sinne mächtig (!), der einen ihrer zwei Töchter,
der Ontologie^ die formlosen Wesen, und der andern, der Logik, die wesen-
losen Formen vermacht hat, keine Schiffe weder für Wasser noch für
Luft mehr hat ausrüsteti, und folglich auch keine weiteren Entdeckungs-
reisen im Weltraum hat vornehmen können." Da der Verf. einmal von
Schiffen redet, so wollen wir ihn zuvörderst erinnern, daß zur x\usrüstung
solcher Schiffe, die zu Entdeckungsreisen bestimmt sind, vor allen Dingen
auch mathematische Werkzeuge gehören, und Steuermänner, welche Mathe-
matik verstehen und zu brauchen wissen. Was aber dachte der Verf.,
als er die Ontologie eine Tochter der Metaphysik nannte? Jedermann
weiß, daß Ontologie eben allgemeine Metaphysik selbst ist. Was dachte
er ferner, als er die Logik eine Tochter der Metaphysik nannte? Eine
sonderbare Tochter, die früher groß wird, wie die Mutter! Eine ungeratene
Tochter, die sich überall der Mutter in den Weg stellt; denn jeder weiß,
daß tüchtige, metaphysische Köpfe unwillkürlich auf solche Begriffe kommen,
welche dem logischen Denken widerstreben! Übrigens war die Logik bei
den i\lten ohne Zweifel großenteils ein Erzeugnis der Rhetorik, deren
öffentlicher Gebrauch ihnen noch wichtiger war als uns.
Dr. Troxler: Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik. ge
Man wird nun fragen, was der Tadler des Alten denn eigentlich
wolle? Nichts Geringes, und doch in unsern hochfahrenden Zeiten etwas
ganz Gemeines. Er will nicht etwa bloß jene alte Metaphysik, die er
tief unter sich sieht, sondern Schelling und Hegel verbessern. Dazu
wären nun zwei vorläufige Bedingungen nötig: erstlich müßte er nicht
mehr in Schellings Schule befangen sein; zweitens müßte er uns die
nicht eben leichte Frage beantworten können: welches der eigentliche,
historisch bedeutende Fortschritt sei, den die Philosophie von Schelling
zu Hegel getan habe? Alsdann erst möchte man weiter überlegen, ob,
und wie nun fortzuschreiten, — oder seitwärts oder rückwärts zu gehen
sei? — Vor aller weiter ins Einzelne gehenden Angabe und Beurteilung
wollen wir hier eine Probe der Art, wie der Verf. an Hegel seinen Witz
übt, hersetzen. „Die sich von der Philosophie ablösende Spekulation
wirkt ebenso feindlich und schädlich auf sie zurück, als jede andere von
der Außenwelt oder aus dem Altertume herstammende Dogmatik. Dies
zeigt sich zunächst und am auffallendsten bei Hegel, welcher den An-
fang der Philosophie in dem reinen Sein, das nichts voraussetze, gefunden
zu haben wähnte. Wie einst der in seiner Kunst große Zeuxis, hinter
der, einen Korb mit Früchten vorstellenden Tafel stehend, die schmeichel-
hafte Freude erlebt haben soll, daß Vögel, durch den täuschenden An-
blick gelockt, zum Naschen herbeiflogen, so geschah es auch, daß Hegel
sein als reines Sein gemaltes reines Nichts von vielen der Zeitgenossen als
Anfang der Philosophie geglaubt und verehrt sehen konnte. Das eitle
Wesen der Spekulation hat steh aber noch niemals so klar offenbart, wie in
der Ironie, ivelche hier die Philosophie mit der Sophistik getrieben, da sie
diese ihr reines Sein wieder für ein reines Nichts zn erklären nötigte; und
das Ende der Philosophie, statt des Anfangs, ihr hinhaltend, sie verführte,
das abgerittene Schulpferd bei?n Schweife aufzuzäumen." Rez. ist kein An-
hänger Hegels; aber dennoch ehrt er Hegels Scharfsinn; und findet es
wahrhaft unleidlich, daß mit bloßer Witzelei gegen den Denker gestritten
wird. Darum soll hier zuvörderst die Stelle von Hegel, worauf gezielt
worden, — schroff und hart wie sie ist, aber auch im nötigen Zusammen-
hange, — hergesetzt werden. ,,Das reine Sein ist die reine Abstraktion;
hiermit das absolut Negative, welches, gleichfalls unmittelbar genommen,
das Nichts ist. Das Nichts ist umgekehrt dasselbe, was das Sein ist. Die
Wahrheit des Seins^ sowie des Nichts, ist daher die Einheit beider; diese
Einheit ist das Werden. Jedermann hat eine Vorstellung vom Werden, und
wird ebenso zugeben, daß sie Eine Vorstellung ist; ferner daß, wenn man sie
analysiert, die Bestimmung vom Sein, aber auch von dem schlechthin andern
desselben^ dem Nichts, darin enthalten ist; ferner daß diese beiden Be-
stimmungen ungetrennt in dieser Einen Vorstellung sind; so daß Werden so-
mit Ei7iheit des Seins und Nichts ist. Ein gleichfalls nahe liegendes Beispiel
(von der Einheit des Seins und des Nichts) ist der Anfang; die Sache
ist noch nicht in ihrem Anfange, aber er ist nicht bloß ihr Nichts,
sondern es ist auch schon ihr Sein darin.'-'- Nichts kann deutlicher sein
als diese Aussage. Hegel setzt eigentlich das Werden, welches ein Ge-
gebenes ist, sowohl durch innere als durch äußere Erfahrung; daher nie-
mand es verschmähen darf, vielmehr jeder es muß wenigstens vorläufig
86 J- F- Herbarts Rezensionen,
gelten lassen, wenn er es auch weiterhin etwa als einen bloßen Stoff für
höhere Betrachtungen behandelt und verarbeitet. Anstatt aber das Werden
geradezu auftreten zu lassen, findet Hegel für gut, zwei abstrakte Be-
griffe, vom Sein und vom Nichts, voranzuschicken, und die Vereinigung
beider zu fordern; natürlich in der Voraussetzung, wer ihm die Forderung
abschlage, müsse erst das Werden leugnen; und daJwi, meint er, iverde
es so leicht nicht kommen. Vielleicht meint er das mit Unrecht; aber
meint etwa Hr. Dr. Troxler es anders? Wir haben in seinem Buche
keine Spur gefunden, daß er mit dem Werden besser umzugehen ver-
stände. Fürs erste nun, und bis wir etwa eines Besseren belehrt werden,
wollen wir einmal die Frage, ivas die Philosophie durch Hegel ge-
womien habe, dahin beantworten: Hegel spricht die Probleme der Meta-
physik härter, und darum deutlicher aus, als seine Vorgänger ; hiermit sind
sie Z7var nicht gelöst, aber der Auflösung näher gerückt. Was wir vom
Werden gesagt haben, gilt auch von andern Problemen; Hegel führt
mit Recht das Werden nur als Beispiel an; die ähnliche Schwierigkeit
wie dort, findet sich im Ich, in der Substanz, in der Materie und ander-
wärts. Wer in Dingen dieser Art nicht vollkommen orientiert ist, dem
darf man sagen, er kenne die Metaphysik nicht; selbst wenn er ein Buch
unter diesem Titel geschrieben hätte.
Seines unvergeßlichen Lehrers Schelling erwähnt zwar der Verf.
als dessen, durch den ihm zuerst der hohe Geist echter Philosophie er-
schienen sei. Das hindert ihn aber nicht, zu sagen: auch Schelling habe
über de7i Gegensatz V07i subjektiver und objektiver Welt nicht hinajiskonimeji
können. Er habe eine JNIenge von Verheißungen, die sein totes Absolutes
niemals hätte halten können, aus seinem reichen, lebendigen Innern erfüllt;
aber statt des versprochenen Einheitssystems nur eine Geistesphilosophie
und eine Naturphilosophie zu geben vermocht; bei einem bloßen Parallelis-
mus von Geist und Natur sei es geblieben. Und was wollte denn Hr. Tr.
mehr? Doch wohl nicht dies, daß Schelling durch seine Katheder-
vorträge die Welt vom Gemeinen und vom Bösen befreien, oder daß er
der allmählichen, wirklichen Entwicklung des jMenschengeschlechts durch
bloße Worte vorgreifen sollte? Hätte Schelling Geist und Natur beide,
wie sie gegeben sind, begreiflich machen, hätte er das Gesetz und die
Schranken ihrer Entwicklung bestimmen können, so wäre sogar der
Parallelismus eine vielleicht willkommene, aber unnötige Zugabe gewesen.
Ist aber der Parallelismus nur Schein gewesen, der durch künstliche Deute-
leien ohne Genauigkeit erregt wurde; ist die ganze Bemühung um ihn
durch Leibniz, der das Kausalverhältnis zwischen Leib und Seele nicht
zu erklären wußte, veranlaßt, und durch den mehr kecken als scharf-
sinnigen Spinoza, der sein törichtes quatenus gleich gemächlich an beiden
Attributen der Gottheit anbringen zu können vermeinte, beinahe zur fixen
Idee geworden: so hätte Hr. Tr. nicht klagen sollen, beim Parallelismus
sei es gebliebeti, sondern vielmehr darüber, daß es dahifi kam^ sich zu be-
schweren Ursache finden können. Eben deswegen, weil man im Paralleli-
sieren sich gefiel, stockten die Untersuchungen über den wahren Zu-
sammenhang der Dinge. Eben darum, weil man mit Bildern, mit so-
genannten Bedeutungen tändelte, kam man nicht zur Sache, und erkannte
Dr. Troxler: Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik. 87
weder die Natur im Geiste, noch das Analogen des Geistigen in der
Materie. Allerdings gibt es Untersuchungen, welche zeigen, wie das
Äußere mit dem Innern zusammenstimmt, aber nicht, weil eins das andere
abbildet^ sondern weil eins vom andern abhängt. Diese Untersuchungen
sind aber nicht bei Leibniz und Spinoza, nicht bei Schelling und
Troxler zu suchen ; sie liegen nicht hinter uns , sondern sie eröffnen
sich vor uns zu einer unabsehlichen Weite. Sie leiden kein deutelndes
Parallelisieren, sondern sie fordern Rechnungen, und solche metaphysische
Arbeiten, welche Schritt für Schritt mit ähnlicher Pünktlichkeit vollführt
sein wollen, als ob es Rechnungen wären. Davon hat Hr. Tr. keine
Ahnung. Nach ihm hätte Schelling in der falschen Richtung, die er
von seinen Vorgängern angenommen hatte, noch einen Schritt weiter
gehen sollen. Über die Triade, bestehend aus Geist, Seele und Leib,
hätte er sich erheben sollen zu einer ,, heiligen Tetrakfys", der höchsten
Naturentwicklung im Gegensatze und in der Wechselwirkung von Geist
und Körper, als Urverhältnis, und von Seele und Leib, als ihrer Be-
ziehung. Diese Ansicht ist „der alleingültige und ganz vollendete Schematis-
mus"; wobei wir zunächst zu erinnern haben, daß Schemata nach der
Vierzahl geordnet, uns längst in Menge zu Gesichte gekommen sind; aber
noch keins, das mit Untersuchungen auch nur die entfernteste Ähnlichkeit
gehabt hätte.
Ehe wir nun von dieser heiligen Tetraktys das Weitere berichten,
muß eine Übersicht gegeben werden, welche bei der fast gänzlichen Plan-
losigkeit des mehr deklamierenden als lehrenden, und in den verschiedenen
philosophischen Lehrgebäuden zwar vielfach herumspukenden, aber nirgends
einheimischen Buches, recht füglich durch bloßes Abschreiben der Inhalts-
anzeige geschehen kann. Sie lautet wie folgt: i. Vorworte über die
Wissenschaft. 2. Phantasien des Metaphysikers. 3. Philosophie, wahre
und falsche. 4. Orientierung nach dem Urbewußtsein. 5. Seelenlehre
mit zwei Psychen. 6. Eitelkeit der Spekulation. 7. Sinnlichkeit, oder
Sein im Schein. 8. Reflexion, oder des Geistes Rückkehr. 9. Raum
und Ewigkeit, Ort und Zeit. 10. Metaphysik von Schlaf und Wachen.
II. Des Erkennens Urordnung und Grundgesetze. 12. Religion, oder der
Mensch in Gott. 13. Mysterium, oder Gott im Menschen. — Unter
diesen Rubriken wird dem Leser, dem eine Naturlehre des Erkennens
versprochen war, zuerst und vorzugsweise die Seelenlehre mit zivei Psychen
aufgefallen sein. Nur zwei ? Wir würden lieber zwanzig vorschlagen.
Denn an jenen beiden, die schon aus Xenophons Cyropädie bekannt
sind (der Verf . erinnert an die Rede des Araspes, welchen die Liebe
eine neue Philosophie gelehrt hatte, und welcher nun bekennt: besäße
ich nur eine Seele, so könnte diese nicht zugleich das Gute und auch
das Böse lieben, nicht in demselben Augenblicke etwas tun und nicht
tun wollen), an diesen zwei Seelen ist's noch lange nicht genug. Viel-
mehr, in jeder Masse von Vorstellungen, welche durch längeres Verweilen
im Bewußtsein, oder durch häufige Rückkehr in dasselbe, Zeit gewinnt,
um psychische Prozesse in sich zu einiger Ausbildung gelangen zu lassen,
erzeugt sich beinahe das ganze System von sogenannten Seelenvermögen,
woran die empirische Psychologie zu kleben pflegt. Kommen nun mehrere
gg J. F. Herbarts Rezensionen.
dergleichen Massen zusammen, so gibt es Gegenwirkungen unter ihnen,
die oftmals stürmisch werden; und wovon die inneren moralischen Kämpfe
des Menschen nur die bekannteren Beispiele sind. Wer aber soweit
kommt, sich diesen Stürmen zu widersetzen, der sucht in sich zur Einheit
zu gelangen; diese Einheit sucht er stets, aber stets auch fehlt etwas
daran; sie erscheint nun als unerreichbares Ideal. Vieles aber wissen
diejenigen von sich zu erzählen, die solchergestalt wider die Innern Stürme
gekämpft haben; besonders weil sie dabei sich selber suchten und nicht
fanden. Als ein Beispiel von solchen Erzählungen kann diejenige dienen,
womit unser Verf. seinen Vortrag über die zwei Psychen beginnt. „Lange
bin ich dem Verstände und der Vernunft nachgegangen und nachgehangen,
denn ich glaubte, sie zusammen zeugten die Weisheit; und habe die
Weisheit auch gesucht am hellen Tage und in dunkler Nacht; in der
Welt, im Leben, in heiligen wie in unheiligen Büchern, bei den Tieren
und Pflanzen, wie unter den Menschen; ich habe nach ihr gefragt bei
den Sternen und bei den Steinen, die Natur, und mich selbst, Himmel
und Erde; und habe wohl Verstand gefunden in allem, aber keine Weis-
heit, die vor Gott und der Welt bestände, und mich lehren könnte,
woher ich gekommen, was ich jetzt hier sei und solle, und was zu werden
ich bestimmt? — Denn dies war es, was mir immer am tiefsten im
Sinn, und überall zunächst am Herzen lag. Und wenn ich so sann und
forschend mich vertiefte, fühlte ich innig und heiß in mir jene Angstqual
der Seele sieden, und jenes Angstrad der Natur rollen und rasseln, wie
Böhme und andre, bald wie Schreck in dem Zweifel, bald wie Blitz in dem
Meinen, bald wie Glast in dem Glauben; aber es lief in dem Rade alles
um- und durcheinander, und die Angst gebar die unaussprechlichste Bangig-
keit in mir, mit geistigen Fieberschauern, bis zur furchtbarsten Gemütsnot.
Ich ward lebendig inne, daß jedes menschliche Herz und aller mensch-
liche Geist da hindurch muß, wenn sie ins lichtere Dasein und zu ihrem
besseren Selbst gelangen sollen. Um aber aus seiner dunklern Natur
und ihrem niedern Zustande herauszukommen, darf der Mensch ebenso-
wenig in vermessenem Stolz und Übermut eine fremde, unmenschliche
Kraft in sich aufrufen, als er nach der gewöhnlichen Armensündertheorie,
Erlösung, Licht und Heil nur in äußern menschlichen Satzungen und
Werken suchen soll. Ich ward inne, daß das, was man Wiedergeburt
und Auferstehung, oder Umwandlung des INIenschen, Einkehr in sich, das
Zusichkommen, die Erweckung, oder den Durchbruch genannt hat, das
ganze menschliche Wesen durchlaufe, und im Grunde nichts anderes sei,
als des Lebens eigner höchster Lichtblick; sowie die Angstqual, und all'
das innere Kreuz und Leiden eben nur den Zwist und Streit, den Seelen-
kampf der Natur darstelle vor der Erleuchtung, Gnadenwahl, Heiligung
und Erlösung aus dem Zustande der Verdunkelung und Versenkung, der
als Sündenfall, Verlust der Unschuld, Erbsünde des Geschlechts, den Aus-
gang der Natur aus Gott, und den Übergang von dieser zur Sinnlichkeit
und zur Welt bezeichnet. Ich ward inne, daß der Mensch wohl durch
Lehre und Hilfe, durch Beispiel und Vorbild, durch Führung in sich und
zu sich selbst gebracht werden könne, aber nicht, ohne daß er zuvörderst
seinen psychischen Arzt, seinen Seelenarzt, Erlöser, Erzieher und Vollender
Dr. Troxler: Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik. 8q
in sich selbst auffinde und befolge, so wie niemand den physisch Er-
krankten oder Erschöpften heilen, stärken und aufrichten kann, anders,
als durch Anregung, Betätigung und Leitung der göttlichen Heilkraft seiner
eignen Natur."
Aus vielfacher Unruhe sich emporgearbeitet, manches innere Schicksal
durchlebt und in sich beobachtet zu haben, dies ist unstreitig eine der
ersten Bedingungen, ohne welche keiner ein Psychologe werden kann.
Wir wollen es der angeführten Stelle glauben, daß der Verf. vieles von
dem innern Vorrate in sich finde, welcher zum Behuf der Seelenlehre
bereit liegen muß. Hat er denn auch die Selbstbeherrschung, die Kunst,
die spekulativen Übungen und Hilfsmittel, um den Stoff zu formen? Wo
bleiben, um nur beim Nächsten stehen zu bleiben, die angekündigten
zwei Psychen? Sollen wir erraten, was er damit meint, indem er stets
bilderreich, von überirdischer und unterirdischer Geburt des Geistes, von
wunderbaren geistigen Meteoren an den beiden Grenzen, wo die Mitter-
nacht dem Morgen zudämmert, und wo der Abend sich dem neuen Tage
zuwendet usw., zu reden nicht müde wird? Was soll hier das Zeitalter
mit seiner Unruhe mitten im Frieden? Was soll der Hafen bei Navarin?
Wozu dient an dieser Stelle die von Messmer ausgegangene Wieder-
auffindung ,,der uralte?? Vorwelt i?? der menschlichen Natur?" Wozu hier
die Erwähnung der Mystiker, welche das Verhältnis der menschlichen
Natur von sich auf Gott übertragen? Wozu der Vorwurf gegen die Theo-
sophie, sie habe versäumt, sich anthroposophisch zu begründen? Selbst
von den bekannten drei Hypothesen über das Band zwischen Leib und
Seele verlangen wir hier nichts zu hören. Auch die Namen Schelling,
Leibniz, Xenophon, Ovid, Rousseau, Salaville, Pascal, Reimarus,
Platner, Tetens, Basedow. Hume, Kant, Descartes, welche hier an
unsern Ohren vorüberrauschen, können uns für dasmal nur in dem Ver-
dachte bestärken, der Verf. zögere bloß darum, sein Geheimnis von der
Seelenlehre mit zwei Psychen zu verraten, weil er nichts Deutliches davon
zu sagen weiß, und überall kein Geheimnis besitzt. Jedoch wollen wir
dem Leser folgende Stelle, die noch am ersten einer bestimmten Aussage
ähnlich lautet, nicht vorenthalten. „Die eine dieser Psychen ist die Seele
vor und gleichsam unter der körperlichen Natur, die dieser Natur zu
Gnmde liegende und sie hervorbringende ; die andere aber ist die Seele nach
und über dieser körperlichen Natur, sie wieder aziflösend ?md in Geist zu-
rückbildend. Nur sofer?? sie außer dem Körper sind, sind sie Seele; so
wie die Seele aber in ihrer Durchdringung sich als des Körpers selb-
ständige Einheit gesetzt hat, ist sie Lebenskraft. Das Prinzip der körper-
lichen Natur, das durch seine Periodizität und sein Organisieren seine
geistige Abkunft kund gibt, läuft auch wieder als Produkt in die geistige
Natur zurück, so wie es als Prinzip von ihr ausgegangen; ist also nicht
aus der irdischen Welt, die ja vielmehr seine Schöpfung, und nicht aus
ihren Kräften und Elementen hervorgegangen." — In dieser Stelle er-
kennen wir nun sehr deutlich das alte q?iatenus des Spinoza, und die
Einbildungen und Rückbildungen Schellings. Man könnte daher wohl
dem Hrn. Tr. den Rat geben, sich ja recht dicht an seinen Meister
Schelling anzuschließen, und an kein Überbieten desselben weiter zu
QO J- F. Herbarts Rezensionen.
denken. Er mag sehr zufrieden sein, durch jenen gehalten zu werden;
fällt einmal Schelling, so ist Troxler ganz dahin, falls er nämlich in
seinen zivei Psychen fortzuleben hoflft.
Kaum geboren, sind diese jungen Psychen auch schon anmaßend
genug, ziüei Psvchologien für sich zu fordern, eine, welche sich mehr der
Pneumatologie, und eine zweite, die sich mehr der Somatologie annähert.
Unser kritisches Gewissen aber zwingt uns, dieser Anmaßung, als einer
durchaus grundlosen und falschen, geradehin zu widersprechen. Nicht
ganz zum Scherz haben wir vorhin zwanzig Psychen an die Stelle von
zweien gesetzt; jetzt behaupten wir im vollen Ernste, daß nicht bloß diese
alle sich vollkommen mit einer einzigen Psychologie behelfen, welche
ihnen allen genügt und sie alle umfaßt, sondern daß auch diese Eine die
hinreichende Fähigkeit besitzt, der Somatologie (welcher mit einem un-
bestimmten Mehr der Annäherung schlecht gedient sein würde) sich mit
wissenschaftlicher Genauigkeit anzuschließen; geradeso genau, als nötig
ist, um das Verhältnis zwischen Seele und Lebenskraft gehörig zu be-
stimmen. Nur muß freilich zu diesem Vereine die Somatologie selbst
das Ihrige beitragen. Das heißt, man muß erst durch wissenschaftliche
Untersuchung nachgewiesen haben, was Materie überhaupt ist, und wie
sie in den Raum kommt, ehe man mit irgend einigem Erfolge das
Band und das Verhältnis zwischen dem Räumlichen und dem Innern der
Dinge in Betracht ziehen kann. Deklamationen gegen die Eitelkeit der
Spekulation, wie man sie in dem nun folgenden sechsten Abschnitte beim
Verf. findet, würden dazu die schlechteste Vorbereitung sein. Freilich
von einer Philosophie, die sich über alles Gegebene erhebt, wie der Verf.
im Vordersatze seiner ersten Periode rühmend vermeldet, gilt sehr richtig
der Nachsatz eben dieser Periode: dieses Leben der Philosophie habe seine
Todesart, die aus seiner eieenen Un^ebunde?iheit tmd Überbildung zunächst
hervorgehe. Denn daß die praktische Philosophie sich zu Idealen erhebt,
ja von Ideen ausgeht, ist ein Vorrecht, welches jene Wissenschaft, welche
Erfahrungsbegriffe zu läutern hat, sich nicht aneignen darf. Aber wenn
man mit dem Verf. im Anfange die Teilung der Philosophie in theoretische
und praktische verschmäht, dann hinkt die Reue nach; und doch ist sie
noch schnell genug, um die Lehre von zwei Psychen zu ereilen, gleich
nachdem dieselbe soeben ausgesprochen war. Allein der Verf. merkt
nicht, er habe sich selbst den Stab gebrochen. Vielmehr, jetzt eben er-
hebt sich sein Stolz. Hier ist die vorhin schon angeführte Stelle wider
Hegel; hier donnert er wider eine ;,trostlose und törichte Schar von
Menschen, die sich teilt in solche, welche ihre Selbstheit dem ganzen
großen Äußern hingebend sich selbst aufheben, und solche, die ihr eignes
dünnes Ich zum Quellpunkt aller Welt machen". Und witzelnd von einer
K?iäuel - Seele beim System -Winden, fährt er fort: „es würde uns nun,
wenn es hierher gehörte, nicht schwer sein, zu zeigen, wie Spinoza auf
seine Substanzseele besonders links, Leibniz auf seine Monadenseele vor-
züglich rechts, wie Kant in der Kritik durcheinander, Fichte auf sein
Ich wieder rechts, Hegel auf sein Sein wieder links, Schelling in seiner
Naturphilosophie und seiner Geistesphilosophie nebeneinander, und am
meisten noch links und rechts zugleich gewunden, JxVCOBi endlich, der
Dr. Troxler: Naturlehre des mensclilichen Erkennens, oder Metaphysik. gi
immer nur nach dem Seelenheil großartig jammerte, aus Verdruß den
lange hin- und hergedrehten argen Knäuel der Philosophie auf den Boden
geworfen." Daß es Spaßmacher gibt, die in solchem Tone von großen
Denkern reden, war uns freilich bekannt. Hrn. Dr. Troxler aber, den
wirklich ein redlicher Ernst, ein edles Interesse für die Wissenschaft be-
seelt, wird nun jedermann fragen, ob er denn etwa mit seiner Gernüts-
philosophie (denn darauf läuft seine Rede hinaus) etwas Besseres tue,
als den Knäuel, den ihm jene Männer in die Hand gaben, ein wenig
in seinen Händen hin- und herdrehen? Vom Anders -Winden kann bei
ihm nicht einmal die Rede sein. Seine ,, innige Versetzung in eine lebendige
Mitte der unmittelbaren Erkenntnisquelle" ist nichts als Übermut. An
tmmittelbareni Wissen kann niemand hoffen reicher zu sein, als jene
großen Männer es waren; es ist törichter Stolz, wenn einer sich einbildet,
er stehe ursprünglich höher als jene. Nur mittelbar, nur durch weiter
fortgeführte, mit größeren Hilfsmitteln, und mit eisernem Fleiße durch-
gesetzte Arbeit kann man heutigestages hoffen, Früchte zu ernten, die
früher noch nicht reif waren. Wenn aber wirklich dem Hrn. Tr. die
Geschichte der Wissenschaft in so verworrenen Zügen erscheint, daß er
von Leibniz und Spinoza bis auf Schelling und Hegel nichts Besseres
erblickt als ein leidiges und vergebliches Wechseln zwischen rechts und
links: so liegt die Schuld an seiner mangelhaften Kenntnis der Wissen-
schaft, deren Namen er für sein Buch mißbraucht. Wir haben ander-
wärts durch vier Namen: Methodologie^ Ontologie, Synechologie und Eidolo-
logie^ die vier integrierenden, voneinander nicht loszureißenden, aber nach
Form und Art der Forschung sehr verschiedenen Teile der allgemeinen
Metaphysik bezeichnet. Jeder von diesen Teilen zeigt in der Geschichte
der letzteren eine eigene Bewegung; und es läßt sich kaum ein Denker
nachweisen, der nicht einseitig von der einen oder von der andern dieser
Bewegungen mehr ergriffen worden wäre. Das ist der Hauptgrund, wes-
halb die Geschichte der Metaphysik hin und her zu wanken scheint, und
weshalb es dem oberflächlichen Beobachter leicht bedünken kann, es sei
in ihr kein gerades Fortschreiten zu bemerken. Sie ist aber wirklich vor-
wärts gegangen; und ihr Gang wird gar sehr beschleunigt werden, sobald
man nur erst die angeführte Ursache ihres Wankens, und die Notwendig-
keit einer Gesamtbeivegung aller jener vier Teile gehörig begreifen wird. Für
jetzt aber sollte jeder Schriftsteller wenigstens soviel begreifen, daß eine
maßlose ungebändigte Polemik, wodurch das Tun der Vorgänger als ein
vergebliches Hin- und Herfahren dargestellt wird, das Publikum tötet,
welches für die schwerste der Wissenschaften ohnehin klein und schwach
genug ist. Man kann sehr ernstlich streiten; ja dies ist unvermeidlich,
um den Irrtum fortzuschaffen; aber wer sich die Miene gibt, jetzt erst
die Erkenntnisquellen für eine Wissenschaft eröffnen zu wollen, die ein
paar Jahrtausende alt ist, der überlegt weder den Sinn noch das Wirken
seiner Rede.
Es wäre uns nun sehr willkommen, wenn wir in dem vorliegenden
Buche Proben fänden, von dem, was man Spekulation nennt, nämlich
von dem fortschreitenden Denken, welches einen Gedanken nach und aus
dem andern erzeugt. Allein die Meinung von der Eitelkeit der Speku-
Q2 J» F- Herbarts Rezensionen.
lation scheint wirklich ihren Grund in der Natur des Verfs. zu haben.
Gar mancherlei hat er gelesen; nichts von dem allen bringt ihn von der
Stelle; die einzige Bewegung, die er empfängt, ist rotatorisch; er dreht
sich um seine Achse. Sein Einfall von den zwei Psychen ist immer noch
das Beste; alles Übrige kehrt zurück in die Aristotelische Tugend der
Mitte zwischen den Extremen. Wie jener Maler den andern zu über-
treffen suchte, indem er in einen schon sehr feinen Pinselstrich einen noch
feinern hineinbrachte, so scheint Hr. Tr. in dem Zentrum Schellings
einen Zirkel gesehen zu haben, der ein spitzigeres Werkzeug erfordere,
um noch schärfer den eigentlichen Zentralpunkt anzudeuten. Die natür-
liche Folge hiervon ist Eintönigkeit, die sich immer gleich bleibt, von
welchem Gegenstande auch die Rede sein möge. Ohne lange zu wählen,
setzen wir aus den folgenden Abschnitten noch einiges her. Zuerst aus
dem siebenten, überschrieben: Sinnlichkeit, oder Sein im Schein. „Sinn-
lichkeit ist uns die der Welt zugekehrte Einheit von Geist und Körper,
von Seel' und Leib des Menschen; aber eben deswegen nicht das Äußerste
und Unterste, wofür sie bisher galt, das dem Obersten und Innersten im
Menschen, wofür die Vernunft angesehen ward, entgegensieht, sondern
die Mitte^ — doch nur die auswendige und oberflächliche Mitte der
menschlichen Natur." (Also von einer Kugel nicht das innere Zentrum,
sondern ein Punkt auf der krummen Oberfläche. Aber welcher Punkt
ist denn da mitten?) „Alles Sein und Tun der Sinnlichkeit ist nach
dieser Ansicht bedingt durch ein iint ersinnliches und übei sinnliches Prinzip,
welche in der Sinnlichkeit sich begegnen und durchdringen. Die über-
sinnliche Erkenntnis ist allgemein anerkannt; die untersinnliche, welche
aller sinnlichen Erkenntnis vorgeht, und weit entfernt, in ihr anzuheben,
vielmehr in der entwickelten Sinnlichkeit untergeht, ward allgemein ver-
kannt. Die auffallendsten Erscheinungen wurden mißdeutet. Inzwischen
war der SomnavibuUsmtis aufgetreten und hatte zu magnetisieren an-
gefangen, daß die Menschen hellsehender wurden im Dunkeln. — Je
weniger Sinnesentwicklung, desto mehr Urbewußtsein; je mehr Sinnlich-
keit, desto weniger Urkenntnis. Alle Menschenkinder kommen somnambul
zur Welt, und sind bei noch verschlossenen Sinnen hellsehend in sich,
und kennen alles zum voraus, was sie zu sein und zu tun haben. Der
Mensch hat diese untersinnliche Intelligenz, so gewiß als im Tiere auch
die übersinnliche der Anlage nach vorhanden ist." (Wir räumen gern
ein, daß der Verf. eins oerade so gewiß wisse wie das andere.) „Dunkle
Gefühle, blinde Antriebe, Vorahnungen, Einsichten vor der Besinnung,
weissagende Träume, die von uns unabhängige Verkettung der Vor-
stellungen" (wüßte nur der Verf. den Sinn dieses Uns!).^ „still auf-
keimende Neigungen, plötzliche Affekte, Dur- und Molltöne des Humors,
die ersten Spuren des Temperaments, die tiefsten Anlagen des Talents,
die Urzüge des Charakters, die ganze geheimnisvolle MiHernacht im
menschlichen Gemüte" (lauter teils verwerfliche, teils mißverstandene
Zeugen!) „zeugen samt und sonders von dieser untergegangenen, über-
schütteten und begrabenen Ur- und Vorwelt, vo7i diesem unter Bergen und
Tälern, Straßen und Dörfern, Sumpf und Moor liegenden., mit Erdfällen,
Dunsthöhlen und Lavaströme7i überdeckten, zum Teil in Staub und Asche
Dr. Troxler: Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik. qi
verwandelten Pompeji und Hei-kulayium^ von den cyklopischen Mauern und
unterirdischen Gängen und Schachten der menschlichen Natur." (Eine Rednerei,
die ihre eigene Leerheit deutlich zur Schau stellt.) — Aus dem achten
Abschnitte, überschrieben: Reflexion.^ oder des Geistes Rückkehr. ,,Der
Mensch kommt nicht unmittelbar, sondern nur im Gegensatze seines Nicht-
Ichs zum Bewußtsein seines erscheinenden Ichs, was er in der unter-
sinnlichen Psyche beim Herrschen des Nicht -Ichs über das Ich, Selbst-
gefühl., in der übersinnlichen Psyche, beim Vonvalten des Ichs über das
Nicht- Ich, Selbstberuußtsein nennt. Selbstgefühl und Bewußtsein beruhen
also auf Unterscheidung und Wechselwirkung von zwei Wesen und Leben
im Menschen, und die Doppelnatur, die sich in ihrem Gegensatz selbst
offenbart, ist begründet in der Beziehung des Menschen auf seinen Ur-
sprung und auf seine Vollendung." (Das Also beruht, wie man sieht, auf
einer Art von chirurgischer Operation, wodurch das Selbstgefühl vom
Selbstbewußtsein abgeschnitten wird, damit zwei Psychen herauskommen.
Wir erinnern hier nochmals, und nicht scherzend, an unsere zwanzig
Psychen; denn der Gegenstand ist ohne Vergleich verwickelter, als der
Verf. ahnet. Das eingebildete Vonvalten aber, dessen wir längst müde
sind, ist durch seine Unbestimmtheit ein Bekenntnis von Unwissenheit.)
„Auch selbst noch in der Sinnesempfindung ist unmittelbar die Einheit
von diesem Ich- und Nicht-Ich, von welchen letzteres ebensowohl ein Ich,
als jenes erstere ein Nicht -Ich ist; denn der Mensch steht hier in der
Inversion seiner selbst." (Bei so gewaltsamer Umkehrung bleibt sicher kein
Grund, gegen Hegels Einheit des Sein und des Nichts zu eifern.) — Aus
dem neunten Abschnitte, überschrieben : Urphänomene, Raum und Ewigkeit^
Ort und Zeit: ..Raum an sich ist Anwesenheit, und Ewigkeit Gegenwart
Gottes in der Natur der Dinge. Ort oder Weltraum, und Zeit oder Zeit-
raum sind hingegen nur die Erscheinung von dem endlosen Wesen des
Göttlichen in der Welt, oder im Dasein und Wandel der Dinge. Das
Voraüssetzungslose und Unmittelbare in aller Natur lebt in sich selbst"
(wirklich In sich!), „indem es von sich aus und in sich zurück (!) geht,
daher entspringt eine evolutive und eine revolutive Richtung und Bewegung,
welche in ihrer Gottesferne oder Weltnähe sich kreuzen und umwenden''.
Es ist doch eine bedenkliche Sache um diese Gottesferfie, welche mit dem
In sich sehr schlimm kontrastiert. Hr. Tr. besinne sich an jenes .„als
reines Sein gemaltes reines Nichts ;" an jenes „eitle Wesen der Spekulation'''' ;
an jene ,^Ironie, welche die Philosophie mit der Sophistik getrieben'"''. Er hüte
sich vor seiner eigenen Behauptung: leerer Raum und tote Zeit seien an
sich schon Widerspruch, denn nur Erfüllung mache den Raum, und bloß
Bewegung die Zeit wahrnehmbar. Was den Raum erfüllen soll, wird in
ihm als beweglich, was in der Zeit geschehen soll, wird als verschiedener
Geschwindigkeiten fähig gedacht; was vollends in Raum und Zeit wahr-
genommen werden kann, zeigt deutlich diese Beweglichkeit und diese ver-
änderliche Geschwindigkeit. Aber die Voraussetzung des Beweglichen und
des Langsameren oder Trägeren ist der ruhende Raum und die bloße
Zeit; und so liegen die Widersprüche verborgen in der Voraussetzung!
Und von evolutiver und revolutiver Bewegung kann ohne diese Voraus-
setzung nichts verstanden werden; der Sinn der Worte geht ohne sie rein
QA J. F. Herbarts Rezensionen.
verloren. Alle Rednerei hilft nichts, um solche Fehler zu bemänteln.
Den zehnten Abschnitt, überschrieben: Metaphysik vo7i Schlaf und Wachen
(eine sehr sonderbare Metaphysik!) überschlagen wir der Kürze wegen,
und um nicht nochmals von den zwei Psychen zu reden; es sei genug,
noch etwas aus dem elften anzuführen, der nun endlich auf wenigen
Blättern von den Grundgesetzen des Erkennens handelt. Hier ist es, wie
sich gebührt, Kant, dessen der Verf. zuerst, und teilweise mit richtigem,
andernteils aber mit getrübtem Blicke erwähnt. Daß in der Vernunft-
kritik die menschliche Erkenntnis viel zu eng beschränkt wird, hat seine
Richtigkeit; aber zvarmn denn blieb Kant in den Schranken des Selbst-
bewußtseins, wie der Verf. sich ausdrückt, befangen? Was ist es, das ihn
hätte darüber hinausführen können und sollen? ^,Die zivei von uns ins
Licht gesetzten, unmittelbaren Erkenntnisquellen im Mejischcn blieben un-
begiiffeny So redet der Verf.! Daß es Übermut ist, wenn einer sich
immittelbar für weiser hält als Kant, das hätte er doch fühlen, und
wenigstens davon schweigen sollen, denn wir andern, die wir ebensowenig
als Kant das Glück haben, umittelbare Quellen eines höheren Wissens
in uns zu finden, versagen eben deshalb seiner Rede schlechthin alles
Vertrauen; wir leugnen unmittelbar, weil Er unmittelbar behauptet. Aber
noch mehr! Der Grund, weshalb Kant sich zu sehr beschränkte, ist
längst nachgewiesen worden; es ist der natürlichste von der Welt. Die
alte empirische Psychologie, mit ihren Seelenvermögen, durchdringt Kants
sämtliche Darstellungen; hierher war seine Kritik nicht gerichtet; hier
meinte er Ruhepunkte der Untersuchung zu finden, indem er die Formen
der Erfahrung auf Formen der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Ver-
nunft zurückführte. Dies Stehenbleiben war die natürliche Folge von Er-
müdung nach langer Anstrengung. Darüber blieben die Probleme der
Metaphysik, welche in den Formen der Erfahrung liegen, unentwickelt;
und von der Gemächlichkeit des damaligen Zeitalters waren sie ohnehin
vergessen; selbst jetzt noch, nach so langer Arbeit, ringen sie gleichsam
mit den Wellen der Vorurteile, um aufzutauchen. Will Hr. Tr. sie er-
blicken, so muß er zuerst allen Rednerschmuck von sich tun; und von
unmittelbarer Erkenntnis darf nicht zuviel gerühmt werden; desto fester
aber müssen die Streitigkeiten der Schulen, als eine zwar unerfreuliche,
jedoch unleugbare und sich stets erneuernde Tatsache ins Auge gefaßt
werden. Die Art von Politik des Verfs., alle Systeme soweit auseinander
als m.öglich, und die eigene Meinung als die sicherste Mitte zwischen
alle zu stellen, muß wegbleiben; denn dadurch werden die Berührungen
der Systeme zerrissen, auf welche mehr ankommt, als auf ihren Streit;
und wer noch Schutz in der Mitte sucht, der lehnt sich an, während er
aufrecht stehen sollte. Es ist zwar sehr gut gesagt: ,,der menschliche
Geist verwickelt sich in unauflösliche Schwierigkeiten und Widersprüche,
wenn er bloß in der Mannigfalticrkeit und Unwandelbarkeit der Er-
scheinungen und Begebenheiten sich umhertreibt ;" aber mit bloßem ,^An-
fiehmefi"' von Substanz und Ursache, wird nicht das Allermindeste ge-
wonnen; vielmehr wird die Untersuchung, welche in jenen Widersprüchen
ihr Motiv finden mußte, dadurch gestört, und eine faule Vernunft tritt
an die Stelle des Nachdenkens. Gerade dies ist in des Verfs. sogenanntem
Dr. Troxler: Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik. qz
natürlichen System der Erkenntnis geschehen; und er schmäht die künst-
lichen Systeme, weil er die Kunst nicht versteht. Wie wenig bei ihm
von der Kunst des Forschens die Rede sein kann, mag man aus folgenden
Zeilen schließen, die gegen das Ende dieses Abschnittes Platz gefunden
haben; „Das Räsonnement, dieses Denkspiel mittelst Reflex und Diskurs,
ist selbst nur eine Resonanz aus der echten Erkenntniswelt, nur das
Spektrum von dem eigentlichen Sonnenbild des Geistes; in ihm sind die
Lichttöne und die Schallstrahlen alle zerstreut und verzogen. Da stehen
die Sinnlichkeit und die Vernunft einander gegenüber, wie die zwei eifer-
süchtigen Propheten Micheas und Zedekias. — zwischen ihnen steht der
Verstand, das Tier Bileams; so wahr ist, was Paracelsus sagte: der
Spiritus macht einzig und allein das Spirituale in allem.'-'- Wieviel lernt man
durch solche Sprache von den verheißenen Grundgesetzen des Erkennens?
Und wenn Metaphysik wirklich einerlei wäre mit der Naturlehre des Er-
kennens: wieviel Metaphysik ist nun in diesem Buche zu finden?
Um jetzt zu einem Urteile über das Ganze zu gelangen, müssen wir
zuvörderst den Verf. von seinem Werke unterscheiden. Jener zeigt uns
bei aller Anmaßung einen redlichen Sinn, und ungeachtet der offenbaren
Nachahmung eines andern dennoch viel eigenes Talent; ja bei aller Ver-
nachlässigung des gründlichen Forschens doch eine weit umfassende
Kenntnis der philosophischen Schriftsteller, samt der Fähigkeit, sich in
den Geist derselben zu versetzen. Unstreitig sind hier solche Elemente
beisammen, aus denen etwas ungleich Besseres hätte hervorgehen können.
Wohl möglich, daß man die Schicksale des Verfs. mit in Anschlag bringen
muß, um zu begreifen, wie es zugehe, daß er etwas so höchst Dürftiges,
wie dies Buch, dem Publikum als eine Metaphysik glaubte anbieten zu
können. Er sagt uns, er habe einer Stadt und Republik seines Vater-
landes mehrere Jahre als öffentlicher Lehrer der Philosophie gedient; und
daselbst hätte er in einem gewissen Ei folge seines Philosophierens es bald soweit
gebrächt, als Sokrates in Athen! Eine traurige Nachricht, die Rez. mit dem
aufrichtigsten Bedauern gelesen hat. Ein denkender Geist bedarf Ruhe,
wenn er sich entwickeln soll; harte Schicksale pflegen selbst in ihren
Nachwirkungen der Heiterkeit und Beweglichkeit des Forschens zu schaden,
nachdem sie schon überwunden und in Beziehung auf das äußeie Leben
verschmerzt sind. In die angenommenen Meinungen bringen sie eine ge-
wisse Unbeugsamkeit, welche unzugänglich macht für alles, was zur Be-
richtigung auffordern könnte. Der Verf sagt selbst: Für das, was man
liebt, leidet man willig; und das^ wofür man gelitten hat, wird einem noch
teurer und ivei'ter. So ist's; und hier gibt es leider kein bestimmtes Ver-
hältnis zwischen der Liebe und zwischen der Wahrheit oder dem Irrtum
in den Meinungen, worauf einmal in früheren Jahren die Zuneigung war
gerichtet worden. — Unter dem Namen : intellektuale Aftschauung ist das
unmittelbare Erkennen längst gepredigt worden. Streit genug entstand,
indem andere, die nicht weniger Anspruch auf ein Licht in ihrem Innern
zu haben glaubten, ihre Anschauungen auch geltend machen wollten.
Unsere Zeit ist über diesen Punkt reich an Erfahrungen; und hier, wie
überall, wird irgend einmal der Enthusiasmus vor der Erfahrung weichen
müssen. Eigentliche strenge Wissenschaft wird niemand auf Orakelsprüche
q5 J- F- Herbarts Rezensionen.
gründen können, welche ungleich lauten und noch weit verschiedener ge-
deutet werden. Man muß endlich auf solche Fundamente zurückkommen,
welche allgemein fest liegen, und deren erste Auffassungen wenigstens
sich als unzweideutig ankündigen. Zum Behuf der Wissenschaft wird man
ferner Bestimmtheit der Begriffe, folglich auch genaue Unterscheidung ver-
wandter Begriffe, — das Werk des sogenannten philosophischen Scharf-
sinns, — zurückfordern. Es wird z. B. nicht immer erlaubt sein, den
Begriff einer Naturlehre- des Erkennens zu verwechseln mit dem Begriffe
der Metaphysik: denn diese letztere soll das Erkannte aufzeigen; und mit
diesem ist das Erkennen hier ebensowenig einerlei als in der Mathematik,
wo es sich sehr sonderbar- ausnehmen würde, wenn man sich statt der
Figuren und Gleichungen die Frage vorlegen wollte, wie doch der Geist
des Mathematikers beschaffen sein müsse, um solche Figuren und
Gleichungen ersinnen zu können? Hiermit leugnen wir nicht etwa, daß
Psychologie der Metaphysik eine sehr nützliche Hilfe leisten könne, und
ihr zur Seite stehen solle; aber das kann nicht eingeräumt werden, daß
ein Buch, welches Naturlehre des Erkennens oder Metaphysik heißen will,
durch seinen Titel einen richtigen Plan ankündige. Im Gegenteil; unser
Verf. war von Anfang an auf einem Irrwege.
Aber das herrschende Streben nach Einheit, — nach jener Identität,
ivelche ihn selbst unbefriedigt ließ, — ist schuld, daß sich ihm die ganze
Philosophie in ein Knäuel zusammengezogen hat, welches er schwerlich
jemals selbst wird auflösen können, oder einem andern aufzulösen wird
gestatten wollen. Ihm erscheint alle Spekulation eitel, weil bei jedem
Faden, den man möchte herausziehen wollen, sich ihm unwillkürlich das
ganze Knäuel vergegenwärtigt und aufdringt; und er noch obendrein das
Vorurteil hegt, das Ganze müsse den Teilen vorangehen, als ob nicht da,
wo die Arbeit gehörig geteilt ist, alsdann erst aus den einzeln bearbeiteten
Teilen solche Ganze zu erwachsen pflegten, die keine menschliche Pro-
duktionskraft auf einmal hätte hervorzaubern können. Jeder Bearbeiter
irgend einer andern Wissenschaft betrachtet sich als mitwirkend zu einem
Erfolge, den keiner sich allein würde zuschreiben können ; daraus entsteht
ein Gefühl von Erhebung über die individuelle Beschränktheit, von Sicher-
heit des Fortlebens in Werken, die von vielen geschätzt werden. Das
traurige Los aber, immer von neuem an den Anfängen ändern, rücken,
meistern, verwerfen zu müssen, ist es den Philosophen gefallen, oder haben
sie es erwählt? Gewiß könnten sie sich ihm entziehen, wenn sie die An-
fänge genau so nehmen, wie jeder gleich andern sie vorfindet. Alsdann
könnte von einem Joten Absoluten"- eben nicht mehr, als von einer
Jeberidigen Mitte'' gesprochen werden; denn die Frage, ob einer sich in
diese Mitte „recht in7tig'', und ob ein anderer sich ?ioch inniger hinein-
versetze, wäre abgeschnitten, sobald man sich ein für allemal versagte,
zu besonderen Gemütszuständen sich anzustrengen, deren Spannung nun
doch nimmermehr gleichförmig fortdauern kann, vielmehr stets bei ver-
schiedenen nicht bloß, sondern auch bei einer und derselben Person zu
verschiedenen Zeiten verschieden ausfallen muß. Durch Philosophie sucht
man dem Wechsel zu entfliehen; aber wer auf das Gemüt bauet, der
gibt sich und seine Überzeugung dem Wechsel der G^mxiX^stimmung preis.
Georg V. Biiquoy: Anregung für philosophisch - wissenschafllidie Forschung usw. nj
Der Denker hofft zu denken für alle; aber die Enthusiasten, weit entfernt
einer allgemeinen Wissenschaft zu huldigen, entziehen sich ihr in dem
nämlichen Augenblicke, in welchem sie fordern, daß andere so denken
und fühlen sollen wie sie, während sie doch nicht denken und fühlen
wollen wie andere. Betrachtungen dieser Art sind bekannt genug; der
längst getadelten Gefühlsphilosophie haben sie jedoch keinen Abbruch
getan. Und so wird leicht auch diese Gemütsphilosophie, welche im an-
gezeigten Buche herrscht, ihren Kreis finden und behalten. Dann aber
können wir wenigstens den Namen zurückfordern, welchen sie sich zu-
eignet. Jahrhunderte lang ist Metaphysik in größeren und kleineren
Werken bearbeitet worden; die Gegenstände, die Hauptfragen, welche ihr
angehören, sind längst bestimmt ; wer nun etwas anderes in ihr sucht,
fragt, behauptet, der wähle andere Namen ; und mische sich nicht störend
in die Rede derer, welche in demselben Sinne, wie die älteren Meta-
physiker, wenn schon mit andern Hilfsmitteln, nach Wahrheit streben und
forschen. — Sollte der Verf. sich hier zu streng beurteilt glauben, so sei
ihm gesagt: daß niemand geneigter sein kann, die nachgewiesenen Fehler
zu entschuldigen, als der Unterzeichnete, der sich vermöge eigner Er-
fahrung sehr genau in die Zeit jener Begeisterung, wovon sowohl Schelling
als Troxler sind ergriffen worden, zurückversetzen kann. Er hat deren
Vorteile genossen, aber auch deren Nachteile in sich selbst lange genug
empfinden müssen. Den gut gemeinten, aber ungestümen Eifer jener
Spekulationen, die schon am Ziele zu sein glaubten, wo sie kaum An-
fänge gewonnen hatten, innerlich zu bändigen, und ihn in abgemessenes
Fortschreiten eines besonnenen Forschens zu verwandeln, ist nicht leicht
aber notwendig. Ob die Erscheinungen der Zeit hieran mahnen, das mag
der Verf. selbst bei sich reiflich überlegen!
Buquoy, Graf Georg v., Doktor der Philosophie und mehrerer gelehrten
Gesellschaften Mitglied, Anregungen für philosophisch-wissen-
schaftliche Forschung und dichterische Begeisterung, in
einer Reihe von Aufsätzen eigentümlich der Erfindung nach,
und der Ausführung. — Leipzig, 1827. XVI und 792 S. gr. 8.
Zweite Auflage. (3 Rthlr. 8 Gr.)
Gedruckt in: Leipziger Literatxu--Zeitung 1829, Nr. 17. SW. XIII, S. 547.
Wenn Männer von hohem Stande sich ernstlich und öffentlich mit
den Wissenschaften beschäftigen, so machen sie sich schon dadurch ver-
dient, daß sie durch die Tat ein Zeugnis ablegen, man brauche nicht
durch äußere Vorteile gelockt zu werden, um sich den Musen zu widmen,
sondern der Ruhm der Wissenschaft gründe sich ursprünglich auf ihren
inneren Wert und eigenen Reiz. Betrachtet man aber näher den Erfolg
ihrer Bemühungen, so pflegt sich in der Art, wie sie sich um die Studien
verdient machen, einige Verschiedenheit zu zeigen von dem, was Gelehrte
Herbarts Werke. XIII. 7
q8 J. f. Herbarts Rezensionen.
in gewöhnlichen Verhältnissen leisten. Sie segeln nie mit halbem Winde;
die Gunst äußerer Umstände gestattet ihnen, nur diejenigen Stunden zur
Arbeit zu wählen, in welchen sich die Laune zur Muse fügt; ein lebens-
kräftiger Ausdruck ihrer Gedanken ist davon die natürliche Folge. Andrer-
seits darf man hier weniger, als sonst, die Früchte eines lange ausharrenden
Fleißes erwarten, auch ist die Scheu vor der Kritik geringer, daher äußert
sich das Eigentümliche ungebundener, und will entweder so wie es ist
oder gär nicht aufgenommen sein. Solche Männer loirken demnach stark
zurück auf die Wissenschaft in dem Zustande, wie sich dieselbe ihnen
gerade darbot; sie ziehen an und stoßen ab, wie der Genius sie treibt;
sie entsprechen dem Augenblicke, aber sie entziehen sich allem, loas lang-
iveilig ist oder scheint. So wird der Wissenschaft ein Spiegel Dorgehalteti,
worin sie sehen katm, zvas afi ihr gefällt und mißfällt ; sie mag alsdann die
gegebenen Winke benutzen wie sie kann; den ersten Ursachen ihrer Fehler
nachzuspüren und die rechten Wege zur Verbesserung einzuschlagen, ist
ihre eigene Sorge.
Zu versuchen, wie die Wissenschaft es verschuldet habe, daß sie
dem hellen und reichen Geiste, der uns in dem angezeigten Buche be-
gegnet, nicht genügte, wäre weitläufig und ist hier weniger nötig, als die
Nachweisung der Tatsache selbst. „Ich suchte (sagt der Verf in der
Vorrede) die Evidenz, die mich von Jugend auf an der Mathematik ent-
zückte, in allem, fand sie aber nirgend." Mit dieser Erklärung läßt es
sich leicht vereinigen, daß derselbe es vorzog, sich mehr fragmentarisch,
als systematisch mitzuteilen. Er nennt es ein eitles Unternehmen, ent-
scheiden zu wollen, wem die Philosophie mehr zu danken habe, dem-
jenigen, der einen einzelnen Zweig derselben systematisch durchführe und
ihm einen hohen Grad der Vollendung mitteile, oder dem, welcher das
ganze Gebiet des Forschens spähend durchstreife, demselben vielseitige
Andeutungen abgewinne, nach den verschiedensten Zielpunkten hinweise,
und so den Keim lege zu unendlichen Entdeckungen und Reformen. So
z. B. bleibe unentschieden, wem die Krone seines Jahrhunderts gebühre,
ob dem tiefen Newton oder dem allseitigen Leibniz? Das Universum
sei ein harmonisches Ganzes; der Mikrokosmus, an welchem es sich
reflektiere, ebenfalls das Verhältnis desselben zum Universum eine stete
Oscillation, zwischen der Bestrebung nach Ineinswerdung mit dem Universum
und zwischen der Bestrebung nach Konzentration in sich, zum ent-
schiedensten Kontraste jenes Universums. (Schon hier erkennt man un-
zweideutig die Schule, durch welche dem Hrn. Grafen die Philosophie
repräsentiert wurde.) Vermöge dieser Oscillation nun sollen die mannig-
fachen Aufregungen eines und desselben Geistes unter sich zusammen-
hängen, und deren fragmentarische Darstellungen sollen im Innern des
Darstellenden ein System bilden, welches von ihm dennoch nicht als
System ausgesprochen wird. Ja, die Fragmente sollen ihren Wert leichter
teilweise behaupten, als ein System, welches, wenn es einmal stürzt, ganz
zusammenfällt. (Freilich liegt es in der systematischen Form, daß sie
ebensowohl Fehler als Wahrheiten enger verknüpft und in ihren Folgen
vervielfältigt. Aber die fehlerhafte Harmonie des sogenannten Mikro-
kosmus, woraus die Mängel der Systeme entspringen, wird auf jede Art
Georg V. Buquoy: Anregung für philosophisch - wissenschaftliche Forschung usw. gg
der Darstellung Einfluß haben.) Die Gaben, welche wir hier empfangen,
zerfallen nun in drei Klassen; größere Aufsätze, kleinere Aufsätze und
poetische Anklänge kontemplativer Begeisterung. An der Spitze des
Werkes steht eine Abhandlung betitelt : Meine philosophische Grundansicht,
„Ich philosophiere nicht um einen außerhalb des Philosophierens ge-
legenen Zweckes willen; sondern einem autonomen Bildungstriebe gemäß;
ich strebe nicht nach dem Begreifen und Erklären des Sein, des Seienden,
des Wie am Seienden, da es mir überhaupt als etwas Unmögliches er-
scheint, den Kausalnexus zu ergründen. Ist dieser Nexus nicht vielleicht
aus dem Formalen meines Anschauens ins Objektive transponiert? (Ein
Kantianer würde hier nicht fragen, sondern geradezu behaupten.) Ich
strebe eigentlich nach dem Totalbilde des Seienden in und außer mir,
samt allen an jenem Totalbilde stattfindenden Wechselbeziehungen; hierbei
berücksichtige ich die Gesetze an dem universellen Leibe und Geiste der
Natur. Weiter strebe ich, den Charakter des Naturwaltens überhaupt
in den einzelnen Zügen der Natur-Physiognomie wiederzufinden und so
gleichsam an der einzelnen Erscheinung den Nachhalt der All-Erscheinung
zu erforschen. Aber weder jenes Gesetzes -Ganze, noch eine vollendete
Interpretation desselben können mir, meiner Überzeugung nach, je zu teil
werden, mein Ringen darnach ist ein immerwährendes Streben, das ein
Vollendetes nie erreicht; es ist ein mir wesentliches Bedürfnis, eine actio
actionis causa, die unmittelbar in ihrem Ausgeübt-Werden ihre Befriedigung
findet. Ich befriedige dem Umfange nach mein Streben, indem ich mit
allen mir zu Gebote stehenden Vermögen des Perzipierens, Abstrahierens,
Vergleichens und Interpretierens zugleich in das Erscheinungsganze, in
dessen Gesetz und in des Gesetzes Bedeutung hineindringe. Wer sehen
will, was ich sehe, fühlen will, was ich fühle, der führe ein in sich zu-
rückgezogenes, ein beschauendes, koi:itemplatives, gegen Lob und Tadel
vollkommen gleichgültiges Leben, wie ich. Wer mich fassen kann und
fassen will, der folge mir nach; mancherlei Impulse findet er dazu in
meinen Schriften, aber auch nur Impulse; ein fertiges Resultat vermag
ich ihm nicht zu geben.'' — Rez. widersteht mit Mühe der Versuchung,
diese vortrefflichen Äußerungen reiner Wahrheitsliebe und echt philo-
sophischer Sinnesart vollständiger hierher zu setzen. Wie die angeführte
Stelle, so ist das ganze Buch; ein oflfenes Gemüt teilt zwanglos mit, was
der kräftige vom Reichtum gelehrter Hilfsmittel unterstützte Geist, nach
Wahrheit forschend, gedacht hätte.
Vorherrschend zwar ist in diesem Geiste die Richtung des theoretischen
Denkens; aber sie steht dennoch von Anfang an unter dem Einflüsse
ästhetischer Urteile. Das bemerkt man sogleich im folgenden: Einerseits
fühle ich das Streben, sowohl in als außer mir durchgehends nur Wahres,
Schönes und Gutes zu erschauen, andrerseits fühle ich das Streben, zu
sehen, was und wie es da ist; und zugleich bemerke ich durchgehends,
daß der Wahrheit der Trug, daß der Schönheit das Häßliche, daß dem
Guten das Böse zur Seite gehen; daß dem Aufschwingen nach dem
Besseren folge ein Herniedersinken und diesem wieder ein Aufrichten und
Emporschwingen, im unaufhörlichen Auf- und Nieder- Wogen, mit einem
Charakter von Bedingtheit und Beschränktheit. Dies läßt mich eine
lOO J- !'• Herbarts Rezensionen.
zwischen zweien entgegengesetzten Polen unaufhörlich vor sich gehende
Oscillation erschauen. Die zwei entgegengesetzten für sich betrachtet,
müssen essentiell verschieden sein von dem Erscheinungsganzen selbst;
da ja sonst jene mit ins Oscillierende hineinfallen würden. Die Ent-
gegengesetzten sind : einerseits das in Bezug auf Raum und Zeit unbedingt
sich Behauptende, Unendliche, das Höchst -Universalisierte, das Urwahre,
Urschöne, Urgute, das Phis-Absoiut/mi; andrerseits das nach dem Zero
von Raum und Zeit Urgeschleuderte, das Höchst -Spezifizierte, der Super-
lativ der Vergänglichkeit, das Urfalsche, Urhäßliche, Urböse, das Miniis-
Absolutiim. Jenes, das Plus-Absolutum, muß alles in sich fassen, denn
von etwas ausgeschlosseii sein, ist Beschränkung ; also auch das Selbst-
bewußtsein der eigenen Absolutheit; es muß ferner das Plus-Absolutum
solches Selbstbewußtsein fortwährend behaupten, wozu das Plus-Absolutum
sich das Minus-Absolutum gegenüber setzt und als Kontrast fortwährend
gegenüber erhält (hierin scheint eine Reminiszenz zu liegen , die vom
Fichteschen Ich, welches sich ein Nicht -Ich zum Behufe des Selbst-
bewußtseins entgegensetzte, ursprünglich herstammt); das Minus-Absolutum
seinerseits, als vom Plus-Absolutum selbst und aus ihm herausgesetzt, hat
das Urstreben, nach dem Plus-Absolutum beständig zurückzufließen; wird
aber immerwährend vom Plus-Absolutum zurückgedrängt, da das Plus-
Absolutum das Selbstbewußtsein durch Kontrast fortan unterhält. (Also das
Selbstbewußtsein wäre der eigentliche Grund des Bösen! Andere machen
bekanntlich aus der Persönlichkeit das erste Prinzip der Moral.) Das solcher-
maßen ewig vor sich gehende Oscillieren ist eben das, welches mir erscheint
als Naturganzes. Alle hier ausgesprochenen Behauptungen sind von der
Art, daß ich sie nicht rein a priori beweisen kann; sie sind mir zur innig
gefühlten Wahrheit geworden und gewähren mir genügende Harmonie.
(Andere möchten doch die Harmonie vermissen. Denn was ist nun besser,
das Minus-Absolutum, welches zum Bessern strebt oder das Plus-Absolutum,
welches jene Besserung hindert, um sich nicht seines Wissens von sich beraubt
zu sehen?) Die Oscillation selbst ist, bis auf ihre kleinsten Modifikationen
herab, als etwas ewig Notwendiges bestimmt. Dies bezieht sich auf Völker
und Individuen, auf Newton und Homer, wie auf Pflanzen und Tiere.
Es besteht ein Fatum. Mein Kritisieren des Gewordenen kann keinen
andern Sinn haben, als den: das ist falsch, häßlich, böse; niemals aber
den: das ist naturwidrig. Die Kräfte des Menschen sind nichts weiter,
als ein integrierender Teil der Naturkräfte. Die moralische Freiheit be-
zieht sich auf den Akt der Wahl. Auf das Resultat dieses Akts kann
ich unmittelbar einwirken, indem ich mit mehr oder weniger Aufmerksam-
keit alle Motive abwäge (die Aufmerksamkeit ist in der Tat der Haupt-
punkt der Frage), ferner, indem ich mein Gefühl für Gutes nach Kräften (?)
in mir steigere; dies Steigern geschieht durch Gebet und durch Erinnerung
an Beispiele; doch vermindert der Nachahmungstrieb, wo er sich ein-
mischt, den Wert der Handlung. Je höher die Stufe, worauf ein Ver-
nunftwesen in Hinsicht seiner moralischen Würde steht, desto unfreier
erscheint es mir; das Absolutum ist gänzlich unfrei. Mein Leib und
Geist sind Teile des Weltleibes und der Weltseele. Diese beiden wieder-
holen an der Oscillation selbst, den Urgegensatz, welcher über der Oscillation
Georg V. Buquoy: Anregung für philosophisch -wissenschaftliche Forschung usw. iqi
zwischen dem Plus- und Minus-Absolutum statfindet. Der Pantheismus
verwechseh Weltseele und Plus-Absolutum. Tod ist nur Veränderung des
Schwunges in der Total - Oscillation , worin das Ich dennoch begriffen
bleibt. Selbstbewußtsein könnte nur vernichtet werden durch eine ent-
gegengesetzte Kraft; aber die Vorstellung des Selbstbewußtseins leidet
nicht, daß man ihr einen negativen Wert beilege, daher ist der Begriff
jener entgegengesetzten Kraft absurd. Als befangen in der Oscillation
kann ich mir das über derselben stehende Plus-Absolutum nicht vor-
stellen. Hingegen das Plus-Absolutum vermag die Oscillation zu durch-
schauen und sich der Welt zu offenbaren. Mir ist Offenbarung ein not-
wendiges Faktum; ich vermag sie aber nur zu fassen durch gläubiges
Hingeben. AU unser Denken ist unbefangenes Kräftespiel; ist oscillatorischer
Schwindel und Taumel. — Mit diesen Worten endet der Aufsatz.
Die Ausdrücke Plus- und Minus-Absolutum erinnern unmittelbar zu-
gleich an die Schule, welche vom Absoluten ausgeht, und an Mathematik.
Es war längst eine interessante Frage, was wohl daraus werden möge,
wenn einmal Schellings Lehre versuchen werde, sich mit der Mathe-
matik in einem ausgezeichneten Denker zu vertragen? Das vorliegende
Werk liefert einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage, wenn man nicht
lieber geradezu sagen will, es beantwortet sie. Schon der eben ausgezogene
Aufsatz endet skeptisch ; die Vorrede bekennt vollends deutlich „den steten
Zug eines entschiedenen Skeptizismus;" und in einer beigefügten Note heißt
es gar: ,,ich verbinde mich hier öffentlich dazu, jedes der bisher er-
schienenen oder noch zu erscheinenden Systeme, außerhalb des Gebiets
der reinen Mathematik (wohl verstanden der reinen bloß), auf Nullität zu
reduzieren, nämlich in Rücksicht seines System-Charakters und der not-
wendigen Gültigkeit seiner ersten Grundprinzipien, mit welchen, wenn sie
fallen, das Ganze fällt." Daß ein soweit ausgedehnter Skeptizismus sich
eben durch seine Ausdehnung schwächt, bedarf kaum einer Erinnerung;
aber als ein Faktum und als Resultat der Studien, die ihn veranlaßten,
ist er vorhanden.
Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, als ob der Skeptizismus hier
seine eigentliche, beschränkende, niederdrückende Kraft bewiesen hätte.
Vielmehr die adelige Natur der ScheUingschen Lehre, welche nach dem
Höchsten nicht strebt^ sonderii es immittelbar setzt^ um in ihrem Vortrage steh
darauf zu stützen^ bleibt sichtbar ; sie lebt ihr eigentümliches Leben in vollem
Glänze ; und die Mathematik, welche oft herbeigerufen ivird, erhöht nur diesen
Glanz, olme eigentliche Dienste zu vernchte?i. Der Skeptizismus soll nur
Systemfesseln abhalten, damit die Ansicht frei bleibe. Man hat schon
oft bemerkt, daß jene Lehre sogar ein Bestreben erzeugt, sie selbst wo-
möglich noch zu überbieten; auch daran fehlt es hier nicht; es wird der
Identitätslehre schuld gegeben, daß aus ihr ein Materialismus, wiewohl
nur ein poetischer, schalkhaft hervorschiele. ,,Nur jenes Philosophieren,
dessen Grundbestrebungen sich auf Dualität und zugleich auf den, der
Identität entsprechenden, Parallelismus beziehen, genügt vollkommen der
Forderungen meines Denkens und Fühlens. Parallelismus besteht unter
Manifestationen des empirisch zu Erfassenden. (Jeder Kenner der Ge-
schichte der Philosophie wird sich hier an Spinoza und die von ihm be-
I02 J- t- Herbarts Rezensionen.
hauptete, aber nicht durchgeführte, parallele Sonderung im Ausgedehnten
und Denkenden erinnern.) Das Unbedingte wird sich seiner Unbedingt-
heit unausgesetzt bewußt, indem es sich selbst die Schranke setzt, und
hiermit seinen Gegensatz hervorruft; ebenso erhält sich das Bedingte
mit dem Unbedingten unausgesetzt in Rapport, indem es nach Ver-
unendlichung ringt. Tugendhaft (heißt es ein wenig weiterhin) ist jene
Äußerung, in der das Streben vorherrschend von der Schranke ab, nach
dem Unendlichen zielt. Lasterhaft ist die, in der das Streben vorherrschend
nach der Schranke hin zielt. (Wie kommt doch der bedingte, endliche
Mensch nach dieser Erklärung dazu, lasterhaft zu sein? Was aber sollen
wir vom Plus-Absolutum sagen, dessen Richtung stets zur Schranke hin geht?)
Nach dem Vorstehenden wird von selbst einleuchten, daß eigentlich
die Behauptung eines allgemeinen Naturlebens den wesentlichen Inhalt
des ganzen Buchs ausmacht. Vielleicht ist es nicht überflüssig, zu sagen,
daß wir viele Bemerkungen hierüber nicht bloß einräumen, sondern gerade
ebenso fest behaupten, — wiewohl aus anderen Gründen und mit anderen
Bestimmungen. Ohne hier zu streiten, führen wir von vielen treff'lichen
Stellen eine zur Probe an. „Wenn ihr ein oscillierendes Pendel sich nach
und nach auf kleinere und immer kleinere Bögen beschränken, es endlich
ganz stille stehen seht : so möchte auch des Geometers Behauptung, daß
das Pendel in der Tat noch lange nicht still stehen könne, sich in der
Tat immer noch bewegen müsse, beinahe unsinnig scheinen; doch werdet
ihr es bald selbst behaupten, seid ihr im stände, lesend in die Hieroglyphe
der Formeln zu blicken. Weil nun der Kristall seine Oscillation für ein
blödes Auge, blind für die Myriaden euch unaufhörlich umschwebender
Geschöpfe, vollendet hat, ist sie darum auch vollendet für das Auge der
tiefer forschenden Theorie? Weil ihr Schlaftrunkenen nichts von den leisen
Pulsen seines fortrollenden Daseins wahrzunehmen vermögt, berechtigt
euch dies, das Todesurteil über ihn zu verhängen?" — Wir haben uns
doch beim Abschreiben dieser Stelle ein paar kleine Abänderungen er-
lauben müssen, um damit übereinstimmen zu können. Der Verf. ge-
braucht nämlich hier, wie oftmals das Wort Leben für die Oscillation im
Kristall, welches edle Wort wir für höhere Gegenstände glauben aufsparen zu
müssen. Nicht allemal ist eigentliches Leben da vorhanden, wo Oscillation
stattfindet; es gibt eine äußere bloß mechanische, — es gibt auch eine
innere völlig unräumliche Oscillation; die letztere sieht zwar nicht der
Sinn, wohl aber das Auge der Theorie ; allein weder diese noch jene für
sich allein ist Leben in bestimmter Bedeutung des Worts. Auch so be-
schränkt, umfaßt die Sphäre des Lebens noch immer des Ungleichartigen
genug, um den Gegenstand nicht bloß leicht zu ergreifender Ansichten,
sondern schwer einzuleitender und noch schwerer durchzuführender Unter-
suchungen auszumachen. Einstweilen aber, und bis die angestellten Unter-
suchungen bekannt sein werden, können wir es niemanden verdenken,
wenn er, wie der Verf., sich begnügt, den Beweis zu versuchen, „daß
die Annahme eines All-Lebens nichts Absurdes in sich fasse." Sinnreich
genug ist es, mit dem Hrn. Grafen zu sagen: „wären die Bienen so
kleine Tierchen, daß sie sich durch die Sinne nicht wahrnehmen ließen,
so hätte es gewiß nicht an Rechnern gefehlt, welche die Gestalt, die Zieh-
Georg V. Buquoy: Anregung für philosophisch -wissenschaftliche Forschung usw. 103
und Abstoßungskraft der Wachsmolekulen berechnet hätten, wonach jene
Molekülen sich geradeso und nicht anders aneinander reihen müßten,
um Bienenzellen darzustellen." Aber auch sehr rasch ist der Schluß:
.,An dem Kristallinischen baut der tellurische Bildungstrieb, wenn wir gleich
denselben nicht in Form eines arbeitenden Tieres wahrzunehmen ver-
mögen." Umgekehrt: Abstoßend genug mag dem an die Vorstellungsart
vom All -Leben einmal gewöhnten Naturphilosophen die Meinung ' vor-
kommen, daß bestimmte Gestaltung von fingierten Molekülen abhänge,
die sich nach diesem oder jenem Gesetze anziehen und abstoßen. Allein
das Abstoßende hegt alsdann in der Willkür einer Fiktion, welche die
Stelle einer regelmäßigen Untersuchung bisher ausfüllte ; und wenn vollends
dabei von „plmnp materieller Corpuscullartheorie'-'- im Tone des Vorwurfs
gesprochen wird; so ist eben dies das sicherste Zeichen, daß der wahre
Anfang und Keim der hierher gehörigen Untersuchung noch völlig un-
bekannt ist.
Der Unterzeichnete findet sich hier bei einem derjenigen Punkte,
wo er leicht in Versuchung geraten könnte, in Ansehung der Art und
Weise, wie seiner in dem vorliegenden Buche erwähnt wird, einige Gegen-
bemerkungen zu machen. Allein da dieses an verschiedenen Orten des,
an mannigfaltigen kleineren iVufsätzen sehr reichen Werkes in verschiedenem
Tone geschieht so möchte es einige Schwierigkeit haben, die rechte Art
der Antwort zu treffen. Hätte indessen Hr. Graf von Buquoy an der
Stelle S. 446, wo er sich mit dem Unterzeichneten förmlich in ein Ge-
spräch einläßt, sich auf das größere unter dem Titel: Psychologie als
Wissenschaft, herausgegebene Werk bezogen; so würde schon aus Hoch-
achtung für die großen mathematischen Kenntnisse des Verfs. die Gelegen-
heit, jenem Gespräche einige Zusätze zu geben, hier nicht unbenutzt
bleiben. iVUein es wird dort nur eines sehr unbedeutenden Schriftchens
erwähnt, welches jetzt recht füglich kann vergessen werden. Und über-
dies genügt es, an eine Rezension zu erinnern, die man in diesen Blättern
erst kürzlich (Leipz. Lit.-Zeitung am 10. und 11. November 1828) unter
der Überschrift mathematische Tsychologie gelesen hat. Schon die bloße
Pflicht der Dankbarkeit würde fordern, ebenso laut als gemäß der Wahr-
heit, bei erster Gelegenheit anzuerkennen, daß dem Wunsche, welche
jene Rezension des Hrn. Professor Drobisch veranlaßte, über alle Hoff-
nung hinaus jetzt entsprochen worden. Kein Mißverständnis entstellt den
Bericht; vielmehr ist er für seine Kürze sehr vollständig; kein bedeutender
Anstoß ist genommen an dem vorgelegten Versuche zur Statistik und
Mechanik des Geistes; wenigstens macht die Rezension davon keine An-
zeige; die kritischen Bemerkungen aber, durch welche die etwaigen An-
sprüche jenes Versuchs sollen beschränkt werden, halten ein so genaues
Maß, daß sie in der Stellung und Verbindung, wie sie dort vorgetragen
sind, hiermit ohne Widerrede, und mit vollem Respekt für die Behut-
samkeit des mathematischen Physikers können angenommen werden. Fragt
nun jemand, was mathematische Psychologie sei? so dient vorläufig zur
Antwort: es ist ein Gegenstand, worüber ei?ier* den andern versteht.
* Die Redaktion bemerkt hierzu : soll wohl heißen : Keiner — !
jQ^ J. F. Herbarts Rezensionen.
Droz, Joseph, INIitglied der französischen Akademie, Die Anwendung
der Moral auf die Politik. Aus dem Französischen übersetzt und
mit einer Einleitung versehen von Aug. v. Blumröder, — Ilmenau,
1827. VIII u. 228 S. 8. (I Thlr.)
Gedruckt in: Jenaer Literatur-Zeitung 1829, Nr. 24, 25. SW. XII, S. 616.
Über ein großes Thema ein kleines Büchlein! Jedoch verdient es
recht ernstlich empfohlen zu werden; ganz besonders für den weiten Kreis
solcher Leser, die sich über populäre Betrachtungen nicht erheben. Denn
die Gesinnungen des Verfs. haben eine seltene Reinheit; und die politischen
Ansichten eines erfahrenen Mannes, der Mitglied der französischen
Akademie ist, dürfen wohl Aufmerksamkeit erwarten. Echte Popularität,
welche frei ist von der Sucht, zu glänzen und zu blenden, findet sich
nicht häufig; aber sie findet sich hier wirklich.
Die Schrift zerfällt in vierzehn Kapitel, worin nach einigen vorläufigen
Gedanken gesprochen wird von der Verschiedenheit politischer Lehren,
von der Wirksamkeit der Regierungsform, von Revolutionen zu Gunsten
der Freiheit, von Mitteln gegen die Revolutionen, von der Religion, vom
Unterricht, von der Freiheit, die unter allen Regierungsformen vorhanden
sein soll, von Frankreichs Zukunft, vom falschen Ruhm, von der neuen
Richtung, welche die Geister erhalten müssen; den Schluß machen Be-
merkungen über Menschenbeurteilung und Winke für jüngere Leser. Zu
den wichtigsten dieser Kapitel gehört das vom falschen Ruhme; worin
natürlich Napoleon den Hauptgegenstand der Betrachtung ausmacht.
„Wenn einst (spricht der Verf.) unsere philosophische Nachkommenschaft
ihr Urteil über ihn fällen soll, so wird ein edler Zorn ihre Gemüter be-
wegen. Er hatte eine bewundernswürdige Stärke des Willens und eine
unvergleichliche Tätigkeit; aber ihm fehlte Erhabenheit der Seele. Fast
alle seine Gefühle gingen aus der Selbstsucht hervor, wenige aus dem
Sinne für Gerechtigkeit, und das allgemeine Glück der Menschheit war
ihm ein fremder Gedanke. Wie es geborene Virtuosen gibt, war er ein
geborener Krieger. Fortgerissen von einem konvulsivischen Vergnügen
auf dem Schlachtfelde wie am Spieltische, wagte er heute das gestern
Gewonnene, er verschlang Soldaten, und forderte andere, um sie wieder
zu verschlingen; so ging es fort, bis er zum letzten Male nach Paris
kam. Nur in der Vergötterung seiner Person wollte er die JNIeinungen
vereinigen. Er beschränkte die Moral auf Gehorsam, und seine Politik
bestand in der Kunst, die Seelen verkäuflich zu machen. Seine Pläne
waren bald zwergartig, bald riesenhaft; er brauchte Kammerherren und
das Scepter der Welt. Er war hinter seinem Zeitalter zurück, und suchte
es zurückzuziehen." So urteilt ein Franzose; und wir haben dieses Urteil
darum gleich anfangs ausgehoben, weil wir mit Bedauern sehen, daß es
sogar Deutsche gibt, welche anders urteilen, indem ihre Augen vom Lichte
des falschen Ruhmes geblendet sind. Mit vollem Rechte sagt der Verf.:
„Die einzigen Personen, welche dies Urteil bestreiten mögen, sind die,
welche Buonaparte mit Wohltaten überhäufte. Sie haben hier keine
Stimme; wenn sie über den Eroberer schweigen, so lobe ich es; wenn
Joseph Droz: Die Anwendung der Äloral auf die Politik. lOä;
sie versuchen ihn zu rechtfertigen, so entschuldige ich ihre Befangenheit."
Aber was soll man sagen zu solcher Befangenheit ohne solche Gründe?
Indem der Verf. deutlich zeigt, daß er nicht zu den Befangenen
gehört, erfüllt er die erste Bedingung, unter welcher ein Franzose ver-
dienen kann, über die Verbindung zwischen Moral und Politik gehört zu
werden. Wir wollen ihn weiter hören, und zwar zunächst in Ansehung
eines Gegenstandes, der an sich schon das höchste Interesse, und außer-
dem noch eine besondere augenblickliche Wichtigkeit in Frankreich hat;
— wir meinen die Religion. „Dem Christentume war es vorbehalten,
die alte Ordnung der Gesellschaft zu verändern, indem es die Sklaverei
zerstörte. Die Welt hat ein heiliges Buch empfangen, worin unsere
Pflichten auf die bestimmteste, einfachste und rührendste Weise ver-
zeichnet sind. Aber nach meiner Meinung sollte das Nene Testament ganz
allein ausgeteilt iverdeii. Gegen die Ansicht der Bibelgesellschaften, deren
Eifer ich ehre, glaube ich, daß das Alte Testament bloß für solche Personen
aufbehalten werden muß, deren heller Verstand sie fähig macht, mit Be-
urteilung zu lesen. Man muß sehr unterrichtet sein, um sich in das ent-
fernte Zeitalter zurück zu versetzen, worin dieser Teil der heil. Schrift
aufgezeichnet wurde." Und nachdem der Verf. das Christentum aufs leb-
hafteste empfohlen hat, fügt er in einer Note folgende Bemerkung hinzu:
„Ich bin der Meinung, daß eine Überladung religiöser Gebräuche und
Handlungen stets nachteilig sei. Durch Teilung der Aufmerksamkeit
rückt sie uns den sittlichen Zweck des Lebens aus den Augen; sie täuscht
uns über die Mittel, unsere Bestimmung zu erfüllen. — Nichts ist nieder-
schlagender, als jene törichte Anmaßung der Menschen, welche sich heraus-
nimmt, gewisse Wahrheiten im Namen der Religion, deren Sphäre höher
liegt, als unsere Wissenschaft, zu verdammen. Das Evangelium lehrt uns
kein System der Metaphysik ; es enthält nicht die nötigefi Data, um zivischen
den Schiden LoCKES und Kants, welche vielleicht beide gleichweit von de?
Wahrheit entfernt sind, zu entscheiden."
Vorstehendes mag zureichen, um die Ansichten des Verfs. einstweilen
im allgemeinen zu bezeichnen; es sind Ansichten weiser Mäßigung und
reifer Erfahrung; er nennt mit Recht sein Buch ein Vermächtnis eines
Mannes, der Revolutionen gesehen hat, und der, im Begriff stehend, allen
irdischen Dingen den Rücken zu kehren, kein persönliches Interesse mehr
daran nehmen kann. — Jetzt aber müssen wir dem, auf dem Titel an-
gekündigten, Hauptzwecke des Buches näher treten, und zuerst den
Mangel an Genauigkeit bemerken, welcher in den Worten des Titels liegt.
Moral soll angewendet werden auf Politik? So müßte also die Politik
schon da sein; und zwar als ein gegebener Stoff, der sich gefallen lasse,
von der Moral hintennach umgeformt zu werden. Nun ist freilich die
Politik der Salons und der Klubs wirklich schon längst vorhanden, ehe die
Moral dazu kommt; aber die Kabinette bekennen durch die heilige Allianz,
daß es nicht so sein solle; und die Wissenschaft, welche wir Politik nennen,
betrachtet man als eine besondere Wissenschaft, welche unter der allgemeinen
praktischen Philosophie steht. Vielleicht möchte es scheinen , als ob
solche wissenschaftliche Anordnung der Begriffe hier am unrechten Orte
sei; allein gerade umgekehrt nötigt uns das vorliegende Buch, tiefer in
Io6 J. F, Herbarts Rezensionen.
die wissenschaftlichen Verhältnisse einzugehen, da es zu interessant ist,
um kurz abgefertigt zu werden. Der Übersetzer nämlich, obgleich er in
der Vorrede sagt: ,,in den Doktrmen der praklisclien Philosophie sind uns
unsere französischen Nachharn vielfältig überlegen," hat dennoch seinerseits
den Verf. eine Art von deutscher Überlegenheit fühlen lassen wollen, indem
er, als Einleitung, einen kritischen Versuch der vom Verf. aufgestellten
Pflichtenlehre voranschickt, sofern dieselbe als Grundlage der Staatswissen-
schaft brauchbar sein solle. Wo nun Verf. und Übersetzer sich als
streitende Parteien darstellen, da bleibt dem Leser das Urteil und dem
Rez. sein Gutachten vorbehalten. Wir lassen jetzt zuerst den Übersetzer
reden; er erklärt sich in seiner Einleitung folgendermaßen: „Die Grund-
idee, von welcher unser Verf. ausgeht, ist diese, daß das Recht immer
aus dem Standpunkte der Pflicht zu betrachten sei; und daß demnach
das Volk, um es vor politischen Unruhen zu bewahren, angehalten werden
müsse, nicht sowohl seine Rechte zu behaupten, als vielmehr seine Pflichten
zu erfüllen. Dieser Grundsatz ist gewiß so wenig revolutionär, so wenig
den leidigen demagogischen Umtrieben zusagend, daß selbst die Schild-
halter des Despotismus kein Bedenken tragen werden, demselben bei-
zustimmen. Der entgegengesetzten Partei, welche sich nicht entschließen
kann, die Menschen- und Volksrechte aufzugeben, möchte die Maxime
des Verfs. um desto mehr zuwider sein, wenn sie nicht eine Deutung
zuließe, nach welcher auch die Liberalen sich mit ihr versöhnen werden.
Wenn der Verf. will, daß die Menschen nicht soviel von ihren Rechten
reden möchten: so ist dies nicht so gemeint, daß sie ihre Rechte gänzlich
aufgeben, sondern daß sie sich gewöhnen sollen, dieselben, oder vielmehr
die Behauptung derselben, aus dem Standpunkte der Pflicht zu betrachten.
Zwei Maximen haben sich bisher abwechselnd geltend gemacht, und gegen-
seitig angefeindet, die Lehrmeinung der Unterdrückung (la doctrine de
l'opression) und die Lehre der Rechte (la doctrine des droits). Die erste
dieser Lehren führte durch ihre, bis zur handgreiflichen Absurdität ge-
triebene, Konsequenz endlich die zweite Ansicht herbei, nach welcher
die Volksmenge durch bestimmte Rechte vor ■ der Willkür der Herrscher
geschützt sein sollte. Indes hat die Erfahrung gelehrt, daß die Rechts-
doktrin nicht das erwünschte Resultat herbeiführe; und den Grund von
dieser traurigen Erscheinung glaubt der Verf. darin zu finden, daß mit
dieser Lehre für die Völker keine Nötigung verbunden sei, den angefangenen
Kampf mit der unterdrückenden Willkür auszufechten." Hier wollen wir
zur Erläuterung den Bericht des Übersetzers unterbrechen durch eigene
Worte des Verfs.: „Man werfe einen prüfenden Blick auf die Schüler
der Rechtstheorie, um zu sehen, wie sie sich in schwierigen Fällen be-
nahmen. Fünfhundert derselben waren zu St. Cloud versammelt; eine
Kompagnie Grenadiere und das Geräusch der Trommel schlug sie in die
Flucht. Hätten diese Männer eine Erziehung genossen, welche die Heilig-
keit der Pflicht einschärfte: so möchten wenigstens einige derselben es
vorgezogen haben, die Gefahr zu wählen statt der Schande, eine so ver-
ächtliche Rolle bei dieser politischen Wachtparade zu spielen. In einer
weit gefährlicheren Periode, als räuberisches Gesindel wütend in den Saal
des National - Konvents eindrang, saß ein Mann auf dem Stuhle des
Joseph Droz: Die Anwendung der Moral auf die Politik. 107
Präsidenten, der sich nicht durch das entgegengeworfene Haupt seines er-
mordeten Kollegen aus seiner Fassung bringen Heß. Boissy d' Anglas,
dachtest du in diesem kritischen Motnettte, unter dem Dolche der Meicchler,
an deine Rechte oder an deine Pflichten'-'? — Nach dieser Unterl>rechung
lassen wir den Übersetzer fortfahren. „Da unser Verf. von einer An-
wendung der Moral auf die Politik handelt, so kann die von ihm ge-
forderte Substitution der Lehre von den Pflichten an die Stelle der Lehre
von den Rechten nicht anders gemeint sein, . als so, daß das ganze Rechts-
gesetz dem Sittengesetze untergeordnet sein soll, und diese Forderung
ist allerdings möglich. Das Sittengesetz wird abgeleitet aus den ursprüng-
lichen Zwecken der Vernunft." (Hätte der Übersetzer umgekehrt gesagt,
die Vernunft samt ihren Zwecken wird zu den sittlichen Forderungen
hinzugedacht, und als psychologischer Erklärungsgrund untergeschoben und
erschlichen: so wäre er der Wahrheit näher gekommen.) „Die mensch-
liche Vernunft ist aber mit Sinnlichkeit verbunden (nach der alten Lehre
von den Seelenvermögen freilich). Ihre Zwecke müssen zum Teil in der
Sinnenwelt realisiert werden; und dazu wird ein friedliches Zusammen-
leben mehrerer Vernunftwesen erfordert." (Schlimm genug, wenn dies
friedliche Zusammenleben als Mittel zu irgend welchen anderen Zwecken
gedacht wird, statt daß es zu den unbedingten und schlechthin ursprüng-
lichen Forderungen der vernünftigen Überlegung gehört.) „Da also zu
einer vollständigen sittlichen Handlung nicht bloß ein innerer, sondern
auch ein äußerer Freiheitskreis gehört (also gibt es wohl kein vollständiges
inneres sittliches Handeln.^), so muß die Vernunft, ivcnn sie zur Realisierung
ihrer Ziuecke die Möglichkeit einer Gesellschaft verlangt (da würde sie etwas
als möglich verlangen, was überall in die Wirklichkeit längst eingetreten
ist, bevor sich Menschen zu dem Grade von Ausbildung erheben konnten,
den man Vernunft nennt), auch unter dieser Bedingung die Aufstellung
dieses äußeren Wirkungskreises fordern."
Hiermit hat uns der Übersetzer schon genug gezeigt, in welchem
Kreise von Lehren und Meinungen er stehen geblieben ist. Alle seine
Redensarten versetzen uns zurück in jene Periode des Kantischen und
Fichteschen Naturrechts; in welcher man die Staaten aufstellen und kon-
struieren wollte, anstatt sich die Mühe zu geben, erst einmal vor allen
Dingen diejenigen wirklichen Gesellschaften zu begreifen, und sich ihre
inneren Bewegungen richtig zu erklären, die man unter dem Namen der
Staaten in der Welt vorfindet. Dazu hätten freilich psychologische Unter-
suchungen gehört. Denn der Staat besteht aus Menschen, und die Ver-
bindung der Menschen liegt noch weit mehr in den Gesinnungen und
Gewöhnungen, in den Motiven und Maximen derselben, als in der äußeren
Gemeinschaft durch die Natur des Grundes und Bodens. Die alte Fabel
von den Seelenvermögen, mit der Vernunft an der Spitze, konnte nun
ebensowenig den Bürger, als den Menschen begreiflich machen; daher
schwärmte man im Felde der bloßen Konstruktionen a priori. Und hätte
man nun wenigstens diese Konstruktionen in der Idee richtig vollzogen!
Aber während auf der einen Seite die psychologischen Erschleichungen
soweit getrieben wurden, daß ein sehr berühmter Schriftsteller sich sogar
eine eigene und besondere juridische Vernunft aussann, um sie der aller-
Io8 J. F. Herbarts Rezensionen..
dings völlig selbständigen Idee des Rechts als unnützen Erklärungsgrund
unterzuschieben, meinte man andrerseits den Staat als eine bloß und
lediglich zum Behuf des Rechts vorhandene Gesellschaft beschreiben zu
dürfen, welches ebensowenig erlaubt als ausführbar ist. Da kam selbst
in Kants Naturrecht der unglückliche Satz zum Vorschein: quilibet prae-
sumitur malus, donec securitatem dederit oppositi; nun sollten sich Menschen,
die gegeneinander ein solches Vorurteil hegten, in Staaten zusammentun,
die nicht etwa Staaten der Not, sondern der Vernunft darzustellen be-
stimmt waren. Und während Kant die sogenannte gemäßigte Staatsver-
fassung, als Konstitution des inneren Rechts des Staats, ein Unding nannte,
wodurch Willkür-Herrschaft nur bemäntelt werde, träumte dagegen Fichte
sogar von Ephoren und Interdikt ; und die politischen Theorien, welche
die Untersuchung der wirklichen Natur des Staats vernachlässigt hatten,
fanden nicht eher ein Ende der Schwärmerei, als bis durch eine natür-
liche Reaktion der Satz erscholl: ivas ivirklich ist, das ist vennmftig.
Hiermit haben wir in der Kürze an den Gang jener deutschen Rechts-
theorie erinnert, welche der Übersetzer dem Verf. entgegenstellen will!
Wir sind weit entfernt, Hrn. v. Blumröder zu beschuldigen, daß
er sich in den Gesinnungen von dem Verf. wesentlich unterscheide. Im
Gegenteil: er sagt deutlich, daß alle gesellschajtlichen Verhältnisse und Ein-
iichttingcn erst von der Sittlichkeit ihre sichere Grujidlage nnd die Garantie
ihrer Dauer erwarten. Er bekennt, daß keine Rechtsschranke so fest ist,
welche von der verderblichen Selbstsucht nicht entweder schlau untergraben,
oder gewaltsam übersprungen werden könnte. Aber er meint, wenn das
moralische Element sich mit der äußeren Rechtsform vermischen müsse, um
eine wohltätige Wirkung hervorzubringen, so folge noch nicht, daß es die
Moral allein tue. Die Moral allein? Was für eine Moral ist denn die, welche
das Recht losgelassen, und ihm einen äußeren Wirkungskreis angewiesen
hat? Nichts anderes kann diese Moral sein, als das leidige Residuum,
welches von der ganzen und unteilbaren praktischen Philosophie übrig
blieb, indem man aus Mißverstand darum, weil die Idee des Rechts
wirklich selbständig und von anderen praktischen Ideen unabhängig be-
steht, hieraus den falschen Schluß zog, man müsse auch die Amveridungen
trennen ; man müsse dem bloßen Recht einen Wirkungskreis anweisen,
worin es allein regiere; man müsse in den Naturrechten eine Lehre vom
Staate vortragen, die nur allein von Rechtsbegriffen ausgehe. Nun kam
es bald dahin, daß man nicht bloß die Rechtstheorie, sondern sogar
die Politik wissenschaftlich von der Moral Josriß. Ausdrücklich sagt Hr.
V. Bl., es sei nicht die Sache der Politik, die lebendigen Kräfte hervor-
zubringen, welche sich in ihrer Sphäre bewegen sollen. Wenig konsequent
fügt er hinzu: aber die Forderung wird ihr gestellt, diesen Kräften einen
freien Spielraum zu schaffen; sie muß also jede Gelegenheit ergreifen,
diese dynamischen Momente zu üben, zu beleben und zu stärken. Wenn
dies letzte wahr ist, so ist das vorige falsch. Soll die Politik die
moralische Volkskraft (von dieser ist hier überall die Rede) üben, be-
leben, stärken : so ist es allerdings ihre Sache, diese Kraft hervorzubringen,-
sofern das Wort Hervorbringen hier überall einen Sinn haben kann.
Hr. V. Bl. schwankt also zwischen seinen besseren Gesinnungen und
Joseph Droz: Die Anwendung der Äloral auf die Politik. lOQ
seinen angenommenen Lehrmeinungen. Wäre er jenen gefolgt, so würde
er an keine gültige Politik mehr gedacht haben, außer nur an eine solche,
deren erster und herrschender Gedanke es ist, daß allein in der Sittlichkeit
der Nationen die Garantie ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse liegen kann ;
und deshalb die Auflösung politischer Probleme ohne Rücksicht auf das
Sittliche, ebensowohl in der Theorie eine bare Torheit, als in der Praxis
ein Vergehen ist. Hätte Hr. v. Bl. dieses deutlich eingesehen, so würde
er sich ein ganz anderes Geschäft gemacht haben, als dies, dem Verf.
im Namen der unter uns gangbaren Naturrechte zu widersprechen. Gerade
umgekehrt, kam es darauf an, zu zeigen, daß der Mann, welcher Revo-
lutionen gesehen hat, und welcher ebensowenig dem Kriegshelden Frank-
reichs, als der geistlichen Herrschsucht das Wort redet, einen weit
richtigeren Blick verrät, als den unsere einseitigen Naturrechte gewähren
können. Droz sagt: „Ich behaupte, daß wir uns nur einer halben Civili-
sation rühmen können. Wie jetzt die gesellschaftlichen Verhältnisse
stehen, kann man uns nach zwei ganz entgegengesetzten Ansichten be-
trachten. Zahlreiche Tatsachen machen uns auf merkliche Verbesserungen
in dem Verstände und den Sitten der Menschen aufmerksam. So hat
man mit Verwunderung gesehen, wie die französische Tätigkeit nach zwei
feindlichen Einfällen ihre ungeheueren Verluste verbesserte. Diesem
Wunder ging ein anderes, vielleicht noch auffallenderes vorher: man sah
furchtbare Truppenmassen sich ohne Geräusch zerstreuen und nach ihren
heimischen Herden zurückkehren, um daselbst die Übung friedlicher Ge-
werbe wieder vorzunehmen; während ehemals die Verabschiedung einer
Armee Schrecken verbreitete und das Land mit Räubern bevölkerte.
Bei Beobachtung dieser merkwürdigen Tatsachen bewundere ich die Fort-
schritte der Civilisation; aber wendet sich mein Blick auf unsere lärm-
vollen Debatten, auf unsere, am Tage liegende, Unfähigkeit, nützliche
Einrichtungen zu schaffen, auf unsere Sorglosigkeit, die bestehenden zu
erhalten; erinnere ich mich an die blutigen Auftritte unserer Revolutionen,
an die so langwierige Verheerung Europas, und an jenes Kriegsgeschrei,
womit ein erobernder Despot begrüßt wurde, so muß ich mir sagen:
welche mühevolle Anstrengungen sind noch nötig, um den letzten Rest
der Wildheit in uns zu vertilgen!"
Das ist die Sprache eines Mannes, der erstlich beobachtet, um das
Wirkliche zu erkennen, wie es ist, damit er dasjenige, u'ora?// die Theorie
soll ano-ewendet werden, nicht verfehle; zweitens das Beobachtete nicht
nach einseitigen Rechtsprinzipien, sondern in sittlicher Hinsicht beurteilt,
um den vorhandenen Unterschied des Wirklichen und des Vernünftigen
vor Augen zu stellen. Hier ist keine Politik vor der Moral : wohl aber
geht der Anwendung sittlicher Grundsätze die Menschenkenntnis voraus,
welche, wenn sie auf den wissenschaftlichen Standpunkt erhoben wird,
nichts anderes ist als Psychologie verbunden mit der Geschichte; denn
aus dieser Verbindung muß zuvörderst die Statik und Mechanik der
roheren Kräfte im Staate, dann die allmähliche Annäherung an einen
organischen Zusammenhang derselben, endlich die Lenksamkeit des Or-
ganismus im Staate nach mancherlei Maximen und Gesetzen begreiflich
werden, ehe man daran denken kann, von den praktischen Ideen einen
1 1 0 J- F. Herbarts Rezensionen.
wahrhaft praktischen Gebrauch zu machen. Die angeführte Stelle des
Verfs. aber ist noch in anderer Hinsicht merkwürdig. Wo findet er die
auffallendsten Beweise der vorgeschrittenen Civilisation ? Bei den Truppen-
massen, die sich ruhig nach Hause begeben ; — also im Volke. Und wo
findet er den Rest der Barbarei? In den lärmvollen Debatten; natürlich
der Deputiertenkammer und der Zeitungen; also in demjenigen Teile der
Nation, welcher für den gebildeten gilt. So ist's; der Fehler liegt nicht
so sehr oben und unten, als in der IMitte.
Über die Pflichtenlehre, welche Droz an den Platz der Rechtslehre
setzen will, haben wir vorhin den Übersetzer sprechen lassen; es ist aber
zweckmäßig, jetzt die eigenen Worte des Verfs. anzuführen, damit man
weder zuviel noch zu wenig davon erwarte. „Der Mensch hat ohne
Zweifel seine bestimmten Rechte, aber wenn die Behauptung deiner
Rechte ausschließend deine Gedanken beschäftigt, so wirst du zur flachen
Gemeinheit herabsinken, und vielleicht wechselsweise als unruhiger Kopf
und als feiger Schwächling erscheinen. Die Pflichtenlehre hingegen würde
den Rechten eines jeden die gründlichste und vollständigste Garantie ge-
währen. Sie nimmt zu ihrem Ziele keineswegs jene eingebildete Gleich-
heit, welche von der Theorie der Rechte so vielen verirrten Geistern vor-
gespiegelt wird; sie achtet vielmehr die natürliche und gesellschaftliche Un-
gleichheit; aber sie arbeitet unaufhörlich daran, daß daraus kein Moment
der Unterdrückung hervorgehe; denn sie stellt den Grundsatz auf, daß
unsere Verbindlichkeiten gegen unsere Mitmenschen in dem Maße wachsen,
wie die Mittel zu einem wirksamen Einflüsse auf sie sich vermehren. —
Man kann sein Recht unbedenklich aufgeben; aber die Verbindlichkeit
der Pflicht bleibt immer unerläßlich.
Wie, wird man nun einwenden, gibt es keine unveräußerlichen Rechte?
Ich kenne keine^ welche es an 7ind für sich wären; die Pflicht erst gibt
ihnen diesen Charakter." (Hierbei ist wiedenim der Übersetzer geschäftig.
in einer Note den falschen Satz anzubringen; die natürlichen Rechte des
Menschen gehen aus dem Begriff seiner Würde hervor; diese aber erhält
ihren eigenen Glanz erst von der Sittlichkeit ; — -folglich, setzen wir hinzu,
können wir mit einem solchen Begriff der Menschenwürde, wobei dieser
eigentliche Glanz Jehlt. nichts anfangen; und bitten deshalb den Hrn. v. Bl.
einmal zu überlegen, was für eine Verminderung oder Vermehrung wohl
nach seiner Ansicht die natürlichen Rechte des Menschen erleiden müßten,
wenn man von rohen und wilden Menschen aufstiege zu Gebildeten, oder
umgekehrt herab von edeln Männern zu verworfenen Verbrechern. Ist
es wirklich die Meinung, daß demgemäß die Menschenrechte sich ändern
sollen, oder mit welchen Fiktionen denkt man hier der Theorie nach-
zuhelfen?) ,,Das Recht, in seinem ganzen Umfange, kann voti demjenigen,
der es besitzt, verieidigt^i verändert und veiiooifen voerden." (Hier können
wir auch mit dem Verf. nicht ganz übereinstimmen; allein der Gegen-
stand hat eben deswegen, weil es keine an sich unveräußerlichen Rechte,
im strengsten wissenschaftlichen Sinne, gibt, sondern der ganze Gedanke
nur näherungsweise richtig ist, — eine Dunkelheit, die sich nicht mit
wenigen Worten aufklären läßt.) ,.,Der Charakter der Unveräußerlichkeit,
ivelche einige miserer Rechte so ivichtig zu machen scheint, verritigert in der
Joseph Droz: Die Anwendung der Moral auf die Politik. I j I
Tat unsere Macht über dieselben. Die Einschränkung, weiche unsere Willkür
dadurch erfährt, würde uns unangenehm sein, wenn wir nicht durch ein
Gefühl entschädigt würden, welches zu den edelsten gehört, die der Mensch
haben kann; das Gefühl der frehvilligen Uiiterruerfiing unter die Heiligkeit
des Gesetzes. Ein reines und einfaches, d. i. ohne Beimischung von Pflicht
gegebenes Recht ist weiter nichts, als eine Befugnis, von der man Ge-
brauch machen kann oder nicht. Wenn mein Recht nichts weiter als
ein Recht ist, so kann ich es aufheben." (Hier hat wohl der Verf. nicht
daran gedacht, daß es auch Naturbedürfnisse gibt, die man nicht zum
Schweigen bringen kann; und daß ursprünglich der Begriff derjenigen
Rechte, deren geschehene Veräußerung als ungültig angesehen wird, sich
vielmehr auf das Unerträgliche solcher Rechte, als auf das Pflichtwidrige
derselben bezieht. Es ist zwar richtig, daß sittliche Gründe hinzukommen ;
aber sie sind nicht die erste und einzige Quelle, woraus die Behauptung
des Unveräußerlichen fließt, und man gewinnt in Dingen dieser Art nichts
durch Übertreibung.) „Selbst dann, wenn andere Menschen nicht un-
mittelbar bei unserer Entschließung interessiert sind, fühlen wir uns ver-
bunden, solche Befugnisse geltend zu machen, welche mit unserer Würde,
als freie und vernünftige Wesen, im wesentlichen Zusammenhange stehen.
Die Pflicht gibt mir die Vorschrift, mich nicht in meinen eigenen Augen
verächtlich zu machen; die Pflicht gebietet dem Menschen, in seiner
Person nicht ein aus der Hand des Schöpfers hervorgegangenes Wesen
herabsetzen zu lassen. Man setze das Wort Recht an die Stelle des
Wortes Pflicht.^ und versuche dann diese Ideen auszudrücken; es wird
nicht gelingen, man wird eine unverständliche Sprache reden.''
Die ganze Streitfrage, welche hier behandelt wird, erinnert uns an
den Spruch des Dichters: Du mußt entweder Amboß oder Hammer sein.
Mit anderen Worten: du hast nur die Wahl, entweder andere zu drücken
durch deine Rechte, oder dich selbst zu drücken durch deine Pflicht.
Besser wäre es, anzuerkennen, daß beides zugleich und nebeneinander
stattfindet. Aber diejenigen, welche Recht und Pflicht aus dem höheren
Prinzip von der Würde der menschlichen Natur ableiten wollen, empfinden
insofern richtig, als es wahr ist, daß überall nicht in irgend einem
drückenden Verhältnisse der erste Ursprung dieser Begriffe zu suchen ist,
sondern in einem ästhetischen Prinzip. Jedoch irren sie sich abermals,
indem sie dies Prinzip für ein einziges halten. Darum können sie nie-
mals den eigentlichen Sinn derjenigen Beurteilung menschlicher Angelegen-
heiten erreichen, die sich im Laufe des Lebens, sowohl bei Staatsmännern
als bei dem Volke, stets von neuem erzeugt. Unserem Verf. werden
andere sagen: setze nun umgekehrt das Wort Pflicht an die Stelle des
Wortes Recht^ und versuche deine Gedanken auszudrücken; es wird nicht
überall gelingen; du wirst eine unverständliche Sprache reden. Und wir
fügen hinzu, geradeso wird es denen gehen, die überall bis zur Würde
des Menschen aufsteigen wollen, um jedes vorhandene Recht daraus ab-
zuleiten. Der erste Fehler liegt immer darin, daß man überall Einheit
sucht; auch da, wo in den Gegenständen nicht Einheit, sondern ursprüng-
liche Vielheit ist; welches falsche Streben man alsdann ebenso fälschlich
legalisieren will durch das Vorgeben der sogenannten Vernunft, deren
112 J- F- Herbarts Rezensionen.
Charakter darin bestehe, alles auf Einheit zurückzuführen. Diese Ver-
nunft ist das Hirngespinst der Psychologen, so wie die Einheit der Natur
das Hirngespinst der Naturphilosophen. Zu dem ersten Fehler, welcher
die synthetische Untersuchung verdirbt, kommen andere und neue Fehler,
indem man die Analysis, die stets der Synthesis zur Seite gehen muß,
entweder vernachlässigt oder einseitig betreibt. Die praktische Philo-
sophie ist einmal zerrissen in das vermeinte Zwangsrecht und in die Moral;
jenes Bruchstück behandeln die Juristen, dieses die Theologen ; aber ver-
gebens sieht man sich um nach einem solchen Kreise von unbefangenen
Denkern, denen die Kenntnis der Rechte und der Pflichten gleichmäßig
geläufig, und die zur Analyse der einen wie der anderen gleich geschickt
wären. Findet sich nun auch hier und da ein dialektischer Kopf, der
einzudringen vermag entweder in das Gewebe der mannigfaltigen Rechts-
begrifie oder in das Gewebe der Begriffe von Pflichten, Tugenden und
Gütern; so fehlt es doch an solchen Augen, die für beides zugleich offen
wären und jedes an seine rechte Stelle zu setzen vermöchten. Wir reden
hier nicht bloß von Droz und Blumröder; es gibt andere, weit geübtere
Denker, bei denen sich dieselben Fehler nach einem größeren Maßstabe
wiederholen.
Die Anwendung, welche Droz von seiner Pflichtenlehre machen will,
offenbart sich im Anfange des dritten Kapitels. ,, Nachdem die wahre
Grundlage der Staatskunst gefunden ist, fühlt man das Bedürfnis einer
sicheren Basis der gesellschaftlichen Verbesserungen; man findet, daß es
nötig ist, einen gewissen Einfluß auf die Seele des INIenschen auszuüben,
um ihn in den Stand zu setzen, seine Pflichten zu erfüllen. Geht man
von der Lehrmeinung der Rechte aus, so vergreift man sich gar sehr in
den Mitteln. Man bediente sich der Gewalt für das System der Unter-
drückung, — der Verbesserer mm glaubt genug zu tun, wenn er der Gewalt
eine andere Stelle aniveist. — Es war einmal eine Zeit, da man die ge-
setzgebende Gewalt zweien Räten, die vollziehende fünf Direktoren übertrug.
Ein Deputierter verlangte noch eine vierte Autorität, ein Senat sollte auf-
gestellt werden, um über Räte und Direktorium die Aufsicht zu führen.
Würden nicht wiederum Oberaufseher über die Aufseher nötig gewesen
sein? Den Geist muß man erfassen; auf die Seelen muß man wirken.
Die materialen Mittel gehören in die zweite, geringere Klasse. — Die
Gesetze .sprechen nicht von selbst, sie brauchen zu ihrer Auslegung ge-
wisse Organe. Sind die Gemüter nicht durch die Schule der Pflicht ge-
gangen, so wird die Auslegung immer fehlerhaft sein. Finden die Gesetze
nicht in den Gemütern eine mächtige Stütze, so werden die weisesten
Gesetze wie ein drückendes Joch abgeschüttelt. Die Gemeinheit beiuegt
sich am liebsten im Kreise politischer Mittelmäßigkeif , und die schönsten In-
stitutio7ien finden ihren Tod in ihrer Schönheit. — Habt ihr zuviel von
politischer Freiheit, ohne gehörige Vorbereitung: so werde ich euere
Vorrechte auf dem Papiere finden, und die Sklaverei wird in eueren
Häusern wohnen. Dennoch sind die gemischten Regierungsfonnen die
besten. Zwar im Zustande der Kindheit stehen die Völker ganz unter
Vormundschaft; wenn hingegen ihre Fähigkeiten sich soweit entwickeln,
daß sie sich über ihr Lokal - Interesse beraten können, dann wird ihnen
H. Ritter: Die Halbkantianer und der Pantheismus ii^
eine administrative Freiheit nötig, durch Munizipal- und Provinzial -Ver-
sammlungen. Endlich kommt die Epoche der Mündigkeit und politischen
Freiheit. Revolutionen schaden dreifach: erstlich durch gehässige Leiden-
schaften. Die Parteien erreichen eine solche Höhe der Verkehrtheit, daß
sie danach streben, nicht was jeder am nützlichsten, sondern was der
Gegenpartei am widrigsten ist. Zweitens durch Entmutigung. Von den
verschiedenen streitenden Parteien sind so viele richtige Ideen verdreht
worden, daß die edleren Gemüter zu der Überzeugung gelangten, man
müsse sich Schweigen auferlegen auf einer Erde, wo die heiligsten Ge-
danken vergiftet, und die Worte des Friedens selbst zum Kriege gemiß-
braucht werden. Drittens durch den Egoismus, dessen verhängnisvolle
Schulen die Revolutionen sind. Denn es kommen Menschen aus ihnen
hervor, denen nichts für nützlich gilt als Gold, nichts für gerecht als die
Stärke, nichts für klug als die Selbstsucht. Denke ich an die Leiden-
schaften der Revolution, die Grausamkeiten der Schreckensregierung, und
an die Verführungen des Kaiserreichs, dann wundere ich mich, daß es
noch einige ruhige, mutvolle und uneigennützige Männer gibt.''
Man braucht nicht Revolutionen gesehen zu haben, um diese Sprache
des Hrn. Droz wahr und treffend zu finden. Und diejenigen Menschen,
welche nichts im voraus, nichts durch Nachdenken erkennen, sondern alles
selbst erfahren wollen, werden immer zu spät weise. Richtige Begriffe müssen
im voraus fest stehen, damit man aus der Ferne beobachten, fremde Er-
fahrung sich aneignen, den Unterricht der Geschichte fassen, behalten, be-
nutzen könne. Aber die alten psychologischen Fabeln geben keine richtigen
Begriffe von Menschen; und solange das Zwangs -Naturrecht sich gegen
solche Lehren, wie die des Verfs. glaubt auflehnen zu müssen, werden
wir immer von neuem die leidige Klage anzuhören haben, über den
Staat sei Streit zwischen Philosophie und Erfahrung.
Ritter, H., a. o. Prof. a. d. Univ. Berlin, Die Halbkantianer und
der Pantheismus. Eine Streitschrift, veranlaßt durch Meinungen
der Zeit und bei Gelegenheit von Jäsches Schrift über den Pantheismus.
■ — Berlin 1827.
Jäsche, Gottlieb Benjamin, kaiserl. russ. Staatsrat und Prof. der Philos.
in Dorpat^ Der Pantheismus nach seinen verschiedenen
Hauptformen, seinem Ursprünge und Fortgange, seinem
spekulativen und praktischen Wert und Gehalt. Ein Beitrag
zur Geschichte und Kritik dieser Lehre in alter und neuer Philosophie.
2. Bd. — Berlin 1828.
Gedruckt in: Leipziger Literatur-Zeitung 1829, Nr. 106, 167. SW. XII, S. 56;.
Daß Hrn. Staatsrat Jäsches schätzbares Werk über den Pantheismus,
dessen erster Teil in diesen Blättern bereits angezeigt worden, bald
Widerspruch finden würde, ließ sich erwarten. Daß man ihn aber nicht
Herbarts Werke. XIII.
114 J' ^* Herbarts Rezensionen.
einmal ausreden läßt, obgleich der zweite Band in der Vorrede des ersten
schon angekündigt war, scheint auf starke Reizung oder Reizbarkeit hin-
zudeuten. Gleichwohl ist Hr. Prof. Ritter von Hrn. J. unter denjenigen
Gelehrten genannt worden, welchen er Vorarbeiten verdanke. Und das
ganze Werk zeichnet sich aus durch Ruhe und Humanität, womit es
einen der streitigsten Gegenstände behandelt. Hr. Prof. R. beginnt auch
nicht mit Klagen über Hrn. J., sondern über mehrere Rezensenten, welche
ihn und andere des Pantheismus beschuldigten. Die angegriffene Lehre
aber gehört in seinen Augen zu denen, ohne welche niemand der ewigen
Seligkeit teilhaftig werden kann; Origenes, der heilige Athanasius, der
heilige Augustinus, der heilige Anseimus, und wie die Pfeiler der Kirche
weiter heißen, müssen dafür zeugen. Nun griff er zu der Schrift von J.,
erwartend, was er nicht fand! Er erwartete aber, die Anschauung der
ganzen Geschichte zeige nicht nur die Wurzel, von welcher eine Richtung
des Geistes beginne, sondern auch den ganzen Umfang, über welchen sie
sich verbreiten könne. Ist denn die Geschichte schon ein Ganzes? Er
klagt, unsere deutsche Philosophie sei so neu, daß sie ihre Jugend nicht
verleugnen könne; er klagt über „Neulinge, welche auf den alten Adel
schmähen; weil sie ihn nicht besitzen." x\ndere hört man klagen, daß
unsere Philosophie sich ein ältliches Ansehen gebe, und aus Streit und
Zank nicht herausfinden könne, weil es ihr an neuen Verdiensten fehle;
so daß sie auf den alten Tummelplätzen festgebannt scheine, während
unsere Wissenschaften rasch fortschreiten. Da wir nun einmal in einer
Welt leben, worin es sehr viele verschiedene Meinungen gibt, so wird
sich Hr, R. auch wohl müssen gefallen lassen, daß Hr. J. bei Sekten-
namen auf das Prinzip eines Systems sieht, während er freilich „schon
früher" seine Meinung dahin abgegeben hat, daß dergleichen Namen nur
das Extrem bezeichnen sollten, wozu ein Keim des Unrichtigen, rein aus-
gebildet, führen könnte. Und so möchte es auch wohl eine Partikular-
Meinung und ein Notbehelf bleiben, wenn er "behauptet: es gebe gar
keine wahren und reinen Pantheisten, sondern nur hier und da eine
Richtung der Denkart, welche sich dem, was man Pantheismus mit Recht
nenne, annähere. Indem er aber diesen Satz auf einen allgemeinen stützt,
— nämlich, daß es keinen reinen, durch das ganze Leben hindurch-
geführten, Irrtum geben könne, — wird ein so sanfter und billiger Gegner,
wie Hr. J., gewiß nicht Anspruch machen, das Leben irgend eines Menschen
genau und vollständig zu beobachten und zu beurteilen.
Es ist eine schlimme Sache für eine Streitschrift, wenn sie nur auf
unbestimmte Veranlassung durch Meinungen der Zeit, und nur bei Ge-
legenheit, nicht aus dringenden Gründen hervortritt. Der Streit muß als-
dann erst geschaffen werden, und dazu gehört vielmehr ein dogmatischer,
als polemischer Vortrag. So findet es sich hier. Verlangt nun jemand,
wir sollen R.s Kampf gegen J. beschreiben, so müssen wir klagen über
Mangel an Stoff; will aber jemand eine dogmatische Lehre kennen
lerpen, die sich durch die Negation ankündigt, sie heiße mißbräuchlich
Pantheismus, so verweisen wir ihn nicht bloß auf die ganze zweite
Hälfte dieser Schrift, sondern auch auf eine Menge von Behauptungen
und Argumenten der ersten Hälfte, eine Menge, die in vielem Betrachte
H. Ritter: Die Halbkantianer und der Pantheismus.
115
für uns zu groß und zu bunt ist; daher statt eines Berichts wenige Proben
genügen müssen.
Zuerst ein paar polemische Kunststücke! „Wir wollen es zugeben'-
(was schwerlich ein Kantianer begehrt), „der Mensch in seinem irdischen
Leben mag vor Gott, wie vor sich selbst, nur Erscheinungen erkennen ;
so ist ja eben diese Erkenntnis von seiner Lage eine Erkenntnis, die
ebenso in Gott ist, wie in ihm, mithin eine übersinnliche Erkenntnis; und
es ist nicht wahr, was die Kantianer sagen, wir wüßten nichts vom Über-
sinnlichen." Ja freilich, wenn der Kantianer das Geschenk eines trans-
cendenten Wissens, wie die menschliche Erkenntnis sich in der Gottheit
projiciere, unbehutsam annimmt; so ist er leicht überrumpelt. Und sieg-
reich setzt Hr. R. hinzu: „Nimmt man an, das Resultat der Kantischen
Kritik sei nicht eine ewige Wahrheit, und nicht in Gott; so heißt ja dies
nichts anderes, als: auch dies sei ungewiß, daß der Mensch bloß sinnliche
Erscheinungen zu erkennen vermöge." Ein zweites Kunststück: „Die
Freiheit des Willens kann Gegenstand meines Denkens werden; überzeuge
ich mich nun, daß ich mir Freiheit zuschreiben müsse, genötigt durch das
gesetzmäßige Verfahren meiner Vernunft; so erhalte ich eine Überzeugung
des vernünftigen Denkens, welche ich nicht anders, als ein Wissen nennen
kann"! Daß der Kantianer nimmermehr den verschwiegenen Obersatz in
diesem Schlüsse: alle vernünftige Überzeugung ist gleichartig, und heißt
Wisseii — einräumen werde, dies ignoriert Hr. R., damit sein Kunst-
stück scheinen möge zu gelingen. Dritte Probe: „Wenn wir der Vernunft
das Recht zugestehen müssen, über das Freie im menschlichen Leben
ein Urteil abzugeben; so kommen unter den Erscheinungen, in welchen
das Freie ist (?), auch Erscheinungen vor, in welchen das Gute ist (?).
Nun ist aber wohl kaum irgend etwas sicherer^ als daß Gott das wahr-
haft Gute sei, und daß mithin in allem Guten auch zugleich das Wesen
Gottes erkannt werde." Erkannt? oder geglaubt? oder geahnt? Jedem, der
sich auf diese Frage besinnen will, stellt sich sogleich das Böse in den
Weg, welches samt dem Guten in der Freiheit gesucht wird, und sich in
den nämlichen Erscheinungen auch vorfindet. Was hat nun Hr. R. damit
gewonnen, daß er das Sein, das Freie und das Gute in die Erscheinung
hineinlegt, das Böse aber ausläßt? Wer ihn wegen jener Begriffe nicht
etwa zur Rechenschaft zieht, der erinnert ihn doch gewiß zum wenigsten
an den letztern.
Etwas mehr Interesse, als dies und ähnliches dialektisches Spinnen-
gewebe, hat die Stelle, wo er J.s Formeln, in welchem das Verhältnis der
Welt zu Gott dargestellt werden soll, ungeschickt findet, um den Zwecken
zu entsprechen, zu welchen sie aufgestellt worden. Ohne hier dem
Hrn. J. vorgreifen zu wollen, überlegen wir doch, welcher Zweck dem
Hm. R., indem er überhaupt von Formeln redet, wohl vorschweben möge?
Fast scheint es, er vergesse auch hier, mit wem er spreche, und sei
unbesorgt, ob es ihm gelinge, sich auf den Standpunkt seines Gegners
zu versetzen, oder ob er auf seinem Katheder einen Monolog halte.
Formeln dienen dem Wissen. Wer so stolz ist, sich da eines Wissens
zu rühmen, wo andere schon längst die Grenzen der menschlichen Er-
kenntnis überschritten finden, und deshalb bescheidentlich vom Glauben
8*
j I 5 J- F. Herbarts Rezensionen.
reden: der sorge für Genauigkeit seiner eigenen Formeln, aber ohne Zu-
dringlichkeit gegen andere; denn der Glaube läßt sich nicht befehlen,
noch auf bestimmte und allgemein mitteilbare Formeln beschränken. Am
allerwenigsten aber gewinnt man ihn, wenn man dialektische Künstelei
und polemische Hitze an die Stelle religiöser Wärme setzt. Wir wollen
nicht abschreiben, was Hr. R. S. 43 von „kalten Gesinnungen, welche
Gott nicht leugnen wagen," zu reden, und mit Zitaten aus Hrn. J.s Werke
zu begleiten für gut befunden hat. Klagen über den kalten Verstand ist
man gewohnt, von einer gerade entgegengesetzten Seite her zu vernehmen.
Der natürliche Schiedsrichter in solchem Streite ist das Gefühl der Un-
befangenen; diese mögen aussagen, ob sie mehr wahres, religiöses Gefühl
spüren bei Hrn. R. und denen, die ihm ähnlich sind, oder bei Jacobi
und dessen Schule. Wollen aber die Parteien keinen Schiedsrichter an-
erkennen, so fallen sie irgend einmal dem kalten Verstände, den sie ge-
meinschaftlich schmähen, in die Hände; denn dieser muß allemal da
Ordnung schaffen, wo Parteien gegeneinander aufbrausen, und sich nicht
selbst zur Ruhe begeben. Der kalte Verstand hat aber freilich nicht seinen
Sitz in dialektischen Künsten, bei welchen das, was bewiesen werden soll,
schon versteckt vorausgesetzt, noch in Machtsprüchen, wodurch das Streitige
tapfer behauptet wird, sondern in kritischer Überlegung der Bedingungen
und Grenzen unseres irdischen Wissens. Dem Dogmatismus, welchen
Hr. R. in der zweiten Hälfte seiner Schrift lehrt, liegt nach der Meinung
des Rez. nichts anderes zu Grunde, als eine phantastische Naturphilosophie,
welche dreist über die höchsten Gegenstände abspricht, weil sie noch nicht
weiß, was ein Sandkorn ist; auch noch nicht gelernt hat, auf dem Wege
einer gründlichen Untersuchung darnach zu fragen. Hr. R. ist anderer
Meinung; er hätte also wohlgetan, Kants Kritik aller spekulativen Theo-
logie direkt anzugreifen; sein Streit gegen Halbkantianer, oder gegen die,
welche er dafür hält, ist noch etwas weniger, als eine halbe Maßregel.
Wir wenden uns zu Nr. 2, wo wir in der Vorrede gleich anfangs
die bescheidene Äußerung finden: der Verf. wolle sich kein größeres Ver-
dienst erwerben, als nur durch Zusammenstellung des schon Bekannten
einen Überblick der pantheistischen Weltansichten zu gewähren. Das ist
nur Wiederholung einer Erklärung in der Vorrede des ersten Teils, und
man sollte meinen Hr. Staatsrat J. wäre schon hierdurch gegen Anfechtung
einer so spöttischen Bezeichnung, wie jene des Halb-Kantianers, gesichert
genug. Die ungemeine Klarheit seines Vortrages wird ihm ohnehin alle
diejenigen Leser gewinnen, welche Klarheit zu schätzen wissen. Ob nicht
über denselben Gegenstand mit sehr viel schärferer Polemik hätte gesprochen
werden können und sollen? ist eine andere Frage, die sich vielleicht be-
antworten läßt, wenn wir durch Angabe des Inhalts ihren Sinn näher be-
stimmen. Es ist nämlich in diesem zweiten Bande noch nicht (außer hier und
da gelegentlich) von unseren Zeitgenossen die Rede; sondern zuvörderst
vom orientalischen Pantheismus, dann von den aus orientalischen und
occidentalischen Quellen gemischten Emanations-Lehren, die in der Folge
auch in die christliche Theologie eindrangen, und sogar zur Stütze der
orthodoxen Lehre gebraucht wurden ; alsdann von den beiden heterodoxen
Pantheisten Bruno und Spinoza, welche sich selbst für heterodox er-
H. Ritter: Die Halbkantianer und der Pantheismus. 117
klärten, indem sie im offenen Gegensatze gegen die Kirche ihre Lehre
ausbildeten. Daß diese verschiedenen Teile des zweiten Bandes nicht
alle eine gleiche Beziehung auf unser Zeitalter haben, verrät sich, wenn
man es sonst vergessen könnte, deutlich genug in der langen Vorrede,
welche des früheren Pantheismus nur kurz erwähnt, hingegen bei Ge-
legenheit des Bruno und Spinoza sich in Streit mit unseren Zeitgenossen
verwickelt, wie natürlich, weil die letztern, besonders Spinoza, unter uns
nicht als bloß historische Personen betrachtet werden, sondern fortdauernd
leben und wirken. Daß die Veranlassung hierzu vorzugsweise von Jacobi
ausging, weiß jedermann. Auch die Art der Betrachtung, die Achtung,
worin jene beiden heute stehen, läßt sich großenteils von ihm herleiten.
Selbst Hr. J. schließt diesen Band mit der bekannten, starken Äußerung:
man habe den Spinozismus nicht verklärt, sondern getrübt und verfälscht,
da die neuern, aus dem scharfen und folgerechten Denker geschöpften
Werke, voll Schwindel und Betörung, statt der Lehre nur Geschwätz
geben; „der ehrwürdige Vater sitze verkindischt da, und erzähle Märchen".
Leider darf man diesen Worten nicht gerade widersprechen. Allein die
Sache verhält sich denn doch noch etwas anders, als wie sie hier er-
scheint. Der Vater ist nicht so ehrwürdig, sondern er büßt seine Sünden,
indem er im märchenhaften Pomp umhergeführt wird. Er selbst, Spinoza,
war der Verführer derjenigen, welche uns heute zu unangenehmen Streitig-
keiten zwingen. Dies ist's, was nach dem Urteile des Rez. im vor-
liegenden Buche nicht genug ist hervorgehoben worden. Solange das
Lob der besondern Gründlichkeit eines Mannes fortdauert, der gar keinen
Begriff von regelmäßiger metaphysischer Untersuchung hatte, und solange
man die offenbar unsittlichen und unrechtlichen Grundsätze, welche er
zwar, soviel wir wissen, nicht übte, aber doch in der nacktesten Deut-
lichkeit und Ausführlichkeit lehrte, ins Schönere und Mildere umzudeuten
fortfährt, und die Blendwerke nicht zerstört, mit denen er sich selbst zu
täuschen verstand; solange wird man immerfort unsere Zeitgenossen,
welchen die nämliche Täuschung anklebt, härter beurteilen, als gegen sie
billig ist. Hr. J. hat zwar viel getan, um die Schlechtigkeit und Ver-
kehrtheit des Spinozismus aufzudecken, aber bei weitem nicht alles, und
wenn wir nicht irren, wird er im dritten Bande manches nachzuholen
finden, um heutige Fehler durch die frühern, aus denen sie entstanden,
soviel möglich zu entschuldigen.
Für jetzt nehmen wir dankbar an, was der Scharfsinn des trefflichen
Verfs, uns darbietet, und teilen einiges davon mit, ohne uns gerade an
die Ordnung des Buches, dessen historischer Faden schon angegeben
worden, streng zu binden. „Die Aufgabe der Philosophie (sagt Hr. J.)
besteht darin, nicht stehen zu bleiben bei der ganz abstrakten, un-
bestimmten Einheit, sondern mit Hilfe des Begriffs fortzugehen zu dem,
worin alles Interesse fällt, zur Vielheit und Verschiedenheit." Jene Ein-
heit, die kein Interesse hat, und dennoch im Pantheismus den Dingen
vorgeschoben wird, beschreibt unser Verf. bei Gelegenheit der Plotinischen
Lehre mit folgenden Worten : Sie ist, genau betrachtet, nichts anderes, als
die an sich unlebendige, formlose Materie der intelligibeln Welt, woraus
die Intelligenz, als tätiges Prinzip, alle besondern Daseinsformen erzeugt.
1 1 8 J- F- Herbarts Rezensionen.
Erst mit diesem zweiten Prinzip beginnt alle Tätigkeit. Wenn nach
Plotin, gemäß einer treffenden Bemerkung Schellings, das Überfließende
nicht kraft einer Wirkung desjenigen überfließt, aus dem es überfließt,
sondern durch seine eigene Schwere; wenn es sich losreißt, nicht aber
abgestoßen wird: so kann das Urwesen nur als ruhiger Grund der Dinge
angenommen, und es muß dagegen die Tätigkeit oder Handlung vielmehr
in das Emanierende, als in das, woraus es emaniert, gelegt werden. Als
ruhiger Grund der Dinge kann demnach das Urwesen auch nicht das
Prinzip der Wirklichkeit, sondern lediglich der Möglichkeit derselben, mit-
hin auch nicht das Vollkommene actu, sondern bloß potentia sein. Es
ist ein völlig Unbestimmtes, bloß Bestimmbares, erst zu Bestimmendes.
In diesem Systeme ist demnach das erste Prinzip im Grunde ein logisches
Chaos, ein indifferender Urgrund." Da es nun offenbar ist, daß eine
solche Annahme eher zu einer Naturlehre, als zu einer Lehre vom
höchsten Wesen (dem Sittlich- Höchsten), zu gebrauchen ist; so sieht man
die Pantheisten, denen es niemals an Wendungen fehlt, und die immer
alles auf einmal fassen wollen, ohne je die Unmöglichkeit davon zu be-
greifen, sich ein andermal gerade nach der entgegengesetzten Richtung
hin wenden. Das erste Wesen, welches vorhin zur bloßen Möglichkeit
aller Dinge herabsank, soll nun alles machen, auch sogar sich selbst, so
daß es sein eigenes Geschöpf wird. Hr. J. weist diese Vorstellungsart
beim Scotus nach. Da heißt es: Deus est omnium factor, et in omnibus
factus; und vollends: Non ergo Deus erat subsistens, antequam miiversi-
tatem conderet. Dies kann (fügt der Verf hinzu) keinen anderen Sinn
haben als den: Gott existierte vor der Schöpfung nur als der Grund
alles im Schöße seiner Substanz noch verborgenen Seins. Zum wahrhaft
Seienden machte er sich erst durch Entfaltung. Wobei wir bemerken, daß
hier auf das Vorher und Nachher wenig ankommt. Es ist genug, zu
sagen: er würde nicht sein, wenn er sich nicht machte; der Erfolg ist
die Bedingung des Grundes, welchem ohne das Tun nicht einmal das
Sein zukäme. Wir dürfen wohl erwarten, daß der Verf. im dritten Bande
mit dieser ungereimten Vorstellungsart das Fiehtesche Ich zusammen-
stellen wird; denn dies war es, wodurch die Einbildung, man könne wohl
das Tun zum Ersten, und das Sein zimi Zweiten machen, wieder in
Gang kam, und dadurch wurde die neuere Periode des Pantheismus vor-
bereitet. Übrigens könnte in Ansehung des Zeitverhältnisses, die frucht-
bare Phantasie der heutigen Philosophen zu Vergleichungen mit älteren
nicht minder fruchtbaren Köpfen einladen. Interessant genug ist in dieser
Hinsicht der Zusatz, welchen Hr. J. bei Erwähnung des Scotus noch bei-
fügt: „Wie der sich evolvierende und evolvierte Gott aus der Einheit
seines Wesens in die Allheit der Dinge übergeht, so kehrt der, durch
Auflösung der Vielheit und Mannigfaltigkeit der Weltwesen sich invol-
vierende und involvierte Gott in die substantiale Einheit seines Wesens
wieder zurück, so daß nun nichts weiter wirklich ist, als Gott. Als christ-
licher Religions-Philosoph sucht ScoTUS auch in Ansehung dieses Punktes
seine Philosophie mit den Dogmen der Kirche zu vereinigen, indem er
drei Arten dieser Rückkehr annimmt. Die erste besteht in einer Ver-
wandlung der Körperwelt durch Rückkehr in ihre verborgenen Ursachen;
H. Ritter : Die Halbkantianer und der Pantheismus. 1 1 q
— die zweite in einem Rückgange der ganzen menschlichen Natur in
ihren ursprünglichen Zustand; — die dritte in einer mystischen, un-
begreiflichen Vereinigung mit Gott, die aber nur den Auserwählten zu
teil wird." Wer solche Meinungen ausspinnt, der hat gewiß noch nicht
begriffen, daß Ursache und Wirkung, abgesehen von der Erscheinungs-
welt, streng gleichzeitig sein müssen.
Wie vieles nun auch aus metaphysischen Gründen gegen den
Pantheismus zu sagen ist (und wie sehr auch Rez. in dieser Art eine
strengere Kritik bei Hrn. J. zu finden gewünscht hätte) ; so läßt sich doch
nicht verkennen, daß religiöses Gefühl in jenen Systemen und Dar-
stellungen der Indier, der Neuplatoniker und der Scholastiker zu spüren
ist. Zwar kann das religiöse Gefühl unmöglich bei jenen ganz gleichartig
sein mit demjenigen Gefühle, was unter der Voraussetzung des außer-
weltlichen höchsten Wesens sich ausbildet; so daß dessen Verbindung mit
der Welt auf Güte und Weisheit beruht, durch Trennung von der Welt
aber die Reinheit und Heiligkeit bewahrt wird. Allein den seltsamen
indischen Mythen liegt wenigstens ein Gefühl der Bewunderung zum
Grunde, und wenn Hr. J. fragt: wo ist in diesem fatalistischen Emanations-
systeme das moralische Element? — so können wir noch immer eine
halbe Antwort nachweisen in dem Grundgefühle einer unendlichen Be-
trübnis, entspringend aus dem niederschlagenden Bewußtsein sittlicher
Verderbnis und der Entfernung von der Urquelle göttlicher Vollkommen-
heit. Wäre das Gesetz des Sollens wirklich verwechselt mit dem des
Müssens, so gäbe es keinen Grund der Betrübnis, denn in das bloße
Müssen findet sich am Ende jedermann. Zwar sagt Hr. J. mit Recht:
„An die Stelle eines moralischen Endzwecks der Schöpfung tritt in diesem
Systeme der Begriff von der Zwecklosigkeit der Welt und einer bloß
spielenden Tätigkeit Gottes; und ein Gott, der das Rechttun und Un-
rechttun vorher bestimmt, ist nicht moralisch." Allein so wahr dieses ist;
so "muß man sich doch hüten, mit Gefühlen gegen spekulative Begriffe
zu streiten, welches wir zu oft erlebt haben, um nicht dagegen zu warnen,
von welcher Seite her auch diese Waffe möge gebraucht werden. Die
Unparteilichkeit gebietet zu bemerken, daß, nachdem einmal vom halben
Kantianismus die Rede gewesen ist, die echten Kantianer wohl Ursache
haben zu verhüten, daß sie ihrer Zuneigung zu Jacobi mehr einräumen,
als dem Geiste Kants gemäß ist. Die Gegenpartei wird nicht widerlegt,
wenn man sie kränkt; sie wird auch nicht besiegt, wenn man sie zu sehr
schont, wo eine offenbare Verkehrtheit zu bekämpfen ist. Beides aber
findet sich zuweilen seltsam genug vereinigt. Hieran sind wir besonders
dort erinnert worden, wo der Verf. über Spinoza spricht, welchen Jacobi
viel zu glänzend dargestellt hatte, während wohl schwerlich irgendwo
weniger Zartgefühl, das man schonen müßte, anzutreffen ist, als eben bei
Spinoza.
War es Ernst, daß Hr. J. vom Spinozismus rühmt, er zeichne sich
durch eine streng wissenschaftliche Methode aus? Gebühren wirklich dem
Aufsatze: de intellectus emendatione solche Lobreden, wie sie ihm hier
gespendet werden? Videbar bonum certum pro incerto amittere. Sed
inveni, me bonum incertum omissurum pro incerto. Das sind die Be-
120 J- ^- Herbarts Rezensionen.
rechnungen des Nützlichen, womit die Schrift beginnt. Passen diese Be-
rechnungen in eine Kantische Sittenlehre? De mea felicitate etiam est,
operam dare, ut alii multi idem, atc^ue ego intilligant. Viel Großmut,
aber keine sittliche Strenge! Die Lebensregeln: ad captum vulgi loqui,
deliciis in tantum frui, in quantum ad tuendam valetudinem sufficit;
tantum numorum quaerere, quantum sufficit ad vitam, et ad mores
civitatis, qui nostrum scopum non oppugnant, imitandos, — können das
vorige nicht veredeln, und gehören nicht ad intellectus emendationem.
Aber nun folgen die Hauptsachen : das Verachten der sogenannten
experientia vaga, welche schwankt, solange sie nicht scharf denkend auf-
gefaßt wird ; und das Gegebensein einer wahren Idee, das heißt, eine steife,
ohne Kritik behauptete Voraussetzung! Sind solche Mittel, den Verstand
zu verderben, sattsam zurückgewiesen durch Erwähnung einiger Worte
von Tennemann? Hier erwarteten wir vielmehr die kritischen Bemühungen
des Verf., wenn auch nur, um nach Kants Weise die Rechte der Er-
fahrung, welche allein gegeben ist, zu verteidigen gegen eingebildete
Ideen, die man dem Gegebenen unterschieben will, weil man die INIühe
scheut, der Erfahrung selbst durch scharfes Denken die Hilfsmittel zu
ihrem richtigen Verständnisse abzugewinnen. Hätte nur der Verf. den
treffenden Ausspruch, welchen wir von ihm gegen das Ende erhalten,
weiter entwickelt! Wir meinen die folgende Stelle: Unsers Metaphysikers
dialektische Kunst ist damit beschäftigt, die an sich leere, unfruchtbare,
unbestimmte Idee von Gott, als dem Absolut -Realen mit allem dem
reichlich auszustatten, was ihm die Erfahrung als ein Reales von be-
stimmter Qualität darbot, um das, was er a posteriori hergenommen, und
womit er jene Idee angefüllt hatte, sodann dem Scheine nach a priori
aus derselben ableiten zu können." (Selbst dies ist noch zu günstig; es
ist auch nicht einmal eine scheinbare Ableitung vorhanden, sondern der
rohe Empirismus liegt nackt am Tage, nur am Rande schlecht vergoldet.)
Daß Hr. J. sich auf die Künste, welche bei Spinoza seine Lehre von
der Seele und von der Materie vorstellen sollen, nicht genauer einließ,
um sie zu widerlegen, können wir ihm nicht verdenken; denn sein Gegen-
stand war nicht Psychologie und Naturlehre, sondern Pantheismus; und
er hat sich fast tiefer, als für seinen Zweck nötig war, auf deren historische
Darstellung eingelassen. Aber da er einmal die Frage aufwarf: „Können
auch wohl dergleichen Wesen (außer dem spinozistischen) Substanzen ge-
nannt werden?" so lag es nahe, die Frage auf das Urwesen des Spinoza
selbst zurückzuwenden. Hr. J. hat diese Frage von mehreren Seiten zu-
rechtgelegt, daß wir wohl annehmen dürfen, er denke sich unter einer
Substanz etwas anderes, als eine bloße Möglichkeit dessen, was man in
sie hinein erklären will, weil man es aus ihr nicht zu erklären vermag.
Die Stelle in der Angabe von Brunos Lehre: „wenn es eine vollkommene
Möglichkeit, wirklich zu sein, ohne wirkliches Dasein gäbe, so erschafften
die Dinge sich selbst, und wären da, ehe sie da wären," hätte füglich
gegen die vorgebliche causa sui können benutzt werden, und würde dann
ein ganz anderes Resultat ergeben haben, als die gegen Aristoteles be-
hauptete Identität der wirkenden, formalen und End-Ursache, worin bloß
Brunos Abhängigkeit von seinem Zeitalter sichtbar ist.
Dr. Fr. Ed. Beneke: Psychologische Skizzen. 121
Allein wir wären unbillig, wenn wir mehr forderten, als uns ver-
sprochen wurde. Einen Beitrag zur Geschichte und Kritik des Pantheis-
mus hat der Verf. angekündigt; einen ehrenwerten Beitrag hat er geleistet;
möge er bald sein Werk vollenden!
Beneke, Dr. Fr. Ed., Psychologische Skizzen. Zwei Bände.
— Göttingen, bei Vandenhöck & Ruprecht, 1825. XVIII u. 492 S.
2. Bd., XXXVIII u. 698 S. 80. (4 Rthlr. 16 Gr.)
Zwischen diesen beiden Bänden steht, als Vorarbeit für den zweiten,
ein anderes Buch desselben Verfs., und in demselben Verlage, unter
dem Titel :
Das Verhältnis von Seele und Leib. Philosophen und Ärzten
zu wohlwollender und ernster Erwägung übergeben. 1826.
XVI u. 301 S. 8 0. (i Rthlr. 8 Gr.)
Gedruckt in: Jenaer Literatiir-ZeiUing 1830, Nr. 6, 7. SW. XII, S. 628.
Die Besorgnis, welche man vor einigen Jahren hegen konnte, als
würde das philosophische Studium in Deutschland ermatten, scheint sich
glücklicherweise nicht zu bestätigen. Die Aufregung der Köpfe ist mannig-
faltig; die abschreckende Herrschaft einer einzelnen Schule bloß ein-
gebildet, und selbst das allgemeine Bedürfnis, mit der Zeit fortzugehen,
erinnert wohl manchen, daß er auch in der Philosophie nicht zurück-
bleiben darf. Freilich aber begnügen sich viele mit oberflächlichen
historischen Notizen, oder mit höchst einseitiger Kenntnis eines dürftigen
Systems, dessen Auffassung nicht viel Mühe macht; oder mit abstrusen
Formeln, bei denen sie nach ihrer Weise etwas denken, ohne den wahren
Zusammenhang zu kennen. Wie müßten wohl Schriften beschaffen sein,
die solchen Mängeln abhelfen sollten? Rez. wünschte antworten zu dürfen:
so wie die Schriften des Hrn. Beneke. Wenigstens scheint es, der Verf.
habe sich jene Frage vorgelegt, und suche ihr durch die Form seines
Vortrags zu entsprechen. Seine Schriften sind nicht historisch, nicht
systematisch; seine Ausdrücke scheinen leicht verständlich; seine Manier
hat etwas Anziehendes, und er hat einen gewissen Grad von Anerkennung
seines Talents im Publikum erlangt. Mit einer beinahe imponierenden
Gewandtheit bewegt er sich durch alle Höhen und Tiefen der Psycho-
logie, der Metaphysik, der Ethik und Ästhetik; ja es fehlt nicht viel, daß
er scheine auch sogar Naturphilosoph zu sein, und schon der letzt an-
geführte seiner Büchertitel zeigt, wie wenig schwer es ihm dünke, selbst
bei den Ärzten Gehör zu finden. Mit einem Worte, er will Allen Alles
sein, und zwar mit so wenigen Hilfsmitteln als nur möglich. Ist es etwa
auf diese Weise auch einem Lichtenberg, Lessing, Herder gelungen,
dem großen Kreise derer, die sich eben nicht sehr anstrengen mögen,
den INIangel der eigentlichen Wissenschaft einigermaßen zu ersetzen? Doch
wir wollen Hrn. B. nicht mit Vergleichungen lästig fallen, die er ohne
122 J- F, Herbarts Rezensionen.
Zweifel nicht verlangt. Mag immerhin der Kreis, in dem er wirkt, kleiner,
mag die belebende Wirkung, die von ihm ausgeht, geringer sein; mag
es sich finden, daß er vielen zu leicht, und noch weit mehreren zu
schwer ist; kurz, mag sein Bestreben, ein recht allgemeiner Lehrer zu
werden, verfehlt sein: es scheint dennoch, daß er bei manchen Eingang
findet, die ohne ihn noch flacher und in ihrem Nachdenken sorgloser
sein würden. Und in diesem Falle verdient er, durch das öffentliche
Urteil aufgemuntert zu werden. Denn bei aller deutschen Schreibsucht
scheint es doch an Büchern zu fehlen, die sich mit Philosophie beschäftigen,
ohne systematisch die Aussicht zu beschränken, und polemisch und durch
Parteilichkeit unbequem zu werden. Wir wollen nun versuchen, aus den
vorliegenden Schriften Bericht zu erstatten.
Um den geradesten Weg zu denjenigen Punkten hin zu nehmen,
von welchen aus man sich unter philosophischen Lehren zu orientieren
pflegt, nehmen wir zuerst das Buch über das Verhältnis zwischen Seele
und Leib vor uns. Dieses will der sogenannten rationalen Psychologie,
und also der Metaphysik, angehören; es will das Verhältnis zwischen dem
menschlichen Vorstellen und dem An-sich-sein der vorgestellten Gegen-
stände bestimmen, durch eine auf Erfahrung begründete psychologische
Darlegung. „Alle philosophischen Systeme seit Des Cartes lehren, der
Mensch müsse, um über die Natur und die Verhältnisse des Weltalls
sich zu orientieren, bei sich selbst den Anfang machen, und in dem seiner
unmittelbaren Erfahrung in der inneren Selbstanschauwig Vorliegenden den
Aufschluß suchen über alles für seine Kurzsichtigkeit Erkennbare." Diese
Lehre haben wir nun allerdings oft gehört; allein Hr. B., der sich durch
die Erfahrung der letzten vierzig Jahre von der Nichtigkeit der Spekulation
überzeugt findet, hätte, wie es scheint, einen ganz anderen Schluß aus
der nämlichen Erfahrung ziehen können. Die Philosophen lehrten, man
müsse bei sich selbst anfangen; diese Lehren führten aber nicht zum
Ziele einer allgemeinen Überzeugung; also zeigt die Erfahrung dieses
Mißlingens, man müsse niclit bei sich selbst anfangen. Hr. B. fängt
dennoch bei sich selbst an; aber er kommt nicht auf die Lehrsätze von
Locke, oder Kant, oder Fries; also muß die unmittelbare Erfahrung in
der inneren Selbst- Anschauung doch wohl nicht allen einerlei Unterricht
geben. Dagegen rücken die Naturwissenschaften, die sich an' Beobachtung
mit den äußeren Sinnen und an Rechnung halten, gerade vorwärts; also
muß wohl die äußere Erfahrung geschickter sein, als die innere, um gleich-
förmige Resultate zu liefern, wiewohl sie, genau besehen, auch dieses nur
denjenigen leistet, die mit der höchsten möglichen Vorsicht beobachten
und experimentieren, zugleich aber, wo nur irgend eine zulässige Hypo-
these sich darbietet, dieselbe durch Rechnung ausbilden, und mit den
solchergestalt im voraus entworfenen Fragepunkten die Erfahrung ver-
gleichen. Allein über das Verfahren, auch in die höchst dunkeln Regionen
der inneren Erfahrung die Leuchte der Rechnung voran zu tragen, um
sich besser darin umsehen zu können; hierüber mit Hrn. B. zu sprechen,
das wäre vergeblich, wie eine bekannte Erfahrung nur zu deutlich gezeigt
hat. Ihm besteht „der eigentliche lebendige Geist der Kantischen Philo-
sophie" in der empirischen Psychologie; und dabei mag er bleiben, wie
Dr. Fr, Ed. Beneke: Psychologische Skizzen. 123
SO viele; wir wollen nur sehen, was er daraus macht. Nichts weniger
als „eine Weissagung! Nur durch unser eigenes Sein wissen wir vom
Sein außer uns; die Grundverhältnisse des ersten legen wir dem letzten
unbewußt schon im Vorstellen und Denken des gewöhnlichen ; Lebens
unter. Von diesem nehmen die Naturwissenschaften sie auf; nun werde
man sich der Natur dieser Grundlage klar bewußt, so werden diese
Wissenschaften, aus dem Stande der Unmündigkeit in den der Mündigkeit
tretend, zu Aufschlüssen gelangen, die sich kaum ahnen lassen." Eine
Weissagung, die wir schon längst gehört hatten; es fragt sich nur, wie
alt eine Weissagung wohl werden dürfe, bis sie entweder erfüllt, oder
als ungültig verworfen wird. Ob dazu wohl jene vierzig Jahre, durch
welche die Zwecklosigkeit der Spekulation sollte bewiesen sein, hinreichen
mögen?
Mit derselben Befangenheit in den heutigen Vorurteilen, welche die
Vorrede verkündet, tritt nun Hr. B. in der Abhandlung seinen Weg an.
Er versichert uns zuerst: „Die Philosophen nicht weniger, als die übrigen
Menschen setzen voraus, einer Verständigung über den Begriff des Sein
bedürfe es nicht; sondern es verstehe sich von selbst, daß bei dem Worte
Sein im allgemeinen alle das Gleiche denken, und das als seiend Be-
zeichnete in dieselbe Beziehung mit ihrem Vorstellen setzen.'- Nun ver-
wechselt er die ontologische Analyse des Begriffs vom Sein und seiner
Beziehungen mit der psychologischen Frage; wie hat sich in uns die Be-
ziehung des Vorgestellten auf ein Seiendes gebildet? Und so ist er im
Zuge, Psychologie an die Stelle der Metaphysik zu setzen ; das heißt : die
Frage, wie unser bisheriges Vorstellen geworden ist, soll an die Stelle der
anderen Frage treten : wie unsere Begriffe für unsere jetzige und künftige
Überzeugung müssen bestimmt werden. Ungefähr, wie wenn die gesetz-
gebende Versammlung in einem Staate, statt neue Gesetze zu geben, sich
in pragmatisch historische Untersuchung über den Ursprung der bisher
bestandenen Verordnungen und Sitten vertiefen wollte. Zwar unterläßt
er nicht, die Philosophen zu beschuldigen, sie vertauschten das Sein mit
einem anderen, vollkommneren Sein; wovon jenes nur das Schattenbild
sei. Aber diese Unterscheidung mißbraucht er so, daß er von erhabenen
Dichtungen spricht, denen man nicht den Namen des Wissens beilegen
dürfe. Vermutlich ist ihm die Geometrie, welche die Raumbegriffe so
bestimmt, wie sie gedacht werden sollen, auch eine erhabene Dichtung,
und kein Wissen! Durch Spekulation, meint er, die von der Erfahrung
abgekehrt sei, könne kein allgemeingültiges Wissen entstehen; Kakt habe
das objektive Dichten nur mit einem subjektiven Dichten vertauscht. Der
Begriff des Sein aber sei keine Erdichtung; denn das Dichtungsvermögen
könne keine neuen, also auch keine einfachen Begriffe schaffen, sondern
nur Vorhandenes zusammensetzen. — Hier ist ein Punkt, wobei dem
Rez. wirklich bange wurde, er möge Hrn. B. wohl nicht recht verstehen.
Denn die vorigen Ansichten waren alle noch so ziemhch im Kreise des
Kantianismus, insofern als er anthropologisch ist; allein wie weit der all-
gemein geltende, erfahrungsmäßig zu bestimmende, nicht erdichtete, mit-
hin nach Hrn. B. der wahre Begriff des Sein nun abweichen möge von
jenem, für eine Dichtung ausgegebenen, vollkommeneren Begriffe: — dies
124 J* ■^* Herbarts Rezensionen.
war doch eine Frage, über die sich nicht füglich ohne ein Zeugnis des
Verfs. selbst bestimmen ließ. Glücklicherweise findet sich für diesmal noch
die gesuchte Aushilfe etwas tiefer unten in einer klassischen Stelle, welche
lautet wie folgt: Kant nennt als die dem Seelensein fremde, von dem
inneren Sinne hinzugebrachte Erkenntnisform die Zeit ; und setzt also das
wahre Sein als an und für sich selber unzeitlich voraus. Unter dieser
Voraussetzimg hatte er dann freilich recht, zu behaupten, auch die innere
Anschaming gebe uns das angeschaute Sein nicht, ivie dasselbe an und für
sich selber sei, sondern nur in trügerischen Erscheinungen. Von welcher Be-
schafifenheit nun aber auch das wahre Sein, wie es ihm vor Augen stand,
oder nicht vor Augen stand, sein mag: die allgemein menschliche Vernunft.,
ivenn sie vom Sein spricht, meint damit ein zeitliches Sein; und diesem
Denk- und Sprach- Gebrauche nach haben wir also wieder recht, zu be-
haupten, daß die Zeitlichkeit der inneren Anschauung kein Hindernis,
sondern vielmehr ein Zeugnis für ihre Wahrheit sei, und daß gerade ver-
möge derselben das ajtgeschaute Sein, ivie dasselbe an Jind für sich selber
ist, uns gegeben iverde. Darf aber wohl diese Urkunde des allgemein-
menschlichen Denk- und Sprachgebrauchs durch die besonderen Haus-
gesetze einzelner Philosophen umgestoßen werden?" — Nun also kennen
wir Hrn. B. als vollkommenen Empiristen! So scheint's; allein auch darin
wird er uns weiterhin wieder irre machen.
Mit HuME sucht der Verf. die Impression oder unmittelbare An-
schauung aufzufinden, welcher der Begriflf entspreche. Wider Hume aber
behauptet er, eine solche nicht nur für den Begriff des Sein, sondern
auch für den Kausalbegriff nachweisen zu können. „Einem jeden Vor-
stellen, und wäre es auch nur ein Vorstellen vom Vorstellen des Vor-
stellens, kommt doch, als Tätigkeit der menschlichen Seele, ein Sein in
dieser Seele zu (da ist Sein und Geschehen verwechselt). Dieses Vor-
stellen aber können unr ohne Schwierigkeit wieder vorstellen; hiermit
liegt uns die Erkenntnis des Verhältnisses zwischen Vorstellen und Sein,
in einem Beispiele wenigstens offen." (Wir, auf dem Standpunkt unserer
Ausbildung, können gar manches, was nicht jeder kann; wir können uns
auch Täuschungen bereiten , die bei noch höherer Ausbildung wieder
verschwinden. Eine Psychologie, die vom Zusammejiwirken mehrerer
Vorstellungs?7iasse7i nichts weiß oder wissen will, läßt uns in jenen
Täuschungen stecken). Die durch äußeren Sinn wahrgenommenen Dinge
können wir freilich nicht ihrer vollen Wahrheit gemäß aufifassen, weil wir
doch nicht aus uns selbst zu den Dingen hinausgehen können. (Gewiß
nicht!) Dieser Grund fällt ja aber in Bezug auf das Vorstellen von uns
selber weg, indem wir, die Vorstellenden, zugleich das Vorgestellte sind.
(Wenn das nur wahr wäre! Aber die Unterscheidung der apperzipierenden
Vorstellungsmassen von der apperzipierten in uns ist gerade so notwendig,
als die unseres äußeren Sinnes von den äußeren Dingen.) Hume fragt:
Sind wir bekannt mit der Fähigkeit der Seele, eine Vorstellung hervor-
zubringen? Hr. B. antwortet: Freilich! Denn von früheren Vorstellungen
bleiben gewisse (?) Angelegtheiteji zur Wiedererweckung übrig; von der
Wiedererweckung nun haben wir ein unmittelbares Gefühl; und das ge-
wöhnliche menschliche Bewußtsein kann dies Gefühl zu einer Vorstellung
Dr. Fr. Ed. Beneke: Psychologische Skizzen. i2e.
Steigern; wir können aiso jenen wunderbaren Schöpfungsakt in vollkommen
begreifliche Natur-Erfolge auflösen! — Bei Newtok gibt es auch gewisse
Angelegtheiten des Lichts, leichter durchzustrahlen oder zurückgeworfen
zu werden; jeder Physiker klagt hier über Dunkelheit. Aber man klage
nicht mehr; die Sache ist gerade so klar als Hrn. Benekes Psychologie.
An einer andern Stelle kommt es Hrn. B. nur auf Veränderung eines
Wof-fes an, um der Humeschen Zweifel mächtig zu werden. Etwas minder
bequem jedoch macht er sich bei der Frage, ob unsere Vorstellungen von
der Außenwelt, gleich den Vorstellungen von unserem eigeneji Seeleiisein (denn
bei diesen hat Hr. B. noch nicht zweifeln gelernt), das Vorgestellte, wie
es an sich ist, oder nur subjektiv bedingte Erscheinungen gewähren. —
Volle Wahrheit meint er, würde erfordern, daß wir das Sein der Dinge
in uns nachbildeten, oder dieses Sein würden; wie die Vorstellungen von
unserem eigenen Seelensein nur dann wahr sind, wann sie das vor-
zustellende Sein entweder unmittelbar selber sind, oder doch rein und
vollständig in sich wiederholen. „Vollkommen der aufgestellten Forderung
zu genügen, wäre nur möglich bei unseren Vorstellungen von einem voll-
kommen uns gleichen Menschen, denn nur dieser Mensch würden wir
vollkommen zu werden im stände sein. Eine solche Gleichheit können wir
uns wenigstens im einzelnen als Aufgabe denken. Bemühen wir uns
z. B., einen Schriftsteller vollkommen zu verstehen, so müssen wir werden,
was er ist oder war; nur dann können wir uns rühmen, ihn richtig vor-
zustellen. Ebenso, wenn wir die Gemütsbewegung eines Freundes in ihrer
vollen Wahrheit vorstellen wollen. Aber nur zu bald finden wir einen
merklichen Abstand; es sind dieselben Gedanken und Gefühle, und sind
doch auch wieder nicht dieselben; weil die Individualität unseres Tempe-
raments usw. eine Verschiedenheit hineinträgt. Der Cholerische bleibt
dem Phlegmatischen unvorstellbar, und umgekehrt; denn der Eine kann
nicht werden, was der Andere ist. Wer das Sein eines Farnkrautes, oder
das Sein des Quecksilbers so vorzustellen vermöchte, wie es an sich selbst
ist, der müßte eben hierdurch aufhören, Mensch zu sein." Wir haben
diese Stelle ausgezogen, nicht als ob der Gedanke an sich neu wäre,
sondern weil wir gern glauben, der Verf. habe ihn mit eigenem Witze
gefunden. Schade, daß er nicht weit reicht. Gesetzt, zwei völlig gleich-
gestimmte und gleichgebildete Menschen lebten in der nämlichen Stadt:
würden sie nun voneinander wissen ? Sie könnten lange nebeneinander
vorbeigehen, und voneinander weit weniger wissen, als jeder von seinen
Feinden; und es möchte immer noch darauf ankommen, ob ein Dritter
die Güte hätte, einen dem andern vorzustellen, damit jeder vom anderen
eine Vorstelhmg bckä?ne ; ja selbst dann müßte noch das Wunder ihrer
völligen Gleichheit ihnen offenbart werden, sonst möchten sie, bei einiger
Weltkenntnis, wohl kaum zuversichtlich daran glauben. Die Brücke, auf
welcher das Vorstellen herbeikommt, möchte also Hr. B. wohl nicht ge-
funden haben; sie ist auch, solange man das Vorstellen ohne nähere
Bestimmung für ein Abbilden hält (vollends gar für Abbilden von Qualitäten)
durchaus nicht zu finden, sondern der Sinn der Frage muß verändert
werden; und man muß gerade so wenig Anspruch machen, die eigent-
liche Qualität der Seele eines Freundes kennen zu lernen, als die Qualität
126 J- F- Herbarts Rezensionen.
des Quecksilbers, wie es an sich selbst ist. Übrigens haben wir eine
Vorstellung von Körpern; unsere Seele ist dennoch kein Körper.
Das Angeführte möchte nun wohl mancher, der im Philosophieren
weit höher zu stehen glaubt, als Hr. B., für zu schwach erklären, um
einer weiteren Aufmerksamkeit wert zu sein. Allein machen es diejenigen
etwa besser, die ihr Gemüt lediglich als einen Gegenstand der inneren
Erfahrung und Beobachtung zu kennen behaupten? Haben diese Gönner
des anthropologischen Empirismus etwa genauer das Verhältnis zwischen
dem Wissen und dem gewußten Gegenstande erwogen? Sehr klar sagt
Hr, B.: ,, Stellen wir eine Gemütsbewegung eines Freundes vor, so wird
uns so zu Mute, wie dem Freunde zu Mute war; aber so wie dem Steine
zu Mute ist, kann uns nicht zu Mute werden bei dessen Vorstellung,
was doch ein notwendiges Erfordernis für die Ansich-Erkenntnis desselben
sein würde." Daß er hiermit eine Abstufung der Möglichkeit des Er-
kennens eingeleitet hat, die sich sehr leicht weiter anwenden und aus-
führen läßt, sieht man ebensogut, als andrerseits, daß dennoch die Zu-
gänglichkeit des Objekts fürs Subjekt immer noch im Dunkeln bleibt; und
ebenso der Grund des Glaubens, man habe den Gegenstand richtig er-
kannt, wie er ist. Wenn ferner Hr. B. lehrt: der Begriff des Sein existiere
nun einmal in unserer Seele; dieser einfache Begriff könne nicht erdichtet,
er müsse vielmehr durch irgend ein Gegebenes dargeboten sein, wovon
er habe abgezogen werden können, dies Gegebene aber liege in unserem
Seelensein, desse?i Vergleichung mit dem dasselbe ajifassenden Vorstellen uns
unmittelbar gelinge: — so finden wir uns hier zwar zurückgeschleudert zu
den Grund-Irrtümern Fichtes und Schellings, allein diejenigen, welche in
den nämlichen Irrtümern noch heute stecken, haben nicht Ursache, gegen
Hrn. B. vornehm zu tun; auch sie suchen das Hirngespinst eines Punktes,
worin Wissen und Sein zusammenfallen sollen, und verblenden sich ab-
sichtlich gegen die Ungereimtheit dessen, was sie fordern. Endlich selbst
in Hinsicht der Behauptung, daß die Wahrnehmung des Körpeis und
die Wahrnehmung des Geistigen nicht zwei verschiedene Dinge, sondern
ein und dasselbe Ding vorstellen, — daß also auch die voneinander un-
abhängigen Kausal-Entwicklungen beider einen und denselben Erfolg dar-
stellen: — auch hier ist Hr. B. vollkommen modern und schließt sich
ausdrücklich dem Spinoza an; welches ihm denn immerhin zur Emp-
fehlung bei denen gereichen mag, die darin eine Empfehlung finden.
Rez. ist aber hierin gerade der entgegengesetzten Meinung, und glaubt sich
zu erinnern, daß Hr. B. früherhin weniger geneigt war, mit dem Strome
zu schwimmen, was im Grunde wohl ehrenvoller möchte gewesen sein;
indessen sei es ihm keineswegs verdacht, wenn er lieber nachgiebig, als
ohne innere Festigkeit starrsinnig sein will.
Aber von der Keckheit, womit Hr. B. sich herausnimmt, in dem
zweiten Teile seines Buches den Luftsprung zu dem Verhältnis zwischen
Seele und Leib zu wagen, würden wir schweigen, wenn nicht der Gegenstand
praktisch wichtig wäre, indem der Verf. die Aufmerksamkeit der Ärzte für
sich zu gewinnen sucht. Diese sind ohnehin schon sehr geneigt, sich selbst
eine seichte Philosophie zu erfinden; welche ihnen wenig schaden wird,
solange sie nichts anderes als der verfehlte Ausdruck der medizinischen
Dr. Fr. Ed. Beneke: Psychologische Skizzen. 127
Erfahrung ist, aber Gefahr bringt, sobald sich damit Schul -Vorurteile der
Philosophen verbinden, wodurch die Fähigkeit, zu beobachten, und gemäß
den Beobachtungen zu handeln, vermindert wird. Die gerechte Be-
wunderung des organischen Lebens veranlaßt eine Geringschätzung der
allgemeinen Physik und Chemie; was Leben sei, glaubt man wissen zu
können, noch bevor man überhaupt weiß, was Materie ist. Auf diese
Weise springend, erreicht man nun wissenschaftlich gar nichts; denn so
wenig Fleisch und Blut aufhören, ponderabele Massen zu sein, ebenso-
wenig sind sie den Gesetzen der Wärme, der Elektrizität usw. entnommen;
sie gehorchen nur nicht unbedingt, weil sie eigene und neue Bedingungen
des Gehorchens zu den allgemeinen Naturgesetzen hinzufügen. Daß nun
ein vielbeschäftigter Arzt über manches hinwegsieht, was auf sein Tun
keinen, ihm bemerkbaren Einfluß ausübt, mag in der Mehrzahl der Fälle
unschädlich sein; es ist auch in der Praxis kein großes Übel, wenn ein-
mal eine falsche Hypothese durch zehn Hilfs-Hypothesen so bedeckt wird,
daß die Fehler sich gegenseitig auslöschen. Aber daß Philosophen, die
nicht Mathematik, Physik, Chemie studiert haben, sich mit ihrer unmathe-
matischen Psychologie auch noch in die Physiologie — die schwerste
aller Wissenschaften - — versteigen; daß sie hier, mit gewohnter Dreistigkeit,
die Ärzte zu belehren unternehmen, bei denen jede falsche Richtung des
Denkens auch ein falsches Handeln nach sich ziehen kann, — das ge-
bührt sich nicht! Nur in der Kürze wollen wir zeigen, wiefern Hr. B.
uns zu dieser Bemerkung veranlaßt habe. Mit stolzer Freude beginnt er
seinen zweiten Teil, wie wenn mit der Lösung der Vorfrage, nach dem
Verhältnisse des Vorstellens zum Sein, auch die Lösung der Frage nach
dem Verhältnis zwischen Seele und Leib soweit vorgerückt wäre, ,,daß
für die letzte im Gncfide nichts inehr übrig ist, als die gefundenen Resultate
klar und in angemesse^ier Ordnung nebeneinander zu stellen.'-'' Hätte er
wirklich der Vorfrage genügt, so wäre damit noch nicht die allergeringste
Kenntnis des Wesens der Materie gewonnen, ohne welche an Kenntnis
des leiblichen Lebens nicht zu denken ist; diese aber ist die nächste
Voraussetzung einer richtigen Einsicht in das Verhältnis zwischen dem
Leibe und der Seele. Was er von einer Verbindung räumlicher Ver-
änderungen im Gehirn usw. mit Geistes-Tätigkeit mutmaßt, ist allerdings
richtig, und läßt sich ohne Vergleich bestimmter erklären, als Hr. B. getan
hat; aber seine Gedankensprünge gehen so regellos fort, daß man, ein
paar Blätter umschlagend, auf den ungereimten Satz stößt: ,,wenn die
Verdauung bei übermäßigen Reizen unmittelbar empfunden wird., gehört sie
offenbar der Seele an.'-^ Er hätte ebensogut sagen können: wenn eine
Kanonade in einer Entfernung mehrerer Meilen vernommen wird, so gehört
die Abfeuernng der Geschütze den Personen an, welche am Boden ge-
lagert, mit horchenden Ohren im stände sind, den dumpfen Schall gewahr
zu werden. So wenig diese Personen in den Prozeß, der von den
Kanonieren abhängt, fördernd eingreifen können, ebensowenig hat es je-
mals eine verdauende Seele gegeben. Nur verhindernd kann sie ein-
greifen^ wie wenn der Wagen bei schlechtem Wege die Pferde zurückhält.
Nach Hrn. B. aber gibt es keine Gattung menschlicher Entwicklungen,
welche nicht unter gewissen Umständen bewußt werde?i kö?inte. Was heißt
128 J- F- Herbarts Rezensionen.
das, bewußt werden? „Die Muskelbewegung erhält Bewußtsein bei über-
mäßiger Ermüdung oder Anstrengung.'' (Das heißt, wenn die Muskeln
schon ihren rechten Dienst versagen!) „Der Blutumlauf wird bewußt bei
Erhitzungen" (also wenn das Umlaufen schon mit Hindernissen kämpft!).
,,Für den im Schifte Geschaukelten setzt sich diese Bewegung auch noch
auf dem festen Lande fort" (also was nicht mehr geschieht, wird dennoch
wirklich ein Bewußtes!). Sind nun die Kontraktionen der Muskeln etwas
in der unräumlichen Seele? Oder haben sich diejenigen inneren Zustände,
welche wirklich in den Elementen der Muskeln zur Erklärung der Irritabilität
vorausgesetzt werden müssen, etwa durch die Nerven, welche keine Irri-
tabilität besitzen, bis in die Seele verbreitet? Und ist etwa nun die Seele
in einem gleichartigen Zustande mit den Elementen der Muskeln, weil
sie etwas empfindet, das wir Ermüdung nennen? — Ferner: es gibt viele
und verschiedene Arten von Fiebern; wenn nun in der Fieberwallung
Hitze empfunden wird, ist das Eigene jedes besonderen Fiebers, das, was
seinen Grund ausmacht, ein Bewußtes geworden? Gesetzt, es wäre so,
wovon ist denn nun ein Wissen in der Seele? Von der Expansion des
turgescierenden Blutes, oder von der Reizung des Herzens, oder von der
Spannung in den Haargefäßen, oder von der veränderten Hämatose im
System der Pfortader, oder von der Entkohlung des Blutes in den Lungen?
Welche unter den verschiedenen Meinungen der Physiologen, um die so
lebhaft gestritten wird, erhält nun hier Bestätigung durch jenes eingebildete
Bewußtwerden des Blutumlaufes? — Man höre: „lüir können uns dieses
Übermaß bis zu dem geiüöhnlichen Maße, jene krankhafte Beschaffenheit bis
zur Norm der Gesundheit, stetig vermindert denken: und werden dann,
indem wir den Einfluß einer solchen Verminderung an den geistigen
Tätigkeiten uns anschaulich machen, welche auch in dieser Vermindei uns.
noch durch sich selber vorstellbar sind (durch homöopathische Bruchrechnung
vermutlich!), allerdings eine, wenn auch nicht vollkommen, doch selbst für
wissenschaftliche Konstruktioneti genügeiid klare Erkenntnis von dem An-sich
der gesu7iden Verdauung gewinnen" !! ! Hr. B. frage doch einen Blumenbach,
oder Rudolph:, oder Treviranus, oder Baer, oder welchen Physiologen
er will, ob nun die Theorie der Verdauung sich wissenschaftlich, und
zwar genügend klar, konstruieren lasse? Und wie nun die Analogie laute,
durch welche man auf ähnliche Weise eine Theorie des Fiebers erlangen
könne ? Wir wollen noch folgende Worte des Hrn. B. anführen, damit
man ihn nach seinen eigenen Aussagen richten möge. „Die Beobachtung
jener starkbewußten Äußerungen der gewöhnlich geringbewußten Tätig-
keiten macht uns mit den Entwicklungsgesetzen usw. derselben bekannt.
Diese werden wir auf die gleichartigen schwächeren Entwicklungen über-
tragen. Die unbewußten Verdauungs- und Muskeltätigkeiten stellen wir,
untereinander und zu den geistigen Tätigkeiten, in eben das Verhältnis,
in welches wir die beivußien haben treten sehen" (also die normalen in
eben das Verhältnis wie die anormalen! Ungefähr wie Hahnemann Heil-
mittel gegen Krankheiten beurteilen wollte nach dem Schaden, den sie
dem Gesunden zufügen, doch scheint es fast, hier sei Hahnemann der
"Wahrheit näher, indem er wenigstens die Systeme des Organismus, worauf
die Mittel wirken, unterscheiden konnte). „Nun werden die unbewußten
Dr. Fr. Ed. Beneke: Psychologische Skizzen." 12g
Tätigkeiten in die Entwicklung der bewußten Seelentätigkeiten, z. B. ins
Denken, einwirken. — Nach dieser Methode (so sagt die beigefügte Note)
sind alle Erklärungen in meinen Beiträgen zu einer rein -seelen- wissen-
schaftlichen Seelen - Krankheits - Kunde konstruiert; die leiblichen Er-
scheinungen möglichst vollständig in Rechnung gezogen, aber seelenartig
übersetzt." Da der Verf. sich einmal selbst ein solches Zeugnis ausgestellt
hat, so können wir es nicht ändern; um die Physiologen belehren zu
können, wird er noch vorher gar manches von ihnen lernen müssen ; und
wenn er sie von der groben Materie auf deren innere Kräfte verweist,
so werden sie dies schwerlich als seine Erfindung anerkennen, und den
wahren Begriff dieser sehr uneigentlich sogenannten Kräfte wohl auch nicht
von ihm veriangen: — vielleicht aber doch einmal hier und da seine
luftigen Behauptungen als Autoritäten zitieren! Denn Leben und Seele ver-
wechseln sie gar gern.
Man erwarte nicht, daß wir mit gleicher Ausführlichkeit auf des Verfs.
psychologische Skizzen uns einlassen werden. Die Gründe, weshalb das
nicht geschieht, sind größtenteils schon aus dem Vorstehenden ersichtlich ;
es fehlt bei Hrn. B. an allen Erfordernissen einer gründlichen Untersuchung ;
es fehlt an Metaphysik, an Naturkenntnis, an bedeutendem Umfange der
Belesenheit, an Reichtum solcher Erfahrung, die das Gemeine und Ge-
wöhnliche überschreitet und sich durch Seltenheit schätzbar macht; nur
Eins ist im Übermaße vorhanden, nämlich Dreistigkeit. Mit gewählten
Redensarten verspricht er — Natuüehre\ Keinesweges eine Wissenschaft aus
eigetien Begriffen\ Aber der erste Band soll sich mit dem Veränderiichsten,
Flüchtigsten in der menschlichen Seele beschäftigen; der zweite mit dem
Bleibendsten, der wesentlichen Natur und dem inneren Bau der Seele.
Wir wollen hier keineswegs fragen, ob denn ein Bau in der Seele sei.
Aber Hr. B. weiß, wie es scheint, nicht, was Naturlehre heißt. Er gehe
demnach zu den Naturiehrern und erkundige sich. Er wird hören, daß
tüchtige und treue Beobachter das Bleibende in den Erscheinungen auf-
suchen, nicht das Flüchtige — am wenigsten gleich anfangs, — auch nicht
das innere Wesen der Dinge, welches zu erkennen die Physiker gar
keinen Anspruch machen. Ferner: nicht als Wissenschaft aus eigenen
Begriffen, so lautet die Verheißung. Aber kaum treten wir über die
Schwelle des Eingangs zur ersten Abhandlung, welche uns eine Natur-
lehre der Gefühle anbietet, so empfängt uns ein langes Gerede darüber,
daß es erlaubt sein müsse, Begriffe zu machen, woran im allgemeinen kein
spekulativer Denker zweifelt, vorausgesetzt, daß man die Gründe dieses
Machens zu rechtfertigen wisse. Und was macht Hr. B.? Einen Begriff
von den Gefühlen. Welchen Begriff? Dies zu sagen, kostet ihn ein lang-
gestrecktes Wort: unmittelbares Sicligegen-Einander-Messen unserer Seelen-
tätigkeiten; er erklärt, dieses Verhältnis scheine ihm dasjenige, welches im
gewöhnlichen Denkgebrauche, wie im philosophischen, mehr oder weniger
bewußt und klar, dem Begriffe : Gefühl zum Grunde liege. Eine allgemeine
Ähnlichkeit zwischen beiden, meint er, w^erde man schon beim ersten
Anblicke nicht verkennen. Wir unsererseits meinen das Gegenteil; ja wir
meinen, daß hier gerade die Psychologie an eine Schwierigkeit stößt, die
sie in alle Ewigkeit nicht genau, sondern nur annäherungsweise, mit
Herbarts Werke. XIII. 9
J-.Q J- F. Herbarts Rezensionen.
Wahrscheinlichkeiten sich behelfend, wird beseitigen können. Die be-
kanntesten, bei jedem Menschen und jedem Tiere vorkommenden Gefühle
sind die des sinnlichen Wohl und Wehe. Wer sich brennt oder sticht,
wer ißt und trinkt, der fühlt. Wer in einem solchen Gefühle die Er-
klärung des Hrn. B. wieder erkennen sollte, der müßte sagen können,
welche verschiedenen Seelentätigkeiten sich darin aneinander messen. Er
müßte also das Einfache, das Wohl und Wehe zerlegen können in eine
Vielheit, und der Philosoph müßte aus dieser Vielheit, indem er sie
wieder zusammensetzte, das Gefühl, als den notwendigen Erfolg derselben,
begreiflich machen können. Daß allerdings das letzte, die Zusammen-
setzung, sich mit Wahrscheinlichkeit leisten läßt, hat Rez. am gehörigen
Orte gezeigt; aber was hilft's, mit Hrn. B. von Berechnungen der Ver-
schmelzufig vor der Hemvuing zu reden? Wer so, wie er, Begriffe aus
freier Hand macht, der wird in diesen Rechnungen ebensowenig die
wirklichen Gefühle wieder zu erkennen vermögen, als der Ungebildete im
Stande ist, sich von irgend einer Zusammensetzung verschiedener Vor-
stellungen in dem einfachen Gefühle Rechenschaft zu geben. Aber auch
die Gebildeten, die Gelehrten werden fragen: wie kommt das Fühlen zum
Messen, und wie kommt das Messen zum Fühlen? Diejenigen, welche
den Kern der Psychologie im Gefühle suchen, pflegen bekanntlich vom
wirklichen Messen keine Freunde zu sein, so wenig wie der Verf. selbst.
Sieht man sich weiter um in dem Buche, so stößt man auf neue Namen:
wie Vorstellungsramn^ Luftraum, Strebungsrauvi, ja sogar ajigeivachsener und
eingeioachsener Raum. Offenbar hat die Mathematik, welche ganz allein
fähig ist, Licht in die Psychologie zu bringen, sich an Hrn. B. dafür ge-
rächt, daß er die Herrschaft, welche ihr in dieser Wissenschaft von
Rechtswegen gebührt, nicht einräumen will. Sie hat ihm, da er Begriffe
machen wollte, lauter Größenbegriffe aufgedrungen; und so wird sie mit
jedem verfahren, der irgend ein freies Nachdenken in der Psychologie
versucht. Ein sehr merkwürdiger Umstand, der hierbei vorkommt, darf
nicht unerwähnt bleiben. Die Größenbegriffe sind i?az/;;zbegriffe, obgleich
anerkannt als Begriffe vom Unräumliclien ; und wiederum: zu dem ein.'
gewachsenen Räume, der eine intensive Größe bezeichnen soll, kommt
sogar noch ein atigeivachsener ^- um eine Größe zu benennen, die im Ver-
gleich mit jener so gedacht werden muß, als verhielte sie sich wie
Extensives zum Intensiven. Über diese letzten Benennungen erklärt sich
Hr. B. folgendermaßen: „Angewachsener Raum bezeichnet deutlich das
Hinzukommen fremder Bestandteile zu den, der ursprünglichen Bildung
eigentümlichen; eingewachsener Raum hingegen, daß die Bewußtseinsstärke
rein aus den letzten besteht." Also von der Stärke, womit sich eine
Vorstellung im Bewußtsein behauptet, ist die Rede; der Unterschied, der
hierbei vorkommt, wird durch die Präpositionen An und In bezeichnet;
die Stärke der Vorstellungen wächst entweder in sie hinein, oder an sie
hinan. Hier nun wollen wir Hrn. B. weder tadeln noch loben; denn
unwillkürlich, und ohne Schuld oder Verdienst ist ihm etwas begegnet,
das überall in aller Sprachbildung begegnet und begegnen muß, ohne von
den gewöhnlichen Psychologen begriffen zu sein. Es ist nämlich einer
der wichtigsten charakteristischen Züge von Nachlässigkeit der alten Psycho-
Dr. Fr. Ed. Beneke : Psycliologische Skizzen. I 2 I
logie, daß sie den Raum nur als eine Form des Sinnlichen betrachtet.
Als aber Kant begriff, daß die sinnliche Empfindung gar nicht einmal
im Stande ist, durch sich selbst irgend ein Raumverhältnis als Empfundenes
darzubieten, obgleich sie sich unter gewissen Umständen notwendig damit
bekleidet, da hätte ein Grammatiker zu ihm treten, und ihm zeigen sollen,
daß die ganze Sprache sowohl in den Worten^ als in den grammatischen
Fügungen, voll ist vom Räumlichen ; alsdann würde er diese Tatsache weiter
erwogen und gefunden haben, daß er den Verstand, mit eben dem Rechte
wie die Sinnlichkeit, als den Produzenten der Raumvorstellungen betrachten
könne; und auf diesem Wege des Nachdenkens wäre er dann vielleicht
von dem Vorurteil für die Seelenvermögen losgekommen, welches ihm
seine Vernunftkritik verunstaltet hat. Was aber ist Hrn. B. begegnet?
Ihm schweben die Vei-schmelznugs- Hilfen und Koinplikations- Hilfen vor,
welche eine Vorstellung von den mit ihr verbundenen erhält; diejenige
Stärke, womit sie dadurch im Bewußtsein gehalten wird, will er, wie billig,
unterscheiden von der andern Art von Stärke, die sie erhalten könnte,
wenn sie „in ihren eigentümlichen Elementen verdoppelt oder verdreifacht
würde". Dies Doppelte oder Dreifache würde in sie hineinwachsen; jenes
wächst an sie hinan. Ist denn der Anwuchs wirklich außer demjenigen,
wohin es sich anlegt? So ist's nicht gemeint; die Redensart soll nur eine
Metapher sein! Aber jede Metapher miß ihren Grund haben, tveshalb sie
paßt. Weiß man diesen Grund für diejenigen Metaphern, welche für
e7itlehnt vom Räume gehalten zu w^erden pflegen, psychologisch, und mit
Genauigkeit anzugeben, so weiß man zugleich den wahren Grund, aus
welchem alle, auch die sinnlichen Vorstellungen vom Räumlichen entspringen.
Weiß man ihn nicht, so staunt man über die Einrichtungen unseres Er-
kenntnisvermögens; dieses Staunen, das gerade Gegenteil des Erkennens,
verbreitet sich verwirrend über Psychologie und Metaphysik, samt allem,
was davon abhängt. Wissen aber kann man den Grund nicht, wenn man
nicht rechnen, oder wenigstens mathematische Begriffe fassen, und um sie
zu fassen, die nötigen Übungen anstellen will. Hr. B. nun hat längst
verraten, daß er in diesem Punkte zu den gänzlich Ungeübten gehört.
Nach allem Bisherigen kann von Leistungen des Hrn. B. für die
Wissenschaft für jetzt noch nicht die Rede sein. Damit ist jedoch nicht
geleugnet, daß er einesteils bei besserer Vorbereitung, bei gründlichen
Studien, etwas hätte leisten können und noch leisten könnte; andernteiis,
daß seine vorhandenen Schriften einer zahlreichen Klasse von Lesern
nützliche Dienste leisten werden. Die alte, in ihrem System von dem
Seelenvermögen gefesselte Psychologie ist so unfähig, auch nur die An-
sprüche zu begreifen, die man gegen sie erhebt, daß selbst die unreifen
Gedanken des Hrn. B. schon besser sind als jene überreife Irrlehre, In
seinen Schriften ist manches, was ein guter Kopf verarbeiten kann; die
Selbstbeobachtung kann durch ihn geweckt und geschärft werden; in
dieser Hinsicht ist das gute Vorurteil, das man hier und da für ihn ge-
äußert hat, nicht ohne Grund. Hr. B. ist wenigstens geneigt, sich auf
Erfahrung zu berufen; vermutlich also wird er auch die Winke der Er-
fahrung beachten wollen; bekanntlich aber kommt Erfahrung allmählich
mit den Jahren. Vielleicht bereut der Verf. es jetzt schon, Skizzen ge-
9*
j , 2 J- F. Herbarts Rezensionen.
schrieben zu haben, statt Untersuchungen anzustellen. Denn schon gegen-
wärtig zeigt sich's, daß die Laune der Zeit, welche seinem Empirismus
günstig schien, im Vorübergehen begriffen ist. Das Zeitalter ist ebenso-
wenig mit leichter Ware befriedigt, als die Wissenschaft. Wenn nun
auch Hr. B. vielleicht niemals zu der Einsicht gelangt, daß man erst
Mathematik studieren müsse, bevor man in der Psychologie Fortschritte
machen könne: so wird er wenigstens davon sich mehr und mehr über-
zeugen, daß man aus einem gegebenen Kreise von Erfahrungen nichts
willkürlich herausreißen darf, und daß erfahrungsmäßig der Geist mit dem
Leibe, also Psychologie mit Physiologie, vermittelst dieser aber mit den
übrigen Naturwissenschaften zusammenhängt. Vor dem leidigen Materia-
lismus braucht man Hrn. B. glücklicherweise nicht zu warnen; er studiere
demnach nur die Gesetze der Körperwelt; vielleicht bringt ihn dies
Studium noch irgend einmal zum wahren Rationalismus. Und wenn er
dahin gelangt, die ergänzende Steigerung für die unbewußten geistigen
Tätigkeiten in ihnen zu finden, anstatt, wie jetzt, sie fälschlich in den
Sinnen zu suchen, alsdann wird er mit besserem Rechte, als bisher, von
einer rationalen Psychologie reden dürfen.
Hillebrand, Dr. Jos., ord. öffentl. Prof. der Philosophie an der Uni-
versität zu Gießen und Pädagogiarchen daselbst, Lehrbuch der
theoretischen Philosophie und philosophischen Propädeutik,
zum Gebrauche bei akademischen Vorlesungen. — Mainz,
bei Kupferberg, 1826. VIH u. 350 S. 80. (i Thlr. 8 Gr.)
Gedruckt in: Leipziger Literatur - Zeitung 1830, Nr. 45, 46. SW. XIII, S. 556.
Man hört oft genug Klagen über die raschen Veränderungen, welchen
die Philosophie unserer Zeit sich hingebe; über die Unmöglichkeit, ihnen
nachzufolgen; über das unvermeidliche Mißtrauen, was daraus entstehe;
über die Vernachlässigung der philosophischen Studien, die in dem ewigen
Wechseln der Systeme ihren Grund habe. Die Klagenden scheinen nicht
sehen zu wollen, daß in der heutigen Zeit auf den philosophischen
Kathedern größtenteils solche Männer einander gegenüber stehen, die
nebeneinander alt geworden sind, und deren ausgearbeitete Werke jetzt
nur darauf warten, von den jüngeren Zeitgenossen mit Ernst und Fleiß
verglichen zu werden. Andrerseits hört man ganz entgegengesetzte
Äußerungen: die Philosophie drehe sich im Kreise, oder wende sich bald
rechts, bald links; ihre Bewegung sei keine wirkliche Veränderung; in
der Tat komme sie nicht von der Stelle. Eine ebenso übertriebene Be-
schuldigung, wie die vorige. Die Wissenschaft ist allerdings im beständigen
Fortschreiten begriffen, nur nicht immer in allen ihren Teilen, sondern
freilich wie ein rotierender oder schwankender Körper, welcher in An-
sehung seines Mittelpunktes fortrückt, während es auf seiner Oberfläche
Punkte gibt, die still stehen, oder gar zurückgehen. Aber auch hier
fehlt es an scharfen Beobachtern; daß man solche unter den Partei-
gängern nicht suchen darf, versteht sich von selbst; daß man sie in den
Jos. Hillebrand: Lehrbuch der theoretischen Philosophie usw. i%5
Kreisen unbefangener Gelehrter auch nur höchst selten findet, ist ein
schlimmer und wahrhaft befremdender Umstand ! Was nützen Philologie
und Literatur- Kenntnis (dürfte man fragen), wenn sie nicht einmal soviel
bewirken, daß der Philosophie eine stets beharrende Achtung und Auf-
merksamkeit gesichert bleibe, vermöge deren man sich über manches, was
im einzelnen anstößig sein kann, was der Augenblick bringt und entführt,
hinwegzusetzen wisse? — Allein wir wollen nicht unsererseits uns in Klagen
vertiefen, sondern vielmehr zufrieden sein, wenn jüngere Schriftsteller,
wohin auch der, zwar schon über ein Jahrzehnt bekannte Verf. des an-
gezeigten Buches noch zu rechnen sein mag, uns die zwar langsame, doch
merkliche Fortrückung der Wissenschaft vergegenwärtigen. Das Buch ist
wenigstens fleißig genug gearbeitet, um uns zu einer verweilenden Be-
trachtung desselben einzuladen und manche Bemerkungen zu veranlassen.
Ob aber von neueren Fortschritten viel darin zu spüren sei? Ob das-
jenige Neue, welches beim Verf. Eingang fand, schon reiner Gewinn, oder
ob es zu den Vorstellungsarten zu rechnen sei, deren Umwandlung noch
nicht vollendet ist? Hierüber mögen wir noch nicht bestimmt sprechen;
vielmehr müssen wir mit der Nachricht beginnen, daß die größeren Um-
risse des Buches uns noch ganz jene alte Logik und Metaphysik vor
Augen stellen, welche, in Ein Kollegium zusammengedrängt, einige ency-
klopädische Bemerkungen und eine sogenannte psychische Anthropologie
vorantreten lassen. Und diese Nachricht wird wenigstens tröstlich sein
für jene Klagenden, deren wir zuerst erwähnten. Kein besonderer Drang,
etwas Neues zu lehren, ist in dem Buche zu spüren, wohl aber sehen wir
den Verf. in der Vorrede mit der Frage beschäftigt, wie die akademischen
Vorträge einzurichten seien, damit sie nützlich werden. „Womit soll man
anfangen, was zusammenstellen, wie das Interesse erregen und wach er-
halten bei einer Wissenschaft, die keine bestimmten Anfangspunkte hat (?),
bei der oft das Entfernteste das Nächste bedingt, worin das meiste über
dem Kreise gewöhnlichen Vorstellens liegt, bei deren Studium die erste,
notwendigste Forderung ist, auf liebgewordene, gewohnte Ansichten nötigen-
falls zu verzichten, abzusehen von dem unmittelbaren Vorteile für das
alltägliche Leben und mit ernster Selbstverleugnung dem ruhigen, un-
befangenen Gedankengange sich hinzugeben? Bedenkt man dabei, daß
solche Vorträge in der Regel vor Jünglingen gehalten werden, bei denen
das bewegliche Leben der Gefühle und der Einbildungskraft noch vor-
waltet, die sich oft ohne gehörige Reife den höheren Studien zuwenden,
und zu dene7i der Philosophie häufig keine andeien Vorbereitungen mitbringen,
als die gemeinsten Vorurteile in Hinsicht ihrer Bedeutung 7ind ihres Nutzens:
— Bedenkt man dies und so manches ähnlicher Art, so wird einleuchten,
daß es ratsam, ja notwendig sei, bei den Vorlesungen über Philosophie
die Resultate eigener Erfahrung und Praxis, soviel es die Selbständigkeit
und die Würde der Wissenschaft nur immer erlaubt, in Rücksicht zu
nehmen. - — Es ist mehr darum zu tun, allseitig das Denken zu ivecken,
als eigentliche Resultate dogmatisch hinzustellen und dadurch den un-
vorbereiteten Sitin des Zuhörers zu überraschen. Mag dies letzterem oft an-
genehmer und interessanter sein ; jenes ist ihm nützlicher und der Wissen-
schaft angemessener."
j 2 4 J- F- Herbarts Rezensionen.
Goldene Worte, die, leider! verhallen werden, wie so manche ähnliche
schon verhallt sind. Denn die Lehrer wollen meistens imponieren; und
die Jugend läßt sich gern imponieren. Starke und schnelle Effekte werden
gesucht und wohl aufgenommen, solange das Urteil über den Lehrer mehr
von der Jugend, als von dem reiferen Teile des Publikums bestimmt wird.
Woher soll nun der ausdauernde Fleiß und das allmählich steigende
Interesse kommen, dessen die Philosophie im höchsten Grade bedarf?
— Die vielfach laut werdenden Klagen über geringe Teilnahme an ernsten
philosophischen Studien will der Verf. nicht wiederholen; er fordert mit
Recht bessere Vorbereitimg auf den Schulen^ und: weniger Mißachtung der
Philosophie von Seiten mancher Gelehrten, ,, welche oft ebenso lächerlich als
unverständig über Bedeutuiig und Wesen der Philosophie radotieren^ von der
sie viel/ach zum Schaden ihrer eigenen Wissenschaft nichts verstehen." Aber
in diesem Punkte sind Klagen ganz unnütz. Die Sache wird sich all-
mählich von selbst ändern, sobald das langsame, aber wirkliche Fort-
schreiten und Reifen der Philosophie, welches mitten unter Stürmen und
Streitigkeiten geschehen ist und noch geschieht, erst sichtbarer an den
Tag kommt. Freilich müssen die Philosophen selbst die nötigen Ge-
ständnisse wegen der Durchgangspunkte, wo sie nicht stehen bleiben
können, und auch wegen der Seitenwege, in die sie oft genug sich ver-
irrten, abzulegen nicht scheuen. Es muß jedem ausgezeichneten Denker
genügen, zu sehen, daß er, noch nicht am Ziele, doch einige notwendige
Fortschritte gemacht hat, die dem Ziele näher führen. Man wird die
Augen öffnen müssen über die Wege, welche durchlaufen wurden. Daran
fehlt es noch zu sehr. Als der Kantianismus herrschte, vergaß man vor-
schnell weitereilend die Leibnizische Schule; jetzt vergißt man die Kantische.
Das darf nicht sein; die früheren Standpunkte müssen fest im Auge be-
halten werden. Von der Mathematik ist die Philosophie losgerissen; das
Band muß wieder geknüpft werden. Naturrechtliche Untersuchungen sind
aus der Mode, weil die politische Bewegung, sie nicht mehr belebt; aber
man muß der Mode nicht huldigen, sondern mit Ernst und Ruhe die
Wissenschaft als solche im Auge behalten. Bedingungen dieser Art werden
sich wohl allmählich erfüllen; hiermit wird die Achtung, welche der ge-
lehrte Fleiß und Ernst sich am Ende allemal erwirbt, auch wiederkehren.
Denjenigen aber, welche mit hohlen Worten noch jetzt Lust haben, Unter-
suchungen zu Boden zu schlagen, deren Gründe, Zusammenhang und
Hilfsmittel sie nicht kennen, wird man vielleicht Schweigen gebieten
müssen. — Der Verf. erwähnt noch in einer Note eines sehr wichtigen
Punktes, nämlich der Notwendigkeit, daß die erotematisch- dialogische
Methode mit der akroamatischen zu verbinden sei. Er fährt fort: „so-
lange jedoch die hauptsächlichsten philosophischen Vorlesungen nicht als
zu dem gesetzlichen Kursus erforderlich von oben bezeichnet werden, bleibt
es dem Lehrer unmöglich, die erstgenannte Methode anzuwenden." Allein
dem Rez. scheint es bedenklich, auf Einwirkungen von oben anzutragen;
sobald sich nämlich die Philosophie nach ihren mancherlei Aufregungen mehr
läutert, wird bei gehöriger Lehrfreiheit sich auch jene Verbesserung des
Unterrichts eher vermöge des öffentlichen Vertrauens herbeiführen lassen,
soweit sie nötig und in zahlreich besuchten Vorlesungen überhaupt aus-
Jos. Hillebrand: Lehrbuch der theoretischen Philosophie usw. 135
führbar ist. — ■ Die Vorrede schließt mit den Worten: „Wer es in der
Philosophie versucht, nach vorgängigem, sorgfältigem Studium des Fremden
und mit wahrheitsliebender Berücksichtigung desselben seinen Gedanken-
gang sich selbständig zu bilden, wird mit vielen übereinstimmen, aber
auch vielen widersprechen. Dies letztere dürfte bei dem Verf. besonders
in der Psychologie, und zum Teil auch in der Metaphysik der Fall sein.
Diejenigen, welche gemeinschaftlich die große Angelegenheit des freien,
ernsten Denkens fördern, werden dem Verf. nicht darum abgeneigt sein,
daß er mit ihnen, wiewohl auf seine Weise, tätig sein wollte." Diese Worte
sind bezeichnend genug, sowohl für das, was man im allgemeinen von
dem Buche, als auch, was der Verf. selbst zu erwarten hat.
Oben hörten wir von einer „Wissenschaft, die keine bestimmten An-
fangspunkte habe". Wirklich scheint das Anfangen dem Verf. mehr als
billig schwer zu werden. Voran stellt er eine allgemeine Einleitung; dann
erst kommt die Propädeutik der Philosophie, und zwar wiederum in drei
Abschnitten, die nicht füglich als koordiniert, sondern als einer dem andern
vorgeschoben können angesehen werden. Nicht genug, daß der Meta-
physik die Logik, und wiederum der Logik die psychische Anthropologie
vorausgeht, so muß der letztern, die hier den dritten Abschnitt der Propä-
deutik bildet, auch noch die Encyklopädie der Philosophie, und dieser die
allgemeine Technik der Philosophie vorantreten, welche selbst mit einer
Vorerinnerung hinter der allgemeinen Einleitung beginnt. Es mag nun
wohl sein, daß sehr geduldige Zuhörer ihre Aufmerksamkeit desto höher
spannen, je mehr Zurüstungen vor ihren Augen gemacht werden; aber den
Gewinn der vielen „voriäufigen Vergleichungen, Andeutungen, Erklärungen,
Bemerkungen," die gleich in den ersten Paragraphen sich bei solchem
Verfahren notwendig anhäufen, diesen Gewinn müssen wir bezweifeln.
Das Nachdenken der Zuhörer kann nicht füglich eher beginnen, als bis
man ihnen entweder evidente Wahrheit oder Probleme darbietet, an denen
sie -sich üben sollen. Und wenn vollends, im § 6, behauptet wird: „es
könne, genau genommen, keine Propädeutik der Philosophie geben;" was
hilft denn eine so weitläufige Propädeutik? Unseres Erachtens ist Ein-
leitung in die Philosophie deshalb notwendig, weil die Vorträge der Ethik,
der Psychologie und der Metaphysik nur bei vorgeübten Zuhörern Über-
zeugung hervorbringen können, indem für Ungeübte der Weg der Unter-
suchung in diesen Wissenschaften zu lang ist, als daß sie ihre Gedanken
anhaltend und hell genug darauf zu richten fähig wären. Dagegen, was
irgend unmittelbar klar, oder zur Aufregung des spekulativen Interesse
geeignet ist, das muß den Zuhörern sobald als möglich vorgelegt werden;
schon deshalb, damit die trägeren und die flüchtigeren Köpfe sich von
der Philosophie zurückziehen mögen; denn es ist kein Gewinn weder für
sie, noch für die Wissenschaft, wenn sie lange in dem Glauben erhalten
werden, die Philosophie habe mit ihnen zu reden.
Es gibt nun der Anfänge, oder wenigstens Anknüpfungen in dem
vor uns liegenden Buche zu viele, als daß wir sie alle anzeigen könnten;
wir müssen uns begnügen, einige auszuheben. ,,Die Probleme der Philo-
sophie sind folgende: i. die Philosophie hat zunächst die Prinzipien alles
Erkennens und Wissens zu erforschen; 2. die Gesetze und Kriterien alles
j^6 J- F. Herbarts Rezensionen.
wahren und richtigen Erkennens darzustellen, wie sich dieselben aus jenen
Prinzipien ergeben; 3. die höchsten Prinzipien der Dinge selbst zu er-
forschen, also zu untersuchen, ob und wie iveil das menschliche Erkennen
in die realen Verhältnisse einzudringen vermöge; sie soll versuchen, nicht
nur das Gegebensein der Dinge zu erklären, sondern auch ihren Ursprung
aus einem letzten und höchsten Sein, ihre notwendigen Beziehungen zu
diesem Sein, als ihrem Urgründe, wenigstens negativ^ zu bestimmen; 4. einen
wichtigen Gegenstand der Forschung bilden die praktischen Interessen.
— Die Erkenntnisweise einer Aufgabe wird von der Natur der letzteren
bedingt. Überhaupt ist zu unterscheiden empirische Erkenntnis, die ein
wahrgenommenes zur Voraussetzung hat, unmittelbar oder tniüelbar (mittel-
bare Empirie können wir nicht zugeben), und rationale, die sich im reinen
Denken bewegt, und an den Kreis des wahrgenommenen Gegebenseins
nicht geknüpft ist (da möchte sie leicht einer Kritik der reinen Vernunft
begegnen!). Eine besondere Art des rationalen Erkennens, das spekulative,
erzeugt eine Erkenntnis gleichsam (?) urtätig, und nach ihrer in der ur-
sprünglichen Einrichtung des Geistes und der Dinge gelegenen Begründung.
(Also gibt es ursprüngliche Einrichtung des Geistes? und der Dinge?
Und beiderlei Einrichtung läßt sich erkennen?) Empirische Kenntnis ist
nicht unnötig; nur dies soll behauptet werden, daß die selbständig-philo-
sophische Erkenntnis, insofern sie das Urgründliche wenigstens anstreben
soll, die empirische Weise ausschließt. (Eine Behauptung, die nicht von
ihren Beweisen hätte getrennt werden sollen, da wenigstens die Kantische
Kritik sich damit wohl nicht vertragen dürfte.) Die Philosophie als Wissen-
schaft des ursprünglichen Erkennens, bewegt sich ganz eigentlich in der
Lebendigkeit des spekulativen Denkens, d. h. ihr Gehalt entsteht durch
die ursprüngliche Selbsterzeugung und ununterbrochene Fortentwicklung
des Gedankens nach seinem subjektiv - objektiven also (?) ivahren Inhalte.
Die Philosophie muß demnach vor allem System sein, und zwar ursprüng-
liches System, d. h. eine mit und in dem Denken sich gestaltende lebendige
Einheit des Gedachten, wobei die Wahrheit des Einzelnen von der des
Ganzen bedingt und getragen wird. (Und das Ganze? wovon wird denn
das getragen? Verhält es sich damit etwa wie mit den Weltkörpern,
deren Teile durch gegenseitige Gravitation im Gleichgewichte schweben?
Es wäre doch gut gewesen, darüber eine Erklärung beizufügen; denn die
bloße Lebendigkeit charakterisiert noch mehr den mit feuriger Polemik be-
haupteten Irrtum, als die kühle und geprüfte Einsicht.) Jede subjektive,
individuell - persönliche Philosophie hat ihr eigenes System, indem sie,
selbst bei der höchstmöglichen Erhebung zur Allgemeinheit des Denkens,
doch stets ein individual- lebendiges Selbsterzeugen des Gedankens sein
muß. (Wie mag es doch zugehen, daß die Mathematik vom individuellen
Leben gar nicht spricht? Ist bei ihr etwa das Selbst- Erzeugen der Ge-
danken nicht Sitte?) Beim Einteilen der Philosophie entsteht die Schwierig-
keit, daß hier das wissenschaftliche Ganze nicht wohl objektiv fertig und
in der Form einer abgeschlossenen Gegebenheit dargelegt werden kann,
vielmehr gerade in der sich selbst fortzeugenden Gedankenentwicklung
eigentümlich gelegen ist. Daher denn auch die Verschiedenheit der Ein-
teilung der Philosophie. Dennoch läßt sich ein sachlicher, und iiisoferti
Jos. Hillebrand: Lehrbuch der theoretischen Philosophie usw. 137
einigermaßen objektiver, Grund gewinnen, auf welchem das Ganze der
Philosophie sich verzweigt. Derselbe betrifft den Ziveck der Philosophie,
nämlich Erforschung und Darstellung des Ursprünglich -Wahren oder der
letzten Gründe jeglicher Gegebenheit. (Eine Zweckbestimmung, die wir
für die Metaphysik allenfalls anerkennen würden. Wie sollen nun Logik
und Ethik in die Einteilung kommen? Man höre!) Es läßt sich aber das
Wahre in seiner ursprünglichen Reinheit und Allgemeinheit erforschen
einmal an und für sich, also nach seiner schlechthin abstrakten Bedeutung
im Wissen (wie? Das Wahre an sich ist also ein Abstraktes? Oder was
soll man sonst dabei denken?); dann nach seiner Erscheinung in den
Dingen, dem Seienden überhaupt (also in dem Seienden erscheint nur das
Wahre?); endlich nach seiner Erscheinung im Handeln oder im mensch-
lichen Leben und Wirken. (Darin erscheint ja wohl auch das Falsche;
oder woher kommt sonst das Böse und das Geraeine?) Diesem gemäß
würde die Philosophie zerfallen in drei Hauptteile, nämlich in Logik,
Metaphysik und — Humanistik! — Alle Philosophie soll ihrer Natur nach
theoretisch, d. h. ein Erkennendes, und spekulativ, d. h. ein auf dem
Wege der rein denkenden Betrachtung Erkennendes sein. (Dann müssen
wir uns wundern, woher so manchen durchaus nicht spekulativen Köpfen
soviel echt praktische Weisheit kommt; bei Frauen z. B. oftmals der
feinste sittliche Takt. Hätte der Verf. es nicht verschmäht, von den drei
Wissenschaften, Logik, Physik, Ethik auszugehen, und alsdann zu überlegen,
wie dieselben zu dem Gesamtnamen Philosophie kommen möchten, so
würde er sich manche Verlegenheit erspart haben. Aber die verkehrte
Voraussetzung der Einheit, die nicht existiert, hat schon Hunderte von
solchen unnützen Künsten erzeugt, und wird sie erzeugen, solange man
davon nicht ablassen will.) Zweifacher Charakter der apodiktischen Er-
kenntnis: die unmittelhaie Apodixis besteht darin, daß die Notwendigkeit
einer Erkenntnis sich ohne eigentlichen Beweis ergibt (beati possidentes!),
und höchstens nur der Herleitung und Aufklärung zum Behufe der Ein-
sicht in ihre objektive Gewißheit und Geltung bedarf [woher leitet man
denn? und mit welchem Lichte klärt man da auf, wo große Männer der
Vorzeit keine unmittelbare Apodixis wagten ; wo überdies die Zeitgenossen
wegen des unmittelbaren Wissens, das jeder für sich zu besitzen rühmt,
in bitteren Streit zu geraten pflegen?) Die mittelbare Apodixis dagegen
gründet sich wesentlich auf den Beweis, oder ist demonstrativ. Aus dem
Wesen der Philosophie wird begreiflich, wie ihr zunächst nur die unmittel-
bare Apodixis eignen kann. Denn in ihr sollen die allgemeinen Prinzipien
die urwahrheitlichen Erkenntnisse, überhaupt das ursprüngliche, begründende
Wissen entwickelt und dargelegt werden, welches eben deshalb seine Ge-
wißheit unmittelbar in sich tragen muß. (Also das, was jeder dem andern
zu wissen anmutet, und worüber gerade deshalb die Philosophie zum all-
gemeinen Kampfplatze geworden ist.) Alle demonstrative Apodixis setzt jene
unmittelbare, ivelche man aiich die spekulative nennen kann, notwendig voraus.
(Sehr schlimm! Denn sie beruht hiermit nicht etwa auf dem moralischen oder
auf dem empirischen Boden, worauf wirklich alle gemeinschaftlich stehen,
sondern auf jenem Kampfplatze, wo einer den andern zu überbieten sucht.)
In Ansehung der Methode hat die Philosophie das Besondere, daß sie kein
I^g J- F- Herbarts Rezensionen.
Ganzes objektiv-fertiger Kenntnisse enthält, sondern sich im Selbstdenken
jedesmal von neuem erzeugen muß (gerade wie die Mathematik), iveshalb
sie denn eigentlich loeder gelelirl, noch gelernt werden kann (ganz anders,
als die Mathematik, welche einen so ungeheueren Umfang gewonnen hat,
daß in ihr bei weitem das meiste gelernt und von jedem einzelnen ver-
hältnismäßig nur weniges erfunden wird). Da nun die Philosophie keinen
bestimmt ergreifbaren Anfang hat, da sie das Resultat eines selbständigen
Fortschreitens zur Wahrheit ist, so kann zunächst nur gesagt werden, daß
alle Philosophie von der — Skepsis ausgehen muß! (Sollte man es glauben?
Die Skepsis also hat ergreifbare Anfänge, deren die Wissenschaft entbehrt!
Aber was sagt denn dazu wohl die Geschichte der Philosophie? deren An-
fänge weit mehr dogmatisch, als skeptisch lauten, während der Skeptizismus
das Grab der Systeme zu sein pflegt? Daß es in öffentlichen Katheder-
vorträgen der Philosophie seinen Nutzen hat, mit skeptischen Argumenten
fürs erste den gemeinen Empirismus zu erschüttern, ist uns wohl bekannt;
keineswegs aber, daß Logik oder Ethik oder selbst Physik, an und für
sich eines skeptischen Einganges bedürften.) Fortschreitende Skepsis kann
man philosophische Kritik nennen und damit behaupten, daß die Philo-
sophie als Wissenschaft notwendig kritisch verfahren müsse. (Und die
Kantische Kritik, von der man im allgemeinen die kritische Philosophie
benannte, war sie skeptisch?) Die ivahre Methode der Philosophie ist die
umnitielbare, lebendige Verbindung der Analysis und der Syntliese^ so daß
beide^ zu ei?iem Denkeii vereint, die eigentlich spekulative Betrachtung vermitteln.
Bei diesem Punkte müssen wir etwas länger verweilen, als bei dem
vorigen. Man wird nämlich in den bisherigen Auszügen mancherlei be-
merkt haben, das in verschiedenen bekannten Systemen seinen Sitz hat,
und dessen Vereinigung ein mißliches Unternehmen ist. In dem redlichen
und fleißigen Bestreben, alles zu prüfen und das Beste zu behalten, hat
der Verf. so vieles als möglich aus den Systemen behalten wollen; aber
viel zu ivenig daran gedacht, daß man zum Behuf e der Philosophie —
besonders der theoretischen — nicht bloß die Systeme, sondern auch die
Natur prüfen und studieren muß. Kein Teil seines Buches ist schwächer
und bedeutungsloser, als seine Naturphilosophie, welches wir kaum um-
hinkönnen, als ein Zeichen von mangelnder Kenntnis der Physik (das
Wort in seinem weitesten Umfange genommen) zu betrachten. Die un-
vermeidliche Folge der Vernachlässigung dieses Studiums ist ein Gefühl
von Unsicherheit, das sich bei dreisten Polemikern hinter Machtsprüchen
verbirgt, bei gelehrter Kenntnis der Systeme aber, durch deren Wider-
streit ernährt, sich in den mannigfaltigen Anstrengungen verrät, auf alle
mögliche Weise festen Boden zu gewinnen.
Sehr mit Recht hat ganz kürzlich ein berühmter Denker geäußert,
daß heutigestages von eigentlichem Skeptizismus nicht mehr die Rede
sein kann, weil ihn die Konsistenz, welche die Naturwissenschaften ge-
wonnen haben, unmöglich macht. Wer in der Mitte derselben sich mit
seinen Denken bewegt, der sieht zu vieles im klaren Zusammenhange,
und besitzt eine zu breite Basis des Gegebenen, als daß er nicht ver-
suchen sollte, auf eine entschiedene Weise aus dem Gewirr der Systeme
hervorzutreten. Dies geschieht nun oft genug durch bloße Verzichtleistung
Jos. Hülebrand: Lehrbuch der theoretischen Philosophie usw. i^q
auf philosophische Einsicht; es geschieht auch manchmal durch willkür-
Hches Festhaken an einer ergriffenen Meinung, in die gewahsam das Ge-
gebene sich einpressen soll; wünscht man aber im Ernste die, vom Verf.
geforderte, Vereinigung der Analyse und Synthese zu erreichen, so wird
der wahre Naturkenner, bei soviel Vorsicht und redlicher Wahrheitsliebe,
wie der Verf. überall zeigt, sich wohl schwerlich einer Synthese anver-
trauen, die nicht zuerst selbst durch irgend welche analytische Unter-
suchung des Gegebenen wäre begründet worden. Dem iNIenschen fallen
nun einmal seine Kenntnisse nicht vom Himmel; Jahrtausende mußten
vergehen, ehe sich Erfahrung, Beobachtung und Rechnung, so wie jetzt,
zusammenfinden konnten ; wer wird, bei gehöriger Überlegung, sich den
mühevoll gesammelten Schatz durch solche Meinungen, die nicht aus
diesem Schatze selber geschöpft sind, verderben lassen wollen? Hierauf
glauben wir aufmerksam machen zu müssen, wegen der sehr richtigen
Bemerkung des Verfs. : „Z>a alles Erkennen ztmächst auf etwas Gegebenes
gerichtet ist^ so wird die Philosophie der analytischen Methode nicht entraten
können; ohne dieselbe würde sie nicht mir nirgends ehien Anknüpfungspunkt
finden, sondern auch jeglichen Objektes ihrer Betrachtung beraubt sein."-
Stärker kann man sich kaum ausdrücken. Nun aber, wie stimmt damit
das gleich Folgende? „Allein, da die Vergleich ung des Gegebenen doch
nach einem endlichen Ausspruche zu einem bestimmten Resultate geführt
werden muß, da eine solche Entscheidung letzte und höchste Prinzipien
fordert, welche selbst nicht wieder in das Gebiet der bloß gemeinen,
und hiermit eben zweifelhaften Gegebenheit fallen können; so folgt, daß
die Philosophie vorzugsweise vom Standpunkte schlechthin allgemeiner,
d. h. nicht erst analytisch vermittelter und damit bloß abstrakter Grund-
ansichten, das Begreifen des Gedachten und die Gewißheit der Über-
zeugung zu bewirken habe; somit, daß sie ganz zugleich auf synthetische
Weise ihre Aufgabe lösen müsse." Dieses ist nun gerade die Sprache
derjenigen Systematiker, die sich ein System nach ihrem Sinne zu machen
lieben, wobei sich von selbst versteht, daß jeder ein eigenes System, aber
keiner ein mitteilbares, wenigstens kein überzeugendes für andere ge-
winnt. Daher so vielerlei Philosophien nebeneinander, die weiter nichts
sind, als Ansichten des Gegebenen, wie wenn dies letztere ein biegsamer
Stoff wäre, der beliebige Formen annehmen könnte. Mit solchen Systemen
geht es trefflich, solange man sie nicht ann)enden will. Allein bei der
gewohnten Zudringlichkeit der Philosophen, deren einer den Staat, der
andere die Kirche, ein dritter die Medizin leiten und reformieren möchte,
kommt es — zu spät für denjenigen, der einmal seinen ganzen Gedanken-
kreis in eine systematische Form gebracht, und sich daran gewöhnt hat
— an den Tag, daß sich das Gegebene, die Erfahrung und der Lauf der
Dinge., wieder alle Zweifel starr und gebieterisch hinstellt, und Nachgiebig-
keit erzwingt, denen sich die Spekulation ganz umsonst zu unterziehen
sucht. Daher so viele Zurückweisungen, welche die Philosophie in den
letzten Dezennien von allen Seiten erlitten hat! Und eben daher das all-
gemeine jNIißtrauen, von welchem das Studium einer so höchst nötigen
Wissenschaft niedergedrückt wird! War es denn aber so schwer einzusehen,
daß Prinzipien keineswegs, wie der Verf. sich mit so vielen unrichtig aus-
j^o T- F. Herbarts Rezensionen.
drückt, ein Letztes und Höchstes — sondern daß sie das Erste und
Unterste sind? War es so schwer, vorauszusehen, daß man dem Getneinen
sich gerade preis gibt, wenn man damit anfängt, es zu verkennen? Wer
es besiegen will, der fange damit an, es scharf aufzufassen, so wie es,
jeden Zweifel trotzend, sich gibt und zeigt. Und wem die eigenen Augen
und Ohren nicht sichere und deutliche Zeugen zu sein scheinen, der
nehme die Geschichte der Philosophie zu Hilfe, die ihm sagen wird, daß
allmählich selbst der Zweifel seine bestimmten, stets wiederkehrenden Formen
angenommen hat, wie es ganz natürlich kommen mußte, weil das Gegebene
dazu stets einerlei wiederkehrende Veranlassung darbot und darbieten
wird. Freilich kann man die Erfahrung nicht so roh, wie sie sich den
Sinnen gibt, festhalten; aber der Antrieb zum Nachdenken, welcher aus
ihr hervorgeht, bleibt in seinen allgemeinsten Grundzügen stets der nämliche;
und in ihm liegt zwar nicht das Letzte und Höchste, wohl aber der An-
fang und der Boden der Philosophie. Erst nachdem man diesen Boden
analytisch erforscht hat, finden sich die Prinzipien einer notwendigen
Synthesis, die alsdann fortschreitet, und ihr oftmals sehr unerwartetes, aber
stets durch die Erfahrung verstärktes Licht nach allen Seiten ausstrahlen
läßt. Die Anerkennung dieser Grundsätze kann schwerlich mehr lange
ausbleiben. Denn auch für die Philosophen wird sich allmählich aus den
Erfolgen ihres Tuns, Lehrens und Strebens eine Art von Erfahritngs-
Weisheit bilden, gegen welche kein Starrsinn und keine Rechthaberei der
Schulen auf die Länge bestehen kann. Zwei höchst wirksame Kräfte
unterscheiden unser Zeitalter von jedem frühern ; die Publizität und all-
gemeine Reibung der Gedanken im literarischen Verkehre, und die Höhe
der Naturwissenschaften. Die verschiedensten Meinungen werden sich
endlich zu einem Strome der allgemeinen Überzeugung sammeln müssen.
Könnte sich der Verf. mit Rez. über das Verhältnis der Synthesis
und der Analysis in der Philosophie verständigen, so müßte bald eine
größere Übereinstimmung hervortreten. Wie. die Sache jetzt steht, ist es
schon viel, wenn man über die so höchst wichtige, in alles, sowohl
Praktische, als Theoretische, tief eingreifende, jetzt von mehreren Seiten
zu einer Reform hingewendete Psychologie, nicht ganz verschiedener JNIeinung
ist. Das alte starre Eis der Seelenvermögen kann nicht auf einmal
schmelzen; beim Verf. finden wir in dieser Hinsicht eine merklich wärmere
Temperatur als bei manchen anderen Zeitgenossen, die sich ja großenteils
noch damit begnügen, von Hörensagen etwas davon zu erfahren, daß hier
Veränderungen im Werke sind ; um alsdann ganz unbefangen zu erzählen,
daß sie gar nicht begreifen, wie man z, B. ohne ein besonderes Gefühls-
vermögen fertig werden wolle ! Vielleicht würde Hr. Hillebrand es ihnen
um etwas erleichtern, sich allmählich darein finden zu lernen. Denn zu-
vörderst läßt er ihnen die beliebte psychische Anthropologie, deren Los-
reißung von der Psychologie der Rezensionen schon dann mißbilligen würde,
wenn es hierbei auch nur auf richtige Zusammenstellung von Erfahrungen
ankäme. Solche Behauptungen, wie die im § 162: ^,Die SpieliätigkeU
ei7iiger Tiere ist noch kein icirkliches Bestreben zti nennen, zveil sie itistinkt-
artig ist, und kein anderes Prijizip hat, als den blinden, berviißt- n?id vor-
stellungslosen 7rieb," — sind reine Machtsprüche; denn niemand hat in
Jos. Hillebrand: Lehrbuch der theoretischen Philosophie usw. 141
die Tierseelen hineingeschaut, und der Begriff des Instinktes und vor-
stellungslosen Triebes ist, ohne Spur auch nur der geringsten kritischen
Überlegung, aus der rohesten Empirie entlehnt ; die natürlichsten Analogien,
dergleichen in der Vergleichung unseres Selbst mit andern Me?ischen ganz
unvermeidlich stattfinden müssen, sind dabei willkürlich und eigensinnig
zerrissen. Der Verf. aber läßt nicht nur die Anthropologie in ihrer ge-
wohnten Absonderung stehen, sondern er läßt sie auch am gewohnten
Platze, nämlich in der Propädeutik; so schwer auch eine solche Pro-
pädeutik, die sich unvermeidlich mit metaphysischen Problemen ver-
wickelt, ausfallen muß. Dies Verfahren nötigt ihn, hintennach, im letzten
Zehntel seines Buches, nochmals zur Psychologie, nämlich zur spekulativen,
zurückzukehren, die nun freilich mager genug ist. Auch erschrickt er
nicht im mindesten vor der beinahe spinozistischen Behauptung einer
iinmi/tlebar gegebenen, konkreteii Natu)-- Einheit des Leibes und der Seele ;''^
vielmehr bekräftigt er noch gar seinen Satz durch den Schluß: ^,aus
jenem urfaklischen Ergebnisse des Bewußtseins folgt zunächst, daß die Seele
nie und nimmer in ihrer gegebenen Existenz ohne ihren bestimmten Leib tätig
sein könne," wobei seine Schüler ihn leicht fragen könnten, wo denn jene
Natur-Einheit ihre Grenzen habe, indem Arm und Beine bekanntlich
amputiert werden können, ohne Verlust an der Seele! Ein Idealist würde
noch manches fragen über die Einheit des Ich und Nicht-Ich (des
Leibes), was mit einem unmittelbaren, urfaktischen Ergebnisse des Be-
wußtseins stark kontrastieren dürfte. Nach jener Behauptung wundern
wir uns denn auch nicht, auf Reinholds Weise eine Unterscheidung
des tätigen Selbst von dem Gegenstande seiner Tätigkeit bei allem Vor-
stellen vorausgesetzt zu sehen, obgleich wir wünschten, dieser Mißgriff, der
aus dem bekannten Satze des Bewußtseins herrührt, möchte nach un-
gefähr vierzig Jahren nun endlich veraltet sein. Damit ist uns nun zwar
die Psychologie des Verfs. schon mehr als einmal ganz verdorben; allein
es 'finden sich doch auch merkliche Unterschiede von der alten Ver-
mögenslehre, wenigstens in dem Kapitel von der Reproduktion, wo es
heißt: die Reproduktion ist zu erklären als das Vorstellen, insofern es seine
frühem Richtungen lüieder annimmt. Auch mag die Bemerkung wohl wahr
sein, ,,daß nirgends die Theorie der Seelenvermögen mehreren Schwierigkeiten
unterliege., als hier;" — lieber freilich hätten wir gelesen, daß selbst der
Ungeübteste bei der mindesten Überlegung leicht von hier aus den Ein-
gang in die wahre Psychologie finden würde, wenn er sein Augenmerk
auf die Reproduktion, als auf ein natürliches Rückkehren der Vorstellungen
in ihren ursprünglichen Stand, gerichtet hätte, und sich nun die einfache
Frage vorlegte, was denn wohl dieses Ereignis, welches so natürlich ist,
daß es längst hätte geschehen sollen, bis zu dem Augenblicke möge ver-
hindert haben, da es wirklich geschieht? Aber dann müßte freilich der
grundfalsche Satz wegbleiben, daß immer nur eine — ja sogar eine ab-
geschlossene Vorstellung die Seele wirklich einnehme, welches gerade nie-
mals geschieht, noch geschehen kann; ebensowenig, ais, wenn es geschähe,
Kontraste, Harmonien, Disharmonien, Vergleichungen, Begriffe mit
mehreren Merkmalen u. dergl. jemals hervortreten könnten. Ungeachtet
solcher, selbst offenbaren Fehler, wollen wir es dem Verf. zum Verdienst
IA2 J- ^- Herbarts Rezensionen.
anrechnen, daß er wenigstens die Einbildungskraft als eine Form der
Reproduktion mit der Erinnerung in Verbindung setzt, und sich hütet,
diesen Prozeß zu den sogenannten Ämtern Seelenvermögen herabzuwürdigen.
Auch wollen wir nicht zu genau nach der historischen Veranlassung
fragen, welche beim Anfange des Kapitels vom Fühlen und Begehren die
bekannten Kunstworte Für sich sein und Anderes sein herbeiführen möge
(wobei sogar die sehr unnötige Erinnerung an das Unorganische und
Pflanzlich-Organische Platz gewonnen hat); es soll uns für diesmal ge-
nügen, daß der Verf. wenigstens sucht, die natürliche Verbindung zwischen
Fühlen, Begehren und Vorstellen aufzufinden, so unnatürlich sie auch
unter seinen Händen geworden ist. In die weitern, überkünstlichen Er-
klärungen der allereinfachsten Ereignisse aber können wir uns unmöglich
einlassen. Der Verf. weiß noch nicht, ivie einfach die Natur in den Ur-
sprüngen dessen ist, was sich uns in verwickelten Verhältnissen darstellt;
mehr Studium der Physik würde ihn auf ganz andere Wege geleitet
haben. Dürften wir uns eines grobsinnUchen Gleichnisses bedienen, sO'
ließe sich fragen, ob wohl jemand dem Meere ein besonderes Vermögen,
Wellen zu schlagen, und ein anderes Vermögen, beim Wellenschlage einen
Druck und Gegendruck der Teile wider einander auszuüben, beilegen
möchte? Nicht ganz unähnlich diesem sind die Vermögen des Vorstellens,
Begehrens und Fühlens. Mit der richtigen Erkenntnis ihres wesentlichen
Zusammenhanges ist nun freilich in der Psychologie noch nicht alles
gewonnen; nicht einmal soviel, daß man das Menschliche in seinem Vor-
range vor dem Tierischen deutlich hervortreten sähe. Den Punkt, worauf
es hierauf hauptsächlich ankommt — die Apperzeptioii , welche selbst bei
den höhern Tieren äußerst unvollkommen ist, hat der Verf. zwar nicht
erklärt, aber doch in seiner entscheidenden Wichtigkeit erkannt; und auch
dies gehört zu den Spuren des bessern psychologischen Geistes in seinem
Buche.
Wir gehen jetzt rückwärts, um, ohne weiteres Verweilen bei Einzel-
heiten, von vornherein die größern Umrisse ins Auge zu fassen, worauf
bei einem Lehrbuche soviel ankommt. Die Hauptfrage, welche in Hin-
sicht der Zweckmäßigkeit des Ganzen schon der Titel erweckt, ist ohne
Zweifel diese: kann und soll theoretische Philosophie ohne Verbindung
mit der praktischen für Anfänger vorgetragen werden ? Müssen nicht, wenn
es geschieht, sehr wichtige Dunkelheiten in der Psychologie, und in An-
sehung der Religionslehre übrig bleiben ? Was kann man denn von der
Vernunft vortragen, wenn man schweigt vom Sittlichen ? — Diesen Fragen
ist der Verf. zum Teil ausgewichen, indem er im zweiten Abschnitte seiner
Propädeutik eine ganz kurze Encyklopädie der Philosophie vorträgt, wo-
von das dritte Kapitel, unter der sonderbaren Überschrift: Hunianistik,
das weitläufigste ist. Der Sache den rechten Namen zu geben, war der
Verf., wie es scheint, durch mancherlei unnötige Bedenklichkeiten ver-
hindert ; unter andern durch die Meinung, daß alle Philosophie als Wissen-
schaft theoretisch sei ; — eine unserer Ansicht keineswegs zusagende
Behauptung! Zwar mag man die ersten Grundlehren vom Löblichen und
Schändlichen kontemplativ nennen, und hiermit dieselben unter einen
Gattungsbegriff bringen, der auch auf die ersten Auffassungen spekulativer
Jos. Hülebrand: Lehrbuch der theoretischen Philosophie usw. 143
Gegenstände und Probleme paßt. Aber wer wird bei diesen Grundlehren
stehen bleiben? So wenig die Konstruktionen der Spekulation sich mit
bloßer Kontemplation begnügen, ebensowenig genügsam sind Moral,
Naturrecht, Politik und Kuiistlehre; sie sollen sich auch nicht beschränken
auf Kontemplation, sondern sie sollen uns in Atem setzen zum Handeln.
Daher ist die Benennung praktische Philosophie ganz richtig; nur paßt sie
nicht recht auf jene rein kontemplativen Anfänge, deren ästhetische Natur
der Verf. nicht anerkennen wollte, und daher der humanistische Nebel,
welcher erst verschwindet, indem ausdrücklich gesagt wird, das Wort
Humanistik solle hier ein loses Aggregat bedeuten, zusammengesetzt aus
Ethik, Politik oder Naturrecht (das zweite Wort stellt der Verf. in Klammem
neben das erste, als ob hier eine Apposition stattfinden könnte, die doch
selbst im besten Falle den Teil fürs Ganze setzen würde) und Ästhetik
(in welcher eine Theorie der Kunst unterschieden wird von einer Theorie
der Künste, wo wir jedoch nur eine leere Abstraktion erblicken können).
Alle diese encyklopädischen Umrisse nun sind natürlich sehr dürftig; und
noch dürftiger (für Anfänger so gut als ganz unbrauchbar) sind die
historischen Andeutungen, denen wenigstens kein Tadel und kein Lob
hätte beigemischt werden sollen, da der Anfänger den Gegenstand noch
gar nicht kennt, und für ihn an ein eigenes Urteil noch lange nicht zu
denken ist. Demnach bleibt die vorhin bemerkte Lücke eigentlich un-
ausgefüllt. Eine der Haupttriebfedern des Philosophierens, das praktische
Interesse, ist nicht angespannt, nicht in Wirksamkeit gesetzt, sondern nur
von fern gezeigt. Und hierin liegt nun in der Tat wohl der Grundfehler
des ganzen Buches. Im dogmatischen Tone trägt es Philosophie vor, als
ob dieselbe eine Gedächtnis-Sache wäre; und der Umstand, daß sie es
nicht ist, wird gelegenthch auch mit gelehrt und gelernt, gleich anderem,
was man lehrt und lernt! Allein wir glauben gern, daß der Verf. im
mündlichen Vortrage diesen Fehler des Kompendiums verbessert, denn
wir kennen seine Wärme fürs Gute aus seinen frühern Schriften; daher
schon zu erwarten ist, er werde nicht unterlassen, das Studium der Philo-
sophie auch als einen wesentlichen Teil der sittlichen Regsamkeit in
Schwung zu setzen. Ohne diese Triebfeder kann man ein so schwieriges
Studium zwar von manchen Seiten beginnen, aber schwerlich durchführen.
Übrigens findet die herrschende dogmatische Lehrart des Buches großen-
teils auch darin ihre Erklärung, daß die Metaphysik, auf welche die
skeptische Spannung des Untersuchungsgeistes hauptsächlich gerichtet
werden muß, soweit nach hinten gedrängt ist; sie beträgt nur ungefähr
das letzte Vierteil des Ganzen. Die psychische Anthropologie hat ein
dogmatisches Ansehen bekommen, weil sie ursprünglich, und abgesehen
von dem sich allemal einschwärzenden metaphysischen Dogmatismus, eine
Erfahrungswissenschaft sein sollte, folglich nicht skeptisch angelegt werden
konnte; die Logik aber, welche das dritte Vierteil des Ganzen ausmacht,
besitzt zu viel ursprüngliche Evidenz (ähnlich der Geometrie), um sich
vom Lehrtone zu entfernen. Nachdem nun die größte Mitte des Buches
einmal dem dogmatischen Vortrage anheimgefallen ist, bleibt ganz natürlich
der Nachklang bis ans Ende. So geschieht es, daß des Zweifels zwar
genug Erwähnung getan, der eigentliche Untersuchungsgeist aber doch
J44 J- F. Herbarts Rezensionen.
nirgends in Bewegung gesetzt, nirgends in Anspruch genommen wird.
Etwas anders würde die Sache zu stehen kommen, wenn Hr. H. die
Logik nach behebter Manier mehr mit heterogenen Bestandteilen ge-
mengt hätte. In dieser Hinsicht wollen wir seine Erklärung hersetzen.
„Die dem Pantheismus mehr oder weniger sich zuneigende Philosophie
der Schellingschen Schule hat die gemeine Logik mißachtet; dagegen sind
aus derselben mehrere Versuche einer sogenannten realen, philosophischen,
objektiven Logik hervorgegangen, welche indes größtenteils eine Mischung
des eigentlich Logischen mit metaphysischen Aufgaben darstellen. Im
sanzen ist dieselbe ihrem Grundcharakter nach vom Aristoteles bereits
ausgebildet." Wir können uns nicht auf eine genauere Vergleichung
dieser Logik mit so vielen andern Darstellungen, welche die Wissenschaft
neuerlich erhalten hat, einlassen ; der Verf. aber scheint hier am meisten
in seinem Elemente zu sein, und wendet viel Sorgfalt auf genaue Gliederung
seines Vortrages. Oder vielleicht tritt diese Sorgfalt hier, wo das meiste
auf sie ankommt, nur mehr hervor; man kann sie ungestörter auffassen,
als in den andern Teilen des Buches, in welchen das Einverständnis nicht
so leicht ist. Überhaupt ist es der Eindruck eines durch anhaltenden
Fleiß und vielfaches Studium in seiner Art reif gewordenen Kompendiums,
welches das Ganze bei uns zurückläßt; wir würden uns jedoch nicht
wundern, wenn fernere Studien noch tiefere Überzeugungen allmählich
herbeiführten, und eine zweite, von der ersten merklich abweichende,
Ause:abe zur Folge hätten. Von dem, was wir nach unserer Ansicht an
der ganzen Arbeit und an den einzelnen Teilen auszusetzen haben, darf
hier nicht ausführlicher die Rede sein; aber schwerlich kann ein so
denkender und gewissenhaft lehrender Mann, wie der Verf., sich durch
dieses Produkt schon ganz befriedigt finden; vielleicht wird er auch der-
einst gewahr werden, daß er die Vorsicht, nicht ohne Not weit vom Alten
und Hergebrachten abzuweichen, in mancher Hinsicht zu festgehalten hat.
Neuerungssucht ziemt der Philosophie nicht ; aber starrsinniges Behaupten
des Alten und Gewohnten frommt ihr ebensowenig.
Krause, K. Chr. Fr., Vorlesungen über das System der Philo-
sophie. — Göttingen 1828.
Gedruckt in: Leipziger Literatur - Zeitung 1830, Nr. 94—96. Kl, Sehr. III, S. 694.
SW. XII, S. 641.
Bekanntlich sind manche Schriftsteller in ihren eigenen Augen sehr
tätige und selbständige Denker, denen doch der Unbefangene auf den
ersten Blick ansieht, woher sie den Gedankenkreis haben, in welchem sie,
durch lange Gewöhnung beschränkt, und durch Zeitumstände dann und
wann neu angeregt, sich bewegen. Um ihre Eigentümlichkeit darzutun,
lassen sie es an Neuerungen nicht fehlen, und oft genug entsteht daraus
für denjenigen, der über sie Bericht erstatten soll, eine bedeutende
Schwierigkeit, weil zum Teil das Neue nur im Ausdrucke liegt, andernteils
K. Chr. Fr. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie. 145
das Gewicht und der Wert desselben so zweifelhaft bleibt, daß eine genaue
Prüfung mehr weitläufig, als belohnend ausfällt. Am schlimmsten ist es,
wenn solche Schriftsteller von ihrer Wichtigkeit und ihrem möglichen
Einflüsse eine so hohe Meinung hegen, daß sie sich berufen erachten,
die Sprache zu reformieren. Fast unbegreiflich ist, daß heutigestages, wo
die Philosophie den Kreis ihres Wirkens von so manchen Seiten beengt
sieht, Vorlesungen über diese Wissenschaft gehalten und gedruckt werden
können, worin das Verstehen absichtlich durch neuen Wortprunk erschwert
wird. Aber die Tatsache liegt vor unseren Augen; S. XXVII lesen wir:
„Wesens Lebselbstinnesein geht auf sich selbst zurück; der Mensch ist das voll-
wese?iliche. Gölte vollivese?iähnliche vollendetendliche Vereinwesen;" aus welchen
zufällig aufgeschlagenen Proben man auf das übrige schließen mag. Wenn
wir hinzusetzen: der Verf. ist oder war ursprünglich Fichtianer, er hat
Mathematik studiert, und er gibt sich als Freimaurer kund; — so wird
hiermit im allgemeinen bezeichnet sein, was man zu erwarten habe. In-
dessen wollen wir sogleich bezeugen, daß die dreifache Gravität des
Fichtianers, Mathematikers und Freimaurers, anspruchsvoll wie sie ihrer
Natur nach ist, uns doch noch erträglich vorkommt, weil sie durch Ruhe
des Vortrags gemildert wird ; und daß selbst der Sprachreiniger und Sprach-
schöpfer sich übrigens Mühe gibt, verständlich zu reden. Und wahrlich!
er hatte Ursache, sich darum zu bemühen. Denn sein Unternehmen
geht, nach der Vorrede, dahin: i. jeden des Denkens fähigen Menschen,
Mann oder Weib, Jüngling oder Guts, vom Standorte des gewöhnlichen
Bewußtseins zur Selbsterkenntnis, und von da zur Erkenntnis Gottes und
der Vernunft, Natur und Menschheit als in Gott bestehenden Wesen, in-
sonderheit der göttlichen Bestimmung des Menschen, auf dem einzig mög-
lichen Wege, nach den Gesetzen der wissenschaftlichen Methode zu geleiten!
— Auf ein so umfassendes: Erstefis, sollte man denken, könne kein
Ztveitens und Drittens mehr folgen. Aber es folgt dennoch: 2. der
Wissenschaftsbau soll in diesem Werke soweit ausgeführt werden, daß
darin die Grundlage aller obersten besonderen Wissenschaften enthalten
sei, namentlich der Lehre von dem Leben der Menschheit und dem
Organismus ihrer Geselligkeit. 3. Der zweite Hauptteil dieses Werkes
enthält den rein spekulativen Theismus, ivelchen bereits viele von der Philo-
sophie erwarten (etwa in den Logen der Freimaurer?), der aber in keinem
der neuern deutschen Systeme der Philosophie geleistet ist. (Also vielleicht
in einem der altern und fremden Systeme? Denn in die Ferne der Zeit
und des Ortes pflegen ja die Sehnsüchtigen hinauszuschauen, und alle
Deutungen haben dort leichtes Spiel.) Übrigens sagt diese Lehre von
sich selbst: sie sei nicht Pantheismus; wobei wir uns erinnern, unlängst
in diesen Blättern eine andere Schrift angezeigt zu haben, die mit geringer
Abweichung das Geständnis ablegte, man nenne sie mißbräuchlich Pantheis-
mus, und die hierbei das Sprichwort : qui s'excuse, s'accuse, selbst anführte.
Ferner wird von der nämlichen Lehre gesagt, sie stimme mit dem Christen-
tume überein; wobei wir sogleich bemerken, daß eben darum, weil das
Christentum längst vorhanden und verbreitet ist, ein so gewaltig hohes
Selbstgefühl, wie das, womit unser Verf. sich ankündigt, uns selbst in.
Herbarts Werke. XIII. ^°
j^^ J- F' Herbarts Rezensionen.
dem Falle anstößig sein würde, wenn sich in seinem Vortrage wirkliche
Originalität zeigte.
Als ob niemand sich gegen die falschen Anfänge der Fichteschen
und Schellingschen Philosophie geregt hätte, noch regen könnte und dürfte,
wirft der Verf. seine Zuhörer, deren kritischen Geist er gegen vermeintes
Wissen wecken sollte, geradezu schon im Beginne der Einleitung in alle
die petitiones principiorum hinein, welche seit dreißig Jahren bis zum
höchsten Überdrusse sind wiederholt worden. ,, Wir alle luissen, und haben
dazu nicht nötig, schon zu wissen, was das Wissen ist." Aber was wissen
wir denn? Was glauben diejenigen zu wissen, welche hier angeredet
werden? Empirische Kenntnis von Erscheinungen; mathematische Kenntnis
von leeren Formen; moralische Kenntnis von Forderungen dessen, was sein
soll: welches von diesem Wissen taugt hier als passendes Beispiel?
Oder soll gar gleich anfangs der religiöse Glaube, gegen Kants Einspruch,
mit dem Wissen verwechselt werden? Als ob so etwas nicht könnte ge-
fragt werden, ist der Verf. schnell bei dem Satze: „wenn Wissenschaft
im Geiste beginnen soll, muß eingesehen werden irgend eine Wahrheit, die
durch ihren Inhalt selbst einleuchtet," (etwa eine mathematische oder
logische oder moralische? — nein! sondern:) ,,der Geist muß sich einer
Erkenntnis beivußt loerden, die über den Gegensatz des Subjekts und Objekts
erhaben sei." Der Zuhörer wird fragen, was denn irgend eine solche
Wahrheit, falls eine solche vorhanden wäre, über den weiten Kreis des
andern, uns im Leben höchst nötigen Wissens vermöge, worin Subjekt
und Objekt verschieden sind? Falls diese Verschiedenheit ein Fehler wäre
(;was er keineswegs ist), so bliebe die größere Masse des Wissens stets
mit ihm behaftet, und ein Tropfen von anderer Art würde den Ozean
nicht bessern. Aber der Verf. weiß Rat. Gleich in den ersten Zeilen
nämlich hat er von dem Worte: Wissenschaft, gesagt: durch die Endsilbe
Schaft werde überall ein Verein verschiedener Teile zu einem Ganzen
verstanden. Diese Forderung werde noch näher bezeichnet durch die
Worte System und Organismus. Auf einer solchen Grundlage von Worten
fortbauend, fährt er nun schon auf der vierten Seite des Buches also
fort: „Fassen wir das Bisherige zusammen, so haben wir gefunden, daß
die Wissenschaft ein organisches Ganze gewisser Erkenntnis sein soll, in
welcher jede besondere Erkenntnis e7ithalten sei, und worin jede andere
gewiß werde." Und nun wird die Einheit alles Wissens, samt der Mannig-
faltigkeit desselben, weiter erwogen. Das ist die alte, seit dreißig Jahren
viel erprobte Manier, jungen Leuten die Einbildung eines Wissens bei-
zubringen, woraus bei reifen Männern die Klage erwächst: die Philosophie
halte niemals, was sie verspreche. Wer jene Zeit des ersten Fichteschen
Spekulierens mit erlebt hat, der kann sich aus historischer Kenntnis der
damaligen Stimmung und Bestrebung denkender Köpfe den Ursprung jenes
Beginnens leicht erklären; aber was hilft das den heutigen Anfängern in
der Philosophie? Für sie ist es eine unbegreifliche, freilich imponierende,
Tatsache, daß auf dem Katheder ein Mann sitzt, welcher mit Nachdrucke
behauptet: alle Erkenntnis sei Eine Erkenntnis. „Mithin (fährt er qjiasi
re bene gesta weiter fort) muß die Einheit teils .subjektiv, in Ansehung des
Erkennenden, teils objektiv, im Erkannten, vorhanden sein. Gewöhnlich
K. Chr. Fr. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie. 147
wird die Einheit der Wissenschaft vorwaltend aufgefaßt in dem Gedanken
des Prinzips der Wissenschaft. So wahr sie Eine ist, so wahr fordert sie
nur Ein Sachprinzip. Aber dies muß auch das Prinzip aller Erkenntnis
sein." Nun aber ein merkwürdiges Bekenntnis: „Der Gedanke der Ver-
schiedenheit ist nicht derselbe Gedanke, als der der Einheit, daher auch
der Gedanke der Verschiedenheit mis dem Gedanken der Einheit jiicht
abgeleitet werden kann. Wenn demnach Wissenschaft auch ein geordnetes
Ganze des Mannigfaltigen sein soll, so müßte das Mannigfaltige, wie es
sich auch weiter zeigen möchte, erkannt werden als in dem Prinzipe ent-
halten." — Was will diese Rede sagen? Weil von der Einheit keine Ab-
leitung zum Mannigfaltigen geht; so wird man umgekehrt die Betrachtung
bei jedem Stücke des Mannigfaltigen beginnen müssen, um es in die Einheit
hinein zu deduzieren. Einen andern Sinn können wir in den Worten nicht
finden. Dann gibt es aber unendlich viele Erkenntnisprinzipien, so viele
nämlich, als Anfänge der Betrachtung des Mannigfaltigen; und hiermit
ist sowohl die Einheit des Prinzips überhaupt, als die Identität des Sach-
und Denkprinzips verloren! Wer den Spinozismus kennt, dem liegt die
Wichtigkeit dieses Punktes vor Augen; wir meinen den Sprung aus dem
Unendlichen ins Endliche. Hierüber unbekümmert, redet der Verf. getrost
weiter vom Prinzipe als Grund und Ursache; und von der Demonstration
des Endlichen, wenn man erkennt, daß seine Wesenheit in einem höhern
Ganzen so sein muß, wie sie ist. Aber es entdeckt sich bald, woher
diese Sorglosigkeit kommt. Was denjenigen, die für das Wissen Einheit
des Prinzips behaupten, das Wichtigste sein muß, das gibt er auf. „Was
unpassend intellektuale Anschauung genannt wurde, nenne ich die Schauung
Gottes, oder die Wesenschauung. Aber mein System unterscheidet sich
dadurch, daß die Erkenntnis des Prinzips weder bloß postuliert wird, wie
bei ScHELLiNG, noch durch irgend einzelne vorbereitende Spekulation ge-
sucht wird, wie bei Hegel, sondern, daß die Wissenschaft vom ersten
subjektiv Gewissen, vom Selbstbewußtsein des Ich anhebend, ohne Willkür,
der Wesenheit der Sache nach fortschreitend zu der Anerkenntnis des Prinzips
aufsteigt.''- Das heißt mit andern Worten : die Prinzipien des Wissens und
des Realen sind verschieden; das Erkenntnisprinzip ist das Ich; und nun
kommt alles auf die Ableitung, auf die Methode an, damit es sich zeige,
ob man von hier ausgehend den versprochenen rein -spekulativen Theismus
dogmatisch erreichen könne, dergestalt, daß man weder über Schlußfehler
ertappt werde, noch Teleologie und praktische Ideen da zu Hilfe nehme,
wo andere, ihre menschliche Schwäche bekennend, gern das Wissen durch
den Glauben ergänzen. Übrigens sind wir insofern mit dem Verf. wohl
zufrieden, daß doch endlich einmal zum Vorscheine kommt, was vor
dreißig Jahren freilich ebenso klar hätte sein sollen, wie heute: dies
nämlich, daß Identität des Ideal- und Realprinzips eine Ungereimtheit ist.
Bevor wir nunmehr, über die Einleitung hinaus, in die Abhandlung
selbst eintreten, wird es gut sein, zu erklären, daß wir uns, ungeachtet
der unvermeidlichen Länge dieser Rezension, doch unmöglich darauf ein-
lassen können, eine vollständige Übersicht zu geben. Nicht nur liegt ein
Buch von 554 äußerst eng gedruckten Seiten vor uns, sondern die Arbeit,
eine neue Sprache zu studieren, ist hier größer, als daß man sie uns zu-
10*
j^g J. F. Herbarts Rezensionen.
muten könne, da, wie sich bald zeigen wird, Gründe genug vorhanden
sind, den dazu nötigen Zeitaufwand zu scheuen. Rez. bekennt also ge-
radezu, nicht zu wissen, was das neue Wort: Wesens- Or-Om-Volhvesenheit,
eigentlich bedeutet; auch nicht genau zu verstehen, warum Schönheit die
vollwesenliche Wesenähnlichkeit ist, und obgleich der Verf. gütig genug ist,
zu sagen, daß Wesenimiesein und Wesenvereinleben soviel bedeutet als
Religion; so ist hiermit doch der unmittelbar folgende Satz nicht klar:
,, Hätten Spinoza und Kant die Kategone der Bezugseinheit erkannt^ so
würden sie vielleicht zur Wesenschauung gelangt sein, Kant rvürde die
Gotterkenntnis nicht für untnöglich erklärt, und Spinoza wüide sich nicht
in den Kategorien der Notwendigkeit und der Freiheit venvirrt haben."
Diese letzte Probe kann zugleich zeigen, daß die Schwierigkeit nicht bloß
in den Worten liegt; man müsse nämlich hier zuerst einsehen, wie
Schauung, welcher Ausdruck ein Unmittelbares zu bezeichnen scheint,
vermittelt werden könne, und zwar mittelst der Erkenntnis einer Kategorie;
und überdies mag ein anderer Ödipus erraten, wie man so kurz die
Antipoden Kant und Spinoza zusammenfassen könne, um einen für
beide gemeinsamen Grund, weshalb keiner von beiden zur Wesenschauung
gelangt sei, mit Einem Worte auszusprechen. Dazu möchte doch der
Streit zwischen Spinozismus und Kantianismus ein wenig zu stark und
zu vielfach sein. Allein so wenig wir uns auch in des Verfs. Theosophie
einzulassen gedenken, so müssen doch ein paar allgemeine Bemerkungen
Platz finden. Erstlich ist der Rez. wohl nicht der einzige, dem es miß-
fällt, wenn polemisierende, mit allem Stolze des Dogmatismus ausgerüstete,
Wesens - Schauungen einander zu überbieten suchen. Religion soll die
Gemüter vereinigen, und das Christentum erlaubt denen, die sich dem
Tische des Herren nahen, keinesweges, mit persönlichen Vorzügen auf-
zutreten, sondern es verlangt, daß jedermann sich demütige und sich den
andern gleichstelle. Ferner verrät der Verf., seiner Meinung nach auf
dem einzig möglichen Wege einhergehend, die stärkste Neigung, seine
Lehre zu verbreiten; er tadelt sogar das Ausschließen der Frauen von
der Wissenschaft! Wenn nun ein solcher Mann dennoch eine Sprache
einzuführen sucht, von welcher vorauszusehen ist, daß nur wenige sich
mit ihr vertraut machen werden; wenn dies in der Form akademischer
Vorlesungen geschieht, die zuerst einer — oft genug auf Geheimlehren
erpichten Jugend dargeboten wurden; so haben wir ein so sonderbar ver-
einigtes Streben nach Expansion und Kontraktion zugleich vor uns, daß
eine Frage nach dem eigentlichen Zwecke sich aufdringt, und daß es
schwer wird, in Hinsicht der versuchten Sprachschöpfungen an bloße Lieb-
haberei zu glauben. Es muß doch wohl einiger Wert auf den Besitz
eines halbdurchsichtigen Geheimnisses gelegt sein, welches sich einen
Kreis bilden könne.
FiCHTES Wissenschaftslehre, desselben Naturrecht und Sittenlehre
bieten uns nun den Boden dar, auf dem wir uns bewegen müssen; der
Faden dieser Werke scheint unverkennbar durch, wenigstens in dem ersten
Hauptteile, welcher die Überschrift führt: subjektiv -analytische Wissen-
schaft. Das Erkenntnisprinzip soll unmittelbar gewiß sein. Den zweiten
Hauptumstand, daß es andere Gewißheit aus sich erzeugen muß, vergaß
K. Chr. Fr. Krause: VorlesuDgen über das System der Philosophie. 14g
Fichte; unser Verf. vergißt ihn auch, obgleich dies gerade das Schwierige
der Sache ist. Femer: Jedermann muß in sein eigenes Bewußtsein hinein-
schauen, um zu sehen, ob er solch eine unmittelbar gewisse Erkenntnis
in sich finde. Solch eine? "Wie nun, wenn er mehr als Eine findet? Das
wäre freilich ein Unglück für die obige, aus bloßen Worten deduzierte
Forderung der Einheit, und es bliebe nichts übrig, als die Grundlosigkeit
der Forderung einzusehen und zu bekennen. Unser Verf. findet wirklich
nicht bloß Eine, sondern drei, die sich füglich auf das Ich und Nicht-Ich
reduzieren lassen; denn wenn einmal andere Menschen von den Dingen
außer uns getrennt werden sollten, so gab es noch mehr zu trennen. Aber
nun folgt ein Mißgriff", den wir am liebsten der im Anfange gesuchten
Popularität des Ausdrucks zurechnen möchten; während die Absicht, das
Ich als einzigen Anfangspunkt alles "Wissens hervorzuheben, aus dem Zu-
sammenhange erhellt.
„Daß unser Wissen von äußern sinnlichen Dingen nicht unmittelbar
ist, zeigt sich gleich, denn — es beruht auf Wahrnehmungen des Auges,
Ohres und der übrigen Sinne!" Wie? Empfindung von Farbe und Ton
wäre nicht unmittelbar? Menschen und Tiere müßten in der Reihe ihres
Wissens erst von der Ketint7ns (denn davon ist allein die Rede) des Ohres
und Auges beginnen, um sehen und hören zu können^ — Vielleicht ist
diese Widerlegung gar zu populär; wir wollen also etwas künstlicher ver-
fahren. Der Verf. stelle sich auf den Standpunkt des Idealisten. Dieser
leugnet die Existenz der Körper; mithin auch des Auges und Ohres;
er verwirft gänzlich die gemeine Erklärung, nach welcher die Sinnes-
erscheinungen als vermittelt betrachtet werden. Aber die empfundenen
Töne und Farben verwirft er nicht; diese sind das Unverwerfliche, weil
sie das Unmittelbare sind, welches im Wissen fest steht, gleichviel, welche
Erklärung seines Ursprungs man ihn auf verschiedenen Standpunkten
der Betrachtung unterschiebe. Dennoch soll die Anschauung des Ich die
Priorität erlangen! Dahin gelangte Fichte durch das bloße Wort: Nicht-
Ich, worin die Erschleichung liegt, wie wenn Farben, Töne, Gestalten,
ursprünglich als Entgegengesetzte des Ich empfunden und wahrgenommen
würden. Aber Mißgriffe, die Fichte noch im vorigen Jahrhunderte machte,
waren leichter zu entschuldigen, als die heutigen. Und — was die
Hauptsache ist — die Brauchbarkeit eines Prinzips wird sogleich ver-
dächtig, wenn diejenigen, die es gemeinschaftlich als ein Erstes und Un-
mittelbares, das jedermann in sich selbst finde, verkünden und preisen,
über die wahre Bedeutung desselben schon streiten, noch ehe sie anfangen
es zu gebrauchen. Dies begegnet unserm Verf. mit Fichte. Tadelnd
bemerkt er: Fichte habe das Selbstbewußtsein als abhängig von der Ent-
gegensetzung gegen das Äußere, — er habe das Ich als tätig, als in sich
zurückkehrend, als mitten unter anderen Vernunftwesen sich findend, als
ein Selbständiges, dargestellt. Die Grundanschauung des Ich sage nichts
von Unbedingtheit. Ebenso tadelt er Kant. „Nur dadurch, sagt er in
der Vernunftkritik, daß ich mich selbst innerlich individuell in der Zeit
erkenne, weiß ich von mir; ich aber sage dagegen: nur dadurch, daß ich
mich überhaupt schon weiß, kann ich auch wissen, daß ich mir unter
andern auch in sinnlicher Individualität erscheine. Denn er muß ja schon
I^O J« F. Herbarts Rezensionen.
das Ich schauen, um dies Besondere zu schauen, daß eben das Ich in-
dividuell sei." (Wirklich? Geht denn das Schauen gleich dem Denken
vom allgemeinen zum Besondern? Schaut man nicht etwa auch erst den
Begriff der Materie, um ein Stück Holz zu schauen?) „Ferner: wem er-
scheine ich? Antwort: Mir. Wer ist's, der da sieht, daß ich mir erscheine?
Antwort: Ich. Darin ist aber zugegeben, erstlich, daß ich mich überhaupt
weiß; zweitens, daß ich auch weiß, wie ich als Individuelles mir als
Ganzem erscheine." (Nichts ist zugegeben; denn dies Erstlich und
Zweitens kehrt das Hinterste nach vorn. Die Frage nach dem Subjekte,
dem das Ich erscheint, läßt sich künstlich ins Unendliche treiben; dadurch
wird für die künstelnde Reflexion das nämliche Subjekt unendlich ver-
vielfältigt; aber die Unendlichkeit läßt sich nicht vollenden; und von
diesem ganzen Spiele weiß das natürliche Selbstbewußtsein nicht das
mindeste.) „Der Fortgang der Untersuchung wird nun möglich sein.
Wessen wir uns gewiß sein sollen, das muß so gewiß sein, als die Grund-
erkenntnis: Ich. Jedoch nicht durch, sondern bloß in derselben; jede Er-
kenntnis muß mir gegeben sein in mir, als Eigenschaft meiner selbst, als
denkenden Ichs. Daraus sehen wir, daß wir hier nicht demonstrierend
den Fortgang nehmen können, sondern bloß monstrierend als ein teilweise
Wahrgenommenes in der Grundwahrnehmnis Ich. Wollten wir demon-
strieren, so müßten wir schon den Satz des Grundes erwogen, wir müßten
schon das eine Sachprinzip gefunden haben, — welches wir erst suchen."
(Neue Verwirrung! Sachprinzipien sind Ursachen, aber als solche nicht
Erkenntnisgründe.) „Alles nunmehr zu Findende muß sowohl in Ansehung
des Gegenstandes als der Gewißheit Eins sein mit der Grunderkenntnis ;
wir machen daher lediglich das Ich zum Einen Gegenstande der Reflexion.''
Von hier an werden nun diejenigen, welche, gleich dem Verf., des Demon-
strierens gern überhoben sind, und sich mit dem Monstrieren zu begnügen
pflegen, zu Vergleichungen ihrer eigenen Ansichten mit seinen Dar-
stellungen Anlaß nehmen können. Er stellt sich die Aufgabe: die An-
schauung zu vollziehen, ivas das Ich an sich ist ; und seine Auflösung
lautet: das Ich ist ein Wesen, und zwar ein selbes, ganzes Wesen. Hier
soll Wesen das Selbständige bedeuten; dennoch soll unentschieden bleiben,
ob vielleicht das Ich als ein inneres endliches Wesen im höhern Ganzen
der Wesen enthalten sei. Selbes Wesen aber wird betrachtet an sich, gar
nicht im Verhältnisse zu etwas Äußerem. Beim ganzen Wesen soll an
Teile noch nicht gedacht werden; wohl aber mag in gewisser Hinsicht
zu sagen erlaubt sein, der Mensch bestehe aus dem Leibe und Geiste.
Es folgt eine zweite Aufgabe: die Anschauung zu vollziehen, was das Ich
in sich, oder als Inneres ist; oder: anzuschauen, ifi luelchen Teilen und
Eigenschaften das Ich sich bestehend findet. Folgendes ist die, stufenweise,
durch Selbstbeobachtung zu entwickelnde Antwort: das Ich besteht aus
Geist und Leib, als Mensch; es findet sich als bleibend und veränderlich,
als lebend, als Vermögen, als Kraft, als Trieb. Man sieht, der Verf.
betritt hier den Boden der empirischen Psychologie; welches dadurch
vollends klar wird, daß er an diesem Orte die Frage, ob das Ich ohne
den Leib bestehen könne, unentschieden zu lassen gebietet, wie es auf
dem empirischen Standpunkte sein muß. Bei dieser Gelegenheit kommt
K. Chr. Fr. Krause : Vorlesungen über das System der Philosophie. 151
er zurück auf das Entstehen unserer Vorstellungen von den Sinnen-
gegenständen, und zwar in sehr seltsamen Ausdrücken. „Es ist eigentlich
unser Augennerve, den der Geist sieht, nicht aber Gegenstände außer
dem Leibe. Der Geist hört den schallenden Nerven im Ohre, die Zunge
selbst wird geschmeckt" usw. So fortfahrend, würde man auch sagen
müssen: der Geist will nicht Bewegungen der Gliedmaßen, er will nicht
gehen, greifen, reden, sondern er will die Nerven, sofern sie die Muskeln
zu ihrem Dienste bestimmen. Aber das eine ist so falsch wie das andere;
wer nicht an Physiologie denkt und davon nichts weiß, der sieht und
hört und will nichts von den Nerven; die Worte sehen, hören usw. passen
hier gar nicht mehr, und der falsche Ausdruck dient nur dazu, die wahren
Fragepunkte zu verschleiern. Daher kein Wunder, daß auch hier der
Verf. sich am Ende der bekannten Erklärung aus hinzukommenden Vor-
stellungen a priori anbequemt, ohne Spur einer Kritik derselben. Also
wiederum nichts Neues, sondern Benutzung Kantischer Lehrmeinungen;
was dagegen ist eingewendet, was auf andere Weise ist erklärt und ent-
wickelt worden, davon scheint er nichts zu wissen; daß in seinem ganzen
bisherigen Vortrage kein Punkt zu finden ist, der nicht Angriffen bloß
gestellt wäre, das kümmert ihn nicht. Einem Schriftsteller, der von
eigentlicher Spekulation so wenig loeiß, — der sogar von Fichtes Be-
strebungen (irre geleitet, wie sie waren) so wenig zu benutzen verstanden
hat, würden wir geraten haben, sich lediglich an reine, unverkünstelte Er-
fahrung zu halten. Wie schwer das bei psychologischen Gegenständen
ist, wissen wir sehr gut; allein schon die Bemühung, es zu leisten, konnte
ein heilsames Bedenken erregen, nicht von Kategorien und nicht von
einem bloßen und nackten Ich mit solcher Dreistigkeit zu reden, als ob
diese, durch künstliche Reflexion gesonderten Gegenstände auch so gesondert
und außer aller Anwendung im gemeinen Bewußtsein anzutrefifen wären.
Dann möchte von einem Ich, als selbem und ganzen Wesen, schwerlich die
Rede gewesen sein. Der Verf. wird kaum glauben, daß der natürliche,
vorwissenschaftliche Mensch (um uns seines Ausdruckes zu bedienen) sich
in irgend einem Augenblicke des zeitlichen Lebens anders finde, als mit
irgend einer individualen Bestimmtheit; sollte er es dennoch glauben, so
mag er uns die Frage nach dem eigentlichen Objektiven im Ich, was jeder
in sich schaue, der Selbstbewußtsein hat, genauer beantworten, als in seinem
Buche geschehen ist. Wenn Fichte nach so mannigfaltigem Bemühen
diese Frage nicht genügend beantworten konnte; so muß sie wohl schwerer
sein, als der Verf. sie sich gemacht hat. Und aus Fichtes Lehre einige
Bruchstücke wegwerfen und andere Bruchstücke behalten, heißt nicht, sie
verbessern. Sie ist trefflich zur Übung, aber nicht zum Gebrauche; ihr
Grundfehler, das eine, selbe und ganze Ich, müßte erst gehoben werden ;
gerade in diesem aber hat sich der Verf. recht sorgfältig eingesponnen.
Man sollte meinen, daß für diejenigen, deren ganze Philosophie lediglich
Religionsphilosophie sein will, und welche nur zu diesem Zwecke ihren
metaphysischen Dogmatismus einiichten, Veranlassung genug wäre, die
Gebrechlichkeit des Ich, wie es sich wirklich im Bewußtsein findet, —
sein unstetes, vielfarbiges, zu den niedrigsten wie zu den höchsten Ge-
mütszuständen sich hergebendes, den Weisesten täuschendes, im Blöd-
j ^2 J- F- Herbarts Rezensionen.
sinnigen allmählich erlöschendes Wesen, — im geraden Gegensatze gegen
FiCHTES Lehre zu entwickeln, deren Ursprünge in eine Zeit fallen, worin
Religion nicht das Thema des Tages war, sondern weit stolzere Gedanken
die Köpfe begeisterten. Aber die alten Erinnerungen kleben an; unä
von den in der Jugend eingesogenen Vorurteilen möchte man, so sehr
auch die Zeit verändert ist, doch etwas behalten.
Eben hier aber möchte der Verf. uns wohl den Vorwurf machen,
daß wir seine Zurüstungen mit der Hauptsache, seine Einleitung für An-
fänger mit dem wissenschaftlichen Vortrage verwechselten. Denn freilich
ist alles bisher Angeführte noch aus der ersten Hälfte seiner sogenannten
subjektiv- analytischen Wissenschaft entnommen. Nun steht zwar Fichtes
Ansehen beim Rez. zu hoch, als daß er einräumen könnte, die Grund-
sätze der Wissenschaftslehre seien eben nur gut genug, in dem ersten
Vorhofe der Wissenschaft ihren Platz zu finden; auch ist die Unter-
suchung über das Ich eine der wichtigsten und der schwersten in der
gesamten Philosophie, und es fällt dem Verf. sehr zur Last, seine Be-
hauptungen darüber, die mit Untersuchung gar keine Ähnlichkeit zeigen,
so leicht hingeworfen zu haben. Dennoch sind wir verbunden, ihm weiter
zu folgen. Die Auseinandersetzung bloßer Tatsachen des Bewußtseins
samt den daran geknüpften vorläufigen Fragen übergehend, versetzen wir
uns zu den Betrachtungen über die Veränderung; bekanntlich eines der
wichtigsten metaphysischen Probleme, welches hier gleich verkümmert wird,
indem statt allgemeiner Darstellung auch diese an das Ich geheftet ist;
eine Folge der falschen Anlage des ganzen Werks. Von dem Wider-
spruche, in der Veränderung wird nun zwar gesprochen, aber an eigent-
liche Entwicklung ist nicht zu denken, denn die Zeit soll genügen, ihn
aufzulösen. „Was zugleich nicht sein kann, das kann dennoch nach-
einander sein an demselben." Natürlich! Wenn einmal das eine, ganze
und selbe Ich feststeht (obgleich man das Objekt des Selbstbewußtseins
nicht angeben, und sein letztes, eigentliches Subjekt wegen der ins Un-
endliche sich selbst übersteigenden Reflexion nimmermehr erreichen kann),
dann besteht dieses vorgebliche Ich trotz aller Veränderung, von der es
in seinem Innern nicht getroffen wird. So zieht ein Irrtum den andern
nach sich. Aber die angeführten Beispiele sind dennoch zu arg. „Das
Individuum der wachsenden Pflanze ist und bleibt dasselbe." Nein! die
Pflanze wechselt den Stoff; sie stirbt, und selbst ihre Lebenskraft ver-
schwindet. „Ein bildsames Wachs bleibt Wachs." Aber verbranntes
Wachs bleibt nicht mehr Wachs. ,.Alle wechselnden Eigenschaften muß
ich zusammen denken, wenn ich alles das denken will, was dem sich
ändernden Wesen zukommt." Gerade darum, weil ich das Wechselnde
zusammen denken muß, und dies Denken nicht in die verschiedenen Zeit-
momente zerstreuen darf, kommt im Begriffe des Werdens der Wider-
spruch zum Vorscheine. „Die ganze Wesenheit des Dinges ist und bleibt."
Umgekehrt! Die bleibende Wesenheit ist eine Forderung, die nicht erfüllt
wird, weil sie keine Oberfläche hat, woran das Wechselnde vorüberstreifen
könnte, sondern sie selbst, die Substanz, sich auf ihre eigenen Accidenzen
bezieht, wodurch sie als diese Substanz von andern Substanzen unter-
schieden wird. Davon weiß freilich die bloße Kategorie der Substanz
K. Chr. Fr. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie. IS^-
nichts^ aber die Kategorie ist auch keine Substanz, und ein Spiel mit
leeren Begriffen ist kein Erkennen. „Wenn ich sage: ich ändere tnich, so
bedeutet das erste Ich mich selbst ganz und gar, aber das Mich ist
nicht das ganze Ich, sondern dies ist nur das Ich, sofern es allaugen-
blicklich ein vollendet Bestimmtes ist." Was bedeutet denn wohl der
Ausdruck gmiz tuid gar? Vermutlich ein Ganzes, von welchem der ver-
änderliche Teil kein Teil ist! Schwerlich hätte ein Gegner des Verfs..
ihm stärker widersprechen können, als er hier unwillkürlich sich selbst
widerspricht. — Bloß historisch, und um zu zeigen, daß solche Lehren
über das Wechselnde und Beständige bei dreisten Theosophen nicht
ohne Anwendung bleiben, wollen wir hier aus dem zweiten Teile des
Buchs (S. 489) den Satz anführen: „Wesens Selbstinnesein, sofern selbiges
auf das Leben, es umfassend, sich bezieht, ist in jedem Zeit -Nun ein
eigenleblich anderes; und bleibt dabei doch, seiner ganzen Wesenheit
nach, unveränderlich dasselbe. Da das Leben selbst stetig wird^ so
wird auch das Selbstinnesein Gottes, sofern es sich auf das werdende
Leben bezieht, stetig." Hierbei die Note: „Viele Philosophen meinen,
es seie mit der Unbedingtheit und der Unendlichkeit Gottes unvereinbar,.
Gottes Selbstinnesein auch als ein in sich Unendlich- Werdendes zu denken.
Sie bemerken nicht, daß Unbedingtheit samt der innem Bedingtheit,
daß Unendlichkeit samt der innem volhvesentlichen Endlichkeit, daß die
Unveränderlichkeit samt der innem gliedlebigen Änderlichkeit, alles nur
Teilvvesenheiten Wesens sind, welche insgesamt in der Einen, selben Voll-
wesenheit enthalten sind." Wenn sie das noch nicht bemerken, nachdem
es ihnen der Spinozismus schon längst so nahe gelegt hat, so werden sie
es wohl niemals bemerken. Aber bedenklich dürfte es doch wohl sein,
solche Lehrsätze anzunehmen, während die ersten Fundamentalbegriffe
noch in Untersuchung schweben; und der religiöse Glaube, falls er wirk-
lich daran gebunden wäre, stets neuen Erschütterungen ausgesetzt sein
würde. Sollte übrigens jemand dem Verf mit der Erinnerung entgegen-
treten, das Werden unterliege der Zeit, nun sei aber die Zeit eine bloße
Form der Anschauung, folglich gehöre alles, was wird, ins Gebiet der
bloßen Erscheinung ; so ist Hr. Kr. hiergegen im voraus gerüstet. Er
hat eine besondere Note gegen Kants transzendentalen Idealismus in
Bereitschaft, welche von denjenigen, die alles durch Selbstbeobachtung
entscheiden wollen, mag erwogen werden. Er sagt, die Behauptung der
leeren, erst durch die Sinnesanschauungen auszufüllenden. Formen des
Raums und der Zeit überschreite den wahrgenommenen Inhalt und Tat-
bestand der innern Selbstbeobachtung; welches von der Zeit, als Form
der Änderung auch des reingeistigen Lebens, daraus ersichtlich sei, daß^
sie sich durchaus nur als erfüllte Form, als Form an ihrem Gehalte, im
Geiste zeige. „Da vvir nun finden, daß in uns selbst die Zeit nicht und
nie als leer da ist, sondern stets als erfüllt, tmd da dieses sich auch also
in dem ewigen Begriffe der Zeit zeigt , den wir in unserem eigenen Innern,
als Geist ^ realisiert finden; so müssen wir, ganz aus denselben Gründen,
auch äußern, als veränderlich wahrgenommenen Gegenständen die Zeit als
ihre eigene Form, die sie an sich selbst haben, zuerkennen; mit welcher
Anerkenntnis der transzendentale Idealismus in Kants Sinne dahin fällt.-'
jcA J- F. Herbarts Rezensionen.
Rez. ist zwar weit entfernt, metaphysische Fragen durch Selbstbeobachtung
entscheiden zu wollen ; aber zu was für Schlüssen ein solches Verfahren,
wenn es einmal zugelassen wird, veranlassen kann, das möchte in digsem
Beispiele ziemlich deutlich zu erkennen sein. Auf das Äußere sollen
innere Formen übertragen werden; die Beschaffenheit dieser innern Formen
wird im Bewußtsein beobachtet; kein Wunder, wenn das Äußere sich
den Resultaten solcher Beobachtung unterwerfen muß. Freilich wird nun
weiter gefragt werden, ob denn die Beobachtung richtig ist. Aber als-
dann gerade kommt das Übel zum Vorscheine, daß Beobachtungen des
Innern ewig im Streite bleiben; und was eine Partei in sich zu finden
zuversichtlich beteuert, von der andern ebenso zuversichtlich geleugnet
wird. Gegen den Verf. wollen wir indessen hier wenigstens die ganz
leichte Bemerkung hinzusetzen, daß niemand die Intensität der innern
Zeiterfüllung für gleichförmig halten wird, daher schon deshalb der Be-
griff der Zeit an diese Erfüllung nicht kann gebunden werden. Doch
genug hiervon.
Wir sind dem Verf. nun weit genug gefolgt, um seine Manier zu
kennen. Mit den Gewöhnungen des Idealisten verbindet er die An-
sprüche des Theosophen; fragt man aber nach seinen spekulativen Hilfs-
mitteln, so hat er — keine; sondern statt deren dient ihm die empirische
Psychologie. Wo ein so großer Geist, wie Kant, sich beschränkte; wo
ein feuriger Mann, wie Fichte, durch gewagte, aber doch neue An-
strengungen den Kreis der merkwürdigen Versuche erweiterte; wo der
umfassende Geist Schellings die ganze Natur durchmusterte: da zieht
unser Verf. erst alle metaphysische Begriffe, ohne weitere Kritik, ins Ich
hinein, an dessen kritische Beleuchtung er ebensowenig denkt als seine
Vorgänger; und statt nun die wieder herausgeholten Begriffe, wenn ja dies
Hin- und Hertragen irgend einen Gewinn hätte bringen können, fürs
erste an der uns zugänglichen Naturkenntnis zu versuchen, um sich der
Berichtigung durch die Erfahrung darzubieten, steigt er in gerader Linie
^&Ci Himmel, wo er freilich sicher ist, daß wir andern Sterblichen ihn
nicht erreichen können. Uns interessiert demnach lediglich die Bewegung,
die er macht, um sich in die Höhe zu heben; diese aber interessiert uns
allerdings, und zwar deshalb, weil es manche gibt, die es gern eben so
machen möchten, wie er, indem sie stolz genug sind, zu meinen, der
natürliche, einfache religiöse Glaube, dessen jedermann bedarf, der sich
in allen wohlgesinnten Gemütern von selbst findet, den Natur und Schrift
und Kirche unterstützen, dieser genüge ihnen nicht! Zur Erleichterung
fassen wir zuvörderst den ersten Teil des Buchs übersichtlich zusammen.
Die Selbstschauung des Ich fällt in den ersten Abschnitt; das Verhältnis
des Ich und der Welt zu Gott zu erkennen, ist die Aufgabe des zweiten;
beide zusammen bilden die Grundlage zur analytischen Erkenntnislehre
und Wissenschaftslehre, und dem Entwürfe des ganzen Wissenschaftbaues;
wiederum mit zwei Abschnitten, deren erster die analytische Methoden-
lehre, der zweite den Grundriß des Wissenschaftgliedbaues enthalten soll.
Dies zusammen ist das Fundament; damit alsdann im zweiten Teile die
absolut-organische Wissenschaft selbst hervortreten könne, welche besteht
in der Anschauung Gottes, dergestalt, daß angeschaut werde, was Gott
K. Chr. Fr. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie. 155
an sich, was er in sich ist, daß ferner beide Anschauungen sich verbinden
zur „Vereinschauung dessen, was Wesen aii und in sich ist;" und daß
endlich noch eine vierte Teilwesenschauung hinzukomme, mit der Über-
schrift: ,,Wesen als Wesengliedbau seiendes Wesen in seiner Bestimmt-
heit, zugleich auch Wesen in Bezugheit zu sich selbst als Wesengliedbmi
seiendem Wesen." Da wir aus diesem zweiten Hauptteile nur ganz kurz
referieren wollen, so kann dies füglich gleich hier geschehen; man wird
desto deutlicher sehen, wohin der Verf. will. Es wird darin behauptet:
nur der wissenschaftliche Mensch, nur der Philosoph, sei des reinen
Theismus fähig und teilhaftig. Hiermit stellen wir einige Urteile über
andere Philosophen zusammen. Von Jacobi heißt es S. 222: „Er wähnte,
daß der Gottwissende sich über Gott erhübe, oder im Wissen Gott unter
sich brächte; in dieser Aussage sieht der Wesenschauende das reine und
ganze Bekenntnis, daß der Aussagende Gott erst dunkel ahnet." Von
Kant S. 375: „Ich sage, er konnte nicht zur wissenschaftlichen An-
erkenntnis Gottes gelangen; ich sage aber nicht, er habe ihn überhaupt
nicht anerkannt, denn anerkannt hat er ihn in Vernunftahnung von selten
der sittlichen Freiheit." Bei der Gelegenheit meint der Verf., Kant habe
„nicht bemerkt, daß das Sein schon mitgedacht sei an der Wesenheit;''
ein Punkt, worüber wir mit ihm streiten würden, wenn wir nicht schon
Proben genug gehabt hätten, daß er von den eigentlichen Schwierigkeiten
der Metaphysik wenig oder nichts kennt. Er, der „alle Endheit und
Bestimmtheit nicht an und um Gott, sondern nur in Gott" mit dürren
Worten hineinsetzt, will es dennoch Hegel verdenken (S. 392), daß er
behauptet, Gott sei sich ein anderes, und als solches nur die Natur; —
diesem Satze widersprechend, sagt der Verf. (den Ausdruck abstumpfend,
aber die Sache nicht ändernd), „Wesen sei sich selbst gar nicht ein
anderes, wohl aber werde erkannt: daß Wesen in sich und unter sich
zwei Wesen ist , welche gegeneinander gegenheitlich sind." Und damit ja
niemand meine, hier sei etwas Neues zu finden, so kommt sogleich an
diesem Orte das alte Spinozistische quatemis wieder zum Vorscheine.
„Die Verneinung oder Verneintheit, welche die beiden innern Gegen-
wesen an sich sind oder haben, ist nur Verneintheit für sie wechselseits ;
in Ansehimg Gottes aber wird dadurch nichts verneint, denn dasjenige,
was das erstere der beiden Gegenwesen nicht ist, das ist dafür das
andere; aber sowohl das eine, als auch das andere ist in und iinter
Wesen; fiir Wesen also selbst ist alles beides bejahig." Wer eine solche
Lehre annehmen mag und kann, der hat schon längst nicht auf Hrn.
Kr. gewartet; sie ist genug gepredigt worden, und sie wird so lange
gelten, bis man sehen wird, in welchem Grade sie selbst ihre Anhänger
veruneinigen muß, die den Widerspruch hin- und herschieben, statt ihn
aufzulösen, nachdem sie ihn mit aller Dreistigkeit in das höchste Wesen
hineingetragen haben, statt ihn wenigstens da zu lassen, wo er liegt,
nämlich in den Formen der gemeinsten Erfahrung. Hier beunruhigt er uns
genug; es ist nicht nötig, die Ahnung des Höchsten und Heiligsten da-
durch zu stören und zu trüben; wir mögen uns freuen, wenn wir be-
greifen, der Fehler könne nicht in der Natur der Dinge liegen, sondern
nur in unserer Auffassung. Übrigens werden ietzt folgende Lehrsätze des
ic6 J- F. Herbarts Rezensionen.
Verf. nicht mehr befremden: „Wesen ist Gegenwesen und Vereinwesen;
die Wesenheit ist zu betrachten nach der Gegenheit und Vereinheit, da-
hin gehören: der Gliedbau der Wesenheit, Formheit, Jäheit, Neinheit,
Bewegheit, Grenzheit , Vereinfaßheit, Daseinheit u. dergl. m. Wesen ist
sich inne des Gliedbaues der Wesenheiten." Weiterhin wird geredet von
der Vollständigkeit des in der Wesenschauung abgeleiteten, teilwesen-
geschauten Gliedbaues der Wesenheiten ; derselbe ist wiederum sich selbst
nach jedem seiner Teile ähnlich; es gibt eine Wechselbestimmtheit der
endlichen Wesen nach der Gegenähnlichkeit. (Schellingsche Reminiscenz !)
Alle oberste Wesen in Wesen sind unendlich, aber bestimmbar und be-
grenzbar usw.
Zwei kritische Fragen werden nach der vorstehenden Übersicht einem
jeden einfallen; die eine: passen wirklich die dogmatischen Sätze des
Verfs. zur Gesinnung der religiösen Demut, wie sie unter den Schicksalen
des wechselnden Lebens dem sich schwach fühlenden Menschen Bedürf-
nis ist? Die zweite: wenn sie passen, und mit der echten, längst in
edeln Menschen vorhanden gewesenen, durch kein System erst zu erzeugenden^
sondern nur deutlich auszusprechenden, höchstens etwas näher zu be-
stimmenden Religiosität richtig zusammentreffen, ist denn der spekulative
Unterbau, weichen der Verf. dazu darbietet, so beschaffen, daß er wirk-
lich etwas tragen, stützen, befestigen könne? Oder sinkt vielmehr diese
Spekulation bei genauer Prüfung dergestalt in sich selbst zusammen, daß
man, weit entfernt, ihr etwas Kostbares anzuvertrauen, sich vielmehr in
acht nehmen muß, sie mit höchst wichtigen Glaubenswahrheiten in Ver-
bindung zu bringen, damit sie dieselben nicht in die Gefahren, wogegen
sie sich nicht schützen kann, mit hineinziehe ? Wir können nicht umhin,
diese Fragen zu berühren; allein man wolle hierbei erstüch die unver-
meidliche Unvollständigkeit einer bloßen Rezension, die ja nicht einmal
eine zulängliche Relation enthalten kann, vor Augen haben, und andrer-
seits sind wir es dem Verf. schuldig, anzuerkennen, daß, wenn er geirrt
hat, seine Irrtümer im Geiste der Zeit liegen; und daß sein Buch eine
sehr achtungswerte Persönlichkeit bezeichnet, welcher wir um so weniger
zu nahe treten dürfen, da die ganze Arbeit in ihrer Art reif, ein würde-
voller Vortrag überall festgehalten, mannigfaltige Gelehrsamkeit vielfach darin
sichtbar, und der Gegenstand unserer Kritik lediglich in den vorgetragenen
Lehrmeinungen zu suchen ist. Von den beiden angegebenen kritischen
Fragen aber wollen wir die erste zur Seite lassen; jetzt zunächst sei das
wissenschaftliche Verfahren des Verfs. unser Gegenstand ; wir müssen zur
Probe davon noch einige Grundzüge hervorheben und beleuchten; denn
offenbar ist die absichtlich erwählte Methode von der unwillkürlich
angewöhnten Manier (die wir schon oben andeuteten) noch zu unter-
scheiden, wenngleich daraus entstanden. Der wichtigste Zug jeder
spekulativen Methode aber ist die Art, wie die Untersuchung fortzu-
schreiten und sich zu erweitern sucht; Kants Synthesis a priori, oder
was deren Stelle vertreten soll. Hierüber nun glauben wir mit des Verfs.
eigener Zustimmung vorzugsweise folgende Stelle anführen zu können
(S. 324):
„Das Weiterbestimmen oder Determinieren ist gerade diejenige Ver-
K. Chr. Fr. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie. \ ^-j
richtung, wodurch alles unser Denken erweitert wird, fortschreitet, und
sich zu einem Gliedbau der Erkenntnis vollendet. Das Schaubestimmen
also ist das progressive Prinzip, oder auch das formative Element alles
Erkennens und der Wissenschaftbildung insbesondere. Seine drei Teil-
funktionen sind : Deduktion, Intuition, Konstruktion. Deduktion ist Schauung
eines Gegenstandes gemäß den Kategorien, welche anerkannt sind als
Denkgesetze. Diese Funktion ist erst dann ganz und vollwesentlich, wenn
die göttlichen Grundwesenheiten, als an und in der Wesenschauung ent-
halten, selbst synthetisch abgeleitet sind.'-' (Der Kantianer wird dieses
Wenn für eine unmögliche Bedingung erklären; Rez. fügt hinzu, daß
Kategorien erst selbst kritisch beleuchtet, und in ihrer wahren Bedeutung
begrenzt werden müssen, ehe sie anerkannt werden können.) „Der all-
gemeine Grund der Möglichkeit dieser grundwesentlichen Erkenntnis eines
jeden Gegenstandes ist: daß alles, was Wesen in sich ist, an der Wesen-
heit Wesens teil hat, ihm im Endlichen ähnlich ist.'' (Das gerade ist der
bekannte Stein des Anstoßes; denn so müßte die Ähnlichkeit auch rück-
wärts stattfinden, und wie man sich auch drehen und wenden mag, —
das Gemeine käme vermöge dieser unglücklichen Ähnlichkeit in das Höchste
hinein; das Unheilige ins Heiligste.) ., Selbst aber bevor noch die Wesen-
schauung erfaßt ist, verfährt schon das teilwissenschaftliche, ja sogar das
vorwissenschaftliche Bewußtsein deduzierend und alles nach den Kategorien
bestimmend." (Darum machte sich's der Verf. in seinem ersten Teile so
leicht. In der nahen Zusammenstellung dessen, was er das teilwissen-
schaftliche Denken nennt, mit dem vor wissenschaftlichen, liegt der Ur-
sprung seiner spekulativen Fehlgriffe; jenes muß ganz anders ausgearbeitet
werden, als dieses.) „Denn welcher Gegenstand auch im gemeinen Be-
wußtsein vorkomme, so wendet der Geist doch unwillkürlich die obersten
Grundwesenheiten, wenn auch nur als Gemeinbegriffe, auf diesen Gegen-
stand an." (Hätte es wirklich, psychologisch genommen, mit dem vor-
geblichen Anwenden seine volle Richtigkeit; so dürfte es doch, meta-
physisch betrachtet, bei dem Unwillkürlichen nicht bleiben, sondern die
genauere Nachforschung müßte hier eingreifen.) „Gewöhnlich denkt man
bei dem Namen Deduktion nur an das Verhältnis von Grund und Folge ;
das aber ist nicht genug. Man kann eigentlich nicht sagen, daß bei der
Deduktion etwas aus dem Prinzipe bewiesen wird, wenn man dabei an:
außer denkt; sondern man sagt besser, es werde etwas bewiesen /// dem
Prinzipe, durch das Prinzip.''
Hier müssen wir etwas länger verweilen; denn an diesem Punkte
zeigt sich gerade recht deutlich der Schaden, weichen die Lehre von der
Immanenz in Einem Prinzipe der Spekulation zufügt. Nichts ist bequemer,
als dadurch der faulen Vernunft einen Thron zu erbauen, daß man, um
den Schwierigkeiten der Synthesis a priori zu entschlüpfen, sich auf ein
bloß analytisches Denken beschränkt. Ein solches kommt allerdings nicht
von der Stelle, es geht nicht heraus, sondern beweist innerhalb des Prinzips.
Darum kommt der Verf., wie gleich ihm so viele andere, niemals heraus
und hinweg über die Begriffe, die jedermann kennt. Darum dreht sich
das heutige Philosophieren im Kreise; und wo es diesen zu erweitern
wünscht, wendet es sich an Erfahrung und Geschichte, an ältere Systeme,
I cj) J- F. Herbarts Rezensionen.
an empirische Naturlehre. Darum klagt das Publikum, aus allem Philo-
sophieren lerne man gar wenig; man bleibe so klug als man war. Doch
der Verf. soll uns nicht umsonst mit folgendem Beispiele versorgt haben:
„Der Gegenstand sei der Raum; die Deduktion desselben wird so ge-
leistet : da der Raum eine Form ist, so müßte erst das Wesen deduziert
werden , dessen Form er ist ; dieses ist die Materie oder der Stoff (als
ob beides einerlei wäre!), das ist die Natur, sofern sie das Bleibende ist
(wozu so viele Worte, wenn das alles einerlei ist?); demnach müßte erst
die Natur deduziert sein (früher, als der Stoff?), d. h. es müßte gezeigt
sein, welches die Wesenheit der Natur ist, sofern die Natur in ihrem
Höhern erkannt und bestimmt wird (wäre es doch erkannt!); es müßte
also erkannt sein die reine, nicht sinnliche Idee der Natur, als Teilidee
in der Wesenschauung (vielmehr: es müßte bewiesen werden, daß a priori
die Idee vorhanden, und nicht aus der Erfahrung in jenes allgemeine
Gefäß, genannt Wesenschauung, erst hineingetragen sei); es müßte also
erschaut sein, daß Wesen in sich auch die Natur ist. Wenn also erkannt
wäre, daß — die Natur ein Bleibendes ist, als welches sie die Materie ist
(also die bleibenden Pflanzen- und Tierformen, die festen Unterschiede
der Tiergeschlechter, dieser Typus der Natur, welcher beharrt im Ganzen
wie im Einzelnen, während die Materie assimiliert und ausgeschieden wird,
— dieses Bleibende ist auch Materie!), dann ferner, daß die Natur, wie
alles, eine bestimmte Form hat (die Natur im Ganzen hätte eine be-
stimmte Form? also die Fixsterne bewegen sich nicht, sie stehen wirklich
fest, trotz den Entdeckungen der Astronomen!); und wenn weiter auch
gezeigt wäre, daß diese Form, wie ihr Gehalt, unendlich, stetig, immer
weiter bestimmbar sein müsse: so hätte man — die reine Idee des Raums!"
Wehe uns, wenn der Raum durch solche und so viele Fehlgriffe müßte
gefunden werden; wenn das Kind, und der Hund, und das Pferd, und
die Biene, welche oft besser, als der Mensch im Räume orientiert sind,
auf solche Deduktionen warten sollten! Wehe uns, wenn die vielen, zum
deutlichen Denken höchst notwendigen Analoga des Raums, worauf alle
Ordnung unserer Gedanken beruht (von denen wir anderwärts ausführlich
geredet haben), nicht unendlich viel leichter zu stände kämen, als durch
eine so holprichte Ableitung aus einem leeren, empirischen, durch Schleich-
wege auf einen höhern Punkt hingestellten Begriff der Natur! — Der Raum
ist zu bescheiden, um schlechthin die Form der Natur sein zu wollen; denn
sie hat ganz unräumliche Formen, wodurch sie sich erst mittelbar ihre Räum-
lichkeit zu bestimmen, oder dieselbe wenigstens abzuändern pflegt. Das verrät
sich allemal da, wo aus bloßen Raurabegriffen , etwa aus Kräften, deren
Grundbegriffe sich auf den Raum beziehen, die Natur soll konstruiert werden.
Leere Begriffe von der Materie, als der räumlichen, anziehenden, ab-
stoßenden Substanz, kann man auf die Weise erzeugen, aber daraus ist
noch niemals ein starrer, tropfbarer, ausdehnsamer Körper, wie sie aus
der Erfahrung bekannt sind, - — am wenigsten ein organisch lebender
Körper begriffen worden. Der Raum ist das Bekannteste und Einfachste,
die Natur ist das Geheimnisvollste; und es ziemt sich nicht, das Einfache,
was vor den Füßen liegt, aus dem Unerreichbaren deduzieren zu wollen.
Aber anders stellt sich die Sache, wenn man psychologisch die Vor-
K. Chr. Fr. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie. j^g
Stellungen des räumlich Gestalteten erklären, — und noch ganz anders,
wenn man metaphysisch die 'R.dMra.begriffe zur Auffassung der Materie vor-
bereiten soll, dazu gehört etwas mehr als bloß analytisches Denken. Hier-
von absehend, erinnern wir an Kant, welcher sagte: damit gewisse
Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden, dazu muß die Vor-
stellung des Raums schon zum Grunde liegen. Das war wenigstens be-
lehrender, als von der Anschauung des höchsten Wesens beginnend, die
Natur als bekannt voraussetzend, nun noch die Anweisung zu geben, man
möge von der Natur den Raum entnehmen. Beim Verf. folgt aber nun
gar die Intuition auf die Deduktion, selbst beim Räume. „Mit der
deduktiven Idee ist gar nicht die Anschauung des Raums bereits mit-
gegeben, sondern der Raum wäre ntir erst erkannt nach seiner Wesenheit
in Wesen als innere, untergeordnete Teilwesenheit in der Wesenheit Wesens,
und diese Schauung des Raums wäre nur erst als eine Teilschauung in der
Wesenschauung erkannt. Der Geometer wird sich ohne alle Deduktion be-
wußt, daß der Raum unendlich ist, daß er stetig weiter begrenzbar ist" usw.
Über diese bekanntlich rätselvolle, und in ihren Anwendungen auf die Natur-
lehre vielfach bestrittene Stetigkeit hat der Verf. in diesen Vorlesungen über
die Philosophie, soviel wir bemerkten, weiter nichts zu sagen; er nimmt die
Begriffe, wie er sie findet, und ist zufrieden, sie der Wesenschauung ein-
zuordnen. Darum, weil es ihm an aller eigentlichen Spekulation gebricht,
wird ihm alles überaus leicht. Er fordert ohne Umstände : ,,Der Raum
ist an sich selbst unmittelbar zu schauen; das Licht muß unmittelbar ge-
schaut werden, wie es ist" (mögen doch die Naturforscher den Verf.
fragen, wie das Licht beschaffen ist; hätte Frauenhofer das getan, so
wäre die Mühe erspart worden, die Linien jedes Farbenspektrums zu er-
kennen); „die Natur muß unmittelbar geschaut werden in ihrer indivi-
duellen Erscheinung" (möchte doch der Verf. uns vorläufig nur einmal
die Oberfläche der Sonne erschauen!); „außerdem würde die Deduktion
davon zwar gewiß sein, aber nicht die Anschauung gewähren" (eine solche
Deduktion, wenn sie nur gewiß wäre, möchten wir in Ansehung der so
geheimnisvollen Sonnenflecken uns in Ermangelung der Anschauung wohl
gefallen lassen). Es entspringt nun die dritte Forderung, das Deduzierte
mit demjenigen vereinzuschauen, was intuiert wird. „Wenn in Wesen ge-
schaut, deduziert wäre, daß die oberste Tätigkeit der Natur durch alle
Prozesse hindurchwirkend dieselbe sei, und wenn von der andern Seite
das Licht intuiert wäre, als diejenige Naturkraft, welche sich als die all-
gemeinste erweist ; so wäre hiermit noch nicht erwiesen, daß jene deduzierte
höchste Naturkraft, worin die Natur als ganze wirkt, eben das Licht sei,
welches uns in unmittelbarer Intuition einleuchtet." (Was der Verf. hier
eigentlich sagen will, schimmert durch die einzelnen Verkehrtheiten frei-
lich hindurch ; es ist kurz dies, daß die Naturphilosophie einen synthetischen
und einen analytischen Teil haben muß, und daß ihr Wert nicht größer
ist, als die Wahrscheinlichkeit, daß beide richtig zusammentreffen. Aber
was weiß Kr. Kr. von Wahrscheinlichkeit? Bei ihm ist alles gewiß, denn
er ist in der Wesenschauung. Darum fährt er fort:) „Da mithin die
Deduktion mit der Intuition zusammengebildet, konstruiert werden muß,
um die Erkenntnis zu vollenden; so ist die Schauvereinbildung als die
l6o J- F. Herbarts Rezensionen.
dritte Teilverrichtung der Schaubestimmung grundwesentlich!" — Indessen
der Verf. ist wenigstens persönlich bescheiden; er will nicht sich, — aber
■doch der die Wissenschaft bildenden endlichen Vernunft anmaßen, die
Grundgesetze der Naturverhältnisse zu erforschen. Freilich, Erfahrung,
Beobachtung, Rechnung, Werkzeuge, gehören mit zu jener, die Wissen-
schaft bildenden Vernunft; aber diese gemeinsame Vernunft aller Natur-
forscher und Denker ist neuerlich auf die heilloseste Weise mit sich selbst
entzweit worden, indem die Rodomontaden der sogenannten Naturphilo-
sophen es dahin gebracht haben, daß Mathematiker und Physiker alle
Gemeinschaft mit ihnen fliehen. Das ist eine leidige Tatsache; und den-
jenigen, welche daran schuld sind, hätte längst das Gewissen erwachen
sollen. Ein aufrichtiges Bedauern wandelt den Rez. an, einen so wohl-
denkenden Mann, wie der Verf. oflfenbar ist, so ganz in jenen Spinnen-
geweben verwickelt und verhüllt zu sehen. Mit allgemeiner Bezeichnung
seiner Methode können wir uns nicht länger aufhalten; da die Haupt-
tendenz seines Buchs auf Theologie gerichtet ist, so müssen wir in der-
jenigen Gegend seiner Arbeit, wo er dazu den Grund legt, jetzt uns
genauer umsehen.
Aus unserm bisherigen Berichte wird erhellen, daß ihm alles darauf
ankommen muß, die gegebene Grundschauung des Ich mit der gesuchten
Wesenschauung in zulängliche Verbindung zu setzen. Denn die Wahr-
heitsliebe des Verfs. scheint es ihm bedenklich gemacht zu haben, eine
absolute Idee, welche zwar von einigen behauptet wird, andern aber nicht
einleuchtet, als etwas über allen Zweifel Erhabenes geradezu an die Spitze
zu stellen ; den Unterschied zwischen Wissen und Glauben will er aber
auch nicht zulassen; seine harten Urteile über Kant und Jacobi, die
wir schon anführten, sprechen darüber deutlich genug. Das Mißliche in
dem von ihm erwählten Verfahren ist nun zwar fast ebenso groß als
jenes Vermiedene; denn die Anschauung des Ich ist allen zugänglich,
die Selbsterkenntnis ist längst gepredigt, gesucht, geübt, von allen an-
gesehenen Philosophen mit Anstrengung hervorgehoben; kann sie allein,
ohne künstliche Spekulation, ohne Beihilfe der Naturlehre, zum höchsten
Punkte hinaufleiten, wie konnte ein so leichter Weg jemals verfehlt
werden, und warum ist man nicht allgemein darüber einverstanden? —
Da wir schon im vorhergehenden uns darüber erklärt haben, daß die
Ichheit ein äußerst schweres spekulatives Problem ist, welches Unter-
suchungen herbeiführt, die sich keinesweges einem jeden von selbst dar-
bieten; da wir zugleich die Unbehutsamkeit des Verfs. in diesem Punkte
schon angedeutet haben: so wollen wir ihm hier fürs erste nicht weiter
in den Weg treten. Er hatte am Ich die Kategorien aufgesucht ; und
schließt nun (S. 208) folgendermaßen: ,,Da die Grundanschauung Ich,
als solche, unbedingt gewiß ist; so ist in ihr die Befugnis enthalten, allen
besondern nichtsinnlichen Gedanken, worin das Ich erkennt, was es an
sich und in sich ist, Sachgültigkeit beizumessen; immer unter der Form:
so wahr ich mich weiß als Ich; so wahr ich die Grundanschauung: Ich,
habe. Alles mithin, was weiter in Anschauung des Ich Nichtsinnliches
erkannt wird, zeigt sich als enthalten an und in dieser Teilwesenschauung:
Ich. Wie aber kommen wir dazu, unsern nichtsinnlichen Gedanken von
K, Chr. Fr. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie. i5i
Wesenheiten, die außer dem Ich sind, Gültigkeit beizumessen? Wie ge-
langen wir zu einem allgemeinen Kennzeichen der Wahrheit in Ansehung
der transzendenten Gedanken? Wir dürfen nicht über das hinausgehen,
was wir hierüber in uns selbst im Geiste wahrnehmen. Das Erkennen
ist ein Verhältnis der wesentlichen Vereinigung des Erkannten als Selbst-
ständigen mit dem Erkennenden als Selbständigem. Wenn also behauptet
wird, eine nichtsinnliche Erkenntnis sei wahr, so folgt, das Erkannte sei
mit dem Erkennenden dergestalt vereint, daß der Gegenstand wesenhaft
gegenwärtig sei dem Erkennenden. Wir sind geztvungen , zu denken ein
Wesentliches, woran oder worin die Vereinigung dessen, was außer dem
Ich, und das Ich, enthalten ist; welches also der Grund ist dieser unser
Ich überschreitenden Gedanken. Denn da das Gedachte in diesem Ge-
danken Nicht- Ich ist, so kann also das Ich nicht als Grund dieser Ver-
einigung gedacht werden, indem ein Wesen nur Gnand von dem ist. was
an und in ihm ist. Ja selbst dann, wenn diese nichtsinnlichen Gedanken
von etwas außer dem Ich ganz oder teilweise irrig sein sollten; so kann
das Ich nicht einmal gedacht werden als der Grund des bloßen Ge-
dankens von etwas außer ihm. Zuhöchst gilt das vorhergehende von
dem Gedanken des unendlichen Wesens, welcher gemäß dem Satze des
Grundes nicht anders kann gedacht werden, als daß er verursacht ist
durch seinen Inhalt, durch das Wesen selbst." • — - Hiermit liegt nun die
Gedankenfolge des Verfs. klar genug vor Augen. Er kennt die Schwierig-
keit der causa transiens, aber nicht die der causa immanens. Er macht
sich selbst den Einwurf wegen des Irrtums, der gemäß solcher Lehre ganz
unmöglich sein würde. Er fühlt den Zwang, welchen die geforderte Ver-
einigung des Mannigfaltigen, Endlichen, gegenseitig Fremdartigen, mit sich
bringt. Aber die alte Täuschung der Lehre vom Ich dauert für ihn fort;
es fehlt ihm an Psychologie und Metaphysik zugleich; und ohne Um-
sicht in diesen weitläufigen Wissenschaften ergibt er sich einem höchst
dürftigen und einseitigen Räsonnement, um ein vorgestecktes Ziel zu er-
reichen. Einmal angelangt bei diesem Ziele, vergißt er sehr bald, daß
er es schrittweise erreicht hat. Als ob ihm weder das Ich, noch das
Nicht-Ich, weder die Frage von der Erkennbarkeit des letztern, noch der
Satz des Grundes irgend welche Dienste geleistet hätten, behauptet er
S. 375: alle angebliche mittelbare Beweise vom Dasein Gottes können
nicht dieses, wohl aber Mittel sein, Gottes sich zu erinnern. Man sollte
zwar meinen, an Erinnerungen ließen es die Leiden und Schwächen des
menschlichen Daseins nicht fehlen; auch habe die Kirche dafür gesorgt,
solche Erinnerungen selbst den wenigen, die im Taumel des äußern
Glücks dahin leben, fortwährend zu vergegenwärtigen und einzuprägen.
Alfein Kants Kritik der reinen Verminft sieht im Wege! Darum erinnert
der Verf., wie schon längst andere, an den Anselm von Canterbury, an
Descartes, welche beide es nur darin versehen haben sollen, daß sie die
Form einer syllogistischen Demonstration zu ihren Beweisen wählten. Wir
unsererseits würden vom Verf. verlangen, was bei wichtigen Beweis-
führungen eben nicht gerade zu viel verlangt ist, er möge auch seinen
Vortrag, gleichviel ob Beweis oder Erinnerung, der mehrern Klarheit
wegen in syllogistische Form bringen, damit er gewahr werde, daß sein
Herbarts Werke. XIII. II
l52 J- F. Herbarts Rezensionen.
Fortschreiten von der Grundanschauung des Ich bis zur Wesenschauung
noch an manches erinnere, was er vergessen hat. Er lobt den Spinoza,
für den Satz: substantia est, ctiins essentia iiwolvit existentiam ; und dis-
putiert dennoch gegen den gleichgeltenden Ausdruck des nämlichen Ge-
dankens: Detis causa s?n, indem das Ganze als Ganzes zu sich selbst
nicht im Verhältnisse des Grundes und der Ursache stehe; auch will er
nicht einstimmen, wenn Schelling von dem Grunde in Gott redet;
wenigstens sagt er: „als dieser innere Grund würde die Natur, und alles
Endliche zu denken sein." Aber die Trennung und Wiedervereinigung
der Begriffe von Ursache und Wirkung ist um nichts schlimmer in diesem
Punkte als jene essentia, von welcher gesagt wird, sie involvire, — das
heißt, sie sei der immanente Grund — der Existenz, dergestalt, daß,
wenn jene voraus gedacht werde, dann sogleich die andere folge, und
daß dieses Vorausdenken und unmittelbare Folgen ein richtiger Ausdruck,
eine wahre Erkenntnis des Gegenstandes sei. Der Verf. sehe sein eigenes
Buch an. Schon S. 121 redet er vom unbedingten Wesen mit den
Worten: „Nun sage ich hier nicht, daß ein iinetidliches ^ 7inbedingtes Wesen
da ist, denn es muß erst untersucht zv erden , ob wir zu dieser Behauptung
befugt sind." Er schreibt weiter und weiter bis S. 20g, wo es heißt: „Wir
müssen also gründlich untersuchen, ob wir befugt sind, dem ujibedingten
Gedanken unbedingte Gültigkeit und Wahrheit zuzuerkennen." Was
anders dachte denn der unbedingte Gedanke, außer der Essenz? Was
anders wurde so langsam vorbereitet, als die Anknüpfung der Existenz?
Warum denn sparte jener belobte Satz: essentia involvit existentiam.^ nicht
dem Leser und dem Verf. die vielen Worte und die lange Mühe? Warum?
Weil der Verf. fühlte, daß die getrennten Begriffe sich so kurz und gut
nicht verbinden lassen^ und daß es dem Menschen nicht so leicht wird,
sich mit zwei Worten, mit Machtsprüchen, im Besitze der höchsten Er-
kenntnis festzusetzen. Sonst wäre die lange und breite Rede vom Ich,
die Ausdehnung derselben mit Hilfe der Kategorien, ganz offenbar am
unrechten Orte gewesen. Nur die Substanz hätte müssen erklärt, die
Essenz hätte müssen erläutert werden, um sogleich die Existenz darin zu
zeigen. Aber so geht es den Anhängern des Spinoza. Erst fühlen sie,
daß er nicht genügt, hintennach finden sie, daß sie nicht weiter sind, als
er., und werfen sich ihm in die Arme; denn so ist es am bequemsten.
Hätte Fichte die Untersuchung des Ich richtig geführt, so wäre der
Spinozismus nimmermehr wieder hervorgetreten.
Der Vollständigkeit wegen müssen wir jetzt, nachdem von der
Spekulation des Verfs. wenigstens das Notwendigste ist gesagt worden,
auch noch seine ethischen Begriffe in demjenigen Punkte berühren,
welcher durch die Wesenschauung, wenn es eine solche gäbe, ins Klare
müßte o-esetzt werden, während die bloße Sittenlehre ihn nur als einen
dunkeln Punkt zu bezeichnen vermag; nämlich der Ursprung des Bösen.
Daß es auch hier dem Verf. um nichts besser ergangen ist, als seinen
Vorgängern, springt sogleich in die Augen. Was immer und immer von
neuem versucht wird, das versucht auch er; nämlich den ethischen Be-
griff in einen theoretischen zu verwandeln, und ihn auf diese Weise hin-
wegzuspülen, wovon allemal die Folge ist, daß er nachmals desto härter
K. Chr. Fr. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie. 163
hervortritt. Wir lesen S. 519 folgendes: „Durch die zugleich und ver-
eint aller endlichen Wesen Leben betreffende Lebgliedbau- Beschränkung
ist in Wesen die Möglichkeit davon begründet, daß jedes Endliche auch
an seines Lebens bejahiger Wesenheit die diese Wesenheit ewigwesentlich
verneinende Verneintheit vorübergehend darlebe." (Man bemerke hier
gleich die angenommene, leidige Naturnotwendigkeit, welche sogar eine
ewigioesenÜiche genannt, und auf eine Möglichkeit zurückgeführt wird, die
in Wesen begründet sei!) „Unter dem Bedingnis jedoch, daß diese, seine
ewige Wesenheit verneinende, Verneintheit selbst wiederum verneint werde."
(Schlimm genug, wenn die Bejahung in Wahrheit erst aus doppelter Ver-
neinung sich wieder zusammensetzen müßte! Etwa so wie im Staate, wo
man straft, weil man die Verbrechen nicht hindern kann!) „Für das
Wesenwidrige finden wir in der Volkssprache die Wörter übel und schlecht-^
der wesenwidrige Wille heißt böse; das Übel also begreift das Böse mit
in sich ; und zwar als das oberste und innerste Übel der endlichen Wesen.
Da nun, der Vollwesenheit Wesens zufolge, alles, was lebmöglich ist,
auch dem Lebgesetze gemäß zeitwirklich ist, so ist auch in der Einen
unendlichen Gegenwart an einem Teile des Endlichen der Gliedbau des
zeitmöglichen Wesenwidrigen vollständig lebwirklich; zugleich aber auch
an einem andern Teile des Endlichen vollständig verneint und aufgehoben.^
— so daß alle endliche Wesen gleichförmig die Weltbeschränkung erfahren,
und (man höre!) von selbiger imabhängig sind!.'!" — In diesem Augen-
blicke schwebt uns eine Landkarte eines ganzen Weltteils vor; wir er-
blicken in Gedanken zwei Hauptstädte, in der einen auf dem Throne einen
höchst ehrwürdigen Monarchen, in der andern einen Tyrannen. Wir
fragen uns: lebt dieser letztere etwa darum, weil es nach den Worten
des Dichters auch solche Käuze geben muß7 Und ist jener Treffliche,
der Wohltäter seines Landes, etwa darum da, weil das Wesenwidrige des
andern aufgehoben werden muß? Was gewinnen denn die Unglücklichen,
welche unter dem Drucke des Tyrannen seufzen, durch diese Aufhebung?
Wo ist nun die Gleichförmigkeit der Weltbeschränkung, und wo ist die
Unabhängigkeit? Das will uns der Verf. ein andermal lehren, denn gerade
in der Note zu dieser Stelle verspricht er, eine Philosophie der Geschichte
zu schreiben, worin von unendlich vielen, wiederkehrenden Zeitkreisen soll
gehandelt werden; — vermutlich zum Tröste jener gemarterten Nation,
die leider kein Deutsch versteht und des Verfs. Schriften nicht lesen wird.
Um ernsthaft zu sprechen, wollen wir hinzufügen, daß wir dem Verf.
nicht bloß eine gute Gesinnung, sondern auch dasjenige zutrauen, was
man gesunden Menschenverstand zu nennen pflegt; wir wollen ferner be-
kennen, aus eigener vieljährigen Erfahrung wohl zu wissen, wie schwer
es hält, diejenige Besonnenheit an das Gewöhnliche und Bekannte, welche
durch jenen Ausdruck bezeichnet wird, mitten in abstrakten Spekulationen
aufrecht zu halten. Allein wenn das nicht geschieht, so gibt nicht bloß
der einzelne sich mißfälligen Urteilen preis, sondern die Philosophie selbst
muß in der öffentlichen Meinung unfehlbar sinken. Darum ist es nicht
Privatsache, wie jemand über die Geschichte zu philosophieren beliebe,
wenn er nämlich als Schriftsteller auftritt, sondern man darf bitten, daß
besonders dann, wenn von Geschichte die Rede sein soll, auf das Urteil
jener klugen Männer Rücksicht genommen werde, welche dieser iiicht
164 J> F. Herbarts Rezensionen.
spekulativen Wissenschaft kundig sind, damit bei ihnen die Philosophie in
Ehren bleiben könne.
Oben erwähnten wir zweier kritischen Fragen; was die nach der
spekulativen Baukunst des Verfs. anlangt, insofern dadurch der Religions-
lehre eine Unterlage soll geschafft werden, die fester und zuverlässiger
sei, als irgend eine frühere, so glauben wir dem prüfenden Leser nun
Stoff genug herbeigeschafft zu haben, um dieselbe nach eigenem Urteile
zu beantworten. Die andere, ob eine Wesenschauung von so streng
dogmatischer Art mit der religiösen Demut zusammenpasse, — ob der
Erdenbürger wohl tue, sich einzubilden, er wohne in der Sonne und über-
schaue das Planetensystem aus dem Mittelpunkte, — ob das Unbegreifliche
dadurch erhabener, erbaulicher wird, wenn man unternimmt, es mit Be-
griffen zu umspannen: diese Fragen möchten wir wohl manchem ans
Herz legen, allein es ist mißlich^ darüber zu disputieren. W. Scott
schildert eine Scene, wo ein paar Geistliche von verschiedenen Sekten
zugleich in Gefangenschaft geraten; kaum haben sie einander als alte
teure Jugendfreunde erkannt, so entbrennt auch unter beiden der theo-
logische Zank, und wird von den Mitgefangenen mit Mühe beschwichtigt.
Während sie nun still grollend da sitzen, kommt die Botschaft, man
möge sich zum Tode bereiten, denn die Stunde der Hinrichtung sei nahe.
Jetzt erwacht das Gefühl; die Geistlichen umarmen sich, sie verzeihen
und erbitten Verzeihung der frühern harten Reden. Es scheint dem Rez.
nicht, daß hiervon auf bloß spekulativen Streit eine Anwendung könne
gemacht werden; denn dieser läßt die Person des Gegners unangetastet;
er läßt demselben auch als Gelehrten in der gelehrten Welt seinen Platz.
Allein was das Verhältnis der theologischen Meinung zur religiösen Ge-
sinnung anlangt, so ermahnt ein so höchst zarter Gegenstand, daß es
am besten sei, sich schweigend in den Respekt zurückzuziehen, welchen
man den Religionsansichten eines jeden ernsten und denkenden Mannes
schuldig ist.
Schubarth, Dr. K. E., und Carganico, Dr. K. A., i. Über Seyn,
Nichts und Werden. Einige Zweifel an der Lehre des
Herrn Prof. Hegel. — Berlin, Posen und Bromberg, bei Mittler,
1829. 24 S. 8 0. (4 Gr.)
2. Brief gegen die Hegel'sche Encyclopädie der philosophischen
Wissenschaften. Erstes Heft. Vom Standpunkte der Ency-
clopädie und der Philosophie. — Ebendas. bei Enslin, 1829.
IV u. 94 S. 8 0. (10 Gr.)
3. Über Philosophie überhaupt und Hegel's Encyclopädie der
philosophischen Wissenschaften insbesondere. Ein Beitrag
zur Beurtheilung der letzten. Ebend. bei Enslin, 1829. VIII u.
222 S. 8 0. (2 Thlr. 6 Gr.)
Gedruckt in: Jenaer Literatur-Zeitiing 1830, Nr. 178. SW. XIII, S. 573.
Man weiß längst, daß philosophischer Irrtum oftmals achtungswert
und belehrend gefunden wird, wenn dessen Quellen und Fortschritte sorg-
Dr. K. E. Schubarth u. Dr. K. A. Carganico: Über Sein, Nichts und Werden. 165
fältig erforscht sind. Aber es fällt ins Sonderbare, wenn falsche Theorien,
die vom gemeinen Verstände viel zu weit entfernt liegen, um eine prak-
tische Wichtigkeit zu erlangen, mit Unkunde ihres historischen Zusammen-
hanges, oder gar mit Eifer wegen eingebildeter Folgen angegriffen werden.
Hegels Lehre hat Bedeutung für die Metaphysik, insofern sie gewisse
rein - spekulative Untersuchungen über die Formen der Erfahrung zwar
nicht selbst enthält, aber deren Bedürfnis gerade durch den Irrtum fühlbar
macht. Sprächen nun die Gegner: Diese Lehre ist handgreiflich falsch,
und nur darum gefällt sie den Liebhabern des Ungemeinen: so würden
wir ihnen nicht ganz unsere Beistimmung versagen. Oder sprächen sie:
Diese Lehre nähert sich der alten Scholastik; und dadurch gewinnt sie
den Schein, vergrabenes Gold wieder ans Licht zu bringen: so würden
sie einen vielleicht nützlichen Wink geben. Sprächen sie endlich: Diese
Lehre läßt die Erfahrungsbegriffe so roh, wie sie gegeben werden, und
daher kommt das Vorurteil, als würde sie von der Erfahrung bestätigt:
so würden wir ihnen bezeugen, daß sie gerade das Rechte getroffen
hätten; welches hier um so mehr das Wesentliche ist, weil die Hegeische
Philosophie die Meinung erregt hat, als schwebe sie hoch über aller Er-
fahrung. Was tun denn die drei hier vorgeführten Gegner? Zwei kommen
mit veralteten Waffen; der dritte ereifert sich nicht bloß gegen Hegeln,
sondern gegen die Philosophie selbst. Wer so angegriffen wird, der mag
ruhig sein; vorausgesetzt, daß er nicht selbst seine Sache verderbe.
Nr. I hat beim ersten Stück den Rez. an ein altes, artiges INIärchen
erinnert. Am Vermählungstage einer schönen Prinzessin kommt ein böser
Zauber, der nicht bloß sie selbst, sondern alles um sie her in den tiefsten
Schlaf begräbt; selbst das Feuer auf dem Herde schläft ein. Nach
fünfzig Jahren löset sich der Zauber; nicht bloß Prinz und Prinzessin
finden einander jung und schön, sondern alles steht bereit; die erstarrten
Flammen lodern; die Bratenwender drehen sich; Schmaus und Tanz be-
ginnen, als ob keine Zeit verffossen wäre. Schade, daß kein solcher all-
gemeiner Schlaf demjenigen Schriftsteller zu Hilfe kommt, der einige
Dezennien hindurch versäumte, mit der Zeit fortzugehen; und der nun-
mehr erwachend meint, was se puero gegolten habe, das könne er auch
heute noch als zugestanden voraussetzen. Der Verf. der zuerst angezeigten
wenigen, bescheidentlich zweifelnden Blätter läßt sich gleich anfangs also
vernehmen: „Das System gibt, hoff"e ich, zu, daß, was wir denken, ent-
weder a posteriori oder a priori uns gegeben sei, und daß wir a priori
jene beiden reinen Anschauungen und jene zwölf Kantischen Kategorien
haben. Die Forderung, sie hätte deduziert werden sollen, scheint mir
einen Widerspruch zu enthalten, weil Kategorien die obersten Begriff'e
heißen. Unser Verstand ist an diese Kategorien gebunden" usw. Hegel
soll sich nun gefallen lassen, daß man das reine Sein, womit er beginnt,
unter den Kategorien aufsuche; er mag wählen, ob er die Realität oder
die Wirklichkeit für sich passend finde. Ferner wird eines berühmten
Schlusses erwähnt: ,,Ich bin Ich, also ich bin," welcher sogenannte Schluß
auf einen Traum schließen läßt, worin dem Verf. ein Hörensagen von
Fichtescher Lehre wieder vorschwebte. Weiter wird vermutet, in dem
reinen Sein verstecke sich ein unbekanntes Etwas; und die Vermutung
l56 J- F. Herbarts Rezensionen.
schreitet fort zu dem Verdacht, dieses Etwas möge wohl der leere Raum
sein, „Wenn wir alles aus unseren Vorstellungen entfernen sollen, so
bleibt doch zurück, was wir nicht entfernen können, und das ist der
Raum." Man sieht: der Verf. hat seine Kritik der reinen Vernunft noch
gut im Kopfe! Übrigens verweisen wir ihn der Kürze wegen auf Hrn.
Hofrat Wendts neueste Ausgabe des Tennemannschen Grundrisses der
Geschichte der Philosophie. Dort werden sich gegen das Ende wohl
einige Titel von Büchern finden, die der Verf. noch nicht gelesen hat,
weil sie nicht ganz so alt sind, als die Vernunftkritik. Verlangt der Verf.
etwas mehr, so wollen wir ihm ausdrücklich zugeben, daß sein Nachdenken
über Hegels Lehre dort auf die rechte Spur gerät, wo er sagt: „Freilich
wohl, wo ein Ding im Werden begriffen ist, da möchte man im uneigent-
lichen Sinne sagen, es sei und sei auch nicht; Sein und Nichtsein ver-
einigten sich hier." Sogleich aber verliert er die Spur, indem er das
Werden zerreißt und hinzusetzt: „Der Teil des werdenden Dinges, der
schon geworden ist, ist doch nun auch wirklich; und der Teil, der noch
nicht geworden ist, ist doch wirklich noch nicht." Aber der zweite Teil
wird aus dem ersten. Auf diesen Übergang kommt alles an! Kann der
Verf. diesen Übergang nicht fassen, so hat er ganz recht; und zwar recht
gegen Hegeln. Andrerseits aber wird Hegel noch lange scheinen, die
Wahrheit getroffen zu haben, weil — die Erfahrung es ist, die uns das
Werdende vor Augen stellt, und weil keinerlei Kategorienlehre uns darüber
zu trösten vermag. Weiter können wir uns hier nicht einlassen.
Der Briefsteller in Nr. 2 ist nicht bloß so aufrichtig, dem Leser
schon auf dem Titelblatte zu verstehen zu geben, er schreibe vielmehr
gegen als an jemanden, sondern auch so pünktlich in seinen Angaben,
daß gleich die dritte Zeile der Vorrede hinzufügt, für die Sache der
Philosophie seien diese Briefe bekannt gemacht, während Hegels Ency-
klopädie ihnen nur ein vorübergehendes Interesse verleihen möchte (!).
„Wozu das Neue — Sie kennen ja die Sprache der Bequemlichkeit, die
gern am Alten festhält — , und nun gar eine neueste Philosophie! indes die
Entdeckungen der Kantischen Kritik noch in aller ihrer Neuheit vorliegen,
geplündert war — aber unbenutzt, und mißverstanden selbst von ihren
geistreicheren Bearbeitern, oder wo ein tieferes Verständnis Ernst mit ihnen
machte, angefeindet sogar und durch die seltsamsten Mißdeutungen be-
seitigt." Weiter ist vom „gütigen Zutrauen" des Empfängers die Rede,
daß dem Verf. nach mehjährige?! Bemühungen die nötigen ,, Vordersätze"
nicht fehlen; die Bescheidenheit ist so überaus groß, auf „Sicherheit, in
der ^^Subsumtion des einzelnen Falles gleich mit dem ersten Schlage den Nagel
auf den Kopf zu treffen^-'- doch lieber nicht Anspruch zu machen. Sollen
wir dem Verf. kurz sagen, daß wir an dieser Einbildung von Vorder-
sätzen und Subsumtionen bei einem Kantianer, dem die Vernunftkritik
noch in aller Neuheit vorliegt, schon völlig genug haben? — Wir sammeln
noch für einen Augenblick Geduld: in Rücksicht auf die „zerstreuenden
Berufsgeschäfte" eines Mannes, der freilich besser täte, auf die zu hören,
deren Beruf nun gerade die Kultur der Philosophie selbst ist. Noch
mehr! Wir wollen ihm zugeben, daß man bei Hegeln „anfangen müsse,
ohne zu wissen^ wie, wo, und womit man anfange7i solle;'-'- nämlich wenn
Dr. K. E. Schubarth u. Dr. K, A. Carganico : Über Sein, Nichts und Werden. 167
die nötigen historischen Vorkenntnisse fehlen, um zu begreifen, wie Hegel
auf sein System kam; und, was wesentlich damit verbunden sein muß,
die nötigen Kenntnisse der Probleme, welche von jeher der Metaphysik
das Dasein gaben; namentlich auch derjenigen Leibnizisch - Wolffischen
Metaphysik, die von Kant kritisiert wurde, und welche eben deshalb zu
Kants Kritiken den Schlüssel enthält. Wer diese Probleme nicht kennt,
der versteht weder Kant noch Hegel; wer sie kennt, der muß, zum
Zeichen dieser Kenntnis, sich über das Wesentliche des letzten, wie des
ersten, nicht wundern. Als Kant wirklich neu war, in den letzten De-
zennien des vorigen Jahrhunderts, da wurde er von Unwissenden gerade
so sehr angestaunt und angefeindet, als jetzt Hegel. In der Form von
Gegensätzen gibt der Verf. von seinem eigenen Philosophieren folgende
Proben: „Das philosophische, wie jedes andere, ist auch als Wissen vom
Unendlichen ein endliches Wissen; weil die Vernunft, indem sie sich selbst
erkennt, darin als ein Subjektives sich selbst objektiv als Gegenstand, und
somit als endlich gegeben, voraussetzt. Die Vernunft ist als Bewußtsein
Gegenstand ihrer selbst, und als Gegenstand notwendig ein Endliches;
aber in der Philosophie als endlich, und darum unter Voraussetzung des
Unendlichen. Vielleicht aber besitzt die Encyklopädie das Geheimnis,
vom Unendlichen zu sprechen auf endliche Weise? Vom ganzen Uni-
versum wird sie Ihnen (dem Empfänger der Briefe) nichts berichten, als
was und wie sie es weiß; und nichts wissen, als dessen sie sich, und in-
sofern sie sich dessen selbst bewußt wird. — Wie durch die Philosophie,
als Wissen vom Unendlichen, das Endliche nicht unendlich, aber aus devi
Unendlichen begriffen wird (!): so wird auch durch sie als Wissenschaft
der Freiheit (???) die Abhängigkeit des Wissens von der Naturnotwendig-
keit nicht aufgehoben, aber erkannt aus dem Gesetz seines Wesens und
erklärt aus seinem höheren Grunde." Die Philosophie endet, indem sie
das, was sie selbst auf dem theoretischen Standpunkte ist, die reflektierende
Freiheit, als negativ erkennt, mit Hinweisung auf die positive Freiheit
des praktischen Standpunkts, als auf ein Soll, zu welchem das Ist nicht
unmittelbar gegeben oder erfunden, sondern — (wie nun ?) unter den ge-
gebenen Bedingungen allein durch Übung und Überwindung von allen auf
gleiche Weise erworben wird." — Rez. würde doch einer theoretischen
Philosophie, die sich selbst für eine reflektierende Freiheit erkennt, unmaß-
geblich raten, nichts weiter drucken zu lassen, sondern sich überzeugt zu
halten, daß in der Sphäre der reflektierenden Freiheit der Spruch gilt, ivieviel
Köpfe, soviel Sifine. Die Mühe des Abschreibens aber wendet Rez.^ lieber
auf eine Note von Kant in dessen Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten, beinahe im Anfang des dritten Abschnitts, die folgendermaßen
lautet: „Den Weg, die Freiheit nur, als von vernünftigen Wesen bei ihren
Handlungen bloß in der Idee zum Grunde gelegt, zu unserer Absicht hin-
reichend anzunehmen, schlage ich deswegen ein, damit ich mich nicht
verbindlich machen dürfe, die Freiheit auch in ihrer theoretischen Absicht
zu beweisen. Denn wenn dies letzte auch unausgemacht gelassen wird,
so gelten doch dieselben Gesetze für ein Wesen, das nicht anders als
unter der Idee seiner eigenen Freiheit handeln kann, die ein Wesen, das
wirklich frei wäre, verbinden würden. Wir kötmen uns also hier von der
l58 J« F- Herbarts Rezensionen.
Last befreien^ welche die Iheorie drückt."' Diese goldenen Worte Kants
kann man denen, die von einer Wissenschaft der Freiheit plaudern, nicht
oft genug wiederholen; freilich aber bleibt ihnen selbst überlassen, ob sie
dieselben sich einprägen und gehörig benutzen wollen. Denn ihrer re-
flektierenden Freiheit Grenzen vorzuschreiben, ist allerdings niemand be-
rechtigt.
Die Philosophie kann sich weit eher gefallen lassen, daß so, wie in
Nr. 3, mit Geist und gebildetem Ausdruck gegen sie, als so, wie in jenen
ungehobelten Briefen, für sie gesprochen werde. Der beiden Herren aber,
die auf dem Titel sich genannt haben, scheint doch ein dritter Freund
zu fehlen, der ihnen möchte geraten haben, diesmal anonym zu bleiben.
Denn am Ende wird ein Unternehmen, das nicht viel klüger ist, als ob
man den Mond zur Erde herabziehen wollte, immer nicht viel Ruhm ein-
bringen, wieviel Kunst und Kraft man auch dabei offenbare. Den Unmut,
welchen ein falsches System allemal verursacht, während der Mühe, die
man daran wenden muß, um es zu verstehen, gegen die Philosophie selbst
ausbrechen lassen, ist eine offenbare Schwäche, gleich jeder Ungeduld über
Dinge, die nicht zu ändern sind. Die Philosophie hat sich seit ein paar
Jahrtausenden unter so vielen Stürmen erhalten, daß sie recht füglich
einige gegen sie geschriebene Blätter völlig ignorieren kann. Und was
für die Verf. am schlimmsten ist, sie haben es dem Rez. überaus leicht
gemacht, die falsche Voraussetzung, worauf sie bauen, mit zwei Worten
anzuzeigen. Diese zwei Worte heißen: Allheit und Absolutheit. In einer
sehr genauen Inhalts-Anzeige steht unter Nr. 4 wörtlich folgendes : „Findung
des philosophischen Standpunkts, und allgemeine Bezeichnung des von ihm
ausgehenden Strebens, als des auf eine Allheit und Absolutheit gerichteten."
Nun ist es aber falsch, daß hierauf das Streben der Philosophie gerichtet
sei. Die Verf. stehen mitten in dem Nebel, den sie wegblasen wollen.
Sie sind Hegelianer, ohne es zu wollen, sie sehen alles durch ein Glas,
weil sie von Philosophie eben nichts anderes kennen, und ein paar Systeme
mit dem Wesen der Wissenschaft verwechseln. Hegel ist ihnen der
Philosoph par excellence, wie die Vorrede ausdrücklich bekennt. Ein
schlechtes Zeichen für die Gelehrsamkeit der Herren! Sie sollten doch
wissen, daß Hegel nur der Nachklang von Schelling ist; daß Schelling
in sehr jungen Jahren von Fichte fortgerissen wurde; daß Fichte zu
einer Zeit allgemeiner, sehr ungewöhnlicher Aufregung, also gar nicht in
einem Zeitalter philosophischer Ruhe, wohl aber des philosophischen
Enthusiasmus, sich in ein Wagstück einließ, das er niemals endigte, noch
endigen konnte; sie sollten wissen, daß im Gefühl der Unmöglichkeit, mit
reinem Idealismus fertig zu werden, Spinoza, der nichts helfen, sondern
nur verderben konnte, späterhin höchst tumultuarisch zu Hilfe gerufen
wurde; sie sollten wissen, daß hierdurch scheinbare Befriedigung eines ur-
sprünglich ganz fremdartigen Bestrebens entstand, nämlich des von Reinhold
angeregten Strebens nach Einem ersten Grundsatze der gesamten Philo-
sophie, der jedoch weder Allheit noch Absolutheit auszudrücken be-
absichtigte, sondern bloß als unbestreitbarer Anknüpfungspunkt für die
Lehrform gesucht wurde, welche der damals herrschenden Kantischen
Philosophie allgemeine Überzeugungskraft verschaffen sollte. Wer diesen
Dr. K. E. Schubarth u. Dr. K. A. Carganico : Über Sein, Nichts und Werden. 169
historischen Ursprung und Zusammenhang entweder nicht vor Augen hat,
oder mit eigener Meinung darin befangen ist, der vermag nicht über
irgend eines der neueren Systeme ein richtiges Urteil zu fällen. Die
Philosophie selbst ist bekanntlich weit älter. Das Altertum schon besaß
Logik und Ethik ziemlich vollständig; es besaß von der Metaphysik
wenigstens die Kenntnis Eines Hauptproblems von der Veränderung.
Was sollen wir weiter ins Einzelne gehen? Wäre die Polemik der Verf.
gegen die Philosophie aus dem Innern derselben entnommen, so könnte
dieselbe einiges Interesse haben; aber ihre Unkunde verrät sich nicht
bloß S. 123 — 126, wo von einer „Kluft zwischen Kant und Hegeln",
von FiCHTES „Rettung der Philosophie ihrer Form nach" usw. gar seltsame
Dinge vorkommen, — sondern auch durch den Aufwand von Kräften,
die sie von at(ßen her in Bewegung setzen. Kunst, Wissenschaft, Religion
und Staat werden aufgeboten, um gegen die Philosophie zu zeugen, und
dieselbe zu einem großen index falsi, einem ausgebildeten pathologischen
Geistesphänomen herabzuwürdigen. Die Verf. können hier eine Art von
Entschuldigung, — jedoch nur unter Voraussetzung ihres Irrtums und ihrer
Unkunde — darin finden, daß Schelling und Hegel allerdings mit
Ansprüchen in Ansehung der Kunst, der Wissenschaften, der Religion
und des Staats aufgetreten sind, welche zu verantworten zwar ihnen, aber
nicht der Philosophie obliegt. Ebenso haben die Verf. es ihrerseits zu
vertreten, daß sie (um doch ihre Philosophie, die zwar nicht Philosophie
heißen will, an einer kleinen Probe zu zeigen) die Hauptlehre des Christen-
tums in folgender Manier auslegen: ,,Der Vater, Gott in seinem universellen,
kosmischen Verhältnisse werde nicht erkannt ohne den Sohn — ohne
Gott in seiner zur Menschheit gesetzten und aus dieser entwickelten
Totalbeziehung — , und zwar werde er nur mittelst des Geistes erkannt,
der vom Sohn und Vater zugleich ausgehend, die Vermittlung dieses
Verhältnisses an sich und für den Menschen bewirke, und so seine Wahrheit
begründe." „Wäre nämlich (heißt es weiter) diese Vermittlung nicht
durch den Geist, und zwar den höchsten, göttlichen Geist, und wiederum
für den Geist, als Geist des Menschen, sondern eine bloß sinnliche; so
würde die Wahrheit diesen Beziehungen fehlen, wie es z. B. in allen den
Religionen der Fall ist, denen der Begriff einer Incarnation des Göttlichen
zwar sonst nicht fremd ist, welche dies jedoch bloß als sinnliches Macht-
verhältnis Gottes darstellen, oder eine Entzügelung der Phantasie und
wahrer geistiger Verhältnisse damit beabsichtigen, wie z. B. die indische
Lehre. — Innerhalb der Grenzen der menschlichen Natur die vollkommene
Erscheinung des Göttlichen hervorzubringen, ist der hohe Zweck des Christen-
tums. Wenn es nun hiernach das Erdendasein des Menschen erst er-
hoben und verklärt hat, so wird doch hiermit das Leben nicht als eine
Allheit gesetzt, sondern, wie der wSohn das ewige Wesen des Vaters nicht
verdecken, sondern heranführen soll, wie der Vater in der Herrlichkeit
seines Sohnes nicht verschwinden, sondern durch dieselbe recht offenbar
werden soll: so gesellt sich in der christlichen Verklärung des Lebens, als
einer seligen Totalität auf Erden, die Idee der Unsterblichkeit hinzu; die
Aussicht in die unendliche Ferne soll nicht benommen werden" usw. Dies
hängt mit Klagen über Hegeln zusammen; er habe nämlich über den
I^o J- F. Herbarts Rezensionen.
Tod eine unzureichende Erklärung gegeben; ein Vorwurf, der hier als
Probe einer Kritik dienen mag, wie sie wirklich von solchen, die nicht
Philosophen vom Fache sind, über philosophische Systeme zu ergehen
pflegt. Denn diese fangen mit einer Kritik in praktischer Hinsicht an,
als ob das die Hauptsache wäre, und sie fallen auch dann wieder dahin
zurück, wenn sie schon die theoretische Kritik versprochen haben. Es
lohnt nicht, das an dem vorliegenden Buche ausführlich nachzuweisen;
aber bei dieser Gelegenheit mag wohl daran erinnert werden, daß philo-
sophische Kritik in ihrem Hauptteil allemal theoretisch ist, und zwar aus
drei Gründen. Erstlich: in den Augen der wahren Denker fallen praktisch
schädliche Sätze von selbst, sobald die theoretischen Stützen weggenommen
sind. Zweitens vermeidet auf diesem Wege die Widerlegung das Ge-
hässige einer Anklage, und der Disput die ungebührliche Hitze des Streits;
und drittens führt die von den Verf. erwähnte Manier allemal den Ver-
dacht eines Bewußtseins von Schwäche und von mangelndem Beruf zur
Widerlegung und zur Anklage bei sich. Das sei den Herren von einem
Gegner Hegels gesagt!
Metz, Andreas, Prof, der Philosophie in Würzburg, Ueber den B!e-
griff der Naturphilosophie; oder die Frage: Was hat die
Philosophie zu leisten, um in Wahrheit sich Naturphilo-
sophie nennen zu können? verbunden mit der Frage:
Welchen Werth hat die Naturphilosophie sowohl über-
haupt, als insbesondere für die Medicin? Aus den Jahr-
büchern der philo s. medic. Gesellsch. zu Würzburg besonders
abgedruckt. — Würzburg, bei Strecker, 1829. 52 S. 8<^. (6 Gr.).
Gedruckt in: Jenaer Literatur-Zeitung 1830, Nr. 178. SW. XIII, S. 581.
Ein vielversprechender Titel für eine kleine Abhandlung! Man sollte
denken, der Raum in dem Büchlein sei sorgfältig gespart für so viele,
teils negative, teils positive Sätze, die nötig sind, um über einen der-
gestalt streitigen Gegenstand, wie die Naturphilosophie es ist, das Zeit-
alter zu belehren. Ein Chaos von hypothetischen Kräften ist zu ordnen;
die Erscheinung von Stoffen, die man durch Eigenschaften beschreiben
will, ist zu erklären; die Vorliebe für die ins Unendliche vervielfältigten
Polaritäten ist in ihre Schranken zurückzuweisen; die Kräfte dürfen weder
selbständig auftreten, noch an die Stoffe angeklebt werden; aus den Ver-
hältnissen der Elemente müssen die vermeinten Kräfte dergestalt begreiflich
werden, daß ihre Unterschiede bestimmt hervortreten, daß man aus leeren
Allgemeinheiten herauskomme, daß man die Erfahrung genau mit der
Theorie vergleichen könne, ohne Erscheinungen mit dem Realen zu ver-
wechseln. Insbesondere müssen die Ärzte gewarnt werden, nicht eher
vom Leben zu reden, als bis sie wissen, was Materie ist; bis sie ferner
den Unterschied des starren vom flüssigen Körper nicht bloß durch
Namenerklärung zu bezeichnen, sondern ihn vom ersten Grunde aus ein-
Joh. Chr. A. Heinroth : Über die Hypothese der Materie usw. 171
zusehen vermögen ; denn sonst können sie ja von dem zv^^ischen Starr-
heit und Flüssigkeit stets schwebenden, sich vorwärts und rückwärts
bildenden, belebten Organismus nichts wissen, das ihn von einer Leiche
gründlich unterscheide, die sich unverändert erhält, wenn sie von der
Frostkälte zu einem starren Körper gemacht ist.
Ein langer Eingang zu einer kurzen Rezension? Er soll bloß dienen,
dasjenige ungefähr anzudeuten, was in dem vorliegenden Büchlein nicht steht.
Wohl aber finden wir Hrn. Prof. Metz gleich anfangs bei der psychischen
Anthropologie; wir finden ihn weiterhin bei der Platonischen ^iva^-iic,
noXixiv.i], die mit der Philosophie zusammenfallen soll; noch weiter zwar
bei ScHELLiNG, aber bei dessen Theologie anstatt bei seiner Naturphilo-
sophie; und nun kommt die Hauptsache: die Kategorien der Relation
und der Modalität! Dann wendet sich Hr. Prof. Metz in wenigen Worten
an die Ärzte, und insbesondere an Hrn. Heusinger. In einer Note er-
klärt sich derselbe geg^n die moderne Meinung, als müsse Mathematik
schon auf dem Gymnasium gelehrt werden. Um nun doch über eine
Schrift, worin die Gegenstände des Titels recht sorgfältig vermieden sind,
wenigstens etwas zu sagen, so könnte Rez. zuvörderst amtlich bezeugen,
daß es preußische Gymnasien gibt, worin Mathematik gelehrt wird, aber
nicht in einem ^^Feizenvorirage" ] einem neuen Worte des Verfs. ! Zweitens
ist zu erinnern, daß empirische Psychologie, „nach uns psychische Anthro-
pologie" (wir meinten doch bisher: nach Schulz und Fries!) — zwar
spekulative Probleme genug aufgibt^ aber kein einziges aufzulösen vermag.
Heinroth, Joh. Christian, August, Professor der psychischen Heilkunde
auf der Universität zu Leipzig; Arzt am Zucht-, Waisen- und Ver-
sorgungshause zu St. Georgen daselbst, mehr. gel. Gesellschaften
correspond. Mitgliede, Über die Hypothese der Materie und
ihren Einfluß auf Wissenschaft und Leben. — Leipzig, bei
Hartmann 1825. IV und 226 S. (i Rthlr. 4 Gr.)
Gedruckt in: Hallische Literatur-Zeitung 1830, Nr. 50 — 53. SW. XIII, S. 582.
Wahrhaft merkwürdig ist der Wechsel des literarischen Schicksals,
welchen der Verf. des angezeigten Buches im Laufe weniger Jahre er-
fahren hat. Noch vor kurzem wurde er hochgepriesen, als ein genialer
Denker, als ein Hauptschriftsteller im Fache der Psychologie, besonders
in Beziehung auf Geisteszerrüttung; und nichts war natürlicher, als daß
von ihm ein Buch nach dem andern erschien. Und jetzt — die Un-
gunst medizinischer Journale ist es nicht allein, die ihn trifft, sondern so-
gar ein medizinisch - gerichtliches Gutachten mit höherer Genehmigung
herausgegeben, weiset seine Ansprüche zurück, die nichts minderes be-
zweckten, als das ärztliche Verfahren bei kriminalgerichtlichen Unter-
suchungen zu reformieren. Man vermißt bei ihm eigene Erfahrungen aus
dem Gebiete der Psychiatrie; man vermutet große Befangenheit; man
findet seine Behauptungen in offenem Streite mit dem bewährten
172 J- F. Herbarts Rezensionen.
Verfahren der besten Ärzte. Fragen wir, worin der Grund seines Irr-
tums liege, so antwortet uns eine der gelesensten Zeitschriften in den
härtesten Ausdrücken, indem sie von einem übelwollenden Zeitgeist der
Finsternis, von Verirrungen spricht, wovon der Himmel die Gerichtshöfe
bewahren möge; und als der Hauptpunkt wird Hs. Satz hervorgehoben:
nie werde die Unschuld wahnsinnige sondern nur die Schidd! Die Sünde,
die moralische Entartung soll die innere Bedingung jeder Seelenstörung
und diese demnach die Wirkung und Folge von Verbrechen sein. Wo
bleibt nun (so fragt man) der Unterschied zwischen Immoralität und
Geisteskrankheit? — Aber indem wir uns tiefer nach den Gründen der
Heinrothschen Meinungen erkundigen, nennt man uns die beiden bekannten
Sätze: durch die Ver7iunft ist der Mejisch frei und: in dem Metischen ist ein
Hang zum Bösen. Und nun verwundert man sich — in der Tat etwas
zu laut — über den zweiten dieser Sätze, welchen Herr H. gerade eben-
sowenig erfunden hat, als den ersten ; sie sind vielmehr beide uralt und
doch beide keineswegs veraltet; denn Kant ist es, der sie unter uns im
philosophischen Zusammenhange erneuerte und sehr nachdrücklich lehrte.
Damit sind die Sätze nun keineswegs gerechtfertigt, denn in der Philo-
sophie gilt keine Autorität; aber der Weg, wie H. zu seinen sonderbaren
Behauptungen kommen konnte, wird heller, sobald man ihn auf historische
Weise rückwärts verfolgt. Dem hart verklagten Manne, dessen Ansichten
wir nicht zu den unsrigen machen wollen, sind wir gleichwohl soviel
Gerechtigkeit schuldig, daß unsere Darstellung ihnen, soviel als eine
fremde Darstellung vermag, ihren eigentümlichen Zusammenhang lasse,
und ihre Berührungspunkte mit dem, was früher da war, nicht verletze;
daher man sich nicht wundern wird, wenn wir unter solchen Umständen
uns nicht streng an dem angezeigten Buche halten, sondern vielmehr
(wie es bei philosophischen Werken immer geschehen sollte) die andern
Schriften desselben Verfs. ebenfalls zu Rate ziehen, um über seine Lehre
unser Urteil zu bilden. Im allgemeinen läßt sich freilich leicht erraten,
was man finden werde. Philosophische Sätze, denen große und erhabene
Wahrheiten zum Grunde liegen, nehmen leicht etwas Exzentrisches an,
wodurch sie, mit kecker Laune verfolgt, in große Ungereimtheiten über-
gehen. Wo die Laune eines Schriftstellers öffentlichen Beifall findet, da
wächst sie schnell; es kommt der Wunsch hinzu, etwas Auffallendes zu
sagen , — und eine Paradoxie überbietet die andere. Von schlechten
Schriftstellern weiß man nun genug, sobald man soviel von ihnen weiß;
allein nach Heinroth und seinem Ruhme, lohnt es wohl, sich genauer
zu erkundigen.
Um unser Geschäft mit Ruhe und Kälte zu beginnen, könnte ein
so kalter Gegenstand, wie die INIaterie, uns recht willkommen sein ; und es
wäre günstig für Hrn. H., wenn wir, unser Hauptthema zuerst fixierend, seine
lateinische Abhandlung de materiae hypothesi der vorläufigen Ansicht wegen
benutzen. Allein der Geist des Mannes regt sich unruhig, ja beinahe
zürnend und züchtigend, schon in der Vorrede zu dieser kleinen Schrift.
Der Begriff der Materie wird gleich in den ersten Zeilen beschuldigt, un-
sägliche Verwirrung sowohl in der Ethik als in der Physik angerichtet zu
haben, dort atheistische Freiheit, hier atomistische Dürre hervorbringend;
Job. Chr. A. Heinroth: Über die Hypothese der Materie usw. 17^
beides aber hänge mit der Heilung der Seelenstörungen zusammen! Wer
nun freilich das Band, das alle Wissenschaften umschlingt, so polemisch
benutzt, der stellt sich selbst allen Angriffen von allen Seiten bloß; und
Hr. H. darf sich nicht wundern, wenn er hiervon Erfahrungen zu machen
gezwungen wird; die Wirkung seines unholden Benehmens fällt auf ihn
selbst zurück; daß aber die Materie einem so ungestümen Frager ihre
Geheimnisse verraten sollte, läßt sich gar nicht erwarten; ebensowenig,
als daß die älteste Geschichte der Philosophie in ihm ihren Ausleger an-
erkennen sollte. Man vernehme als Probe in letzterer Hinsicht folgende
Sätze: apud orientis populos invisibilia (mens, povg), apud occidentales
visibilia (materia vli]) originibus rerum substernebantur. Thaies, Pherekydes,
Anaximenes, Heraklit, Leukipp, Demokrit, werden genannt; Anaximander,
die Pythagoräer, die Eleaten werden verschwiegen. Daß weder das Stets-
Fließende noch die Atomen zu den visibilibus gehören, wird nicht über-
legt. Für die gelehrten Forscher des Plato und Aristoteles aber schreiben
wir folgende Lehre des Hrn. H. ab: Plato, Aristoteles aliique, postquam
materiae, utpote rerum duntaxat substantiae, vim quandam formatricem
adjunxerant (also e7-s^ legte Platon die Materie zum Grunde, da?i?i hinten-
nach kam das formende Prinzip ! Die Philosophie des Anaxagoras ließe
sich ebenfalls so beschreiben, — doch weiter!) quae ab iis nunc rozg,
nunc Zevg^ nunc md^i'jQ, nunc <Wa, nunc nÖog, nunc imlt/na vocatur
(damit wären wir also wegen der schweren Streitfragen über Ideen und
Entelechien zur Ruhe verwiesen!) Epicurus nullam aliam esse rerum
caussam affirmavit nisi atomos usw. Nach dieser Stelle wird man die
Dreistigkeit des Hrn. H. hinreichend kennen und ihm raten, eher über
alles in der Welt zu reden, als über die ältere Geschichte der Philosophie.
Aber macht er es mit der neueren Zeit besser? Nuper sectatores philo-
sophiae naturalis, quae Schellingium auctorem habet (daß Schelling von
Kant ausging und sich später an Spinoza anfügte, weiß Hr. H. nicht?),
eXcultorem Okenium (also andere excultores, außer Oken, sind für Hrn.
H, nicht vorhanden; wir wollen ihn aber des Gegensatzes wegen zum
wenigsten an Fries erinnern), necessariam scilicet ad creandas res materiam
quo certius tenerent, ipsi e mentis propriae penu materiam construxeruntü
Wir hatten bisher gemeint, man konstruiere deti Begriff der Materie, nicht
um die gegebene Materie noch fester hinzustellen, als sie ohnehin schon
steht, sondern um das Gegebene zu begreifen, weil es ohne dieses Hilfs-
mittel wirklich ganz unbegreiflich ist. Aber sollte wohl Hr. H. von dieser
Unbegreiflichkeit der gegebenen Materie etwas begriff'en haben? Das wird
sich bald zeigen. Zunächst folgen Klagen über den Galvanismus und
über Priestleys grüne Materie, besonders über die letztere, in welcher
man die ersten Spuren (ob gerade die ersten?) des Pflanzen- und Tier-
lebens gefunden hat; seitdem, so lautet die Klage, hat man angefangen,
eine organische Materie zu statuieren (als ob man in früherer Zeit weniger
geneigt gewesen wäre, Leben und Seele zu verwechseln); daraus haben
die Naturforscher alle Lebensformen deduzieren wollen, explicantes ex
nervorum formatione sensus, ex cerebri natura perceptiones et cogitationes.
Wirklich und im vollen Ernste explicantes? Daß man im Gehirnleben die
Erklärung sucht ^ die Gründe voraussetzt, ist bekannt; daß dies Suchen
IjA J- F. Herbarts Rezensionen.
und Voraussetzen ganz falsch ist und völlige Unkunde der Psychologie
beweiset, hiervon ist Rez. vielleicht noch etwas fester und bestimmter
überzeugt, als Hr. H.; daß aber irgend jemand sich eingebildet habe,
wirklich die Erklärung des Geistes aus dem Räumlichen, dem Aus-
gedehnten , dem Soliden , leisten und deutlich aussprechen zu können , ist
uns neu, und kaum glaublich, denn die Worte müßten (sollte man denken)
demjenigen im Munde ersticken, der etwas so Ungereimtes auszusprechen
versuchen würde. Vielmehr ist hier ein Fall vorhanden, wo die größte
Gefahr darin liegt, daß man sehr leicht sich gegenseitig mißversteht, und
dann viel Lärm um nichts macht, welches sich desto übler ausnimmt,
weil der Gegenstand selbst von der höchsten Wichtigkeit ist. Wir wollen
hier zum Behuf des folgenden einstweilen die Ansprüche eines Gegners
von Hrn. H. hersetzen; sie können uns helfen, den Streitpunkt festzu-
setzen. „Der Hauptfehler liegt in dem ersten Schritte einer ärztlichen
Seelenlehre, eine totale, enigegeiigesetzte Zweiheit zwischen dem psychischen
und animalen Leben anzunehmen. Der Arzt wird mit keinem großen
Glücke am Krankenbette heilen, der humoralpathologisch oder dynamisch
die Prinzipien von Lebenskraft und Materie in weiter Ferne halten, und
nur entioeder auf jene ode7- auf diese Weise erklären und heilen will. Er
zerreißt in seiner gezwungenen Erklärungs- und Heil-Art das vereinte
und einende Bild der Natur, wo Lebenskraft und die soge?iannte materielle
Basis aufs innigste verschmolzen Jind verwebt sind. So und nicht anders
ist es auch mit der wahren und gründlichen Ansicht des Arztes in betreff
des SeelenreicJis. Er scheide, — er trenne nicht; wenigstejis nicht zu weit]
somatisches und psychisches Leben, so verschieden auch in sich^ mögen
beide für ihn Eine Gliederkette bilden, wo ein Glied auf das andere paßt,
keins von dem andern durch eine gewaltsame Theorie getrennt werden
mag. Der Arzt, der Beschauer der oft so starken, oft aber auch so
schwachen, ungemein gebrechlichen menschlichen Natur, wird Gründe
genug finden, die kleinern oder größern Schatten, die der Körper wirft,
unmittelbar von diesem, von seiner Stellung vor der strahlenden Sonne
der Psyche abzuleiten; es wird ihn nicht an Gründen fehlen, de?i schuldigen
Meiischen durch die Körpersclmld der siiinlichen Hülle zu entsündigen. Nichts
entnerft mehr, nichts lenkt so sehr ab von der wahren Energie des
Geistes, als der ewige Vorwurf von Sündenschuld und Selbstverwerfung;
solche Traktaten sind am wenigsten in der Erklärung und Heilart von
Seelenkrankheiten zu wünschen." (Jenaische A. L.-Z., Oktober 182g;
Nr. 194 u. s. f.) Hat nun dieser sehr entschiedene Gegner des Hm. H.
etwa die Absicht verraten: die Empfindungen und Gedanken aus der
Natur des Gehirns zu erklären? — Aber freilich: entsündigen möchte er
gern den sündigen Menschen durch ZurücMührung der Schuld auf die
sinnliche Hülle. Und daß hierzu die Ärzte sehr geneigt sind, ist eine
nur gar zu wohl gegründete, neuerlich wieder sehr laut gewordene Klage;
deren wir ebenfalls hier erwähnen, weil bei der Beurteilung des Hrn. Verfs.
hierauf eine Rücksicht muß genommen werden, die ihm sehr zu statten
kommen wird. Bei der gänzlich ungenauen und vorurteilsvollen Auf-
fassung historischer Gegenstände, von der wir Proben genug gegeben
haben, wollen wir uns jetzt nicht länger aufhalten, sondern nur die
Joh. Chr. A. Heinroth: Über die Hypothese der Materie usw. 175
Meinung des Verfs. so, wie er sie in der erwähnten kleinen Schrift über
die Materie angedeutet hat, voriäufig in der Kürze angeben, damit man
den Ursprung derselben erkenne und sie nicht als etwas Fremdes und
Neues anstaune. Denn Hrn. Hs. Lehre hat wirklich eine philosophische
Grundlage; wenn nun auch diese Grundlage sich etwas dünn und zer-
brechlich zeigen sollte, so ist das doch immer noch weit mehr, als
man von gewöhnlichen Paradoxien -Jägern sagen kapn.
Hr. H. ist Kantianer und zwar ein solcher (wie es scheint), der noch
nicht merkt, daß die Zeit fortgeschritten ist; der vielmehr noch heute
mit vieler Dreistigkeit den Kantianismus auch nach seinen schwächsten
Seiten hin erweitem möchte. Die Grundlage seiner Lehre ist nichts Neues;
vielmehr dasselbe, was wir als Jünglinge in den philosophischen Schulen
gelernt haben. Er hat das Verdienst, diese mit uns altgewordene Lehre
deutlich und zum Teil passend, vorzutragen. Folgendes sind seine eigenen
Worte : Kantius in omni cognitione distinguit varietatem eorum, quae sen-
sibus percipiuntur (die Materie der Erfahrung, d.h. die Empfindungen),
et formam cognoscendi (Formen der Erfahrung, das heist nach Kant,
Formen der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft); quam dis-
tinctionem non temere quisquam infitietur naturae facultatis cognoscendi,
qua praediti sumus, apprime convenire (die Distinktion ist richtig und
notwendig, die Natur des Erkenntnisvermögens, womit wir versehen sind,
ist Erschleichung und Einbildung der alten, unkritischen Psychologie).
Empirici errant, quia cogitatio perceptione sola non absolvitur; idealismo
autem addicti, quia perceptio nequit ex mera cogitatione nasci. (Und
Hr. H. irrt, weil er von den Formen der Erfahrung den wahren Ursprung
nicht kennt.) Si cognitioni pateret materia sive substantia rerum, hanc
cognitionem aut a sensibus, aut ab intellectu, aut a ratione proficisci,
atque perceptionis ope effici necesse esset. Eins autem, quod per se est
(des Dinges an sich) cognitionem neque intellectus neque ratio aßert: ergo
materiae cognitionem necesse esset, per sensus effici. At ubi accuratius
in sensuum perceptiones in quirimus, statim materiae evanescunt. Und
nun folgen die bekanntesten, leichtesten Bemerkungen, wodurch man die
ersten Anfänger in die Philosophie einleitet, daß vom Auge nur die
Farben, vom Ohre nur Töne usw., von keinem Sinne aber das Solide,
am wenigsten dessen Bestandteile wahrgenommen werden. Wie aber
nun kommen wir denn zur Kenntnis der Materie, und zwar zu einer
genauen, so konsequenten Kenntnis, die sich in der Gesamtheit der
Naturwissenschaften fortwährend erweitert? Weiß das Hr. H.? Hat er
auch nur jemals ernstliche Mühe angewendet, es zu erfahren? — Plane
apparet, de cognoscenda materiae natura nobis esse desperandum (ja
freilich, wenn man so schnell wie Hr. H. am Ende aller spekulativen
Hilfsmittel ist, und weder Mathematik noch Metaphysik ernstlich zu
studieren Lust hat); hoc unum indagandum, quid sit, quod jubeamur
materiam omnino, sive substantiam rerum (starke Verwechslung) statuere, cuius
fundamento omnes res ita nitantur, ut neque oriri eo non parato, neque
sublato valeant perstare. (Das letztere gilt von der Substanz, aber nicht von
der Materie. Doch der Verf. beantworte nun die Frage, die er sich
vorlegte! Statt frisch ans Werk zu gehen, fängt er an zu zögern.) Quae
j^,5 J- F. Herbarts Rezensionen.
modo sigillatim exposita sunt, in summam sunt colligenda. Universus ille
rerum complexus nihil est, nisi summa cunctarum perceptionum nostrarum.
Atque hae quidem non sunt rerum substantiae, sed aliquid nobis ipsis
proprium. (Gemeinplätze!) Quare qualescunque tandem per se sint res
externae, sunt merae nobis, sive formae sive materiae rationem habeas,
cogitationes. (Wiederholung). Nihilo secius tarnen ita formati sumus
atque natura instructi, ut contra intellectus Judicium, idque sive ignorantes
sive spernentes, sensuum nostrorum qiiodam quasi inslinctu ducti fretique
(ja wohl! auf eine Art von Instinkt sich berufen, ist am bequemsten, wenn
man von der Sache nichts versteht) substantiam rerum materiamve
(vorige Verwechslung) alte animis nostris infixam quasi teneamus. Sed ut
redeamus unde digressi sumus; quid est, quo jubeamur tribuere rebus
stabile illud atque immutabile, quod venit nomine substantiae, cuius funda-
mentum in materia hypothetica ponimus? Mens ipsa est, in qua huius
rei necessitas residet. Est nimirum haec innata menti humanae lex, ut
quaelibet sensuum phaenomena in uniiatem colligat et quasi formet. Da
sind wir am Ende; der Verf. ist weder abgeschweift, noch zurückgekehrt;
er ist gar nicht von der Stelle gekommen. Woher alle die mannigfaltigen
Eigenschaften der (Körper) Materie kom.men, von denen die Physiologen,
die Chemiker, die Physiker so vieles zu erzählen wissen? — darüber
mag man getrost die Sinne, die Erfahrung fragen; denn unser Geist hat
genug getan, indem er den leeren und für alle Arten der Materie gleich
brauchbaren Begriff der Einheit, der Substanz hergab! Sind denn nun
Caloricum und Electricum Substanzen oder nicht? Gibt es zwei elektrische
Fluide oder nur eins? Der Kantianismus freilich schweigt darüber. Doch
ein Schritt ist noch übrig. Kant hatte aus der Undurchdringlichkeit der
Materie, die zu seiner Zeit im unbestrittenen Besitze des Rechts war,
alle physikalischen Lehrbücher zu eröffnen, eine Repulsiv- Kraft gemacht;
er hatte diese, für die Existenz der Materie in der Tat gefähriiche Kraft
durch eine Attraktiv- Kraft gezügelt; um die Substanz aber, worin beide
vereint sein sollten, sich wenig bekümmert. Was Wunder, daß mich Hr.
H., als ob er die vorhin gerühmte Natur seines menschlichen, wohlein-
gerichteten Erkenntnisvermögens leicht abschütteln könnte, den Verstandes-
begriff der Substanz verschmäht und statt dessen, um sich mit einem
Sprunge der Wahrheit zu bemächtigen, den Nachbar jenes Begriffs, näm-
lich den der Kausalität, ergreift? Folgende Worte wollen wir, ohne Aus-
lassung eines einzigen, abschreiben: Nihil nisi hypostasis est, si materiam
aliquid per se esse putamus. Quae rerum per ipsas natura est, cernitur
eo, quod sund; esse autem eas, eo quod agunt aliquid; agere eas porro,
efficientia, efficientiae denique causa est vis. Itaque cuiuslibet rei vera
natura est definita quaedam sive finibus quibusdam circumscripta vis.
Eines autem illi lege continentur: quare unaquaeque res vis est legi ad-
stricta, rerumque universitas est infinitas virium legibus subjectarum, sive
mundus dynamicus, in quo illud tantum quaeritur, quae origo sit virium
illarum legumque. Ging uns Hr. H. vorhin zu langsam, so ist er uns
hier zu rasch. Wie die Beschaffenheit der Dinge (natura), welche ma?mig-
faltig ist, erkannt werde daraus, daß sie sind, welches ihnen gemeinsam
ist, davon verstehen wir nichts. Daß man zum Geschehen ein Tun und
Job. Chr. A. Heinroth: Über die Hypothese der Materie usw. 177
zum Tun ein Seiendes hinzuzudenken pflege, z. B. zum Fühlen ein
tätiges und darum seiendes Gefühlsvermögen, oder zum Herannahen eines
Körpers an den andern eine Attraktionskraft, dies ist uns nur gar zu
wohl bekannt, denn diese falschen Fortschreitungen des Meinens gelten
leider manchem Philosophen für gute Schlüsse; wir haben aber diesen
Verkehrtheiten schon längst so laut widersprochen, daß selbst Hr. H.
hätte davon hören können. Abgesehen hiervon wird jeder Kantianer
demselben sagen können, was wir schon vorhin bemerklich machten, näm-
lich, daß die Begriffe des Wirkens und Tuns und der Kraft — mit einem
Worte der KausalbegrifF — im vorliegenden Falle noch etwas weniger
Vertrauen verdient, als der Begriff der Substanz. Denn soviel wissen
doch in der Regel die Kantianer von den Schicksalen ihres Systems, daß
gerade gegen die Inkonsequenz, womit Kant selbst den Kausalbegriff zur
Erklärung des Ursprungs unserer Empfindungen aus dem Einwirken der
Dinge an sich anwendete, die ersten durchdringenden Angriffe gegen das
System gerichtet waren. Dadurch sollte man in Ansehung des Kausal-
begriffs doch endlich hinlänglich gewitzigt sein. Aber noch mehr! Kant
selbst hat sich von dieser Inkonsequenz frei erhalten in der Untersuchung
der Materie. Diese bleibt bei ihm im Gebiete der Erscheinung: und
gerade dadurch ist der transzendentale Idealismus ganz besonders charakte-
risiert. Geschah es vermöge der Einrichtung des Erkenntnisvermögens,
daß die Materie als Substanz hypostasiert wurde, so geschieht es aus
eben dem Grunde, und mit eben den Einschränhingen , daß die materielle
Welt durch den Kausalbegriff aufgefaßt, sich in einen mundus dynamicus
verwandelt. Im Znsammenhange dieses^ einzig und allein aus Kantischen
Materialien zusammengesetzten Vortrages, bedeutet die ganze Verwandlung^ ja
der mtcndus dynamicus selbst durchaus nichts weiter als eine Vorstellung
und Zusammenfassung desse?i, zvas dem Mefischen erscheint, nach Gesetzen des
menschlichen Denkens. Und jetzt überlege Hr. H. selbst, was ihm weiter
begegnet ist. Nämlich auf den § 24, den wir oben größtenteils abgeschrieben
haben, folgt nun sogleich und unmittelbar, folgender § 25: Nee vires
finitae sine vi infinita, nee leges sine legislatore cogitari possunt. x\tqui
nullam novimus infinitam sive liberam vim, nisi voluntatem, neque legum
ferendarum fontem alium, quam intelligentiam. (Es lohnt nicht, hier auf
das schwache: nullam novimus aufmerksam zu machen; man bemerke
nur, wohin der Verf. durch den vorigen § gelangen wollte.) Ergo mundus
sive rerum universitas pro effectu habendus et voluntatis et intelligentiae,
quae eadem necessitate cohaerent qua vis et lex, qua materia et forma.
Ut aliis veibis dicamus, res creatae creatorem requirunt ut causam sufficientem.
Wo sind wir? Im Leibnizischen Systeme? Da würden diese Worte ihre
volle Bedeutung haben. Aber unser Verf. muß gänzlich vergessen haben,
welches Weges er gekommen ist, und welchen Sinn seine Reden deshalb
mit sich führen. Wenn hier ein offener, auch noch so schmaler Fuß-
steig wäre, oder jemals versucht werden dibfte. schon längst wäre durch
die Bemühungen so vieler Kantianer eine breite und bequeme Straße zu
Stande gekommen. Aber das Schauspiel, welches uns Hr. H, darbietet,
ist noch nicht zu Ende. Ohne im geringsten zu merken, daß er die Wolke
statt der Juno umarmt hat, beginnt er sogleich mit geistlichem Stolze zu
Herbarts Werke. XIII. ^^
j^3 J- F- Herbarts Rezensionen.
Zürnen auf Andersdenkende, Si vera sunt, quae de materiae vanitate non
statuimus modo, sed vero etiam probavimus (zu seinem eignen Miß-
geschick!), cuncta illa, quae materialismi sectatores mira insolenfia somniant^
illico corruunt jure nobis indii^iabjmdis repudiata. Und doch wird Hr. H.,
falls er seinen Mißgriff einsieht, damit anfangen, die Realität der Materie
verteidigen zu helfen. Denn erst nachdem dies gelungen sein wird, taugt
die Körperwelt zum Fundament für höhere Überzeugungen. ■ Könnte es
nicht gelingen, müßte die INIaterie, als bloße Erscheinung, auf Kräfte, nach
unsern Denkgesetzen, zurückgeführt werden: so bliebe /ra//c/z auch /«>
den Stützpunkt dieser Denkgesetze der Satz : mundus pro effectu habendus est,
noch schärfer zu beweisen. Übrigens ist der Verf. sehr sicher davor, daß
wir nicht die Hrn. Oken usw. gegen ihn zu schützen suchen werden.
Diesen Herren mag er das: ex nihilo nihil fit, so lange predigen als ihm
beliebt; um so lauter, da er ja auf Angriffe völlig gefaßt ist. Haud laudibus
mulcebitur nostra de materiae vanitate sententia, utpote Astronomiae,
mechanicae^ physices atomisticae , cheviiae elementaris , physiologiae materialis,
psychiatriae somaticae interitum vaticinans sed uno ore „quae te dementia
cepit" clamabunt. Welcher Eifer! Aber die Materie ist fühllos; sie läßt
sich auf solche Weise nicht erwärmen, viel weniger erweichen; vollends
wenn man sie erst für einen Effekt, zu welchem eine Ursache gehöre,
und dann den Effekt für ein Hirngespinst erklärt, woraus folgen würde,
daß auch die hinzugedachte Ursache nichts weiter als ein psychologisches
Phänomen wäre.
Wir kennen nun im voraus der langen Rede kurzen Sinn ; allein in
dem größeren Werke über die Materie uns nach den näheren Be-
stimmungen dieses Sinns umzusehen, dazu ist noch nicht die Zeit. Denn
beim Verf. ist der Kern nicht hier, sondern bei den Seelenstörungen zu
suchen; um diese glaubt er sich das doppelte Verdienst der richtigen
Beurteilung in den Gerichtshöfen, und in der Heilung erworben zu haben.
In der Tat die Geisteszerrüttungen bezeichnen eine für die gesamte Philo-
sophie höchst wichtige Stelle, wo alle einzeln geführten Untersuchungen
richtig zusammentreffen müssen, wenn nicht irgend eine zugelassene Un-
richtigkeit es unmöglich macht. Wer wird leugnen, daß moralische Ge-
brechlichkeit, Unlauterkeit und eben deshalb mehr oder weniger Verschuldung
in jeder Geistesstörung sich müsse auffinden lassen? Zu jeder Ver-
suchung, welcher die Tugend des Menschen unterliegt, läßt sich je ein
Grad von sittlicher Charakterstärke hinzudenken, wodurch, falls er vor-
handen wäre, die Versuchung, wie groß sie auch sein möchte, über-
wunden worden wäre. Ebenso nun kann man zu jeder, eben erst ent-
stehender, Verwirrung der Gedanken, einen Grad von Bestimmungskraft
annehmen, von hinreichender Energie, um den einbrechenden Wahn zu
durchschauen und zu verwerfen. Und sicherlich gehört es mit zu den
Anstrengungen des sittlichen Menschen, sich der Täuschungen zu er-
wehren, die seinen Geist zu verdüstern drohen. Andrerseits aber legen
die bekanntesten Tatsachen des Schlafes und des Traumes uns die Er-
innerung nahe, daß man sich zwar auch des Schlafs erwehren könnte, —
nämlich für eine Zeitlang — daß man sich aber ihm samt dem Wahn
der Träume preisgeben solle, um das äußerste des Mnssens, nach gar zu
Job. Chr. A. Heinroth: Über die Hypothese der Materie usw. ijq
langem Aufschübe, nicht abzuwarten. Denn endlich ist doch der Leib
mächtiger als der Geist; und man muß entschiedener Idealist sein, um
dies zu verkennen. Also wird der Philosoph, der die Seelenstörungen
untersuchen will, hier an Psychologie und Naturlehre und INIoral zugleich
erinnert; und aus allen diesen Disziplinen muß ihm die nötige Vor-
bereitung zu Gebote stehen. Unser kritisches Geschäft führt uns dem-
nach dringend genug wenigstens zur Psychologie des Verfs. Daß die
Gefahr einer Abschweifung für uns nicht zu groß werde, dafür ist gesorgt.
Wir haben es ja erlebt, daß in einer Anthropologie ein langes und
breites vom Kern der Erde geredet wurde; wie sollten wir uns wundern,
wenn Hr. H. in seiner Psychologie schon im ersten Viertel des Buches
mit der Seele an sich beinahe fertig wird, um alsdann fast dreiviertel
desselben Buches auf die Verbindung der Seele mit dem Leibe, der Welt^
dem Geiste und Gott zu verwenden. Von der Materie ist demnach in
einem solchen Buche genug für unsern Zweck zu finden. Aber das nil
admirari haben wir in einer andern Hinsicht nötig uns einzuprägen. Vor-
hin berichteten wir: Hr. H. sei Kantianer; wir haben die Belege nicht
bloß hierzu, sondern auch zur Scheidung seiner Lehre von der Schelling-
schen angegeben. Oder kann man der letztern zugetan sein, wenn man
es tadelt, daß sie (wie oben bemerkt) e mentis propriae penu die Materie
konstruieren, um dieselbe desto fester zu halten? — Aber in der Psycho-
logie des Verfs. werden wir zu unserm Schrecken überführt, daß unser
voriger Bericht wenig genau war. Beim ersten Aufschlagen stoßen wir
auf Stellen wie folgende : „Es ist nicht denkbar, daß Raum und Zeit bloße
in uns liegende Formen seien; die starre Form würde die Seelentätig-
keiten zu etwas rein mechanischem stempeln. Derselbe Vorwurf triftt die
Kantischen Kategorien." Und weiterhin: „Es ist eine nicht bloß kümmer-
liche, öde und leere, sondern auch alle Naturwahrheit und Lebendigkeit
verläugnende Ansicht, wenn nach Kantischer Weise angenommen wird,
daß "die Sinne eben nur den Stoff zu der Tätigkeit des Verstandes liefern.''
Dieser Gegner Kants zählt dagegen mit Schelling Kräfte der Ei7iheii,
Ziueiheii, Dreiheit, welche bedeuten sollen Magnetismus, Elektrizität und
Chemismus; — eine Torheit, die schon zu alt geworden ist, um heute
noch darüber zu lachen. Ist denn dieses Buch früher geschrieben oder
später, als jene Abhandlung de materiae hypothesi? Beide tragen die
Jahreszahl 1827 auf dem Titel. Aber zufällig begegnete uns beim Auf-
schlagen der Psychologie gleich folgende Note S. 292; welche wir her-
setzen wollen, weil sie auf das Verfahren des Hrn. H. ein Licht wirft.
Sie lautet wörthch folgendermaßen : „Der Verf. hat — die Durchkreuzung
der Zahn- und Geschlechts-Entwicklung aufgestellt; eine durch nichts er-
wiesene und vielleicht ohne Mühe umzustoßende Hypothese. Da er sie
aber einmal hier adoptiert hat, so mtißte er sie auch als legitimes Kind be-
handeln, d. h. nicht als Hypothese, sondern als rem in facto positam.
Daher die Entschiedenheit in der Darstellung, welche man nicht für An-
maßung auslegen möge. Jede andere auf Gri'mden ruhende Erklärung ist
dem Verf. ebe7tso willkommen^'- Solche Stellen zu weitergreifenden Ana-
logien zu benutzen, und z. B. anzunehmen, Kants Lehre sei für den Verf.
eine Hypothese, die er nach Bequemlichkeit adoptiere und verstoße, —
12*
l8o J- F. Herbarts Rezensionen.
möchte mißlich sein; indessen enthält die Vorrede des Buchs eine
Äußerung, welche einem Bekenntnisse, schon früher sich Vorwürfe zu-
gezogen zu haben, sehr ähnlich sieht. Da heißt es: Ferner wird man
vielleicht mich aus diesem Buche durch Stellenvergleichungen Widersprüche
herausklauben, und so zu zeigen meinen, daß sich die Einheit des Ganzen
durch den Widerspruch der Teile vernichte." Und wie gedenkt sich
denn wohl in solchem Falle der Verf. aus der Verlegenheit zu ziehen?
— ,,Bede?ikt man aber, daß sich auf den verschiedenen Stufen der Betrachtung
die Gesichtspunkte verändern, und, zvas ifu niedern U7id engern Kreise galt
jind sich behauptete, ?iicht seile?! im höhere?? tmd freiere?? seine Wahrheit auf-
geben muß, so tüird ???an lüohl ?nit diese??? Vorwzaf ?iicht zu ß-eigebig sein."
Dabei wollen wir für jetzt bloß soviel erinnern, daß nichts schwieriger und
nichts nötiger sein kann, als in solchen Fällen, wo gewisse Behauptungen
nur auf gewissen Standpunkten richtig sind, diese Verschiedenheit der
Standpunkte höchst sorgfältig sich selbst und andern einzuprägen, um sie
festzuhalten; weil sonst Verwechslungen zu fürchten sind, wodurch aller
Wert der Philosophie verloren geht. Wie Hr. H. die Standpunkte ver-
wechsele, davon sehen wir oben schon ein merkwürdiges Beispiel, indem er
die wichtigsten Lehren in einem Zusammenhange darstellte, welchem gemäß
sie nur für Erscheinungen Gültigkeit haben würden!
Welches nun auch die Erklärung der Möglichkeit sein möge, daß
ungleichartige Gedankenkreise in Hrn. H.s Kopfe nebeneinander bestehen:
die Tatsache liegt vor Augen, daß, so gewiß jene kleinere Schrift den
Kantianer zeigte, der ?iicht mit Fichte über Kant hinausgehen will, viel-
mehr dieses Hinausgehen ausdrücklich verschmähet, — ebenso gewiß das
andere Buch, welches Hr. H. Psychologie zu nennen beliebt, und seinem
wahren Wesen nach den Schellingianismus repräsentiert. Gerade die nämliche,
spielende, tändelnde, grund- und bodenlose Deutelei, — denn das ist der einzig
rechte Name dafür, — welche für Schellings Jugendjahre, aus denen sie
stammt, passen mochte, und deren Verbreitung in viele schwächere Köpfe
als eine Laune der Zeit gelten konnte, — diese Deutelei, welche reichern
Stoff in den Naturwissenschaften fand, hingegen den ärmlichen Vorrat
der empirischen Psychologie nur teilweise zu benutzen Lust hatte, und
seltener antastete, findet sich so offenbar wieder, daß nichts verändert ist,
als nur der Ton. Ein angenehmer Fluß der Rede ist Hrn. H. eigen, wäre
dies ein Geschenk, was der Psychologie helfen und ihre Schwierigkeiten
erleichtern könnte, so hätte sie ihm Dank abzustatten.
Allein dafür kann sie ihm nicht danken, daß er ein paar hundert
Seiten eines breitfließenden Vortrags daran gewendet hat, um ein leeres
Gerede von der Seele an sich^ zur Abwechslung einmal als einen neuen
Eingang für Schellings Naturansichten zu benutzen. Aus dem alten
Seelenvermögen macht er eine Seele als Trieb, als Gemüt, als Vorstellungs-
kraft, als schaffende Kraft, als moralische Kraft, in persönlicher Indivi-
dualität, als bildungs- und verbildungsfähiges Wesen, und endlich — um
mit einer Satire auf sich selbst zu schließen — redet das erste Buch
zuletzt noch von einer E?itivickl?ing der Seele zur Ei?ihcit und Ganzheit \
vermutlich also war die Seele vorher nicht Eins und kein Ganzes, sondern
damit Vieles Eins werde, muß eine Entwicklung, wie ?iun, des Viele?? zu
Joh. Chr. A. Heinroth: Über die Hypothese der Materie usw. i8l
Einem, oder des Einen zu Vielem ? vor sich gehen ! Daß die Seelenvermögen
einen Trieb an ihrer Spitze sehen, ist Fichtes Werk; und die wahre
Geltung dieses Werks ist keine andere als eine historische; d.h. der Trieb
im Ich gehört in die Gedankenreihe der Wissenschaftslehre, aber nicht
in die wahre Psychologie, welcher gemäß die Vorstellungen nur treiben,
sofern sie gehemmt sind. Denjenigen, welche irgend einen Urtrieb in die
Seele hineinlegen, hätte zum allermindesten eine Analogie mit Kants
Besorgnis einfallen sollen, seine Repulsivkraft werde die Älaterie ins Un-
endliche zerstreuen, wenn ihr nichts entgegenstünde. Daß auf den Trieb
das Gemüt folgen würde, war von einem gemütlichen Manne, wie Hr. H.,
zu erwarten ; aber diese Gemütlichkeit ist polemisch genug, um mit längst
verworfenen Einfällen gegen bessere Denker um sich zu werfen. Kaum
hat er seinen Vortrag begonnen, so rühmt er sich in einer Note: „Hier
ist auf einmal, fast zufällig, wenigstens ganz ungesucht, das Gefühlver-
mögen, welches ein berühmter Philosoph neuerlich sozusagen mit Stumpf
und Stiel ausrotten wollte, als die allererste Bedingung unserer Selbstheit
abgeleitet, als das Grundvermögen unserer Seele."' Der stärkste Grund, den
Hr. H. für seine Ableitung anführt, ist der: ivenn das Kind nicht fühlen
könnte, kein Gefühlvermögen hätte, zvüide es nicht schreien. Allein für Lieb-
haber einer längeren Rede ist auch gesorgt: man vernehme folgenden
Kettenschluß: „Das Nächste, was wir finden, wenn wir an unser Selbst
denken, ist: daß es eben ein Selbst, d.h. für sich etwas — nicht bloß
ist, sondern auch sein und haben will. In diesem für sich selbst sein
und haben wollen liegt der ganze Charakter unseres Selbst als natürlichen
Wesens verschlossen. Das Sein unseres Selbst besteht eben in seiner Selbst-
heit d. h. in dem Streben nach Sein und Haben. In unserer Seele liegt
also ursprünglich ein Mangel, ein Bedürfnis. Dies bestätigt sich eben durch
unser Streben. Hätten wir das vollständige Sein (Leben), so strebten wir nicht.
Wir würden aber auch nicht streben, wenn wir nicht hegehrten, und wir würden
nicht begehren, wenn wir nicht bedibften. Wir würden aber wiederum vom Be-
dürfnis nichts wissen, wenn wir es nicht fühlten ; und endlich würden wir kein
Bedürfnis fühlen, wenn wir nicht Gefühlvei mögen hätten. Hier stoßen wir
auf die lebendige Wurzel unseres Selbst, auf das Vermögen zu fühlen,
mithin auf Vermögen überhaupt." Ja freilich, ab esse ad posse valet con-
sequentia; und diejenigen, welche das Gefühlvermögen leugnen, sind dennoch
nicht so hartnäckig, gegen die Möglichkeit des Fühlens zu disputieren;
Hr. H. muß also wohl nicht recht vernommen haben, wovon in diesem
Streite eigentlich die Rede ist. Aber von dem Streben im Ich hat er
irgend einmal etwas gehört; wir können auch sagen, woher sein Argument
stammt. Fichtes Sittenlehre ist das merkwürdige Buch, worin für mancherlei
Gedanken, die sich jetzt in Hrn. Hs. Kopfe bewegen, der Anfang zu
suchen ist. Fichte machte einen auffallenden und längst gerügten Fehl-
schluß., indem er aus dem Ich — der Identität des Denkenden und Ge-
dachten, aufsteigend zuerst durch erlaubte Abstraktion, ableitete eine
Identität des Handelnden und Behandelten., um alsdann durch eine falsche
Determination hierin ein Handeln ohyie Denken zu suchen, wozu ihn die
Frage trieb: ik:as ist das letzte Objekt im Ich? Diese Frage ist von Fichte,
als einem echten spekulativen Denker, aufgeregt, aber ganz unrichtig be-
l82 J- F- Herbarts Rezensionen.
handelt worden. Die Mißgrifie, die daraus entstanden, klebten schwächern
Köpfen an; und das ist ein Hauptgrund des nachmaligen Verfalls der
Philosophie. Verfallen ist sie, und gesunken bis zu solchen Schwächen, der-
gleichen wir, um zu dem schon oben Gesagten die nötigen Belege anzuführen,
hier in kurzen Proben aus des Verfs. Psychologie entnehmen. Die Rede
soll auf die Sinne gelenkt werden ; zur Vorbereitung geht das Eins, Zwei,
Drei des Magnetismus, der Elektrizität und des Chemismus voran; dem
zufolge gibt es magnetische^ elektrische und chemische Sinnesreihen mit einer
äußern und innern Seite. Folglich sind der Sinne nicht fünf, sondern
sechs. Woher aber nimmt man den sechsten Sinn ? Den Gefühlssinn
zerlegt er in den Tastsinn und in den Sinn für Wärme und Kälte; dies
ist psychologisch richtig. Denn warum sollte die Psychologie sich nach
der Zahl der Organe richten? Ihr kommt es vielmehr auf die verschiedenen
Klassen der Empfindungen an. Fahren ivir nun so fori ! Die Empfindungen
des Getastes und die der Wärme sind disparat; gerade das nämliciie gilt
von den Empfindungen der Musiktöne und der Vokale, desgleichen von
denen der Vokale und der Konsonanten, oder des tonlosen Geräusches
überhaupt. Auch fürs Auge ist der Sinn für die Farben von dem für
Helles und Dunkles so verschieden, daß man im Kupferstich die Farbe
ganz zufällig erachtet und sie meistens wegläßt. Woran dachte denn wohl
Hr. H., als er aus zivei mal drei die. Anzahl von n?ir sechs Sinnen konstruierte.^
— Er dachte zuerst an den Magnetismus. Wird jemand erraten, welches
der innere, und welches der äußere magnetische Sinn sei ? Ist es leichter,
die beiden elektrischen Sinne zu erraten? Aber von den chemischen
Sinnen errät man leicht den einen; denn das Schmecken lehrt zwar
niemanden Chemie, allein wir wissen ja aus der Physik, daß Salze, indem
man sie schmeckt, sich auf der Zunge auflösen. Das genügt; ob
alles Schmecken auf chemischen Verhältnissen beruhe, muß man nicht
fragen! Nun ist der Weg der Deutung off"en. Geruch und Geschmack
sind Nachbarn; dieser Wink ist leicht zu verstehen; der Geruch gibt uns
den zweiten chemischen Sinn; gelegentlich lernen wir dabei; daß der
Stickstoft widrig und der Sauerstoff angenehm riecht. Soweit kann ein
gelehriger Schüler die Sache noch allenfalls verstehen, wenn er seine un-
bescheidenen Nebenfragen zurückhält. Aber für die magnetischen und
elektrischen Sinne muß man tapferer deuteln. Wir wollen eine kleine
Übung nicht scheuen. Lichtstrahlen und Schallstrahlen sind die Vehikel
des Sichtbaren und Hörbaren; der positive oder aktive Pol ist das Objekt,
der negative oder passive Pol ist das Subjekt; der Strahl zwischen beiden
ist ein offenbarer Magnet; also — Gesicht und Gehör sind die magnetischen
Sinne; jenes der äußern, dieses der innern. War es so recht? — Nichts
weniger; wir haben uns vergriffen. Gesicht und Gehör sind die elektrischen
Sinne! Und warum? „Wie die Naturkrajt (Elektrizität) sich in offenbarer
Trenming ausspricht^ so sind jene Sinne auch in getrennte Organe verteilt."
In offenbarer Trennung? Diese Neuigkeit ist noch etwas unverdaulicher,
als jene, daß der Sauerstoff angenehm rieche. Gerade umgekehrt entsteht
nach dem Gesetze der sogenannten elektrischen Verteilung allemal -\- E
neben — E, und — E neben -j- E, und wahrscheinlich um vieles ge-
schwinder, als neben einem abgebrochenen Nordpol sich ein deutlicher
Joh. Chr. A. Heinroth: Über die Hypothese der Materie usw. 183
Südpol ausbildet; denn dazu gehört nach der iVussage der Physiker einige
Zeit, ehe die Pole eine feste Lage gewinnen. Hingegen der elektrische
Kondensator, welcher auf der elektrischen Verteilung in einem belegten
Isolator beruht, läßt nie auf sich warten, wenn die Elektrizität einiger-
maßen tätig ist. Um nun dies zu wissen, und um das + ""d — • E nicht
etwa in den Belegungen zu suchen, während der Isolator durchweg
polarisiert ist und hierin einem Magneten vollkommen gleicht, — braucht
man einige physikalische Kenntnisse. Aber welche Kenntnis ist nötig,
um die Behauptung, das Gesicht sei der Raumsinn, das Gehör der Zeit-
517111, zu widerlegen? Muß man etwa Musik gelernt haben, um zu wissen,
daß mit den Ohren nicht bloß das Successive der Melodie, sondern auch das
Gleichzeitige der Harmonie vernommen wird? Die Harmonie besteht aus
hohem und tieferii Tönen; ein Unterschied, der mit der Zeit gar nichts,
mit dem Räume aber, vermöge einer sehr wesentlichen Analogie, desto
mehr zu tun hat. Doch gesetzt, auch hierzu wäre noch einige Kenntnis
nötig: gibt es denn irgend ein menschliches Wesen, welches sich ein-
bildet, fnan höre die Zeit, aber diese nämliche Zeit könne man nicht sehen?
Jedermann weiß, daß sie ebensogut gesehen als gehört wird; ja der
Musikdirektor zeigt den Augen die Zeit und nimmt allenfalls ein Pendel
zu Hilfe, damit man sie genauer sehe als höre. Wären diese Betrachtungen
geringfügig, wären sie ohne Einfluß auf die Philosophie überhaupt, so
würden wir uns nicht dabei aufhallen. Allein wer die Wissenschaft und
ihre Streitpunkte kennt, der muß wissen, daß die Frage, zvie die Vorstellnngen
des Räumlichen und Zeitlichen in die sifinlichen Enipfindtmgen hineinkommen,
zu den allerersten und notwendigsten Gnindfrageii gehört. Daher jemand,
der hierüber unbesonnene Reden hören läßt, sogleich verrät, daß es ihm
für die ganze Wissenschaft an den Vorbereitungen fehlt. So etwas scheint
Hr. H. gefühlt zu haben. Denn nachdem er durch die vortrefflichste
aller Deduktionen seine sechs Sinne vollkommen begreiflich gemacht hat,
fährt er unmittelbar also fort: ,,Wir können die Weisheit, die in der Ein-
nchtung der Sinne lebt, nur bestaunen, nicht begreifen !"■ In diesem Punkte
ist Rez. mit Hrn. H. im vollsten Ernste einverstanden; daher möchte es
ratsam sein, jede vorgebliche Deduktion einer bestimmten Zahl und Art
der Sinne gerade ins Feuer zu werfen.
Bei einem Schriftsteller, der (wie wir oben sahen) gelegentlich Hypo-
thesen adoptiert, sie dann als legitime Kinder behandelt, ja sogar als
,,res in facto positas;" und der hintennach, um nicht für anmaßend zu
gelten, die geschehene Adoption wieder aufgibt: ist's nun freilich schwer,
herauszufinden, was eigentlich bei ihm feststehe. Das Sicherste ist unter
solchen Umständen anzunehmen, der Irrtum sei überhaupt bei ihm nicht
festgewurzelt: und er werde ihn vielleicht irgend einmal aufgeben. Hr. H.
hat in frühern Jahren eine Philosophie gelernt, die zu ihm nicht paßt;
dies Schicksal teilt er mit manchen andern. Nun weiß er nicht, wäe er
davon loskommen soll; der Irrtum ist für ihn eine Krankheit, deren Sitz
man nicht kennt. Wie wäre es, wenn man die Krankheit einmal bei
andern zu beobachten suchte? Hr. H. hat vermutlich vergessen oder nie
gewußt, daß die Lehren, welche er predigt, großenteils von Fichte her-
stammen; er lese also Fichte; so wird er sich selbst im Spiegel zu sehen,
I Sa J- f. Herbarts Rezensionen.
sein Übel an einem andern wahrzunehmen glauben und es dort leichter
erkennen, alsdann aber sich davon losmachen. Wir kehren nämlich zu
dem Hauptvorwurfe zurück, der ihm ist gemacht worden; zu jener aller-
dings empörenden Behauptung: Geisteszerrüttungen seien Verschuldimgen\
und zwar nicht etwa zuweilen, in besondern Fällen, sondern allgemein
und wesentlich. Wüßte Hr. H., wie seine eigenen Gedanken über diesen
Punkt unter sich zusammenhängen, so würde er sie leichter geordnet und
berichtigt haben. Er weiß es aber schwerlich, da er im Vorworte zu
seiner Psychologie erzählt: „Der Verf. hat in seinem psychisch -ärztlichen
Geschäft fortwährende Veranlassung, die Tiefen der Seele zu betrachten.
Das Resultat dieser (???) Forschungen ist: daß das Rätsel des Seelen-
lebens 7iur in der Freiheit seinen Schlüssel hat." Gerade umgekehrt! Die
Freiheit sieht der moralische Beobachter teils in der besonnenen Tugend,
teils im besonnenen Verbrechen; hingegen im Irrenhause sieht man die
Unfreiheit. „Wie wird uns?" fragt Reil, „beim Anblick dieser Horde
vernunftloser Wesen; wo bleibt unser Glaube an unseni ätherischen Ur-
sprung, an die Invnaterialität tmd Selbständigkeit unseres Geistes?" Hätte
Hr. H. auch so gefragt, so würden wir glauben, daß er die unvermeid-
lichen Eindrücke der Erfahiung in ärztlicher Praxis treu wiedergeben
könne und wolle. Aber Hr. H. besinne sich nur, woher ihm die Redens-
art anklebt : sich selbst bestimmen heißt, sich selbst beschränken. Von diesem
Bestimmen und Beschränken sind die Schriften eines berühmten Mannes
voll, der keinesweges durch Beobachtung und Erfahrung berühmt ist,
sondern dem es gerade in diesem Punkte gar sehr fehlte; der Mann ist
Fichte. Von dorther hat Hr. H. seine Freiheitslehre. Und der Irrtum,
welchen er den Kriminal-Richtern aufdringen wollte, hat nicht im Irren-
hause, sondern in Fichtes Lehre seinen wahren Ursprung. Hier sind
die drei Grundlaster: Trägheit, Feigheit, Falschheit; die eigentlich nur
Eins sein sollen, nämlich Trägheit. Hier werden Reflexionspunkte unter-
schieden, mit der absoluten, doppelten Forderung, auf die höheren
Reflexionspunkte solle man sich erstlich erheben, zweitens darauf ver-
harren. Hier endlich verschmilzt das Böse mit dem Irrtum; denn wer sich
nicht erhebt und sich in der erreichten Höhe nicht behauptet, der ver-
liert Wahrheit und Güte zugleich.
Aus dem sechzehnten Paragraphen in Fichtes Sittenlehre, der
eigentlich ganz nachgelesen und mit Hrn. H.s Schriften verglichen werden
muß, können wir nur folgendes kurz hersetzen, damit man den Born der
Heinrothschen Weisheit deutlich vor sich sehe :
„Wie soll bei der eingewurzelten Trägheit dem Menschen geholfen
werden ? Wenn nicht durch ein Wunder, sondern auf natürlichem Wege,
so muß der Antrieb von außen kommen. Das Individuum müßte Muster
erblicken, die ihm Achtung und mit ihr die Lust einflößten, dieser
Achtung sich würdig zu machen. Einen andern Weg der Bildung gibt
es nicht. Dieser gibt das, was da fehlt, Bewußtsein und Antrieb; wer
die eigene Freiheit auch dann noch nicht braucht, dem ist nicht zu
helfen. Woher aber sollen die äußern Antriebe unter die Menschheit
kommen? — Da es jedem Individuum, ungeachtet seiner Trägheit, doch
immer möglich bleibt, sich über sie zu erheben , so läßt sich füglich an-
Job. Chr. A. Heinroth: Über die Hypothese der Materie usw. ige
nehmen, daß unter der Menge der Menschen einige sich wirklich empor-
gehoben haben werden zur Moralität. Es wird notwendig ein Zweck
dieser sein, auf ihre Mitmenschen einzuwirken. So etwas nun ist die
positive Religion. Veranstaltungen, die vorzügliche Menschen getroffen
haben, um auf andere zur Entwicklung des moralischen Sinnes zu
wirken. Diese Veranstaltungen können wegen ihres Alters, wegen ihres
allgemeinen Gebrauchs und Nutzens etwa noch mit einer besondern
Autorität versehen sein, welche denen, die ihrer bedürfen, sehr nütz-
lich sein mag" usw.
Wir sind weit entfernt, zu behaupten, Hr. H. habe Fichte ab-
geschrieben. Er hat es gemacht, wie manche andere, nämlich Fichte
benutzt (ob mittelbar oder unmittelbar, wissen wir nicht) und gegen ihn
polemisiert, als ob er über ihm stände. Soviel aber liegt klar am Tage:
jene Freiheit, ivelche nichts zveiter zu tun hat, als sich zu. erhebe7i, nahm
Hr. H. mit ins Irrenhaus; hier fand er nicht sie, sondern ihr Gegenteil;
er fand die Menschen keineswegs erhoben, sondern gesunken. Nun schloß
er: Diese Gesunkenen sollten sich erheben; sie tun es nicht, während sie
doch vermöge der Freiheit es könnten; folglich sind sie böse. Ihr Wahn,
ihr Toben ist ihre Schuld; ihre Narrheit ist Trägheit und Feigheit, wo
nicht Falschheit. Das sind Schlüsse, die aus Fichtes Freiheitslehre folgen,
gleichviel ob Fichte selbst diese Folgerungen gezogen habe oder nicht.
Will irgend einmal Hr. H. sich von diesen Konsequenzen losmachen, so
gebe er die falschen Prinzipien auf; er höre auf, Fichtianer zu sein. Die
Kriminalisten werden ihm das nahe genug legen, falls er fortfährt, sie zu
behelligen; denn diese Männer verstehen besser, was Zurechnung und
Freiheit heiße, sofern diese Worte einen wahren Sinn haben, ganz unab-
hängig von Kant und Fichte. Nur eins hätten wir hierbei zu bemerken,
wenn hier der Ort dazu wäre; Kriminalfälle nämlich, deretwegen der
Arzt nach dem Gemütszustande gefragt wird, in welchem eine Handlung
verübt sei, verraten schon durch die Frage selbst, daß sie in dem Haupt-
punkte, worauf die Zurechnung beruht — dem entschlossenen, besonnenen
und aus dem Charakter der Person hervorgehenden Willen — , nicht ganz
klar sind. Nun geht zwar die Absicht der Frage gewiß nicht dahin,
daß der Arzt Entschuldigungen wegen vorübergehenden Wahnsinns oder
anwandelnder Tobsucht aus Gutmütigkeit vorbringen solle; allein, daß
auf der andern Seite der Arzt die Zweifel des Richters heben solle,
wäre zu viel verlangt; er wird sie meistens entweder verstärken oder
vollends in Gewißheit verwandeln. Doch wir können dies hier nicht
ausführen.
Von welchem praktischen Interesse Hr. Heinroth zu seiner Lehre
von der Materie getrieben sei, und in welchem historischen Zusammen-
hange diese Lehre stehe, wird durch Zusammenfassung des vorhergehenden
nun bald einleuchten; und darauf kommt hier in der Tat mehr an, als
auf die Einzelheiten der Ausführung. Die Materie soll erniedrigt, der
Geist erhöht werden; dies kräftig auszudrücken, spricht man: die Materie
ist nichts ; imd der Geist ist frei! Hätten diejenigen, welche sich ein Ver-
dienst zu erwerben glauben, wenn sie beides mit hochtönenden Worten
verkündigen und ausschmücken, lieber dafür gesorgt, die Freiheit ihres
j8ö J- ^- Herbarts Rezensionen.
eigenen Geistes durch Anstrengung in gründlicher Untersuchung zu be-
tätigen, so würden die großen Wahrheiten, welche in beiden Sätzen aller-
dings enthalten sind, reiner und bestimmter hervorgetreten sein. Es würde
sich gefunden haben, daß man diese Wahrheiten nicht mit ein paar leeren
Allgemeinbegrifilen richtig bezeichnen kann, sondern daß in den wirklichen
Gegenständen, die man dadurch erkennen soll, Verwicklungen eines viel-
fach Mannigfaltigen liegen, wie die Erfahrungen selbst es verraten. Wem
die Erscheinungen der Uiifreiheii in Geisteszerrüttungen unerwartet, ja
sogar seltsam und wunderbar vorkommen, wessen Psychologie dafür keinen
Platz offen hat, der kennt die Freiheii nicht. Und wer in allgemeinen
Theorien von der Materie spricht, ohne zu überlegen, daß jede Materie
eine bestimmte, starre oder flüssige, belebte oder unbelebte ist, dessen
Theorie macht sich schon durch den Umstand, daß sie zur Erklärung
der mannigfaltigen Arten der Materie sich nicht von selbst darbietet,
einer Unrichtigkeit verdächtig. Sind nun falsche Theorien in Umlauf ge-
kommen, so sträuben sich zwar die Anhänger derselben gegen schärfere
Untersuchungen der Begriffe so lange sie können; allein dem Andränge
der Erfahrungen, welche von sorgfältigen Beobachtern gesammelt werden,
vermögen sie doch auf die Länge nicht, sich zu entziehen. Was die
Freiheitslehre anlangt, so hat sich diese schon durch politische Erfahrungen
müssen beschränken lassen; etwas Ähnliches steht ihr jetzt bevor, da in
der Staats- Arzneikunde genauer als früherhin die Zurechnungs- Fähigkeit,
sofern sie bestimmten Gemütszuständen entspricht oder nicht entspricht,
erwogen und erörtert wird. Die von Pinel aufgestellte manie sans delire
ist einmal Gegenstand von Diskussionen geworden, welche von mehreren
Seiten mit Wärme geführt werden: und man hat eingesehen, daß man
die Gemütsbeschaffenheit des gesunden und volljährigen Menschen zum
Vergleichungspunkte wählen müsse, um die Abstände der gradweise ver-
minderten Willensfreiheit von dort aus zu bestimmen. Ob aber Manie
mit Selbstbewußtsein und Vernunftgebrauch bestehe: diese Frage wird
freilich zuweilen so gestellt, daß man dadurch an das schneidende Ent-
iveder-Oder des Fichteschen Ich und Nicht -Ich erinnert wird. Gesetzt,
einem Reisenden würde die Frage vorgelegt, ob das Land, von wo er
komme, gebirgig sei oder nicht: so möchte er vielleicht antworten: es sieht
weder so a?is zoie Holland noch so wie die Schweiz. Das Selbstbewußtsein
ist nun nicht minder vielförmig als ein Gebirge sein kann; und mit einem
kurzen Ja oder Nein sind die dasselbe betreffenden Fragen nicht ab-
gemacht, wofern die Antwort mehr bedeuten soll, als etwa dies: der
Mensch lag in Ohnmacht oder nicht. Kein Selbstbewußtsein umfaßt
alles das auf einmal, wodurch successiv das eigene Selbst ist bezeichnet
worden; am allerwenigsten aber beschränkt es sich jemals auf eine bloße,
reine Ichheit. Und wie die freien Handlungen des Knaben für minder
zurechnungsfähig erachtet werden, als die des reifen Mannes, so gibt es
keine menschliche Freiheit, die nicht noch größer und vollständiger bei
einem höhern Wesen könnte gedacht werden; nirgends aber paßt der
falsche Begriff der transzeiidoi/alen Freiheit, zu welchem Kant verleitet
wurde, da er die praktische Idee der Freiheit theoretisch auffassen wollte.
Wer an diesem unrichtigen Begriffe hängt, dem werden Schwierigkeiten
Joh. Chr. A. Heinroth: Über die Hypothese der Materie usw. 187
ohne Ende, nicht bloß in der Metaphysik begegnen, sondern auch in
der Erfahrung, im Leben und in den Geschäften. Könnte man dem
Knaben, darum weil er dem reifen Manne noch nicht gleicht, gar nichts
zurechnen, so hörte die Erziehung auf; könnte man dem Wahnsinnigen
und Tobsüchtigen nichts zurechnen, so fiele ein bedeutender Teil der
psychischen Heilkunst weg, welcher darin besteht, daß man .den Irren
als einen Halb- Vernünftigen behandelt; müßte aber darum, weil die Zu-
rechnung hier nicht gänzlich aufhört, volle Zurechnung, entweder der im
Wahnsinn begangenen Handlungen, oder (wie bei Trunkenbolden) des
Versinkens in den unfreien Zustand, geltend gemacht werden, — alsdann
gäbe es keinen Damm mehr gegen Heinroths Überspannung, die auch
da moralisiert und frömmelt, wo man die Kunst und die Hilfe des Arztes
erwartet und fordert, soweit sie irgend möglich ist.
Nirgends aber ist das Moralisieren und Frömmeln übler angebracht,
als in der Naturlehre; daher schlugen wir Hrn. H.s Buch von der Materie
mit der Erwartung auf, er werde sich nun in Erklärungen der Tatsachen
versuchen. Wir erwarteten ihn im Gebiete der Physik, Chemie und
Physiologie. Von seiner historischen Einleitung ist hier genug zu sagen,
daß er nicht etwa von einer Geschichte der Entdeckungen und Er-
weiterungen unserer Kenntnisse der Materie, sondern von den Ursachen
der materialistischen Ansichten handelt und sich hiermit sogleich von
der Natur abkehrt, um sich in den Streit der Meinungen zu werfen. Das
stimmt denn auch mit der ganzen Anordnung des Buches, worin sechs
Fragen die Abschnitte bilden: i. Liegt dem Begrifife der Materie eine
wahre Erkenntnis zum Grunde? 2. Was können die Gegner unserer Be-
hauptung, daß der Begriff der Materie bloße Hypothese sei, einwenden?
Wie sind ihre Einwürfe zu widerlegen? 3. Woher stammt der Irrtum im
Begriff der Materie? 4. Wohin führt dieser Irrtum in Wissenschaft und
Leben? 5. Wie ist dieser Irrtum samt seinen Folgen zu vermeiden?
6. Welche Resultate gewinnen wir auf dem wahren Wege der Forschung?
— Wäre es darauf angekommen, eine Predigt einzuteilen, so würde diese
Anlage des Buches ungemein zweckmäßig sein. Eine Abhandlung aber,
worauf die Naturlehrer Gewicht legen sollten, hätte etwa folgende Fragen
beantworten müssen: i. Läßt sich der allgemeine Begriff der Materie
a priori bestimmen? 2. Läßt sich derselbe a posteriori bestätigen? 3. Welche
Klassen von Natur -Erscheinungen bleiben noch unerklärt übrig? 4. Wie
läßt sich die allgemeine Theorie näher bestimmen, damit sich ihre An-
wendbarkeit erweitere? 5, Welche Stufenfolge der größern oder geringern
Wahrscheinlichkeit zeigen die, nach vorgängiger systematischer Unter-
suchung erhaltenen Erklärungen der Phänomene? 6. Welche Grundzüge
der Natur bleiben gänzlich geheimnisvoll und lediglich Gegenstände des
Glaubens? — Alle diese Fragen fallen offenbar in das Gebiet der letzten^
vom Verf. aufgestellten Frage; und man könnte glauben, sie dort be-
antwortet zu finden. Allein der letzte Abschnitt des vor uns liegenden
Buches beginnt mit S. 207 und endigt mit S. 226; und der Verf. benutzt
diesen engen Raum dazu, gegen einige Aussprüche des Baco von Verulam
zu disputieren. Wir müssen uns demnach schon die Lust vergehen lassen,
etwas von der Natur zu hören, außer insofern die anzuhörende Predigt
l88 J- F. Herbarts Rezensionen.
wider den Materialismus hier und da einige Punkte der Naturlehre be-
rühren wird; auch läßt sich nicht verkennen, daß bei dem heutigen Stande
der Wissenschaften und ihrer Streitigkeiten selbst eine solche Predigt, von
der in der Tat sehr gewandten Feder Heinroths, immer noch einiges
Interesse behaupten kann. Um dieselbe nicht ganz ihres Eingangs zu
berauben, heben wir zuerst folgende Stelle gegen das Ende desselben
hervor; wiewohl nur fragmentarisch, um die Predigt und ihre Absicht zu
bezeichnen.
,,Wir können uns das Bestreben derer erklären, welche, um nichts
Heiliges anerkennen zu dürfen, das Werden und Bestehen alles Seins und
Lebens auf die Materie, als den Urgrund, zurückführen, und sich in
dem Gedanken, daß sie selbst nur belebte Materie sind, frei von aller
Belästigung des sogenannten Gewissens — einer törichten Erfindung
furchtsamer Seelen — berechtigt finden^ den Augenblick nach Herzens-
lust zu genießen. So kleidet sich der neue Zeitgeist allmählich in den
Naturalismus und Materialismus ein. Jener, die Anbetung der Natur, der
Kunst und des Altertums, ist die Religion der Stolzen, die wohl etwas
Göttliches anerkennen, aber sich ihm nicht opfern mögen; dieser, der
Sinnendienst, ist die Religion derer, die sich dem Genüsse opfern. Wollte
man hier sagen : du ziehst fremdartige Dinge in deine Betrachtting, so muß
ich antworten, daß wir den Ursprung jener theoretischen Überzeugungen
verfolgen, wiefern dieselben durch den Zeitgeist begründet sind; der Zeit-
geist spricht aber stets die Gesinnungen und Bestrebungen der Menge aus ;
er geht folglich aus praktischen Motiven hervor. Wie der Mensch gesinnt
ist, so denkt und handelt er." Daß eine Abhandlung über die Materie
nicht von der Menge gelesen wird, weiß der Verf. ohne Zweifel; daß
Naturforscher nicht zur Menge zu rechnen sind, daß ihr wissenschaftliches
Streben gerade gar nicht von praktischen Motiven geleitet wird, sondern
lediglich vom theoretischen Interesse; daß es davon ganz allein geleitet
werden nmß, wenn es nicht gleich anfangs die Richtung verfehlen soll,
dieses weiß er hoftentlich auch; und ist demnach vermutlich daraufgefaßt,
daß diejenigen, gegen welche er predigt, sich nicht einfinden und ihn nicht
hören werden. Für wen redet er denn? Schwerlich für andere, als für
einige ängstliche Beobachter des Wetters, das man Zeitgeist nennt. „Der
theoretische Zeitgeist will zvenigstetis die Welt begreifen, die er nicht besitzen
kann, und den Geist zu sich herabziehen, zu dem er sich nicht erheben kann.
Daher der jetzt iri das Grerizenlose geratene Stolz der Wissenschaft^ oder viel-
mehr derer, die sich in dem eingebildeten Besitz derselben selbst ver-
göttern." Fichte hat wohl manches hart anklagende Wort gesprochen;
doch solche Reden gegen harmlose Naturforscher, erinnern wir uns nicht,
von ihm vernommen oder gelesen zu haben, und der Druck der Zeit,
worin er die Sündhaftigkeit größer sah als sie war, ist jetzt lange vorüber.
Hr. H. aber spricht Imite: „Das Forschen nach Wahrheit, um der Wahr-
heit willen, ist jetzt außer Kurs gekommen. Wenn es bloß die Philo-
sophie wäre, der man untreu wird, weil sie nie hält, was sie verspricht,
so möchte dies Verfahren sogar für Weisheit gelten; denn mit Recht
wendet man sich nur nach der Seite hin, wo gehalten wird, was man
verspricht, nach der Seite der echten Religion; allein weder Philosophie
Joh. Chr. A. Heinroth: Über die Hypothese der Materie usw. igo
noch Religion kommt in Anschlag da, wo es bloß Beförderung des
selbstischen Interesse gilt," usw. Wir lassen ihn fortpredigen und über-
schlagen auch seinen ersten Abschnitt, worin er seine kleine, oben schon
angeführte, lateinische Dissertation auf Deutsch wiederholt, folglich auch
wieder Kantianer ist, und die alten Reden von Kants erstaunenswürdiger
Kühnheit u. dergl. aufs neue vernehmen läßt. Im zweiten Abschnitte, dem
längsten im Buche, herrscht eine scheinbare Gründlichkeit, die vielleicht
manchen der Naturlehre minder Kundigen wird täuschen können. Zuerst
werden die Physiker mit Inbegriff der Chemiker und Physiologen redend
eingeführt, ja selbst den Verf. anredend und ihn tadelnd; und als ob diese
ihnen in den Mund gelegte Rede ein authentisches Aktenstück wäre, sind
Zeichen von a bis zz beigeschrieben, damit ebenso viele Noten zum Text
nachfolgen können, worin der Verf. sich verteidigt. Hiermit nicht zu-
frieden, disputiert er noch überdies gegen zwei Philosophen : gegen Krug,
weil dieser sich zunächst an die Physiker anschließe, und gegen Hegel, weil
dessen Name an der Tagesordnung sei. Man sieht, der also angeordnete
zweite Abschnitt hätte für sich allein zu einem starken Werke anwachsen
müssen, wenn es dem Verf. darum zu tun gewesen wäre, eine ernstliche
Arbeit von einigem wissenschaftlichen Werte zu liefern. Er hätte sich
alsdann, was die philosophischen Lehren anlangt, an die Quellen gewendet,
das heißt an Kant und Schelling; er hätte sich erinnert, daß in der
Untersuchung über die Materie vor allem die mathematischen Physiker
müssen gehört werden, — aber freilich, Mathematik ist nicht nach Hrn.
H.s Geschmack. Wie die Sache vorliegt, ist es kaum mögüch, daß wir
einen Bericht darüber erstatten. Die höchst flache Rede, welche den
Physikern als die ihrige untergeschoben wird, bedeutet gar nichts; das
einzige Interessante, nämlich Hrn. H.s Äußerung über seine eigene Natur-
ansicht, ist in achtundvierzig kurze Anmerkungen zerhackt, anstatt einer
zusammenhängenden Darstellung! Daß der Verf. wirklich aus den alten
Seelenvermögen, Sinn, Verstand und Einbildungskraft, die Materie zusammen-
zimmern will, unbekümmert um die schlechthin unmögliche Aufgabe, auf
diesem psychologischen Wege teils unsere Vorstellungen der verschiedenen
Materien und ihres eigentümlichen Verhaltens, teils die Reihenfolge der
Entdeckungen, der Irrtümer und Streitigkeiten zu erklären: auf diese weit
verbreitete idealistische Verblendung wollen wir uns für jetzt nicht ein-
lassen. Auf gut Glück in die angehäuften kurzen x\n merkungen oder
Noten zum Texte hineingreifend, heben wir einiges heraus. „Es gibt keine
bessern sinnlichen Beweise gegen die Materialität der sogenannten Materie,
als die aus der Chemie. Woher die U)mva?idhinge?i der Körper?" (Ge-
nauer hieße die Frage : woher die bestimmten, für jede Art von Materien
gesetzlich wiederkehrenden Umwandlungen ?) „Daß z. B. das Gold nicht
bloß mechanisch im Königswasser aufgenommen, sondern völlig meia-
viorphosiert wird, möchte wohl heutzutage schwerlich ein Chemiker leugnen."
(Ist denn ein solches : mochte züohl nicht leugnen, und zwar nach jetziger
Mode, ein Beweis? — Doch wir unsererseits wollen bloß fragen: was
bedeutet denn wohl das Wort: metamorphosiert oder auf Deutsch: um-
gestaltet? Sollen wir es räumlich oder unräumlich und wahrhaft innerlich
verstehen? Sollen wir dabei an etwas Gesetzliches oder Zufälliges denken?)
jQQ J. F. Herbarts Rezensionen.
,, Woher also die völlige Aufnahme in eine andere Wesenheit, oder die völlige
Annahme eiiier arideren Wesenheil, ivenn nicht die Körper ihre Körperlichkeit
ablegen, ganz eigentlich lüie ein Gezvand?" (Das Gleichnis wäre passend
genug, wenn der Verf. wüßte, rvozu es paßt. Denn die innere Meta-
morphose, das Eintreten eines neuen inneren Zustandes, welches bei jeder
chemischen Verbindung wirklich in jedem Elemente vorgeht, ohne im
geringsten eine Raumbestimraung zu sein — diese Metamorphose ist
gerade das Gegenteil von Annahme irgend einer andern Wesenheit; und
das Wort oder hat sich vollends an die unrechte Stelle hin verirrt, in-
dem die Aufnahme in eine andere Wesenheit jener Metamorphose gleich-
gesetzt wird. Doch wir wollen von Hrn. H. nun schon nichts mehr ver-
langen, das den Namen einer Untersuchung und einer wirklichen Kenntnis
der Materie verdienen möchte, wenn nur seine eigenen Gedanken unter
sich zusammenhingen. Aber man höre weiter:) „Was wir also Körper-
lichkeit oder Stoffheit nennen, wäre bloße Form und nicht die Wesenheit
des Körpers. Worin bestände aber diese Wesenheit? Wir haben keinen
andern Ausdruck für das Wesen der Körper, als das Wort Kraft. Ist dem
so, so sind die Körper sämtlich nur Kräfte in bestimmten Formen oder
Beschränkungen, welche letztere wir fälschlich für ihr Wesen halten, denn
jede Beschränkung ist nur eine Negation. Beschränkungen aber lassen
sich durch Einwirkung anderer Kräfte aufheben und anders modifizieren.
Daher die mögliche Auflösung und Reduktion des Goldes. In der Atmo-
sphäre findet ein beständiger Umwandlungs-Prozeß dieser Art statt. Daher
die Möglichkeit der Entstehung der Aerolithen aus Luft." Diese Probe
von Naturphilosophie verdient doch in der Tat, daß wir sie genauer be-
sehen. Also weil Körperlichkeit bloße Form ist (und das dürfte Hr. H.
nun endlich allenfalls als bekannt und von den meisten zugestanden vor-
ausetzen), darum kann es erlaubt sein, die Frage nach der Wesenheit des
Körpers in eine Frage nach Ausdrücken und nach Worten zu verwandeln?
Hätte Hr. H. andere Gedanken, so würde er um Worte nicht verlegen
sein; denn man schafft sich Worte zu Begriffen, sobald man wirklich etwas
gedacht und erforscht hat, welches wert ist, Worte zu finden. Daß er
sich hier an das alte vieldeutige, und eben deshalb ohne nähere Erklärung
ganz unbrauchbare Wort Kraft wendet, ist das vollständigste Bekenntnis,
nicht bloß von gänzlicher Unkunde dessen, worauf es in der Lehre von
der Materie ankommt, sondern von einer Sorglosigkeit ohne Grenzen, der
man es erst noch sagen muß, daß ein tüchtiger Denker da, wo Begriffe
fehlen, die Worte, welche etwa sich einstellen, geflissentlich verschmäht,
weil die Frage, solange sie nicht wirklich beantwortet ist, auch nicht
übertüncht werden darf. Indessen hat es der Verf. doch nun dahin ge-
bracht, daß uns seine Meinung von der Materie ziemlich deutlich ge-
worden ist. Er meint nämlich, es gäbe gewisse Kräfte, die sich ver-
• schiedentlich beschränken lassen; die Körperlichkeit erscheine infolge der
Beschränkung und wie zufällig diese, so zufällig sei auch jene. Daher
kein Wunder in der Auflösung, und folglich auch keins in der Reduktion!
Treffliche Schlüsse! Warum sollte nicht eine gewisse Beschränkung sich
ändern und dann wiederkehren? Nu novi sub sole, sagt man ja auch von
menschlichen Angelegenheiten, wenn die Menschen und Staaten sich in
Job. Chr. A. Heinroth: Über die Hypothese der Materie usw. igi
neuerer Zeit ungefähr auf ähnlkhe Weise beschränken, wie bei den Alten;
und darum ähnliche Erscheinungen darbieten. So nun geschieht auch
nichts Neues, wenn eine gewisse Kraft, die früher als Gold erschien, und
später vermöge veränderter Begrenzung sich unsern Augen in Form einer
Auflösung darstellte, jetzt abermals die Gestalt des Goldes gewinnt, weil
wigefähr auf ähnliche Weise die ältere Beschränkung sich erneuert.
Nun versuche doch der Verf. diese Theorie von zufälligen, anders
und anders modifizierten, keiner festen Regel unterworfenen, in unendlich
mannigfaltigen Abwechselungen, wie im Winde des Zeitgeistes dahin
schwebenden Beschränkungen und Erscheinungen, den Chemikern an-
nehmlich zu machen; damit sich dieselben hieraus die genaue, vollständige,,
von ihrem Willen abhängige Reduktion bestimmter Metalle durch be-
stimmte Reduktions-Prozesse verständlich machen. Vielleicht werden die
Männer ihn fragen, ob er denn meine, daß jemals eine alte Zeit für
Menschen sich so genau zurückrufen lasse, wie man im Schmelztiegel die
alten Metalle wiederfindet? Sicherlich werden sie nicht um seinetwillen den
ihnen höchst nötigen Begriff von Substanzen, von deren bestimmter Qualiät,
und von den Verhältnissen dieser Qualitäten (auf welche Verhältnisse die
Chemie überall hinweiset, und deren die Theorie eigentlich allein bedarf),,
einer luftigen Vorstellung von Beschränkungen ohne nachgewiesenes Gesetz,
zur leichten Beute dahin geben. Um jedoch Hrn. H. nicht unrecht zu
tun, hätten wir ihn, den Arzt, gern in einer ihm näher liegenden Wissen-
schaft, der Psychologie, aufgesucht. Allein ob dies möglich sei, beurteile
man nach einigen Proben. ,, Nicht die Pflanze kommt aus dem Kohlenstoffe,
sondern dieser kom?nt aus der Pflanze, nachdem die Pflanze verbrannt ist."
Woher der Stoff des Diamanten, woher die Kohlensäure im Kalk, woher
die Kohle im Graphit: darüber kein Wort. ,, Gestalt und Leben aus den
Stoffen abzuleiten, ist ein absurdes Unternehmen." Ja freilich, wenn man
den absurden Begriff des Stoffes einmal aus dem ebenfalls ungereimten
Begriffe der Substanz, so wie ihn die Kategorienlehre darbietet, ohne alle
weitere Kritik und Untersuchung, aufgenommen hat. ,, Wenn ivir uns nicht
so sehr zerteilt., nicht so sehr ein Totes vom Lebeiidigen.^ ein Passives vom
Tätigen, tind wiederum ein Selbsttätiges vom Einivirkenden geschieden hätten,
so würden wir wohl mit der Natur vertrauter sein." Warum hat denn
Hr. H. das alles zerteilt, entgegengesetzt, geschieden? Wer hindert ihn,
seine metaphysischen Studien von vorn wieder vorzunehmen, um ein-
zusehen, daß diese Scheu vor dem Toten und Passiven eine wahre Ge-
spensterfurcht, die Einbildung von Kräften in der Materie aber um nichts
klüger ist? Wie es mit seiner Metaphysik steht das verrät uns schon seine
Äußerung über Kant, dessen Beweise für die Subjektivität des Raums
schlagend sein sollen! Wenn Hr. H. Bücher über philosophische Gegen-
stände schreiben will, so sorge er dafür, mit der Zeit fortzugehen. Es
ist längst gezeigt, daß an der ganzen Kantischen Lehre über Raum und
Zeit nur ein einziger Punkt wahr ist; dieser nämlich, welcher sich von
jeher hätte von selbst verstehen sollen, daß in der unmittelbaren sinn-
lichen Empfindung (der Farben, Töne usw.) weder Raum noch Zeit ge-
geben wird. Alles andere, von der notwendigen Vorstellung a priori, bis
zu den unendlichen Größen, als welche Raum und Zeit vorgeblich sollen
IQ2 J- F- Herbarts Rezensionen.
vorgestellt werden, ist längst widerlegt; und es war Hrn. H.s Sache, diese
Widerlegung zu kennen; so wie es ihm jetzt überlassen bleibt, sie auf-
zusuchen. Die Nachsicht, welche man mit älteren INIännern hat, wenn
sie sich um neuere Untersuchungen nicht bekümmern, paßt, soviel wir
wissen, auf ihn nicht; auch ist hier gar nicht einmal nötig, ihm irgend
eine Beschwerde, etwa von Rechnungen, die freilich zur psychologischen
Theorie des Raums unentbehrlich sind, anzumuten. Zwar findet er sich
genötigt, „den Raum als ein ivirkliches Etivas^ als einen Gegenstaiid außet
utis, zu denken". Aber das wird wohl nicht sein Ernst sein. Der bloße
Raum ist leer; das Leere ist nichts; ein wirkliches Etwas aber ist das
Gegenteil des Nichts, mithin das Gegenteil des Raums. Die Schwierigkeit
der Untersuchung betrifft nicht gerade den Raum, sondern das Räum-
liche, was in bestimmten Gestalten gegeben wird. Daß die Bestimmtheit
der Gestalt, worin sich jedes Ding zeigt, uns mit der Empfindung der
Farbe und des Tastens zugleich aufgedrungen wird, daß sie offenbar von
der Empfindung abhängt, und daß^ wenn dies Abhängen der wahrgenommenen
Gestalt von der Empfindung nicht wäre, alsdann gar keine Beobachtung, keilte
Messung, keine Sinnes- Erkenntnis stattfätide : dies ist der Fragepunkt der
Psychologie, auf welchen es ankommt, und der gerade deshalb, weil keine
Empfindung unmittelbar die Raum- und Zeit -Bestimmung enthält noch
enthalten kann, rätselhaft aussieht. Je mehr nun einer von dem unend-
lichen leeren Räume, der unendlichen leeren Zeit, der eingebildeten Not-
wendigkeit dieser Vorstellungen a priori usw. zu reden liebt: um desto
deutlicher sieht man, daß ein solcher — sei es nun Kant oder sei es
Hr. Heinroth — den wahren Fragepunkt verkennt und verfehlt. Wir
erwähnen dieses Umstandes hier, um einen Rückblick auf das Vorher-
o-ehende zu veranlassen. Die Bestimmtheit der chemischen Reduktionen,
durch welche ein gewisses Metall gerade als dasselbe, was es war, wieder
zum Vorschein kommt, blieb unbeachtet, als der Verf. von Kräften redete,
die, man weiß nicht wie und warum? sich beschränkt finden sollten. Das
Problem, was die Natur aufgibt, war mit halben Gedanken aufgefaßt
worden. Ebenso ist's der Frage nach dem Ursprünge unserer Anschauungen
der Dinge im Räume gegangen. Über den Raum, das leere Nichts, hat
man viel unnütze Worte geredet; die gegebenen, wahrgenommenen, räum-
lichen Gestalten sind vergessen oder kurz abgefertigt; ins Allgemeine,
Unbestimmte, Unendliche hat man sich verioren, die Bestimmungen hat
man beiseite gesetzt. So nun ist's überall in der Spekulation geschehen;
daher die zahllosen leichtfertigen Deuteleien, womit Nebler und Schwebler
von allen Farben neuerlich, so wie in altem Zeiten, die Metaphysik in
undurchdringliches Dunkel hüllten. Solche Manier des Philosophierens
kann heutigestages nicht länger bestehen. Wir wollen hier nicht von
Hegels scharfem und schroffem Wesen reden, welches eine entgegengesetzte
Schärfe herbeiführen wird; Rez. ist nicht berufen, sich als Hegels Lob-
redner darzustellen. Aber ]\Iathematik und Naturwissenschaft wirken all-
gemein dahin, eine Präzision des Denkens hervorzurufen, vor welcher die
Metaphysik verschwinden müßte, wenn sie nicht in sich selbst Mittel genug
besäße, um sich von innen heraus zu reformieren. Noch weiter zurück-
blickend, erinnern wir uns der Freiheitslehre. Auch diese ist von ahn-
Joh. Chr. A. Heinroth: Über die Hypothese der Materie usw. ig^
lichem Nebel umzogen, wie jene chemischen (und wir können sogleich
hinzusetzen, wie die organischen) Umwandlungen der Materie, und wie
die räumlichen Wahrnehmungen. Mit halben Gedanken hat man Bruch-
stücke von innerer und äußerer Erfahrung mythologisch ausgeschmückt,
statt für ganze Erfahrungen und ganze Gedanken Sorge zu tragen; hinten-
nach meint man durch hartnäckige Streitigkeiten sich Verdienste zu er-
werben, anstatt für gesunde Begriffe zu sorgen, die in der Politik, in der
Pädagogik, in der psychischen Heilkunde brauchbar seien. Aus derjenigen
freien Richtung der Aufmerksamkeit, aus der Freiheit des Überlegens,
Urteilens und Handelns, welche der gesunde, erwachsene und moralisch
erzogene oder irgendwie gebildete Mensch in sich findet ; aus seiner Fähig-
keit, mit sich ins Gericht zu gehen, sich selbst anzuklagen, sich reuevoll
der Anklage hinzugeben, sich zu bessern und zu läutern, — hätte man
Veranlassung genug nehmen können, den psychologischen Prozeß, der
dabei jedesmal vorgeht, genauer in sich und teilweise auch in andern zu
beobachten. Man würde bald die verschiedenen Gedankenreihen haben
sondern können, welche in solchen Fällen sich abwechselnd im Bewußt-
sein heben und senken; man würde sogleich begriffen haben, daß, wenn
entweder die Gedankenreihen fehlen, wie beim Kinde, oder einen falschen
Inhalt haben, wie beim konsequenten Egoisten und beim Fanatiker, oder
nicht im gehörigen Verhältnisse stehen wie bei gemeiner Genußsucht, oder
vermöge irgend eines physiologischen Hindernisses nicht zur vollen Wirk-
samkeit gelangen können, wie in Traum und Wahnsinn, alsdann jene
Freiheit für so lange, bis der Fehler gebessert ist, nicht stattfindet, wie-
wohl sie bei dem zweiten dieser Fälle früherhin irgend einmal mag statt-
gefunden haben; ähnlich dem Falle des Betrunkenen, der mit mehr oder
weniger Freiheit sich dem Rausche hingab, welchen er voraussehen mußte.
Statt aller dieser Betrachtungen verwandelt man, die Augen zudrückend,
die Freiheit, welche in gewissen Gemütszuständen erfahrungsmäßig ihren
Sitz ' hat, lieber in ein Seelenvermögen. Damit geht alle Bestimmtheit
dessen, was man wirklich in sich und in andern wahrnahm, verloren;
folglich verliert sich auch die Sorgfalt, welche der geistigen Gesundheit
stets gebührt; denn man rechnet darauf, ein Seelenvermögen könne nicht
aus der Seele verschwinden; folglich fordert man, mit Hrn. H., die Freiheit
am Ende selbst vom Wahnsinnigen und könnte sie mit gleichem Rechte
vom kleinsten Kinde fordern, indem es ja sogleich, wie Minerva aus
Jupiters Kopfe, mit voller Besinnung an das vollständigste Moralsystem zur
Welt kommen müßte, wofern es nur die Freiheit gebrauchte, die es ja
besitzt! Alle diese — und wie viele andere Absurditäten vermögen nicht,
diejenigen zur Besinnung zu bringen, die einmal an den schädlichsten
Vorurteilen kleben, welche ihnen freilich als die wohltätigsten vorkommen.
So unfrei ist ihr Denken. Sie haben damit angefangen, ihre Innern Er-
fahrungen, welche den Standpunkt ihrer Gesundheit, ihrer Altersreife,
ihrer Ausbildung bezeichneten, loszureißen aus dem größern Ganzen der
psychischen Erfahrung an Menschen auf andern Standpunkten; und daß
vollends ein weithin laufendes Band selbst bis zu den Tieren sich fort-
zieht, welches der gründliche Psycholog durchaus nicht vernachlässigen
darf, hieran, meinen sie, könne niemand wagen, sie zu erinnern. Die
Herbarts Werke. XIII. ^3
IQA J. F. Herbarts Rezensionen.
falsche wissenschaftliche Form, welche das Wort psychische Anthropologie
aussagt, ist sogar für eine Verbesserung gehalten worden; und man über-
legt nicht einmal soviel, daß nun die psychischen Beobachtungen an Tieren
um desto sicherer den Physiologen und ihrer bekannten Neigung zum
Materialismus, anheimfallen. Warum hat denn Hr. H., der ja doch des
Franzosen Flourens erwähnt, in einer so langen Strafpredigt wider den
Materialismus sich gar nicht darauf eingelassen, sich gegen die Zerstreuung
der Seelenvermögen in verschiedene Gehirnteile zu erklären, oder wenigstens
gegen Mißdeutung der vorhandenen Experimente zu warnen? Meint er
etwa, das Vermögen der Anfnierksamkeit^ welches den allermeisten Tier-
klassen notwendig muß zugeschrieben werden, wenn man überhaupt noch
von Vermögen reden will, könne füglich den Erklärungen oder Behauptungen
der Physiologen preisgegeben werden, ohne daß die Freiheit des mensch-
lichen Willens dabei in Verdacht gerate? Was bleibt denn von der Freiheit,
wenn die Aufmerksamkeit, ohne gehörige Unterscheidung ihrer sehr ver-
schiedenen Arten und Gründe, der Materie des Gehirns anheimfällt?
Wird sie etwa minder gefesselt, minder determiniert sein, wenn wir anstatt
der bisherigen Materien die Kräfte des Hrn. H. und deren Beschränkungen
annehmen? — Solange zerrissene Erfahrungen und halbe Gedanken für
ganze gelten, kann in alles dies Dunkel kein Licht fallen. Allein man
darf hinzusetzen: die physiologische Beobachtung selbst kommt demjenigen
zu Hilfe, der einmal den ganzen Begriff der Materie — eine innige und
notwendige Verbindung der räumlichen Konstruktion mit den unräumlichen
innern Zuständen der Elemente — gehörig begriffen hat. Denn es ist
wiederum nur eine Zerstückelung der Erfahrung, die Materie für eine
bloße Äußerlichkeit zu halten. Selbst der roheste Stein hat sein Gefü^re
und seine Cohärenz; und das ist schon weit mehr, ja etwas ganz anderes,
als bloße Lagerung von Teilen nebeneinander, samt allgemeiner Gravi-
tation. So wenig nun mit Kantischer Attraktion und Repulsion anzufangen
sein würde, die nicht einmal den niedrigsten, viel weniger den höheren
Bildungen der Materie genügt: so halten wir uns dennoch berechtigt, die
sämtlichen animalen sowohl als chemischen und mechanischen Erscheinungen
der Körperwelt insoweit für etwas vollkommen Begreifliches zu erklären,
als nötig ist, um sich über deren Mannigfaltigkeit, und die zwischen ihnen
vorkommenden Übergänge nicht mehr zu wundern. Was insbesondere
die Lebens -Erscheinungen anlangt, so muß man sich nur davor hüten,
das Leben nicht auf ähnliche Weise wie etwas aus der Fremde hinzu-
kommendes darzustellen, wie die Anhänger der transzendentalen Freiheit
sich etwa diese, samt der Vernunft, als eine besondere Zugabe zu den
untern Seelenvermögen denken. Alle diese Gegenstände hängen in der
wahren Theorie ebenso innig zusammen, wie sie sich in der Erfahrung
verbunden zeigen. Und so kann jenem, oben angeführten Gegner des
Hrn. H. vollkommen Genüge geleistet werden; indem weder zwischen der
materialen Basis und der Lebenskraft, noch zwischen animalem und
physischem Leben eine totale Zweiheit eintritt, vielmehr alles sich ver-
knüpft und zusammenpaßt, ohne sich zu verwischen. Hierbei aber
setzen wir voraus, der Naturforscher kenne seine Schranken. Er ist
nämlich, als solcher, nicht Richter. Gerade so wenig, als es Hrn. H. ge-
Joh. Chr. A. Heinroth: Über die Hj^DOthese der 2»Iaterie usw. ig^
lingen kann, das Schwert der Gerechtigkeit den Wahnsinnigen furchtbar
zu machen: läßt sich wirkHche Verschuldung des besonnenen Menschen
durch irgend eine Theorie vermindern. Das praktische Urteil wartet
durchaus nicht auf spekulative Erklärungen; es ist absolut, und trifft
seinen Gegenstand, sobald derselbe tatsächlich vorhanden ist. Allein
wir halten uns verpflichtet anzunehmen, daß verständige Ärzte, wo sie
unternahmen, begangene Verbrechen zu entschuldigen, im Grunde nichts
anderes beabsichtigten, als die Tatsache der vorhandenen Besonnenheit
in Zweifel zu stellen; und hierin mag die Wahrheit wohl öfter auf ihrer
Seite sein, als zuweilen die Richter, welche mit dem Wechsel mensch-
licher Gemütszustände minder vertraut sind, leicht finden zu glauben.
Verhält es sich so: dann streitet man nicht um das praktische Urteil,
sondern um die Beschaffenheit des vorliegenden Gegenstandes. Andrer-
seits leuchtet ein, daß Hr. H. in solchem Streite Veranlassung finden
konnte, von dem sehr bekannten und nicht seltenen Übergange der tadelns-
wertesten Leidenschaften in Wahnsinn und Tobsucht als von einer in
Hinsicht des Wahnsinns allgemeinen Regel zu sprechen, und die Ereignisse
dieser Art als natürliche, ja als göttliche Strafen zu betrachten. Jede
wirkliche oder doch anscheinende Übertreibung auf der einen Seite pflegt
entgegengesetzte Übertreibung zur Folge zu haben. Einmal in Eifer ge-
raten, sucht er nun auch in dem vorliegenden Buche (als ob es jetzt noch
Zeit wäre, gegen den veralteten französischen Materialismus zu Felde zu
ziehen) von theoretischen Irrtümern im Begriff der Materie den Grund
in dem ,,gottvergessenen Herzen". Er redet weiter von der Wissenschaft,
die sich dermalen zur Despotie über alles aufwerfe, was nur Gegensta?id
heiße. Über diesen Punkt nähert freilich Rez. sich der Meinung des
Hrn. Hr. und findet in der Tat, daß man hier und da der Wissenschaft
die Miene gibt, als hätte sie „festzustellen, ob und wie Gott sein und
wirken solle". Allein es gibt Übel, die schlimmer werden, wenn man
viel davon redet, die hingegen von selbst aufhören, wenn ihr Grund sich
ändert. Und wie könnten wir über die Frage, wie der Irrtum zu ver-
meiden sei? mit dem Verf. übereinstimmen? Er tadelt das wissenschaft-
liche Denken als ein eigenmächtiges und vermessenes; er spricht: zueg mit
der Wissenschaß, die dem Absoluten nachläuft, ivie der Knabe dem Regen-
bogen. Rez. dagegen ist der Bleinung, daß, wenn niemals einer dem
Regenbogen nachgelaufen wäre, man sich auch nie deutlich überzeugt
haben würde, er schwebe zu hoch, um ergriffen zu werden. Die ver-
geblichen Versuche sind am Ende immer belehrend. Daß aber die Materie,
welche uns überall zum Anschauen dargeboten ist, auf jede Weise unter-
sucht wird, dies liegt ja wohl so sichtbar, als irgend etwas, im Kreise der
göttlichen Veranstaltungen; und so gewiß dem Verf seine theoretischen
Mißgriffe in dieser Sache nicht moralisch übel gedeutet werden dürfen,
ebensowenig wird sein Beruf, andere von schärferen Untersuchungen des
nämlichen Gegenstandes abzuschrecken, bei denkenden INIännern An-
erkennvmg finden.
13 =
IQÖ J- F. Herbarts Rezensionen.
Mehring, G., Über philosophische Kunst. Erstes Heft: Eine
historische Vorfrage. — Stuttgart, bei Gebr. Franckh, 1828. XXVI
und 102 S. 8. (18 Gr.)
Gedruckt in: Halliscbe Literatur -Zeitung E. Bl. (Ergänzungsblätter zur Hallischen
Allgemeinen Literatur-Zeitung) 1830, Nr. 34. SW. XIII, S. 616.
„Nicht ohne Scheu (sagt der Verf.) lege ich einstweilen meinen Ver-
such dem Publikum vor, von seinem Urteile wird es zum Teil abhängen,
ob ich diese Untersuchungen fortsetzen darf." Philosophische Schriftsteller,
die so auftreten, pflegen sich gern von mehreren Seiten zu zeigen; und
so hat denn auch diese kleine Schrift eine besondere Vielseitigkeit, welche
wir, aufrichtig gesagt, bedauern, weil eine ausgezeichnet reine Schreibart
uns begierig macht nach einem festen Kern, den wir nicht finden können.
Was versteht der Verf. unter philosophischer Kunst? Meint er, diese
Kunst sei einfach und für alle Teile der Philosophie nur eine und die-
selbe? Hält er sie für ein Eigentum des Genies, wofür es kein Lehren
und Lernen gibt? Soll die historische Vorfrage wohl dahin weisen, ein
vergangenes goldenes Zeitalter der philosophischen Kunst aufzuspüren? —
Solche Fragen dringt uns der Titel auf. Das Büchlein sagt: „Vielleicht
hätte ich statt philosophische Kunst auch philosophische Methode setzen
können;" und nun folgen unzulängliche Bemerkungen über das Wort
Methodenlehre, woraus wir nichts anderes schließen können, als daß der
Verf. wirklich den Ausdruck Methode anstatt Kunst hätte gebrauchen
sollen. „Mein Standpunkt (sagt er) ist ganz am Anfange der Philosophie;
der des kritischen Beobachters ihrer Genesis!''- Damit stimmt folgende
spätere Äußerung zusammen: ,,Der Boden, auf dem die Philosophie
wurzelt, aus dem sie ihre Sätze zieht, auf dem sie allein ihre Systeme
bauen kann, ist der menschliche Geist, und es ist deswegen auch im-
bestritten anerkannt und oft wiederholt worden, daß die Philosophie von der
psychologischen Untei sucJmng über den Menschen anfangen müsset Freilich
ist das oft genug wiederholt, selbst bis zur Erschöpfung der Geduld; aber
unbestritten anerkannt ist es nicht. Glauben konnte dieser unrichtige
Gedanke so lange finden, als man von den Schwierigkeiten der Psycho-
logie keinen Begriff hatte; und bedecken konnte man den Fehler so lange,
als man gegen alle Regeln einer tüchtigen Erfahrungswissenschaft (welche
das Gleichartige zusammenzustellen gebieten) die Beobachtung der Menschen
von der Beobachtung der Tiere losriß, ja sogar die innere Selbst-Aiischatamg^
welche allemal individuell ist, für gleichgeltend mit Menschen-Beobachtung
hielt und darin die Quelle der psychischen Anthropologie finden wollte.
Merkwürdig ist aber nun die Wendung, wodurch der Verf. sich den
Schwierigkeiten der Psychologie entzieht. Um sich an den äußersten
Rand der Philosophie zu stellen und deren Genesis zu beobachten, ver-
wechselt er mit der Wissenschaft die Geschichte derselben, und während
wir nun der Vorrede gemäß erwarten, er werde bei der Sinnlichkeit an-
fangend die bekannte Leiter der Seelenvermögen bis zur Vernunft hinan-
steigen, erblicken wir ihn im Buche selbst beschäftigt mit den sieben
Weisen, insbesondere mit dem Thales. Statt der angekündigten Probe
G. Mehring: Über philosophische Kunst. igy
von philosophischer Kunst empfangen wir eine Probe von Gelehrsamkeit,
von Belesenheit im Platon usw. „Damit man erfahre (sagt die erste
Seite des Buchs), welches die Aufgabe der philosophischen Kunst sei, muß es
daran liegen, zu untersuchen, wie sich die Forderungen des menschlichen
Geistes unter den verschiedensten Umständen ausgesprochen haben, um
durch Indiiklion der verschiedenen Aufgaben sowohl als ihrer Lösung, die
apriorische Disjunktion derselben zu bestätigen und ihr gleichsam eine
Kontrolle aufzustellen." Also, schließen wir, befindet sich die erwähnte,
einer Kontrolle zu unterwerfende Disjunktion schon in den Händen des
Verf.; und die große Zuversicht der sogenannten psychischen Anthropologie,
auf deren Boden er sich stellen will, läßt uns nicht lange zweifelhaft, zu
welcher Schule wir ihn rechnen sollen. Die Unbefangenheit, womit von
„der Kritik des Y.x\^xm\xi\%vermögens, welche die philosophischen Aufgaben
und die Hauptarten ihrer möglichen Auflösung deduzieren sollen," ge-
sprochen wird — als ob diese Meinungen noch heutigestages die un-
angefochtene Basis und den INIittelpunkt des philosophischen Forschens
und Streitens ausmachte — , gibt dem Büchlein das Ansehen, als wäre
es vor zwanzig Jahren geschrieben und käme nun zufällig ans Licht.
Wahrscheinlich lebt der geistreiche und gelehrte Verf. zu sehr abgesondert
von literarischen Kreisen, um mit dem jetzigen Stande der Philosophie
bekannt zu sein ; oder es müssen ihn die zurückstoßenden Kräfte, welche
leider ! zu sehr in der heutigen Spekulation wirksam sind, stärker als billig
afKziert haben. Doch ganz allein hieran liegt es bei ihm nicht. Man
sieht vielmehr auch eine positive Kraft des Vorurteils für Tatsachen bei
ihm geschäftig, welche an den Platz der Gedanken treten sollen. Er
meint, die Geschichte der Wissenschaft sei für keine andere Wissenschaft
so wichtig, als für die Philosophie ; und erst aus der Summe aller möglichen
Systeme könne das System der objektiven Philosophie konstrjiiert werden. Wer
so sprechen kann, dem raten wir geradezu, von philosophischer Kunst
zu schweigen. Denn offenbar fehlt ihm der eigentliche Nerv des Philo-
sophierens, das kräftige Erzeugen eigner philosophischer Gedanken,
welches von jeder, irgendwie denkbaren Benutzung vorhandener Systeme
toto genere verschieden ist. Hiermit aber wollen wir den Verf. nicht
abschrecken vom Schreiben. Nicht unter den eigentlichen Denkern, aber
wohl unter den Gelehrten kann er einen anständigen Platz erlangen. Mit
diesen mag er überlegen, was die oo^iu. in der Urzeit griechischer
Spekulation gewesen sei. Sie werden ihm gern glauben, daß Lexiko-
graphie im historisch- pragmatischen Sinne, worin aus der Geschichte ge-
wisser Wörter die Bildung der Völker und Wissenschaften aufgeklärt
werden soll, etwas höchst Verdienstliches sei; nur mit philosophischer
Kunst hat ein so gelehrtes Geschäft wenig gemein.
jgg J- F. Herbarts Rezensionen.
Hegel, Dr. Ge. Wilh. Fr., ord. Prof. d. Philos. an der Univ. zu Berlin,
Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grund-
risse. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen. 2. Ausg. —
Heidelberg 1827.
Gedruckt in: Hallische Literatur-Zeitung 1831, Nr. 1—4. Kl. Sehr. III, S. 719.
SW. Xn, S. 664.
Bei öffentlichen Disputationen pflegt wohl der Opponent seinen Vor-
trag mit Ehrenbezeugungen für den Mann, dessen Sätze anzugreifen er
im Begriff steht, einzuleiten; eine Sitte, welche hier füglich könnte nach-
o-eahmt werden. Allein statt unbestimmter Lobreden auf Hegels Scharf-
sinn mag derselbe sich sogleich durch seine eigenen Worte verkündigen;
der Leser weiß alsdann auf der Stelle, wovon die Rede sei. § 123:
„Die Existenz ist die unmittelbare Einheit der Reflexion in sich und
der Reflexion in anderes. Sie ist daher die unbestimmte Menge von
Existierenden, als in sich reflektierten, die zugleich ebensosehr in anderes
scheinen, — relativ sind, und eine Welt gege7iseitiger Abhängigkeit und
eines unendlichen Ztisamnmihangs von Gmnden und Begiündeten bilden.
Die Gründe sind selbst Existenzen, und die Existierenden ebenso nach
vielen Seiten hin Gründe sowohl als Begründete.'' § 124: „Das Existierende
enthält die Relativität und seinen mannigfaltigen Zusammenhang mit
andern Existierenden an ihm selbst und in sich als Griind reflektiert.
So ist das Existierende Ding. Das Ding-an-sich, das in der Kantischen
Philosophie so berühmt geworden, zeigt sich hier in seiner Entstehung,
nämlich als die abstrakte Reflexion in sich, an der gegen die Reflexion
in anderes und gegen die unterschiedenen Bestimmungen überhaupt fest-
gehalten wird, als der leeren Grundlage derselben." § 131 und 116:
„Das Wesen muß erscheinen. Es ist nur reine Identität und Schein in
sich selbst, als es die sich auf sich beziehe7ide ^^'^?i\\v\\JäX, somit Abstoßen
seiner von sich selbst ist. Das Wesen ist daher nicht hinter oder jenseits
der Erscheinung, sondern dadurch, daß das Wesen es ist, welches existiert,
ist die Existenz Erscheinung." § 137: „Die Kraft ist als das Ganze,
welches an sich selbst die negative Beziehung auf sich ist, dies., sich von
sich abstoßen und sich zu äußern. Aber da diese Reflexion-in-anderes,
der Unterschied der Teile .^ ebensosehr Reflexion - in - sich ist, so ist die
Äußerung die Vemittlung, wodurch die Kraft in sich zurückkehrt. Ihre
Wahrheit ist das Verhältnis, dessen beide Seiten nur als Inneres und Äußeres
unterschieden sind. Das Innere ist — die leere Form der Reflexion in
sich; das Äußere die leere Form der Reflexion in anderes. Ihre Identität
ist die erfüllte, der Inhalt, die selbst in der Bewegung der Kraft gesetzte
Einheit der Reflexion in sich und der Reflexion in anderes; beide sind
dieselbe eine Totalität, und diese Einheit macht sie zum Inhalt." § 139:
„Was innerlich, ist auch äußerlich. Die Erscheinung zeigt nichts, was
nicht im Wesen ist; und im Wesen ist nichts, was nicht manifestiert ist.
Anstatt:
Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist,
Zu glücklich wenn es nur die äußere Schale weist,
Dr. G. W. F. Hegel: Encyklopädie der philos. Wissenschaften im Grundrisse. igg
hätte es heißen müssen: eben dann, wenn ihm das Wesen der Natur als
Inneres bestimmt ist, weiß er nur die äußere Schale."' § 248: „Die Natur
ist an sich, in der Idee, göttlich; aber wie sie t'sl, entspricht ihr Sein
ihrem Begriffe nicht; sie ist vielmehr der unaufgelöste Widerspruch. Die
Natur ist auch als der Abfall der Idee von sich selbst ausgesprochen worden,
indem die Idee in dieser Gestalt der Äußerlichkeit, in der Unangemessenheit
ihrer selbst mit sich ist. /;/ der Natur hat das Spiel der Formen nicht
nur seilte ungebundene., zügellose Zufälligkeit, sondern jede Gestalt für sich
entbehrt des Begriffs ihrer selbst. Das Höchste, wozu die Natur es in
ihrem Dasein treibt, ist das Leben, aber als ?iur natürliche Idee ist dieses
der Unvernunft der Äußerlichkeit hingegeben, und die individuelle Lebendig-
keit ist in jedem Momente ihrer Existenz mit einer, ihr andern, Einzeln-
heit befangen ; dahingegen in jeder geistigen Äußerung das Moment freier
allgemeiner Beziehung auf sich selbst enthalten ist." § 381 : „Der Geist hat
für uns die Natur zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit, und damit
deren absolut-erstes er ist. In dieser Wahrheit ist die Natur verschwunden,
und der Geist hat sich als die zu ihrem Für-sich-sein gelangte Idee er-
geben, deren Objekt ebensowohl als das Subjekt der Begriff ist. Diese
Identität ist absolute Negatiintät, weil in der Natur der Begriff seine voll-
kommene äußerliche Objektivität hat, diese seilte Entäußerung aber auf-
gehoben, und er in dieser sich identisch mit sich geworden ist. Er ist
diese Identität somit zugleich nur, als Zurückkommen aus der Natur.
Das Wesen des Geistes ist deswegen formell die Freiheit, die absolute Nega-
tivität des Begriffs als Identität mit sich." § 554: „Der absolute Geist ist
ebensowenig in sich seiende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte
Identität."
Solches Philosophieren ist als Tatsache vorhanden ; es gibt aber auch
entgegengesetzte Tatsachen. Der Unterzeichnete wird zwar an diesem Orte,
über die angeführten, aus ihrem Zusammenhange gerissenen Stellen, noch
keine Gegenbemerkungen machen; vielmehr muß zuerst jetzt die Inhalts-
anzeige des Buches folgen, damit eine Übersicht des Ganzen möglich sei;
hierbei aber sollen Erinnerungen Platz finden, jedoch vorläufig nur solche,
wie sie demjenigen, der das Lehrgebäude von außen betrachtet, sich dar-
bieten können. Man gedenke der Kantischen Eleganz in der Dreiteilung
der Kategorientafel; damals war die Eleganz noch nicht Gesetz; es gab
vier Titel in jener Tafel; es gab zwei Formen der Sinnlichkeit. Selbst
Fichte, mit seinen drei Grundsätzen der Wissenschaftslehre, und der daran
nachgewiesenen Fortschreitung durch Thesis, Antithesis und Synthesis,
wuchs noch nicht fest hinein in die Dreiheit; sondern suchte sich im
Denken jedesmal so, wie der Gegenstand es mit sich brachte, zu bewegen.
Aber seit Schellixg wurde die Trichotomie zur Systemfessel. Hegel
teilt so: Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Dann zerfällt
die Logik nach folgendem Schema:
Erste Abteilung. Lehre vom Sein. A. Qualität, a) Sein, b) Dasein,
c) Fürsichsein. B. Quantität, a) Reine Quantität, b) Quantum, c) Grad.
C. Maß.
Ziveite Abteilung. Die Lehre vom Wesen. A. Das Wesen als Grund
der Existenz, a) Reine Reflexionsbestimmungen: Identität, Unterschied,
200 J- F- Herbarts Rezensionen.
Grund, b) Existenz, c) Ding. B. Die Erscheinung, a) Die Welt der
Erscheinung, b) Inhalt und Form, c) Verhältnis. C. Die Wirklichkeit,
a) Substantialität. b) Kausalität, c) Wechselwirkung.
Dritte Abteilung. Die Lehre vom Begriff. A. Der subjektive Begriff.
a) Begriff als solcher, b) Urteil, c) Schluß. B. Das Objekt, a) Mechanis-
mus, b) Chemismus, c) Teleologie. C. Die Idee, a) Leben, b) Er-
kennen, c) Absolute Idee.
Daß hier die Logik durch eine verkümmerte Metaphysik (die sogar
Raum und Zeit,- nicht etwa an die Psychologie, sondern an die Natur-
philosophie abgeben mußte) weit über ihr natürliches INIaß angeschwellt
wurde, das darf diejenigen nicht wundern, welche sich Kants tran-
szendentale Logik haben gefallen lassen; denn dort ist der Anfang der
Verwirrung. Aber wie konnte Existenz und Ding vom Sein und Dasein
getrennt werden? Warum wird vom Quantum, dem Grade und Maße,
eher als von Erscheinungen geredet? Wie kommen Begriff, Urteil, Schluß,
in die Mitte hinein zwischen Wechselwirkung und Mechanismus, die aufs
engste verbunden sind? Wie kann von der Teleologie, bloß als dem
dritten Gliede zu Mechanismus und Chemismus, etwas, wir wollen nicht
sagen. Genügendes, aber nur einigermaßen Angemessenes, geredet werden?
Und nachdem diese Gegenstände der Logik zugewiesen waren, welche
Scheidung ist nun noch zwischen ihr und der Naturphilosophie möglich; und
wie kann hierbei der Tadel selbst der gemeinstert Logik vermieden werden ?
Damit der Leser selbst eingeladen werde, sich hierauf eine Antwort zu
suchen, stellen wir den Abriß der Naturphilosophie vor Augen.
Erste Abteilung. Die Mechanik. A. Raum und Zeit. a) Raum.
b) Zeit, c) Ort. B. Materie und Bewegung, a) Träge Materie, b) Stoß.
c) Fall. C. Absolute Mechanik.
Ziveite Abteilung. Die Plivsik. A. Physik der allgemeinen Indivi-
dualität, a) Freie physische Körper, b) Elemente, c) Elementarischer
Prozeß. B. Physik der besonderen Individualität, a) Spezifische Schwere,
b) Cohäsion. c) Klang, d) Wärme. C. Physik der totalen Individualität,
a) Gestalt, b) Besonderung des individuellen Körpers. c) Chemischer
Prozeß.
Dritte Abteilung. Organik. A. Geologische Natur. B. Vegetabilische
Natur. C. Tierischer Organismus, a) Gestalt, b) Assimilation, c) Gattungs-
Prozeß.
Wenn hier, um die Dreiheit zu erreichen, dem Räume und der Zeit
noch der Ort beigefügt, aber neben dem Orte die Lage verschwiegen
wurde: so mag dies etwa ebenso schicklich Sein, wie Kants Hinzufügung
der Wechselwirkung zu Substanz und Ursache, wobei Reizbarkeit und
Selbstbestimmung, zwei ebenso wichtige Kategorien als die Wechselwirkung,
— vergessen wurden. Den Fall neben den Stoß zu stellen, ist wohl nur
in einer Naturphilosophie möglich, die unter allen sogenannten be-
schleunigenden Kräften die Schwere als vorgeblich allgemeine Eigenschaft
aller Materie hervorhebt; während in der Tat der Fall nur Ein Fall,
und zwar ein ganz besonderer, von gleichförmiger Beschleunigung ist, —
der Stoß aber, wenn man nicht von Atomen als harten Körperchen reden
will, schon gebildete, entweder harte oder elastische oder weiche oder flüssige
Dr. G. W. F. Hegel: Encyklopädie der philos. Wissenschaften im Grundrisse, 20I
Massen voraussetzt. Warum aber, und nach welcher Hypothese, hat sich
hier, als ein höchst ungelegener Fremdling, die Wärme hinter dem Klange,
— oder der Klang vor der Wärme eingeschoben? Denn an diesem ein-
zigen Punkte finden wir die sonst so künstlich festgehaltene Dreiheit über-
schritten ; und vermissen nun noch obenein das Lidii^ welches neben der
Wärme seinen Platz zu finden pflegt, vollends aber gemäß der jetzt be-
liebten Undulationstheorie sich vom Klange nicht hätte trennen sollen,
so daß wir es aus doppeltem Grunde vermissen. Was aber sollen wir
mit Elementen der Körper ohne Cohäsion — oder Repulsion? Und wie
konnte gar der chemische Prozeß, der, wenn irgend einer, die Elemente
trifft, und zugleich Gestalt und Cohäsion bestimmt, sich so sehr verspäten,
als ob ohne ihn zu fragen, aus elementarischen Prozessen wohl fertige
Körper hervorgehen dürften? Die Gestalt aber ist, wie es scheint, hier
vollends eine Doppelgestalt; denn sie kehrt beim tierischen Organismus
noch einmal wieder; vermutlich in der Meinung, die Gestaltung der
lebenden — nicht bloß Tiere, sondern auch Pflanzen, sei etwas ganz
anderes, als diejenige, wonach etwa Kristalle gebildet werden; eine Meinung,
wobei Holz und Leder und andere Residuen des organischen Lebens
leicht könnten mit Erden und Steinen und Erzen in Eine Klasse ge-
worfen werden. — Doch wenn schon diese Naturgegenstände sich die,
ihnen aufgedrungene, trichotomische Form wohl schwerlich auf die Länge
dürften gefallen lassen: so ist vollends unbegreiflich, wie Hegel es
unternehmen mochte, das Geisterreich an solche Fesseln zu gewöhnen.
Hier ist's am nötigsten, das Faktum vor Augen zu stellen, damit nicht
die Treue des Berichts durch die Unglaublichkeit der Sache verdächtig
werde.
Erste Abteilung. Der subjektive Geist. A. Anthropologie, a) Natür-
liche Seele, b) Träumende Seele, c) Wirkliche Seele. B. Phänomenologie,
a) Bewußtsein als solches, b) Selbstbewußtsein, c) Vernunft. C. Psycho-
logie, a) Theoretischer Geist, b) Praktischer Geist, u) Praktisches Ge-
fühl, /j) Triebe, y) Willkür und Glückseligkeit.
Ziveite Abteilung. Der objektive Geist. A. Das Recht. a) Das
Eigentum. b) Vertrag. c) Das Recht an sich gegen das Unrecht.
B. Die Moralität. a) Der Vorsatz, b) Die Absicht und das Wohl, c) Das
Gute und das Böse. C. Die Sittlichkeit, a) Die Familie, b) Die bürger-
liche Gesellschaft. «) Das System der Bedürfnisse, ß) Die Rechtspflege,
j') Polizei und Korporation. c) Der Staat. a) Inneres Staatsrecht.
ß) Äußeres Staatsrecht, y) Die Weltgeschichte.
Dritte Abteilung. Der absolute Geist, a) Die Kunst, b) Die ge-
offenbarte Religion, c) Die Philosophie.
INIag man über das Verhältnis der Anthropologie (welche die Tier-
welt ausschließt) zur Psychologie (welche das leibliche Leben beiseite setzt)
denken wie man will: so wird doch schwerlich irgend jemand die Dis-
junktion logisch rechtfertigen können, nach welcher Phänomenologie als
zweites Glied zwischen jenen beiden steht, während die Phänomene, die
man Tatsachen des Bewußtseins nennt, ein schlechthin unentbehrliches
Material der Psychologie und Anthropologie ausmachen, das nicht außer
ihnen darf hingestellt werden — so wenig als Vernunft außer dem
202 J- F, Herbarts Rezensionen.
theoretischen und praktischen Geiste zu suchen ist. Vollends auffallend
aber ist die Gewalt, welche hier die Rechts- und Sittenlehre erleidet, die
zwischen sich einige leere Formalbegriffe unter dem Namen der Moralität
hat aufnehmen müssen, als ob daran Ersatz für die mangelnde Unter-
suchung der Prinzipien — und zwar der eigentümlichen, ebensowenig
psychologischen, als naturphilosophischen und logischen Prinzipien der
praktischen Werlbesiinimung — könnte angebracht werden. Auf allen
Fall tut die Sittenlehre sehr wohl daran, daß sie sich wenigstens einige
Rechtsbegriffe, unter den Namen Rechtspflege und Staatsrecht, trotz der
weiten Trennung und gewaltsamen Disjunktion, wodurch zwischen ihr und
der Rechtslehre eine Kluft befestigt war, wieder zueignet. Wenn aber
dieser ganze Schematismus einen Wert haben sollte: so müßte sich in allen
Dreiheiten, den großen wie den kleinen, das nämliche Verhältnis wieder-
holen; und zwar nicht obenhin, sondern genau. Wer mag nun sagen:
lüie Logik zur Naturphilosophie, so verhält sich Psychologie (die Lehre vom
subjektiven Geiste) znr Ethik (Lehre vom objektiven Geiste) — und gesetzt,
einer möchte es sagen, wer denn mag es hören und ertragen? Und doch
ist dies von den sehr zahlreichen Beispielen, die sich aus dem angegebenen
Schema herausnehmen lassen, nur ein einziges. Kurz: wer nicht geiade
zu Hegels Schule gehört, der sieht sogleich hier eine fehlerhafte, vor-
urteilsvolle Architektonik, wodurch das Lehrgebäude, als Gebäude be-
trachtet, völlig unbrauchbar wird. Denn jeder Teil der Philosophie gibt
sich seine eigene Gestalt gemäß der Eigenheit seiner Gegenstände. Einerlei
Schema für Logik, Metaphysik, Anthropologie, Naturphilosophie, Rechts-
und Sittenlehre, — ein solches Schema ist ein Unding; geradeso als ob
einer allen Salzen einerlei Kristallform aufdringen wollte. Der Philosoph
soll den vor ihm liegenden Gegenständen keine Uniform anziehen, er soll
vielmehr sie erkennen wie sie sind, und sie in der Gestalt auffassen die
sie ihm zeigen. Dieser Unterordnung des Forschers unter den Gege7istand
aber luidersetzt sich der böse Geist des Idealismus; der älter ist als
Hegels Lehre; und dessen Gewalt über sehr scharfsinnige Köpfe wir
leider schon längst, aus früheren Zeiten kennen.
Als ein Kind der Zeit hat natürlich Hegels Philosophie auch manche
Vorzüge; namentlich den, daß sie nicht durch eine Widerlegung kann
hinweggeschafft werden, vielmehr aus dem Boden der vorhandenen Lehr-
meinungen und der in Umlauf befindlichen Bücher sich in vielen Köpfen
auf ähnliche Weise von selbst erzeugt; ferner hat sie den Vorzug einer
Soweit gediehenen Ausarbeitung, wie selten einer ohne Vorarbeit zu er-
langen vermag; sie hat überdies das Recht, beachtet zu werden, wie jede
reif gewordene Frucht langer Jahre; und sie gewährt dem aufmerksamen
Beschauer den Vorteil, daß er an ihr sehen kann, wohin die früheren
Versuche geführt haben, — ein Vorteil, dessen Wert freilich ganz vom
weitern Nachdenken abhängt. Solche Menschen, die zu keiiiem weitern
Nachdenken Lust haben, mögen sich wohl einbilden, Schelling, Fichte
und zum Teil selbst Kant, hätten mit losgebundener Willkür sich etioas aus-
gesonnen, das, man begreife nicht tvie und durch luelchen sonderbaren Zufall,
in den Besitz eines sehr weit verbreiteten und lang anhaltenden Beifalls ge-
raten sei; diese mögen denn auch wünschen, daß Hegels Lehre bald
Dr. G. W. F. Hegel: Encyklopädie der philos. Wissenschaften im Grundrisse. 203
spurlos vorübergehend vergessen werde. Aber wer es einsieht, daß mit einer
Widerlegung solcher Theorien, welche einen tiefen historischen Boden haben,
noch lange kein Wegschaffen derselben verbunden sein kann und darf,
der wird sich zu ganz andern Erwartungen berechtigt finden. Wenn mit
neuen Fehlern, welche die natürlichen Folgen von einer ganzen Reihe
älterer Fehler sind, zugleich die letztern ans Licht kommen: so entstehen
hieraus neue Motive zu besserer Arbeit; und diese Motive werden um
desto dringender, wenn zugleich klar wird, daß auch in den altern Fehlern
natürliche Triebfedern wirkten, deren Erfolg nur darum mißriet, weil sie
noch nicht ihre ganze Spannung erhalten hatten. Zur Spekulation sind
einmal nur wenige Menschen geboren; was Wunder denn, daß die dahin
gerichteten Strebungen nur langsam, nur in einer Reihe nacheinander
lebender Personen diejenige Spannung gewinnen, die nötig ist, um ein
ganzes und befriedigendes Werk hervorzubringen? Daß aber Hegel aller-
dings in der Reihe dieser Personen einen Platz, und zwar einen aus-
gezeichneten Platz habe, dies ist schon lange nicht mehr zweifelhaft; es
wird auch durch fernere Untersuchung nicht zweifelhaft werden.
In der allgemeinen Einleitung sucht Hegel die Philosophie mehr
zu beschreiben, als zu definieren; wir verdenken ihm das keineswegs, ob-
gleich die Angabe des Grundes vielleicht verschieden von seiner Meinung
lauten könnte. Gegen die vorläufige Untersuchung des Erkenntnisver-
mögens im Geiste Lockes oder Kants sagt er: erkennen zu wollen ehe
man erkenne, gleicht dem Vorsatze, schwimmen zu lernen, ehe man sich
ins Wasser wage. „Näher (fährt er fort) kann das Bedürfnis der Philo-
sophie dahin bestimmt werden, daß, indem der Geist, als fühlend und
anschauend, Sinnliches oder Phantasiebilder zu Gegenständen hat, er zum
Unterschiede hiervon, über das gewöhnliche Bewußtsein sich erhebend,
auch seiner höchsten Innerlichkeit, dem Denken, Befriedigung verschaffe, und
das Denken zu seinem Gegenstande gewinne. So kommt er zu sich selbst ;
denn sein Prinzips seine nnvermischte Selbst heit ist das Denken.'"' Hegel
möchte es übel nehmen, wenn wir ihn hier in den Verdacht eines un-
vorsichtigen Klebens an — empirischer Psychologie zögen. Eher möchte
er etwa leiden, wenn wir schon hier eine Reminiscenz an das Fichtesche
/f/^ aufspürten ; das jedoch selbst von empirischer Psychologie keines-
weges rein losgekommen war. Gewitzigt aber ist Hegel durch Fichte,
denn sogleich fügt er hinzu: „In diesem Geschäfte geschieht es, daß sich
das Denken in Widersprüche verwickelt; — die Einsicht, daß die Natur
des Denkens selbst die Dialektik ist, als Verstand in das Negative seiner
selbst, in den Widerspruch zu geraten, macht eine Hauptseite der Logik
aus." Und weiterhin : „Die aus dem genannten Bedürfnisse hervorgehende
Entstehung der Philosophie hat die Eyfahrnng^ das unmittelbare und
räsonnierende Bewußtsein zu ihrem /Ausgangspunkte. Dadurch als durch
einen Reiz erregt, benimmt sich das Denken wesentlich so, daß es sich
über das sinnliche und räsonnierende Bewußtsein erhebt, in das unvermischte
Element seiner selbst; und so zunächst sich ein negatives, sich entfernendes
Verhältnis zu jenem Anfange gibt. Es findet so in sich, in der Idee
des allgemeinen Wesens dieser Erscheinungen, zunächst seine Befriedigung.
Umgekehrt: der Reiz, die Form der Zufälligkeit zu überwinden, worin
204 J- ^- Herbarts Rezensionen.
die Erfahrungsgegenstände sich darbieten, reißt das Denken aus der an
sich erhaltenen Befriedigung heraus, und treibt es zur Entwicklung, von
sich ans. Dieses ist einerseits ein Aufnehmen des Inhalts und seiner
vorgelegten Bestimmungen, andrerseits aber gibt sie demselben die Gestalt,
frei im Sinne des ursprünglichen Denkens, nur nach der Notwendigkeit
der Sache selbst hervorzugehen.'' In dieser Stelle liegt Verschiedenes,
worüber sich Rez. mit Hegel auseinandersetzen muß. Darüber, daß sich
das Denken in Widersprüche verwickelt, und zwar nicht etwa zufällig,
oder aus Unbesonnenheit, sondern in vielen Punkten unvermeidlich, —
sind wir einverstanden. Aber wenn der Grund der Widersprüche in der
Natur des Denkens gesucht wird — als ob der Verstand ein stehendes
Seelen vermögen, mit einem angestammten Übel behaftet wäre — , dann
hört schon das Einverständnis auf. Hinwiederum, wenn die Erfahrung
als der Ausgangspunkt jenes philosophischen Bedürfnisses bezeichnet wird,
so sind wir darin einig. Hingegen kann nicht zugegeben werden, daß die
Erfahrung dem subjektiven räsonnierenden Bewußtsein gleich gesetzt werde,
während sie oft genug, und gerade dann, wann der Mensch sich zu dem
Bekenntnisse: er habe Erfahrungen gemacht^ genötigt sieht, die Fäden des
Räsonnements geradezu abschneidet. An die Stelle des räsonnierenden
Bewußtseins kann hier nichts anderes treten, als die treue Analyse des
Vorgefundenen; diese ist's, welche unerwartet, und dem Verstände ganz
ungelegen, auf Widersprüche stößt. Eine Erhebung über die Erfahrung
zu suchen, ist nun zwar die notwendige Folge hiervon allein woher Hegel
alsdann ein ,,un vermischtes Element seiner selbst" nehme, und- wie in sich
soviel heißen könne als i7i der Idee des allgemeinen Wese?2S der Erscheinungen.,
das mag er selbst wissen. Die große Geläufigkeit der Rede an diesem
Punkte zeugt von alter Gewohnheit; schwerlich aber läßt sich hier eine
andere Gewohnheit finden, als die des Idealismus, der freilich in dem
eingebildeten reinen Ich noch immer eine Zuflucht zu haben meint, trotz
den Widersprüchen, die ihm den Weg dahin ein für allemal hätten ver-
schließen sollen. Mit Einem Worte: selbst hier, wo die Widersprüche
anerkannt werden, ist immer noch das Gewicht derselben nicht empfunden;
die Folgen, die sie als Motive des fortschreitenden Denkens haben müssen,
sind nicht erwogen; man bleibt auf der alten Stelle, weil man nicht
glauben will an die Notwendigkeit, sie zu verlassen. Und das ist die
Wurzel des Übels bei Hegel wie bei seinen Vorgängern.
Aber es ist schon viel gewonnen, wenn nur diese Wurzel des Übels
deutlich zu Tage kommt. Hegel hat mit einer Offenheit, die ihm persön-
lich, und mit einer Bestimmtheit, die seinem Scharfsinne Ehre macht,
das hingestellt, ivas herauskommt, wenn man die Widersprüche behält.^
anstatt ihr gerades Gegenteil zu ergreifen, und dies mit der Erfahrung in
Einklang zu bringen. Dafür muß er dulden, daß man ihn auf der einen
Seite anstaunt, auf der andern sich mit Befremdung von ihm abwendet.
Ist's ein Wunder, wenn er unter solchen Umständen gelegentlich einen
Laut der Ungeduld hören läßt? Nicht einmal darüber dürfen wir uns
wundern, daß die Widersprüche nicht so wie sie gegeben sind, in ihrer
ursprünglichen Form, sondern in einer künstlich erworbenen Zusammen-
ziehung und Ausdehnung auftreten, die den mancherlei systematischen
Dr. G. W. F. Hegel: Encyklopädie der philos. Wissenschaften im Grundrisse. 205
Forderungen am besten zu entsprechen scheint. Jedoch dieser Umstand
ist desto mehr zu bedauern, je natürlicher mit ihm der Irrtum des Systems
zusammenhängt.
In den drei Erklärungen: Logik ist die Wissenschaft der Idee an und
für sich; Naturphilosophie ist die Wissenschaft der Idee in ihrem Anderssein;
Philosophie des Geistes ist Wissenschaft von der Idee, die aus ihrem Anders-
sein in sich zurückkehrt, erkennen wir jene Fichtesche Thesis, Antithesis
und Synthesis, die zu den jetzt veralteten drei Grundsätzen der Wissen-
schaftslehre paßt, worin erstlich das Ich sich setzte, als ob es für sich
bestehen könne, dann sich auf ein entgegenstehendes Nicht-Ich besann,
hierauf aber mit diesem Nicht- Ich erst kapitulierte, um es demnächst
desto sicherer zu besiegen. Was aus der ganzen Fichteschen Untersuchung
am ersten und deutlichsten hervorleuchtete, war dies, daß ein Ich, welches
sich setze als setzend ein Nicht-Ich, kein Ich sei; und daß, wenn es dennoch
sich so setze, hier ein gegebener Widerspruch vorliege. Ebenso ist es mit
der Idee in ihrem Anderssein ; sie kann in ihrem Anderssein nicht bleiben,
sondern muß in sich zurückkehren ; aber anstatt daß hier der Fehler und
dessen Korrektur bloß im Denken vorkommen sollten, ist es leider! die
im Werden befangene Natur selbst, welche als Idee in ihrem Anderssein
— wenigstens erscheint; so daß hierin der Widerspruch sich belegt und
gerechtfertigt durch die Erfahrung selbst darstellt. „In der Natur," sagt
Hegel, „ist es nicht ein Anderes, als die Idee, welches erkannt würde, aber sie
ist in der Form der Entäußerung, so wie im Geiste als an und für sich seiend
und an und für sich werdend." — Eine andere Ähnlichkeit zwischen Fichte
und Hegel wollen wir sogleich neben der vorigen bemerken. Mit Beziehung
auf Kants Kritik des ontologischen Beweises vom Dasein Gottes sagt
Hlgel: „Es müßte sonderbar zugehen, wenn das Innerste des Geistes, der
Begriff, oder auch luenn Ich, oder vollends die konkrete Totalität, welche
Gott ist, nicht einmal so reich wäre, um eine so arme Bestimmung wie
Sein ist, ja welche die allerärmste^ die abstrakteste ist, in sich zu ent-
halten." Allein so wichtig auch die Einwirkungen Fichtes auf Hegel
sind, so geben sie uns doch nicht allein den zulänglichen Schlüssel zur
Lehre des letztem. Und so zweckmäßig auch der Vorbegriff zur Logik
(§ 19 — 83) sich nacheinander über die alte Metaphysik, über Empirismus
und Kritizismus, endlich über Jacobis Ansichten erklärt; wodurch un-
streitig Kegel selbst das Verstehen seines Buches sehr erieichtert hat:
so klagt man dennoch allgemein über Unsicherheit und große Schwierig-
keit des richtigen Verstehens; und wer etwa diese Klage für übertrieben
hielte, dem dürften wir nur die ersten besten paar Seiten aus den hintern
Teilen des Buchs abschreiben, um ihn zu der Überzeugung zu bringen,
daß diese Schwierigkeit wirklich vorhanden ist. Es ist dies ein Punkt,
bei dem wir vor aller weitern Betrachtung Ursache haben zu verweilen.
Eigentlich sollte ein System von der oben angezeigten Form sehr
leicht zu verstehen sein. Denn bei der großen Gleichförmigkeit, womit
aus jedem Punkte drei Glieder hervorgehen, muß man ein allgemeines
Gesetz annehmen, wonach diese Glieder sich bilden ; alsdann braucht man
nur ein- für allemal das Verhältnis derselben scharf aufzufassen und fest
im Auge zu behalten, so muß wenigstens die Konstruktion der Begriffe,
2o5 J' F- Herbarts Rezensionen.
welche das System herbeiführt (was wir dessen synthetischen Teil nennen
würden), hinreichend faßlich, • — ja weit leichter sein, als dies anderwärts
möglich ist, wo die Regel der Synthesis nach der Eigentümlichkeit der
Gegenstände verschieden ausfällt. Nun könnte zwar die Einführung der
in der Erfahrung gegebenen, oder aus andern Systemen herüber ge-
nommenen Gegenstände (was wir den analytischen Teil nennen würden,
der freilich bei Hegel nicht abgesondert vom synthetischen hervortritt),
noch immer schwer zu verstehen sein: dies läge aber alsdann nicht im
Ganzen, sondern im Einzelnen, und wäre an verschiedenen Stellen ver-
schieden: es könnte also nicht wie eine Schwierigkeit, die das Ganze
drücke, empfunden werden. Demnach fanden wir uns auf jene Art von
Trichotomie zurückgewiesen, welche überall wiederkehrt; in ihr selbst
muß etwas Verwickeltes liegen, das der Aufklärung bedarf. Vielleicht
nähern wir uns derselben durch historische Bemerkungen, die sich
leicht noch über Fichte hinausführen lassen. Es ist nämlich bekannt,
daß in der Periode, da aus Kants Kritiken schnell ein System werden
sollte, wozu die Kritiken selbst bei weitem nicht Stoff genug darboten,
Spinoza und Platon zu Hilfe gerufen wurden. Jener gab seine ab-
solute Substanz her; Eins, worin zuvörderst zwei disparate Attribute
(Ausdehnung und Denken) verbunden sein sollten, damit alsdann jedes
derselben bereit liegen möge, eine unendliche Fülle von Determinationen
aufzunehmen. Der andere hatte von dem Verhältnis des Allgemeinen
zum Besondern in geheimnisvollen Ausdrücken geredet, die mit der großen
Wichtigkeit dieses Verhältnisses für seine Ideenlehre zusammenhingen.
Endlich war in Kants Kritik der Urteilskraft von einem intuitiven oder
urbildlichen Verstände (nicht dem unsrigen!) gesagt worden: er gehe vom
synthetisch Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen, als eines solchen,
zum Besondern^ das heiße, vom Ganzen zu den Teilen fort, die solcher
Gestalt nicht zufällig verbunden sein würden, sondern so, daß von der
Idee des Ganzen die Beschaffenheit und Wirkungsart der Teile abhänge.
Auf diese Weise, meinte Kant, müßten wir uns einen organisierten Körper
vorstellen. Sein halber Idealismus, der von einigen, noch sehr rohen,
weder zur metaphysischen noch psychologischen Theorie zulänglichen, mit
großen Irrtümern vermischten Anfängen einer Betrachtung über Raum
und Zeit ausgegangen war, hatte ihm die Teleologie, wenn nicht geraubt,
so doch verkümmert; indem es seiner Meinung nach am Tage lag, daß
wir die Räumlichkeit, die nun einmal keine Eigenschaft der Dinge an
sich sei, auch dann aus uns selbst in die Objekte hineintrügen, wenn
dieselben uns zweckmäßig gestaltet erschienen. Dabei aber war er dreist
genug gewesen, die teleologische Betrachtungsart auf das Nattirganze als
System auszudehnen; obgleich sie eigentlich zuerst nur an Pflanzen und
Tieren ihre Gegenstände findet, und gerade durch diese Beschränkung bei
der mindesten Vorsicht bemerklich werden mußte, daß es mit dem Hin-
eintragen der Zweckmäßigkeit aus uns in die Dinge unmöglich seine
Richtigkeit haben könne, indem sonst das Hineintragen gerade so allgemein
sein lüürde, wie die Form des Raums selbst. Allein Kant war einmal im
Besitz, nicht bloß gehört, sondern behorcht zu werden. Am aufmerk-
samsten horchten die, welche aufgeklärt sein wollten, auf gewisse Dinge,
Dr. G. W. F. Hegel: Encyklopädie der philos. Wissenschaften im Grundrisse. 207
die ihnen am Ende der Kritik der Urteilskraft nicht so ganz deutUch
gesagt, sondern mehr vertraulich mitgeteilt wurden. Jener intellectiis arche-
typus ließ sich zwar vortrefflich mit der gewöhnlichen Ansicht von der
platonischen Ideenlehre vereinigen. Aber nicht einmal, daß ein inteüectus
archetvpiis möglich sei, sondern nur, daß wir, in der Dagegenhaltung unseres,
der IBilder bedürftigen, Verstandes auf die Idee jenes urbildlichen Ver-
standes geführt werden, dies allein braucht man nach Kant zu wissen.
Ihm liegt nur daran, „daß ein gemeinsajnes^ übersinnliches Prinzip, einer-
seits der mechanischen^ andrerseits der teleologischen Ableitung, der Natur
als Phänomen untergelegt werde." Nun behauptete zwar Kant, von
einem solchen Prinzip könnten wir uns nicht den mindesten , theoretisch
affirmativen Begriff nehmen. Allein durch bloße Worte ließ sich der
einmal aufgeregte Gedanke nicht beschränken. Der Gegensatz zwischen
unserem — vermeintlich ganz besonders eingerichteten — Verstände, und
einem möglichen andern^ ja gar einem urbildlichen Verstände war einmal
da; zu dem Versuche, uns einmal in einen andern Verstand, der nicht
der unsrige sei, hineinzudenken, hatte Kant selbst das Beispiel gegeben ;
und solche Beispiele bleiben nicht unbefolgt! Was war die Folge? Man
forderte und setzte Ein Prinzip, welches zugleich Spinozas Substanz, ein
platonisches Allgemeines, und ein Kantischer gemeinsamer Ursprung der
sowohl mechanischen als zweckmäßigen Technik der Natur sein sollte.
Dies Prinzip mußte zuerst an sich sein, dann als Naturnotwendigkeit er-
scheinen, endlich als Geist seiner selbst inne werden. Aber Spinoza,
Platon und Kant sind in Ansehung ihres ganzen Gedankenkreises so
weit voneinander verschieden, daß ein Wunder hätte geschehen müssen,
wenn diejenigen, die sich in ihrem Nachdenken von so abweichenden
Reminiscenzen zugleich treiben ließen, auf klare und stets gleichförmige
Begriffe von ihrer Thesis, Antithesis und Synthesis hätten kommen sollen.
Der Unterzeichnete hat längst anderwärts die nötigen Entwicklungen hier-
über gegeben; und darf nicht in große Weitläufigkeiten eintreten. V7as
Spinoza anlangt, so paßt der Ausdruck ,,Akosmis7mis" auf dessen Lehre
ebensowenig, als es erlaubt ist, ihn mit dem Parmenides und Zeno zu-
sammenzustellen; hingegen diesen Alten kann man mit Recht Akosmismus
beileo-en. Von der hohen Reinheit der Moral werde man sich, meint
Hegel, ohne Zweifel überzeugen, wenn man nur in Spinozas Ethik die
drei letzten Teile nachlese; sollen wir etwa hier noch einmal den Satz:
cnm ma.xime unusquisque homo suum sibi titile qiiaent, ttmi maxime homines
snnt sibi invicem idiles (Eth. P. IV, prop. 35, coroll. 2), oder gar das
saubete Naturrecht des tract. polit. in Erinnerung bringen? Etwa tract.
polit. cap. II, § 4: per ins naturae intelligo ipsam naturae potentiavi,
atque adeo totins naturae et conseqiieyiter uniuscuiiisque individiii naturale ijis
eo usque se extendit, quo eins potentia ; und zur Erklärung den trefflichen
Zusatz: et consequenier quicquid unusquisque homo (jeder kleine und große
Napoleon) ex legibus suae natwae agit , id sunimo naturae iure agit ;
tantumque in naturam habet iuris, quantum potentia valet. Das
Prinzip hiervon ist allerdings den Worten nach die Liebe Gottes; wie aber
Hegel dazu komme, von einer lauteren Liebe Gottes in Bezug auf
Spinoza zu reden, das mag er selbst wissen, oder auch nach seiner Weise
2o8 J- F. Herbarts Rezensionen.
erklären; besser wäre es, er lese einmal den Spinoza von neuem ohne
Brille. Des Platon wollen wir hier gar nicht weiter erwähnen; statt
dessen aber eine Probe geben, wie schnell sich unter Hegels Feder das
Allgememe ausbreitet und verwandelt. § 20: „das Produkt des Denkens,
die Form des Gedankens, ist das Allgemeine, Abstrakte überhaupt. Das
Denken, als die Tätigkeit^ ist somit das tätige Allgemeine; und zwar das
sich betätigende, indem die Tat das Allgemeine ist." Und § 23 : „In dem
Denken liegt unmittelbar die Freiheit (wie ist das möglich?), lueil es die
Tätigkeit des Allgeineinen (solches tätige Allgemeine ist doch wohl kein
logisches abstraktes, Allgemeines?) ein hier mit abstraktes Sich- auf -sich- Be-
ziehen, ein nach der S?d>jektivität bestimmungsloses Bei-sich-sein ist, das 7iach
dem hihalte zugleich nur in der Sache und deren Bestimmungen ist." Gerade
umgekehrt. Das willkürlose Denken, welches bei der Sache ist, und von
ihr bestimmt wird, findet seine Ergebnisse mit Notwendigkeit; und das
ist kein freies Finden; sondern man muß sich drein ergeben; man muß
die Dinge nehmen, wie man sie findet. Es ist auch kein abstraktes Sich-
auf-sich -Beziehen, denn es ist kein leeres Brüten; sondern eine Sache
wird vorausgesetzt, welche gegeben, oder anstatt eines Gegebenen ge-
nommen werden muß; auf dieses Gegebene, nicht aber auf sich, bezieht
sich das Denken. Was hat aber dies alles mit dem Allgemeinen zu tun;
und wohin sind wir durch ein konfuses Gedankenspiel geraten? Begriffe
sind allgemein, nämlich in gewissem Grade der Abstraktion; aber Begriffe
sind kein Tätiges, und kein Freies, und kein Bei-sich-sein; zvenn aber
dieselben sich beziehen auf andere Begriffe., so ist solches Beziehen ein
besonderes Verhältnis, und jede Beziehung erfordert ihre eigene und be-
sondere Untersuchung; das &'c-^- auf -.«V/z -Beziehen endlich gehört ins
Fichtesche Ich! Was wollte denn Hegel eigentlich mit seinem tätigen
Allgemeinen, welchem vermutlich ein u?itätiges Besonderes gegenüber stehen
würde? ,, Wenn die Deinut oder Bescheidenheit darin besteht., seiner Sub-
jektivität nichts Besonderes von Eigenschaft und Tun zuzuschreiben, so zuird
das Philosophieren von Hochnmt frei zu sprechen sein., indem das Denken
dem Inhalte nach insofern nur wahrhaft ist, als es in die Sache vertieft
ist, und der Form nach nicht ein besonderes Sein oder Tun, sondern eben
dieses ist, daß das Bewußtsein sich als abstraktes Ich, als von einer Parti-
kularität sonstiger Eigenschaften, Zustände u. s. f. befreites verhält; und
nur das Allgemeine tut., in welchem es mit allen Lidividuen identisch ist."
Vortrefflich! Hegel wird künftig die rt!//^,?;;z^zV/<? Sprache reden; zum Danke
dafür wird man ihm keinen besondern Scharfsinn mehr zuschreiben. —
Aber wir wollen ihm den Ruhm des Scharfsinns gern lassen. Wenn nur
die Schärfe nicht zuweilen schartig wäre! Nicht bloß Spinozas vermeinter
Akosmismus, nicht bloß die Allgemeinheit der Begriffe, sondern auch das
Eigene der Kantischen Antinomien ist ungenau aufgefaßt. Wahres und
Falsches durcheinandermengend sagt er § 48: „die Kategorien für sich,
sind es, welche den Widerspruch herbeiführen." (Welchen Widerspruch
denn? Gibt es etwa nur einen? Gewiß aber nicht die KzXegon&nßir sich;
diese würden überall nichts bedeuten, ja gar nicht zum Vorschein kommen,
wären sie nicht der Ausdruck gegebener Formen der Erfahrung.) „Dieser
Gedanke, daß der Widerspruch, der am Vernünftigen (?) durch die Ver-
Dr. G. W. F. Hegel: Encyklopädie der philos. Wissenschaften im Grundrisse. 209
Standesbestimmungen (??) gesetzt wird, wesentlich und yiotwendig ist (soll
heißen: unvermeidlich beim Ursprünge unseres Wissens aus unserer Er-
fahrung), ist für einen der wichtigsten Fortschritte der neueren Philosophie
zu achten. (Der neuern? Wir haben ja nur wiedergefunden, was die
Eleaten und Platon deutlich genug sahen und sagten.) Die Ermangelung
einer tiefern Betrachtung der Antinomie veranlaßte, daß Kant nur vier
Antinomien aufführt. Hierbei ist hauptsächlich zu bemerken: daß tiicht
mir in den vier besondern, aus der Kosmologie genommenen Gegenständen die
Antinomie sich befindet, sondern vielmehr in allen Gegenstäfiden aller Gattungen^
in allen Vorstelhingen, Begriffen und Ideen." Darin liegt eine große Wahr-
heit; Hegels Verdienst, indem er sie ausspricht, muß anerkannt werden;
und' das um desto ausdrücklicher und lauter, je gewisser noch immer
die Mehrzahl selbst der Philosophierenden, vollends aber der Natur-
forscher, vor den gegebenen Widersprüchen, von denen kein Gegenstand
der äußern und Innern Erfahrung frei gefunden wird, gewaltsam die
Augen zudrückt; in der Meinung vermutlich, was man nicht sehe, brauche
man nicht zu fürchten. Aber was sollen hier die Kantischen Antinomien?
Sind es widersprechende Begriffe und Gegenstände? Lehrsätze sind es,
versehen mit Beweisen; von denen jeder gleich gut erscheint wie der
andere. Jeder würde also für sich gelten, träte ihm nicht der andere mit
gleichen Ansprüchen entgegen. Das ist nicht '^xd.Qxspruch — im Innern,
sondern, wie Kant selbst sich ganz richtig ausdrückt, Widerst? eit — von
außen. Diese Unterscheidung ist für die Untersuchung selbst von der
höchsten Wichtigkeit. Streitende Parteien mit gleichen Ansprüchen weiset
man beide zurück; und so macht es auch Kant. Widersprüche wirft man
weg, wenn man kann; — wenn man es aber nicht kann, so beginnt eine
weit ernstlichere x\rbeit, an die Kant bei seinen Antinomien weder dachte
noch denken konnte; und die man von ihm gar nicht lernen, und aus
ihm um desto weniger erläutern kann, weil seine Antinomien nur seine
Ansichten von der Kausalität, die er in die Zeit geworfen hatte, und von
der Materie, die er gänzlich aus dem Ratmie begreifen wollte, charakterisieren;
so daß der blendende Schein der für Kants Zeiten sehr ausgezeichneten
Darstellung (denn weiter ist es nichts) mit Aufhebung jener irrigen Vor-
stellung von Kausalität und INIaterie dem größten Teile nach von selbst
verschwindet. Hegel aber leitet den Leser, der an Kants Schriften ge-
wöhnt ist, auf eine ganz falsche Bahn, indem er den Antimonien einen
Stempel aufdrückt, der zu ihnen nicht paßt. Bei dieser Gelegenheit
müssen wir auf den vorigen Punkt, auf das Zusammenschmelzen des All-
gemeinen mit der Freiheit, und auf die bescheidene Verzichtleistung in
Ansehung besonderer Vorzüge zurückkommen. Schon bei Kant, und
zwar in dem so wichtigen kategorischen Imperative, zeigt sich die wunder-
liche Wertbestimraung, das Allgemeine sei das Sittliche, und das Besondere
(wenn jemand Ausnahmen für sich verlange) sei das Schlechte. Hegel
hat in seinem Naturrecht (§ 135) über den leeren Formalismus, der hierin
liegt, treffend gesprochen; und er hätte leicht finden können, daß zuerst
die ursprünglichen Wertbestimmungen vorhanden und bekannt sein müssen,
bevor dann ziveitens aus ihnen nach Möglichkeit allgemeine Vorschriften
abo-eleitet werden, welchen zuwider für sich etwas Besonderes zu verlangen
Herbarts Werke. XIIL ^"l-
2JO J- F- Herbarts Rezensionen.
drittens Gegenstand eines Vorwurfs ist. Die ursprüngliche Wertbestimmung
aber kümmert sich um den Unterschied des Allgemeinen und Besonderen
so wenig, daß vielmehr in der wirklichen Welt sowohl das Beste als das
Schlechteste zu den Seltenheiten gehört, das Allgemeine aber sehr häufig
bei dem Gemeinen angetroffen wird, ohne demselben einen Wert geben
zu können. Warum nun Hegel dennoch das Allgemeine durchgehends
als einen Titel des Lobes behandeln möge? — Fast möchte man glauben,
auch hier liege eine Kantische Reminiscenz, von dem kategorischen Im-
perative, der mit der Freiheit zusammenhing, im Hinterhalte; indessen
kann es auch bloß ein Rest des übel angebrachten Piatonismus sein, der
mit Spinozismus verschmolzen wurde. Zu einer ausführlichem Kritik wäre
die Erörterung dieser Frage von Wichtigkeit; denn hätte Hegel beim
Anfange seines Philosophierens sich weniger den Vorgängern hingegeben,
seine eigene Energie würde weit mehr geleistet haben; so aber, wie die
Arbeit vorHegt, muß sie größtenteils aus den Vorgängern erklärt werden.
Die oanze Hegeische Philosophie ist überall nichts anderes als ein merk-
würdiger Durchgangspunkt für die Geschichte der Wissenschaft. Sie hat gar
keinen Anfang in sich, sondern ist Fortsetzung von etwas Früheren; und
Moment für etwas Künftiges. Wer das nicht glauben will, der fange an,
wenn er kann, beim Anfange der Logik. „Das Sein ist der Begriff nur
an sich, die Bestimmungen desselben sind seiende, in ihrem Unterschiede
andere gegeneinander, und ihre weitere Bestimmung, die Form des
Dialektischen, ist ein Übergehen in Anderes. Diese Fortbestimmung ist
in Einem ein Heraussetzen und damit Entfalten des an sich seienden
Begriffs, und zugleich das Insichgehen des Seins, ein Vertiefen desselben
in sich selbst. Die Explikation des Begriffs in der Sphäre des Seins
wird ebensosehr die Totalität des Seins, als damit die Unmittelbarkeit des
Seins oder die Form des Seins als solchen aufgehoben wird.'' So lautet
der erste Paragraph der ersten Abteilung der Logik. Ist es möglich, daß
irgend jemand hier anfange., etwas zu verstehen? — Aber wir können
helfen. Beginnen wir einmal beim § 213; überschrieben: die Idee. Hier
lesen wir: ,4ie Idee ist das Wahre an und für sich, die absolute Einheit
des Begriffs und der Objektivität." Da erkennen wir sogleich Fichtes Ich.
Weiter: „die Idee ist die Wahrheit; denn die Wahrheit ist dies, daß die
Objektivität dem Begriffe entspricht, — nicht äußerliche Dinge meinen
Vorstellungen; dies sind nur richtige Vorstellungen, die Ich Dieser habe.
In der Idee handelt es sich nicht um Diesen, noch um Vorstellungen,
noch um äußerliche Dinge.'' Da erkennen wir den Notbehelf, womit
man der Frage von eben Jenen „richtigen Vorstellungen,'' und dem Ursprünge
ihrer Richtigkeit, auszuweichen gedachte. Ferner: „das einzelne Sein ist
irgend eine Seite der Idee." Da haben wir das Spinozistische quatenus ;
und wenn wir nun nach Anleitung des wohlbekannten Satzes: ordo et
connexio idearum idem est ac ordo et connexio reruni, in die von Spinoza
angenommene Einheit des Denkens und der Ausdehnung uns hinein-
versetzen, so werden schon manche der beigefügten Erläuterungen über-
flüssig; und es findet sich, daß die Stelle gegen das Ende der Logik
weit leichter verständlich ist, als der — wie es scheint, in einiger Ver-
legenheit wegen des Anfangens niedergeschriebene Anfang. Überdies finden
Dr. G. W. F. Hegel: Encyklopädie der philos. Wissenschaften im Grundrisse. 21I
wir eben dort ein paar Behauptungen Hegels, die uns von vornherein
den Fortschritt erleichtern können. Wir sehen z. B. gleich, daß er selbst
den historischen Weg, auf weichem er zu seinen Gewöhnungen gekommen
ist, nicht deutlich vor Augen hat; so gibt er uns von dem schon vorhin
erwähnten Primat des Allgemeinen im Verhältnis zum Besondern den
allerwunderlichsten Beleg, der sich ersinnen läßt; in folgenden Kraftworten:
„der Verstand, welcher sich an die Idee macht, verkennt selbst die schon
ausdrücklich gesetzte Beziehung, er übersieht sogar die Natur der Copiila
im Urteil, ivelche vom einzelnen, dem Subjekte, aussagt^ daß das Einzelne
ebensosehr nicht Einzelnes, sondern Allgemeines ist." Dabei sollen wir ohne
Zweifei denken an die gewohnten affirmativen Urteile, a ist b, wo b ein
weiterer Begriff ist als a. Was machen wir nun mit den negativen, a ist
nicht b; oder mit den partikulären: einiges b ist a? Ohne Rücksicht auf
diese Frage liegen die gemeinen Urteilsformen so offenbar in der Sphäre
des gemeinen Verstandes, daß es etwas anmaßend ist, diesen Verstand
über seine Meinung, die er auf seinem gewohnten Standpunkte habe, und
durch seine Redensarten ausspreche, erst noch belehren zu wollen; viel-
mehr ist es der Philosoph, der hier den gemeinen Verstand gewaltsam
mißdeutet, um einen Vorwand für seinen Irrtum zu erkünsteln. Ferner
sehen wir, daß der Widerspruch, der in einem Augenblicke den Sitz der
Wahrheit selbst einnehmen soll, gleich im nächsten Augenblicke als Zeichen
der Unwahrheit und als Triebfeder des Übergehens in das Gegenteil
benutzt wird. §214: „Wenn der Verstand zeigt, daß die Idee sich selbst
widerspreche, — so zeigt vielmehr (!) die Logik das Entgegengesetzte auf,
daß nämlich das Subjektive, welches nur subjektiv, das Endliche, welches
nur endlich, das U?iendliche, das nur tmendlich sein soll, und so ferner,
keine Wahrheit hat.^ sich widerspricht und in seiti Gegenteil übergeht;
womit dies Übergehen und die Einheit, in welcher die Extreme, als auf-
gehobene, als ein Scheinen oder Momente sind, sich als ihre Wahrheit
offenbart." Hegel weiß also sehr gut, das Widersprechende habe keine
Wahrheit, sondern gehe über in sein Gegenteil! Was tut denn die Idee?
Je nun, sie widerspricht sich; darum unterläßt sie auch nicht, überzugehen
in ihr Gegenteil! Mit größter Offenheit sagt Hegel: „Der Verstand hält
seine Reflexion, daß die mit sich identische Idee das Negative ihrer selbst,
den Widerspruch enthalte, für eine äußerliche Reflexion, die nicht in die
Idee selbst falle." (Gewiß! Denn es versteht sich von selbst, daß die
Widersprüche nicht in den Dingen, sondern nur in unserer mangelhaften
Auffassung derselben liegen können. Aber anders will es Hegel. Er
fährt fort:) „In der Tat ist dies aber mcht eine dem Verstände eigene
Weisheit, sondern die Idee ist selbst die Dialektik, welche ewig das mit
sich Identische von dem Dififerenten, das Subjektive vom Objektiven, das
Endliche vom Unendlichen, die Seele von dem Leibe, ab- und unter-
scheidet, und nur insofern ewige Schöpfung, ewige Lebendigkeit und ewiger
Geist ist. Indem sie so selbst das Übergehen oder vielmehr das sich
Übersetzen in den abstrakten Verstand ist, — ist sie ebenso ewig Ver-
nunft; sie ist Dialektik, welche dies Verständige, Verschiedene, über seine
endliche Natur und den falschen Schein der Selbständigkeit seiner Pro-
duktionen wieder verständigt und in die Einheit zurückführt." Ist sie
14*
212 J- F- Herbarts Rezensionen.
denn nun fertig? — Nein, hier ist kein Ende, denn: ,,indem diese ge-
doppelte Beiüegung nicht zeitlich^ noch auf irgend eine Weise getrennt und
unterschieden ist — sonst wäre sie wieder nur abstrakter Verstand — , ist
sie das ewige Anschauen ihrer selbst im andern ; der Begriff, der in seiner
Objektivität sich selbst ausgeführt hat ; das Objekt, das i7i7iere Zxveckmäßigkeit,
(nach der Kritik der Urteilskraft!) wesentliche Subjektivität ist." Wer nun
das noch nicht versteht, der wird freilich in dieser Sphäre nie etwas ver-
stehen. Die Idee hat keine Wahrheit; darum geht sie über in ihr Gegen-
teil; dieses Gegenteil hat auch keine Wahrheit, darum stellt sich die Idee
wieder her. Diese doppelte Univahrheit ist ewig, und es existiert überall
nichts als der im ewigen Zirkel sich selbst suchende und fliehende Wider-
spruch. Man könnte glauben, Hegel gefalle sich in dem Zentrum eines
so argen Zirkels; aber man würde ihm unrecht tun; er hat allerdings
ein Gefühl von Anstrengung; nur freilich strengt er sich nicht dazu an,
herauszukommen, sondern vielmehr sich an dem Punkte, wohin die Ge-
schichte der Philosophie ihn gestellt hat, zu halten. Er spricht an mehreren
Stellen von Härte; z. B. gleich § 88: „der Satz, Sein und Nichts ist
Dasselbe, ist in der Tat von dem Härtesten, was das Denken sich zu-
mutet;" und § 159: „der Übergang von der Notwendigkeit zur Freiheit
oder vom Wirklichen in den Begriff ist der härteste;" aber ehe man
sich's versieht, sind die Fesseln gesprengt; „das Denken der Notwendig-
keit ist die Auflösung jener Härte; denn — das Denken ist das Zu-
sammengehen seiner im andern mit sich selbst, und hiermit die Befreiung."
Und nun findet sich auf der Stelle Freiheit, Ichheit, Liebe und Seligkeit
beieinander; alle Knoten sind gelöst, alles Harte ist erweicht, alles Feind-
liche versöhnt; aber leider! auf den fünften Akt des Stücks folgt wiederum
der erste! Oder, noch schlimmer! Beide Akte fallen in Eins.
Nun wohl (möchte jemand sagen), wenn auch nach dem Vor-
stehenden Hegels Lehre weder Anfang noch Ende hat, so steht sie um
desto gewisser in der wahren Mitte der Philosophie. — Wer so spräche,
der würde uns die Darstellung dessen, was noch zu entwickeln ist, er-
leichtern. Wir würden ihm nämlich kurz erwidern: Hegels Vortrag hat
allerdings keinen Anfang; doch dieser läßt sich aus der Geschichte er-
gänzen; was ferner das Ende des nämlichen Vortrags anlangt, so erscheint
derselbe nur zu sehr als abgeschlossen, anstatt daß er Aussichten auf weitere
Untersuchungen oluie Ende eröffnen sollte. In der Mitte der Philosophie
aber steht seine Lehre (zusammengefaßt mit der, ihr gebührenden, histo-
rischen Ergänzung) gar nicht; sondern ihre ganz bestimmte Stelle ist der
Anfa7ig der Metaphysik. Für alle andern philosophischen Disziplinen ist
sie von gar keiner unmittelbaren Bedeutung; sie kann in dieselben nur
insofern einfließen, als der Metaphysik mit Recht oder Unrecht ein Anteil
daran beigelegt wird. Nun ist aber die Philosophie schon in alter Zeit
zerfallen in drei Wissenschaften von durchaus verschiedenem Charakter:
in die Wissenschaft von der Zusammenordnung der Begriffe überhaupt
— Logik; von den Erkenntnisbegriffen — Metaphysik; und von den
Werbestimmungen — Ethik, und, ganz allgemein genommen, Ästhetik.
Unter diesen drei Wissenschaften gibt es nur Eine, die sich auf Wider-
sprüche einlassen muß; diese Eine ist die Metaphysik. Hingegen die
Dr. G. W. F. Hegel : Encyklopädie der philos. Wissenschaften im Grundrisse. 2 1 3
Logik betrachtet den Widerspruch nicht bloß als etwas Hartes, welches
das Denken sich noch allenfalls zumuten könne, sondern als das absolut
Harte, welches man verwerfe, in der ]\I einung, es sei weiter nichts damit
anzufangen. Derjenige, welcher im § 115 den Satz der Identität, A = A. für
ein wahres Denkgesetz nicht will gelten lassen, sondern ihn für aufgehoben
durch vorgebliche „andere Denkgesetze" erklärt, und den Satz des aus-
geschlossenen Dritten geradezu leugnet, hätte, um die wahre Lage der
Dinge vor Augen zu stellen, nicht seiner Lehre den Namen Logik beilegen,
auch nicht von Denkgesetzen reden sollen, denen jede Spur des Beweises
fehlt, und denen vielmehr die seit Jahrtausenden allgemein anerkannten
Denkgesetze im Wege stehen; ebensowenig war es passend, mit der
nackten Paradoxie vom reinen Sein, welches nichts sei, anzufangen: denn
die zwischen eingeschobene Bemerkung, es sei die reine Abstraktion^ taugt
hier gar nichts, weil Abstraktionen nicht fähig sind, Widersprüche zu ent-
schuldigen. Sondern Hegel muß sich gerade auf das Gegebene, das
heißt, auf die Erfahrung berufen, welche allen Erkenntnisbegriffen zum
Grunde liegt. Den Dingen^ die wir kennen oder zu kennen glauben, klebt
das Werden und das Scheinen an. Hiervon ausgehend, als von einer Tat-
sache^ konnte er unternehmen, sich gegen die Logik in Opposition zu
stellen. Denn diese Opposition zwischen dem Gegebenen und der Logik ist
7uirklich vorhanden; und die Kenntnis derselben ist der A7ifang der Meta-
physik. Keineswegs aber ist es die Mitte der Philosophie. Zuvörderst
behält die Logik ihre eigentümliche Evidenz; das Gegebene samt den
ihm angehörigen Erkenntnisbegriffen mag sein, was es will. Ferner, die
gesamten Wertbestimmungen, die ganze Ethik und Ästhetik, haben sich
seit ein paar Jahrtausenden durch ihre, ihnen selbst innewohnende Evidenz
von der Metaphysik losgerissen; und es ist ein völlig vergebliches Be-
ginnen, sie unter die Botmäßigkeit der letztem irgendwie, vollends gar
durch den falsch gebrauchten Namen Logik, zurückführen zu wollen. Die-
jenigen, welche solchen Verkehiiheiten anhängen, können nur bloß sich und
der Philosophie, in deren Namen sie sprechen, das öffentliche Zutrauen ent-
ziehen ; denn Logik und Ethik sind schon längst Gemeingut geivorden, dessen
Verwaltung gar nicht von den Schulen der Philosophen abhängt. Dieses
nicht einsehen zu wollen, heißt bloß, die eigene Unklugheit zur Schau
stellen. Dagegen nun sind zwar Naturphilosophie und Psychologie aller-
dings, wissenschaftlich genommen, von der Metaphysik abhängig. Aber
es gibt noch andere Natur- und Seelenforscher, außer den Metaphysikern.
Diese andern wollen Gegenstände der Erfahrung erkennen; und kümmern
sich nicht um widersprechende Begriffe. Die natürliche Folge ist, daß
Hegel hier zwei sehr mächtige Gegenparteien findet. Wird er bei den
Naturforschern etwas ausrichten, wenn er, der aus der ,,trübe7i Verwirrung
in Kants Anfangsgründen der Natunvissenschaft" (§ 98) gar nicht heraus-
gegangen ist — der noch immer die Repulsion voranstellt, noch immer
den Fehler in der Repulsion durch die Attraktion (von der vielmehr aus-
gegangen werden mußte) wieder gut machen, eben hiermit aber den Wider-
spruch zwischen beiden nicht etwa lösen, sondern recht hervorheben will
— , weiterhin sogar (im § 249) die Natur einer Ohnmacht anklagt, so daß
sie den Begriffsbestimmungen nicht getreu bleibe, und ihre Gebilde nicht
2 14 J- ^' Herbarts Rezensionen.
jenen gemäß zu bestimmen und zu erhalten vermöge, — den Physikern
erzählt, beim Magnetisieren eines Eisenstabes verliere derselbe sein Gleich-
gewicht, indem der eine Teil, ohne sein Volumen zu ändern, schioerei
werde (§ 293 steht wörtlich: „die Blaterie, deren Maße nicht vermehrt
worden, ist somit spezifisch schwerer geworden" — nämlich durchs Magneti-
sieren, dessen Wirkung 7iicht an die Richtung der Schwere gebunden
ist, wenn es schon zufällig mit ihr zusammentrifft!); wenn er ferner bei
Gelegenheit der Bewegung sagt: ,,es ist dies der Widerspruch, u?id er
existiert hier inateriell" ; und wieder auf die Schwäche des Begriffs in der
Natur zurückkommend, das Tierleben überhaupt für ein krankes^ sowie
sein Gefühl für ein unsicheres, angstvolles, unglückliches erklärt (als ob
alle Tiere in den Marterkaramern der Physiologen eingesperrt wären!);
wenn er endlich den Ärzten sehr positiv die Lehre gibt: ,^Der Haupt-
gesichtspunkt, unter welchem die Arzneimittel betrachtet werden müssen (die
bekanntlich bei weitem nicht alle in den Magen kommen!), ist der, daß
sie ein Unverdauliches sind"! Was werden die Naturforscher mit
solchen tapfern Behauptungen anfangen? Sie werden sagen: wir haben
schon genug damals vernommen, als wir hörten, die Natur sei der unauf-
gelösete Widerspruch.
Nicht im geringsten mehr Hoffnung aber hat Hegel, bei den Psycho-
logen durchzudringen. Wir wollen hier die mathematische Psychologie
recht gern beiseite lassen, ganz andre Mächte sind zu bezwingen. Sokrates,
Locke, Kant, und wer weiß wie viele andere, werden als Autoritäten
aufgeboten, um eine Psychologie, oder doch eine gewisse Selbsterkenntnis,
geltend zu machen, welche gegen die Metaphysik gerade so tapfer ist, als
Hegels Metaphysik gegen die Logik. Diese Psychologie, die noch erst
ganz neuerlich, in sehr verschiedenen Formen und Schulen, sich selbst
so wenig kennt, daß sie sich sogar selbst für die echte Metaphysik hält,
— ruhet nicht minder als ihr Gegner Hegel, auf historischem Boden;
daher wachsen auch ihre Meinungen, aller Widerlegung trotzend, immer
frisch hervor. Was gedenkt denn Hegel dieser Psychologie entgegen-
zustellen? Etwa seinen planetarisch lebenden Naturgeist; oder lieber die
besondern Naturgeister, welche den geographischen Weltteilen korre-
spondieren, und die Verschiedenheit der Rassen ausmachen; oder endlich
die Lokalgeister, die sich in Körperbildung und Beschäftigung, in den
mancherlei Tendenzen der Völkercharaktere zeigen? Wir möchten ihm
raten, sich auf dies Geisterheer nicht zu verlassen; denn hier ist geistige
Natur ; jene Psychologen übersteigen aber recht geflissentlich die Natur;
und alles Natürliche im Geistigen ist ihnen ein Greuel ; draußen im Räume,
so lautet ihr Befehl, soll die Natur bleiben. Also wird Hegel nicht die
Geister^ sondern den Geist zitieren, von welchem er rühmt: ,,der Geist ist
eben dies^ über die Natur und natürliche Bestimintheit überhaupt erhobe?i zu
seiti" ; wobei wir der Sicherheit wegen anzeigen müssen, daß wir jene
Naturgeister und Lokalgeister aus § 393 und 394, hingegen diesen über-
natürlichen Geist aus § 440 (nicht gar weit von jenen) abgeschrieben
haben. So sehr nun der letztere den erwähnten Psychologen willkommen
sein möchte : so erinnern wir uns doch noch jener schon angeführten
Aussage, nach welcher, indem die Natur verschwindet, die Idee zu ihrem
Dr. G. W. F. Hegel: Encyklopädie der philos. Wissenschaften im Grundrisse. 215
Fürsichsein gelangt, und ihr Objekt ebensowohl als das Subjekt der Be-
griß ist, — eine Identität eintritt, welche absolute Negativität ist, dergestalt^
daß diese absolute Negativität hiniviedenim die Freiheit^ und hiermit das
Wesen des Geistes ist. Wie aber könnten doch jene Psychologen die
Freiheit als eine Negation begreifen? Gerade in der Freiheit meinen sie
das positive Wesen, des An-sich des Geistes zu entdecken; und es fällt
ihnen nicht ein, daß man zuerst die Natur durchlaufen müsse, damit der
Geist, als zurückkommend aus der Natur, frei sein könne. Wiewohl nun
hier bei Hegel etwas Wahres zum Grunde liegen möchte, so ist es doch
in seinem Zusammenhange viel zu schwach, um gegen die Psychologen
brauchbar zu sein; es verrät noch immer den unaufgelöseten Widerspruch,
der, wenn er einmal in der Natur festsitzt, sich durch bloße Redensarten
nicht mehr austreiben läßt. Dagegen aber ist Hegel eine der besten
und stärksten Autoritäten, sobald vom Anfange der Metaphysik die Rede
ist. Belastet mit den echten metaphysischen Problemen, und deren
Schwere wohl empfindend, aber auch rüstig tragend, steht Hegel wie auf
einer Brücke; es scheint, er wolle hinübergehen; nur schade, man merkt
keine Bewegung.
Fassen wir nun alles zusammen: so finden wir weit weniger Grund
zu der Besorgnis, Hegel werde zu stark und zu tief auf das Zeitalter
einwirken, als zu der entgegengesetzten, man werde sich zu leicht über
seine Lehre hinwegsetzen, oder auch, man werde meinen, neben derselben
vorbeischlüpfen zu können. Jene erste Besorgnis hebt sich gleich durch
die untaugliche, nicht bloß falsche, sondern auch nicht einmal belehrende
Form seines Systems. Die Dreizahl täuscht hier und da einige Jüngere;
sonst niemanden; ebensowenig als die Vierzahl anderer. Man glaube
nicht, daß es damit gehen werde wie mit Kants Kategorientafel; welche
freilich wie ein starres Vorurteil sich in die Köpfe eingrub, und noch
heute gar manchen aller gründlichen Untersuchung unfähig macht; das
rührt bloß daher, weil sie leicht auswendig gelernt wird, und eine höchst
bequeme Topik zum Reden ohne Nachdenken darbietet. Hegels System
läuft mit seiner Dreiteilung ins Unendliche; daher fehlt bei ihm die
täuschende Bequemlichkeit der Übersicht, das heißt, es fehlt bei ihm
Glücklicherweise ein großer Fehler, durch welchen bei anderen die Wahr-
heit viel wohlfeiler käuflich erscheint, als sie ist. Ferner: Hegels Idee
erscheint, da sie unmittelbar auftritt, als Hypothese; und muß sich ge-
fallen lassen, als solche geprüft zu werden. Dies wäre nun für sie kein
besonderer Nachteil (denn auch die sorgfältige Spekulation muß sich ge-
fallen lassen, daß ihre Notwendigkeit nur den eigentlichen Metaphysikern
einleuchten kann, während anderwärts ihr Verfahren nur als ein mögliches
Denken, ihre Resultate nur als Fragepunkte für Erfahrung und Beobachtung
gelten); wenn nicht Spinoza so nahe bei Hegel stände, daß die Ver-
gleichung nicht ausbleiben kann. Nun ist offenbar Hegels ündulations-
theorie (nicht kürzer wissen wir das Scheinen in sich und in anderes,
oder die Reflexion dahin und dorthin, zu benennen) sehr viel bunter,
verwickelter, schwerer zu fassen, als Spinozas ruhig liegende Substanz,
die sich begnügt, die Dinge bloß der Möglichkeit nach zu begründen, als
ob sie an deren Veränderungen ganz unschuldig wäre. Fragt also jemand
2 1 6 J- F- Herbarts Rezensionen.
nach einer bequemen Hypothese; so kann Hegeln leicht Unrecht ge-
schehen, indem Spinozas qnatenus leichter auswendig zu lernen und überall
anzubringen ist, als Hegels künstliche Reflexion in sich und in anderes;
mithin der Ruhm der Einfachheit, der bei Hypothesen bekanntlich viel
gilt, wohl unstreitig auf der Seite des Spinoza sein dürfte.
Nicht bloß wünschen, sondern der Hegeischen Schule zu ihrem eignen
Vorteil raten dürfte man daher, daß sie diesen hypothetischen Schein
ganz von sich tun, und ihre Lehre geradezu für das geben möchte, was
sie ist; nämlich — Empirismus. Natürlich nicht gemeiner, unbefangener
Empirismus, wie bei Sammlern und Beobachtern und Experimentatoren;
auch nicht staunender, in Prunkreden sich ergießender Empirismus, wie
bei Schelling, Troxler, Wagner u. a. m.; sondern sc/iuldbeiutißter, seine
Innern Widersprüche laut und freimütig bekeiinender Empirismus ! Dadurch
ist sie belehrend; dadurch ist sie die wahre, nicht zu umgehende Vor-
schule der Metaphysik. Eben dadurch auch kann sie ihre Überlegenheit
behaupten über jene Psychologen, die im Grunde ihre stärkste Gegen-
partei bilden. Denn diesen, die das Was der Seele als Urkraft erkennen
wollen, und zwar als Grundkraft des menschlichen Lebens, um daraus
die GHederung desselben, die Wirksamkeit der Seele nach allen Seiten zu
begreifen (Rez. schreibt diese Ausdrücke aus einer ihm gerade jetzt zu
Gesichte kommenden Literaturzeitung ab) kann man voraussagen, daß sie,
die mcht einmal Melaphysik inid Psychologie z?i unterscheiden ivissen^ noch
froh sein können, wenn sie bei der Analysis ihres Begriffs von der ver-
meinten Seele als Grundkraft des menschlichen Lebens, darin Hegels
Sein und Nichts und Werden und Reflexion in sich und anderes nach-
zuzoeisen vermögen. Gar mancher Theorie liegen die nämlichen Wider-
sprüche unerkannt zum Grunde, welche aufzudecken und anzuerkennen
Hegel scharfsinnig und aufrichtig genug gewesen ist. Um aber den
Vorzug der Klarheit, welcher Hegeln im hohen Grade fehlt, sich an-
zueignen, würde der erste notwendige Schritt dieser sein, daß er das
Problem der Veränderung, welches bei ihm vorherrscht, zu sondern hätte
von denen der Inhärenz, der Materie und des Ich. Alsdann würden
die Fesseln des Systems, mit denen er sich unnützerweise beladen hat,
von selbst springen; und die einzelnen Teile der Untersuchung könnten
sehr bald zu ihrer natürlichen Bewegung gelangen. Von den Ansprüchen
aber, welche das System noch außerhalb der Metaphysik macht, ist am
besten, zu schweigen; sie werden sich von selbst berichtigen, sobald die
Grundübel gehoben sind.
Wörlein, J. W., Hauptlehrer in Happurg, System der Pädagogik.
Erster Band. Pädagogische Grundlehren. — Nürnberg 1830.
Gedruckt in: Hallische Literatur-Zeitung 1832. Willmann, J. F. Herbarts pädagog.
Schriften II. S. 257.
Hier kommt uns als Vorrede ein Leben des Verfs. entgegen. Hr.
Wörlein beruft sich auf Lessing, nach welchem eine Vorrede die Ge-
J. W. Wörlein: System der Pädagogik. 217
schichte der Entstehung eines Buches sein soll. „Buch, Autor und Leben
desselben fließen aber vielfach ineinander und sind nur in ihrer Kausal-
verbindung genetisch erklärbar. Dies ist vorzüglich der Fall bei Werken
der Autodidakten, die durch sich selbst die ihnen innewohnende Idee
entwickelten und fast alles durch eigne Kraft geworden sind. Auch der
Verf. ist ein solcher Autodidaktor ; er ist in der literarischen Bildung
unter schweren Kämpfen mit dem Schicksale und unter hartem Geistes-
druck und mannigfaltigen amtlichen Bedrängnissen aus sich selbst hervor-
gegangen." Die Lebensgeschichte beginnt bei dem Jahre 1797, dem
Geburtstag des Verfs. Die Eltern gehörten der niedersten Volksklasse
an, sie arbeiteten sich etwas höher empor. Der Verf. war ein schwäch-
liches Kind, im vierten Jahre lange krank. In den Schuljahren hatte ein
seltner pädagogischer Poltermann seine liebe Not mit ihm und erklärte
ihn für den dümmsten Jungen seiner „Schule'^ Im Kreise der Jugend-
gefährten gewann er Vertrauen und Ansehen. Ein dunkler Trieb führte
ihn zu den Büchern. Der Dorfpfarrer wurde aufmerksam. Stephan:
wurde später sein Ideal, dann sein Gönner. Er bekam eine Anstellung
als Elementarlehrer, Es folgen Leiden mancherlei Art und Liebe — und
Bücher. „Ich las nie anders als mit der Feder in der Hand; auf diese
Weise erhielt ich P^olianten und Quartanten von Exzerpten und Auszügen,
von Rezensionen und Lebensbeschreibungen der Gelehrten nach Tausenden,
die mir später bei meinen Arbeiten treffliche Dienste leisteten." Es scheint
fast diese Exzerpte hätten Hrn. W. gar zu viele Dienste geleistet. Denn
— anstatt daß wir von einem Autodidakten Eigenes, Selbsterdachtes er-
warteten, nötigt uns sein Buch manches soeben Gelesene noch einmal zu
lesen. Kaum haben wir Schwarz und Niemeyer aus der Hand gelegt,
so kommen sie in diesem Buche wieder herbei, freilich nicht allein, sondern
in starker Begleitung anderer Schriftsteller. Was daraus geworden ist,
mögen einige Proben bezeichnen. S. 7: „Die scharfsinnigen Versuche
Spinozas, Fichtes, Schellings mußten mißlingen." Aber kurz zuvor S. 6:
,.Zum Realprinzip der Wissenschaft überhaupt konstituiert sich das Ich."
Und wieder kurz darauf S. 12: „die ursprüngliche Denkform des Ich,
Thesis, Antithesis, Synthesis, bestimmt die Form des Organismus der
menschlichen Erkenntnis" desgleichen S. 18: „das Ich als Subjekt — Ob-
jekt ist das einzige Realprinzip aller Wissenschaft, also auch der Pädagogik."-
Weiß Hr. W. wirklich nicht, von wem diese Sätze stammen? Er hätte
doch Fichten den schuldigen Dank dafür nicht durch die Anklage des
Mißlingens verderben sollen, wenn er selbst noch in diesen Meinungen
befangen ist. Weiterhin werden wir mit pädagogischer Literatur reichlich
versorgt. Jedem Büchertitel ist eine kurze Rezension beigefügt. Zur Probe
dienen ein paar Zeilen über Niemeyek : „Was ihn am entschiedensten
über die Ausländer erhebt, ist die bestimmte, sittliche Tendenz seiner
Grundsätze, dahingegen bei jenen durchweg rohe Willkür regiert, um,
kaum gemildert durch ein höchst schwankendes moralisches Gefühl, ein
flaches Sinnenleben einzuleiten.'' Diese Ausdrücke kommen dem Unter-
zeichneten in Ansehung Niemeyers sehr richtig, in Ansehung der Aus-
länder zu stark und zu grell, überdies aber bekannt vor. Nach einigem
Besinnen fand er sie wieder in seiner eignen allgemeinen Pädagogik vom
2 1 8 J- F. Herbarts Rezensionen.
Jahre 1806 (S. 434) und benutzt nun hiermit die Gelegenheit, nicht Hrn.
W., sondern sich selbst darüber zu tadeln. Bei länger entlehnten Stellen
hat übrigens Hr. W. die Bücher, aus denen er abschrieb, wohl manch-
mal und vielleicht mehrenteils angeführt; daher wir ihn nicht des Plagiats
beschuldigen dürfen. Wir begnügen uns jetzt die Einteilung des Buches
kurz anzuzeigen. Es zerfällt in Elementarlehre und Methodenlehre. Die
erste handelt vom Menschen als Naturwesen, als Geistes wesen, dann von
der Menschheit. Die zweite von pädagogischer Ideologie und Teleologie,
darauf von pädagogischer Konstruktion und Formation. Dies zusammen
soll Fundamenial-Pädagogik heißen. Versprochen wird Derivativ-Pädagogik,
umfassend Erziehungs- und Unterrichtslehre, ferner die Beobachtung des
Schulwesens und die Geschichte der Pädagogik. Bevor Hr. W. bis zum
neunten Teile seines weitläufig angelegten Werkes vorrückt, wird sich ihm
wohl noch mancherlei zum exzerpieren darbieten; er mag sorgen, nicht
die Einheit darüber noch mehr, als schon geschehen ist, zu verlieren.
Besitzt der Mann wirklich eine vorzügliche Kraft und Tätigkeit, so wird
seine eigene Bildung nicht stillstehen; und er kann bei doppelt soweit
vorgeschrittenem Alter noch das Vergnügen haben, eine zweite Auto-
biographie zu schreiben, die reichhaltiger sein wird, als die erste.
Schwarz, F. H. Ch., geh. KR. u. Prof. zu Heidelberg, Erziehungs-
lehre. In drei Bänden. 2. durchaus umgearbeitete Auflage. —
Leipzig 1829.
Gedruckt in: Hallesche Literatur - Zeitung 1832, Nr. 21 — 24. Kl. Sehr. HI, S. 744.
SW. XH, S. 686. Willmann, Pädag, Schriften H, S. 229. Richter, Pädag.
Schriften II, S. 399. Bartholomäi-Sallwürk II. S. 347.
NiEMEYER begann die Nachträge, welche er zuerst im Jahre 1806
seinem berühmten Erziehungswerke als dritten Teil hinzufügte, mit folgenden
Worten: ,,Man versteht sich über eine Menge von Gegenständen, sobald
man sie im gewöhnhchen Leben, ohne Rücksicht auf ein gewisses System
behandelt, über die man sich immerfort mißversteht, sobald man darüber
zu philosophieren und zu spekulieren anfängt. Gewiß ist dies auch häufig
der Fall bei der Erziehung." Und wir dürfen hinzusetzen: die päda-
gogische Praxis erteilt allen denen, die sich lange und anhaltend mit ihr
beschäftigen, einen Schatz von gleichartigen, oder doch nahe ähnlichen
Erfahrungen und Belehrungen, vermöge deren sie einen gemeinsamen
Boden haben, auf dem sie stehen; wodurch es ihnen selbst bei sehr ab-
weichenden Theorien wenigstens leichter sein muß, sich zu verständigen,
als es außerdem sein würde. Nicht aber bloß in Erfahrungen, sondern
auch in ähnlichen Gesinnungen erkennen sich diejenigen, denen es mit
der heiligen Sache der Erziehung redlicher Ernst ist. Heftiges Streiten
ziemt sich nicht auf dem Felde der Erziehungslehre. Der Standpunkt
des echten Pädagogen ist so hoch, daß er alle Streitigkeiten auf den
Feldern des Wissens und Forschens nur als ein Zusammenwirken für die
F. H. Ch. Schwarz : Erziehungslehre. 2 1 9
Bestimmung der Menschheit, die mitten im Streite sich selbst erzieht und
emporringt, kann gelten lassen. In solcher Meinung nun legt der Unter-
zeichnete die metaphysische Feder einstweilen beiseite, und ergreift
wiederum die älteste, die er vor langen Jahren geführt hat. Dies ge-
schieht mit der angenehmen Wahrnehmung, welche ihm die vorliegenden
Erziehungswerke verschaffen, daß sein Name unter den deutschen Päda-
gogen noch nicht verschollen ist, daher keine neue Bekanntschaft braucht
angeknüpft zu werden.
Bevor jedoch Hr. Geh. K.-R. Schwarz uns in die Geschichte der
Pädagogik, um die er sich so große und längst anerkannte Verdienste
erworben hat, tiefer einführt, sei es erlaubt, einige Griffe in dieselbe zu
tun, welche das Folgende erleichtern können. Zu einer Zeit, die uns
jetzt glücklicherweise als lange verflossen vorkommt — im Jahre 1807
, sprach Fichte in seinen, für ihn ruhmvollen, und selbst historisch
merkwürdigen Reden att die deutsche Nation, folgendes, fast im Beginn
seines Vortrags, mit bestimmter Absicht, den Geist desselben zu be-
zeichnen: „Die Erziehung muß die wirkliche Lebensregung und Bewegung
der Zöglinge, nach Regeln sicher und unfehlbar bilden und bestimmen.
Wofern jemand einwendet, der Zögling habe freien Willen, so antworte ich
(Fichte), daß gerade in dem Rechnen auf einen freien Willen der erste
Irrtum der bisherigen Erziehung, und das deutliche Bekenntnis ihrer Ohn-
macht und Nichtigkeit liege. Sie bekennt, daß sie den Willen, die eigent-
liche Grundwurzel des Menschen, zu bilden weder vermöge noch wolle
und begehre. Willst du über den Menschen etwas vermögen, so mußt
du mehr tun als ihn bloß anreden, — du mußt ihn machen, ihn also
machen, daß er gar nicht anders wollen könne, als du willst, daß er
wolle." Und Niemeyer, sich auf Erfahrung stützend, sagt sanfter, doch
deutlich in dem oben angeführten Aufsatze: ,,Es ivard ans dem Erfolge
geiuiß^ daß eine Einwirkung des Menschen auf den Menschen, unbeschadet
der Freiheit und Selbständigkeit des Vernunftwesens, möglich sei, welche
zwar nie die Natur umschaffen oder vernichten, aber wohl die Art und
den Grad der Ausbildung der natürlichen Anlagen und Kräfte bestimmen
könne." Gehen wir weiter zurück bis auf Rousseau (welchem, nebst
Locke, in der Vorrede zu Campes großem Revisionswerke ausdrücklich
der Ruhm des Vorgängers beigelegt wird, denn es heißt dort von beiden :
sie machten Bahn, ivir atidern folgten), so findet man, statt aller Erwähnung
der Freiheit, eine dreifache Erziehung, durch die Natur, durch die Gegen-
stände und durch die Menschen; aus deren Vergleichungsich das Resultat
ergibt, daß nach der erstem, weil wir sie nicht in unserer Gewalt haben,
sich die beiden andern Erziehungen richten müssen, damit in dem Er-
zogenen kein Widerspruch entstehe. .. Chacun de nous est forme par trois
sortes de maitres. Le disciple dans leqiiel leurs diverses legons se contrarient,
est mal eleve, et ne sera Jamals d'accord avec lui-meme. Celut dans lequel
elles tombent toutes siir les memes points, et tendent aux meines fins, va seul
ä son hiä, et vit conse'quemment. Celui lä seul est bien eleve. Diese,
an das Stoische ot^ioloyor^uvoi^ Lf^v geknüpfte Erklärung wird jeden Päda-
gogen hinreichend an die ferneren Vorschriften Rousseaus erinnern, nach
welchen an die Stelle aller Willkür lediglich die Notwendigkeit und die
2 20 J- F. Herbarts Rezensionen.
unvermeidliche Ergebung in sie, treten soll. Wie sehr nun auch dies mit
FiCHTES obiger Forderung: zu kontrastieren scheint: so sieht man doch
immer die Bildsamkeil des Zöglings vorausgesetzt, ohne rvelche Voraussetzung
kein Erzieher sein Werk angreifen kann. Alsdann aber knüpft sich an dies
erste Postulat bei allen Pädagogen die doppelte Frage: erstlich, wozu soll
der Zögling gebildet werden? zweitens, durch welche Mittel? Das heißt,
die Pädagogik ruft einerseits die Ethik, andrerseits die Psychologie zu
Hilfe. Nach den verschiedenen Meinungen, welche in diesen beiden
Wissenschaften herrschen , kommen nun die verschiedensten Ansichten
hervor; wiewohl oft die Verschiedenheit mehr in der Schulsprache jedes
Zeitalters, als in der wirklichen Geistesrichtung der Pädagogen liegt; daher
man sich leicht versucht finden kann, die Differenz größer zu schätzen
als sie ist. Durchgehends (schon von Platon an gerechnet) sieht man
die Pädagogen sich vorzugsweise gegen die auffallendsten Verkehrtheiten
ihrer Zeit stem.men; denn gerade diese wollen sie durch bessere Erziehung
gehoben wissen. Dabei aber nehmen sie, wie sie nun eben können, die
Zeitphilosophie zu Hilfe. Zwar erinnern wir uns nicht, bei älteren Päda-
gogen die Behauptung gelesen zu haben, „(//^ Psychologie^ als eigne Doctrin
müsse gänzlich wegfallen, und sie müsse künftig nur einen Abschnitt der
Physiologie bilden" (man sehe die zu Innsbruck herauskommende medizinisch-
chirurgische Zeitung, i. Bd. vom Jahre 183 1, S. 46); allein was irgend
an verschiedenen Meinungen zwischen diesem Extrem einerseits und dem
Fichteschen Idealismus oder auch der platonischen Ideenlehre und der
Leibnizschen Monadologie andrerseits in der Mitte liegen kann, das ist
ohne Zweifel irgend einmal von Einfluß auf die Ansicht der Pädagogen
gewesen ; und heutigestages müssen wir darauf gefaßt sein, auch einmal
zur Abwechslung einen Physiologen als Erziehungslehrer auftreten zu sehen,
der uns zeige, durch welche diätetische INIittel man vom Gehirn ausgehend,
oder gar von den Nerven der Extremitäten und von den Lebensfunktionen
der Haut anfangend, den Willen der Zöglinge so regulieren müsse, wie
die obige Forderung Fichtes es vorschreibt. Die Folge solcher zum Er-
schrecken weit auseinander gehenden Theorien ist immer die, daß die
Praktiker sich in ihren Eifahrungskreis zurückziehen, und die fremdartigen
Ansprüche, welche draußen erschallen, nach Möglichkeit ignorieren. Nur
kann der praktische Erzieher niemals bloßer Empiriker werden; das ver-
hindert die Natur seines Geschäfts. Hat er mit der Zeitphilosophie ge-
brochen, so sucht er seine Zuflucht nicht lediglich bei der Erfahrung,
sondern zugleich bei der Religion.
Die Beziehung dieser Vorerinnerungen auf das berühmte Werk des
Hrn. Schwarz würde von selbst klar sein, wenn Hr. Schw. auch nur in
dem, sehr mäßigen, Grade Empiriker wäre, wie Niemeyer es war. Allein
solche Männer, die in der Pädagogik etwas Ausgezeichnetes leisten, werden
immer wenigstens die Gemächlichkeit des bloßen Empirismus als etwas
ihrer kaum Würdiges betrachten. Von Hrn. Schw. sowohl als von dem-
jenigen Vorgänger, dem er sich am liebsten anzuschließen scheint, dem
unvergeßlichen Verfasser der Levana (welcher sogar der ersten, mathe-
matisch-psychologischen Abhandlung des Unterzeichneten eine überraschende
Aufmerksamkeit zuwendete) ist es bekannt genug, mit welcher Sorgfalt
F. H. Ch. Schwarz: Erziehungslehre, 221
er die philosophischen Systeme, deren Wechsel er erlebte, beobachtet,
und teilweise zu benutzen versucht hat. Wieviel er jedoch auch andrer-
seits seinem Leser an empirischen Hilfsmitteln darbietet, dies wird aus
dem Berichte über das Werk deutlich hervorgehen; so daß, von Gemäch-
lichheit weit entfernt, vielmehr ein äußerst vielseitiges Bemühen, die Päda-
gogik mit jedem möglichen Lichte zu erhellen, dem Werke zum Ruhme
gereicht.
Die ersten beiden Bände (die zwar nur als Ein Band gezählt sind,
aber doch zusammen die größere Hälfte des Ganzen ausmachen) be-
schäftigen sich mit der Geschichte der Erziehung. So ist in dieser um-
gearbeiteten Auflage, was früher das Letzte war, in den Vordergrund ge-
stellt worden; ohne Zweifel deshalb, weil der Verf. in dieser empirischen
Masse ein Stütze für seine Theorie gewinnen wollte. „Wir müssen erst
sehen (sagt die Vorrede), was bis jetzt geschehen ist, und wie wir zu
unserer Bildung gelangt sind, bevor wir erkennen, was wir zu tun haben,
um unsere Kinder gut zu bilden und zu erziehen. Nach dieser Ein-
richtung wird auch manches abgekürzt, indem in der Lehre selbst nur
auf das verwiesen zu werden braucht, was sich in der Geschichte vor-
findet." Hierauf folgt sogleich eine Erklärung in Ansehung des eigent-
lichen Lehrvortrages. „Der zweite Band soll nicht in strengem Sinne
Svsteni heißen; denn das ist in einer solchen Erfahrungswissenschaft und Kunst
nicht möglich, sondern bedurfte nur einer mehr wissenschaftlichen Ein-
teilung, welche das Einzelne möglichst an seinen rechten Ort stellt, und
hiermit, zugleich auf das in der Geschichte Angegebene sich beziehend^ kürzer
wird als vorher, ohne gerade schwächer oder ärmer zu werden." Un-
geachtet dieser Erklärungen wollen wir uns aber doch, zum Vorteile des
Verfs., daran erinnern, daß er bei der ersten Ausarbeitung dieser Ge-
schichte der Erziehung, sie nicht darauf eingerichtet hatte, an der Spitze
des Ganzen stehend dem Hauptvortrage eine Stütze zu gewähren; denn
wäre das letztere ursprünglich beabsichtigt worden, so möchte wohl der
Zuschnitt der Arbeit merklich anders ausgefallen sein. Es erzählt uns
nämlich der erste Teil mancheriei Vorweltliches, Indisches, Chinesisches,
Persisches usw., was teils anderwärts her bekannt, teils wie natüriich höchst
unvollständig ist, weil man eben nicht mehr davon weiß; ja dies geht
großenteils auch noch bei Griechen und Römern so fort, wo z. B. Achill
und Astyanax aus der Ilias als Zögling und Sohn in Betracht kommen.
Bei den Römern ist die Rede von Ehegesetzen, von der patria potestas usw.
in einer Ausführiichkeit, die gerade nicht unwillkommen sein mag, doch
aber zur Entscheidung oder auch nur Beleuchtung heutiger pädagogischer
Fragen nichts beitragt. Im zweiten Teile muß man sich durch alleriei
wenig anmutige Dinge, wie von fahrenden Schülern, Bacchanten, trivium
und quadrivium u. dergl. hindurch arbeiten, die ihr historisches Interesse
haben, auch wohl ein gerechtes Vergnügen über den heutigen bessern
Zustand des Unterrichts und der Erziehung gewähren; aber nicht zu
unserer Belehrung da, wo wir in pädagogischen Zweifeln befangen sind,
helfen können. Rez. hoffte gegen das Ende des zweiten Teils die höchst
wichtige Periode seit Locke ausführlich behandelt, die historische Fort-
bildung der bedeutendsten Meinungen, und eine möglichst gerechte
2'>2 J- F. Herbarts RezensioDen.
Charakteristik der einflußreichsten Pädagogen entwickelt und aufgestellt zu
sehen; weil hier endlich dasjenige an die Reihe kommt, was noch unter
uns fortwirkt; aber hier möchte doch in der Tat selbst eine billige Er-
wartung unbefriedigt bleiben. Blicken wir nun in den zweiten (eigentlich
dritten) Band hinein: so kommt uns eine andere empirische Masse ent-
gegen ; Hr. Schw. hat nämlich von den Physiologen manches entlehnt,
namentlich von Rudolphi ; aber auch hier ist die Hauptfrage: tvozu dient
das dem Erzieher? In welchem Verhältnisse steht es zu den praktisch wichtigen
Fragen, die dem Erzieher nnd Schulmann jeden Augenblick vorkommen? Hilft
es uns, die Zeit für eine nötige Lektion richtiger zu ivählen ? Tröstet es uns,
oder auch^ warnt es luis, tvenn hier langsaine Fortschritte des Schülers, dort
verspätete Kindereien des Jünglings, anderwärts wohl gar bösartige Züge an-
statt reiner Kindlichkeit, eine Gefahr anmelden, deren Größe zu schätzen uns
schwer wird? Und Hr. Schw. redet noch auf S. 123 dieses Bandes von
Atmen, Gähnen, Seufzen, Weinen, Lachen, Wimmern {vagitus), Zittern,
Niesen, Räuspern der kleinen Kinder! Man möchte fragen, ob er jenen
Physiologen, welche auf Eroberung der Psychologie ausziehen, etwa auch
die Pädagogik habe zuführen wollen? — Allein dem ganzen Zusammen-
hange gemäß kann eine so nachteilige Auslegung nicht Ernst sein; es ist
nur eine gewisse Unverhäitnismäßigkeit zu bemerken; und (damit nichts
verfehlt werde) ein mißlingendes Bestreben, durch einen angehäuften Reich-
tum des empirisch Gegebenen Ersatz zu schaffen für mangelnde psycho-
logische Untersuchung. Das aber ist eben das Unglück, daß die größte
Fülle der bloß empirischen Gelehrsamkeit uns stets arm, und bei der
pädagogischen Praxis in Verlegenheit läßt, solange es uns nicht gelingt,
durch richtige Begriffe in die Tiefe der Gemüter hineinzuschauen. Ob
die am Ende des Werks hinzugefügten Belege (Entwicklungsgeschichten usw.)
mehr helfen, muß Rez. wenigstens bezweifeln. Möge aber das gesamte
empirische Material für andere noch so interessant sein, wir können hier,
da für die Hauptsache der Raum zu sparen ist, nur ganz kurz folgendes
davon sagen.
In der Einleitung wird der beiden Grundansichten der Geschichte
der Menschheit gedacht, deren eine nur Verschlechterung, die andere nur
Veredlung sehen will. Beide sind einseitig. Die Menschheit ist nicht
etwa ein dem Uriichte entquollener Strom, der immer weiter in tieferer
Dunkelheit erlischt, noch ein aus dem Urschlamme aufgärender Licht-
quell ; sondern sie steht durchaus in der Hand der ewigen Liebe, welcher
der letzte Mensch so nahe ist als der erste. Aus dem dunkeln Alter-
tume scheinen bildende Stämme hervor. Der Charakter der Modernen
ist Trennung, hingegen der des Altertums ungeschiedene Größe. Bildung
war anfangs meist das Eigentum eines Stammes oder Standes; später
wurde sie Gemeingut. Daher erst geschlossene, dann freigegebene Bildung.
Erziehung ferner setzt einen gewissen Zustand schon vorhandener Bildung
voraus; dieser, aus dem ganzen Volksleben zu erkennende Zustand muß
überall zuerst betrachtet werden. Daher folgende Anordnung. Erster
Teil, alte Welt. Erste Abteilung: geschlossene Bildung. Hier von den
bekannteren Völkern Asiens und Afrikas. Überall zuerst von der Bildung,
dann von der aus ihr hervorgehenden Erziehung; denn die Jugend wächst
F. H. Ch. Schwarz: Erziehungslehre. 223
in der Nationalbildung heran. Ziüeiie Abteilung: eröffnete Bildung. Hier
von den Israeliten, als dem Offenbarungsvolke. Bei ihm war das Band
zwischen Eltern und Kindern vorzüglich fest geknüpft; die Volkserziehung
erwuchs aus der häuslichen, und war durchaus religiös. Von den Propheten-
schulen ist zu wenig bekannt. Sie waren Privatanstalten; an dem pytha-
goräischen Bunde findet sich etwas Ähnliches. Nach dem Exil gab es
eigentliche Gelehrtenschulen, aber auch mit Verschiedenheit der Sekten.
Nach der Zerstörung Jerusalems blüheten mehrere hohe Schulen an ver-
schiedenen Orten. Nun folgen die Griechen: „Athen ist auch unsere
Studienstadt, der ionische Himmel unsere Erheiterung." Die griechischen
Bildungskreise werden bezeichnet durch ihre Vorsteher: i. Homer,
2. Lykurg, 3. Pythagoras, 4. Solon, 5. Sokrätes, 6. Platon, 7. Ari-
stoteles. Endlich von den Römern; natürlich bei weitem kürzer als
der vorige Abschnitt. Anhangsweise noch von der Musik, als dem höchsten
Bildungsmittel der Alten. So weit der erste Band. Der zweite Band
zerlegt die Betrachtung der christlichen Welt in zwei Hauptperioden; das
Eindringen der christlichen Bildung; und das Ireiicerden derselben. Die
erste Periode befaßt 14 volle Jahrhunderte; in ihr ist bald Vermischung
des Christentums mit der früheren Bildung zu bemerken, bald Scheidung
der beiden Elemente. Hier werden, analog der Anordnung des ersten
Teils, erst die höheren Bildungsanstalten, dann das Erziehungswesen in
der christlichen Kirche abgehalten. Demnach zuvörderst i. von der
Katechetenschule in Alexandria, 2. episodisch von der Bildung der Araber,
3. von den Kaiserschulen und den Universitäten. Darauf von dem Be-
ginnen des Christentums im Volksleben, von der Jugenderziehung in
Britannien, bei Ost- und Westgothen, in Deutschland und Frankreich; und
von dem Schulwesen nebst der pädagogischen Literatur in diesen Ländern.
Wir können uns nicht dabei aufhalten; aber ein paar Worte aus dem
Eingange zur zweiten Abteilung dieses Bandes mögen den Eindruck be-
zeichnen, den die Bearbeitung jener Zeitwüste auf Hrn. Schw. selbst ge-
macht hat. „Alles Menschliche ist dem Naturgesetze unterworfen, nach
welchem der Zeitgeist das, was er hervorbringt, auch wieder mitnimmt.
Der beliebte Gedanke von einet Kindheit^ einem Jiinglingsalier und der Ver-
nunftreife des menschlichen Geschlechts schmeichelt uns, weil wir uns da
natürlich in die letztere erhoben sehen, abet er ist tticht richtig, nicht an-
wendbar auf die Menschen wie sie sitid. Es ist nun einmal Böses im
Menschen; und sein Naturgesetz ist mit seinem Freiheitsgesetze nicht im
reinen Einklanoe. Darum findet sich in der Geschichte der Menschheit
nicht jene Einheit oder Einfalt, welche die freundliche Begeisterung gern
darin schaut. Das Ewige in der Menschheit, das Göttliche gibt derselben
ihre Geschichte, aber ihr Exponent ist ein höherer als das Naturgesetz,
weil er in dem geistigen Leben liegt. Weil aber dieses in seiner Ent-
wicklung durch die Sünde gestört, und durch die Erlösung wieder her-
gestellt wird, so betrachtet die Geschichte mit Recht Christum als den
Mittelpunkt, und wir würden vergeblich einen Aufschluß über das Rätsel
unsers Geschlechts suchen, wenn uns diese Sonne nicht aufgegangen wäre.
Ohne ihn erneuerte sich immer nur die alte Tragödie." Müßten wir nur
nicht hinzusetzen: selbst mit ihm hat sie sich seit achtzehnhundert Jahren
2 24 J- ^- Herbarts Rezensionen.
oft genug erneuert! — Gerade dieser Umstand kann Hrn. Schw. ent-
schuldigen, daß er an diesevi Orte in den falschen Gegensatz zwischen
Naturgesetz und Freiheitsgesetz verfällt; wobei die allererste Voraussetzung
der Pädagogik, nämlich die Bildsamkeit des Zöglings vergessen wird.
Naturgesetze sind keineswegs bildsam, sondern starr wie das Gesetz der
Schwere, das sich nicht ändern läßt; Freiheit \.'\yid.^ stets wandelbar h\€\\i&x\\
auf sie zu rechnen ist nicht klüger, als Buchstaben ins Wasser schreiben.
Aber die Bildsamkeit ist Tatsache. Vollständiger aufgefaßt ist sie Be-
weglichkeit des Menschengeist CS, wovon die Geschichte, in allem ihren Auf-
steigen und Absteigen, das Schauspiel darbietet. Diese Beweglichkeit mit
Lob oder Tadel begleiten, heißt noch keinesweges, ihr wahres Wesen
studieren; dazu gehört eine ganz kühle — und zwar mathematische Be-
trachtung. Aber der Verf. stand an einem Punkte der Geschichte, wo
es schwer ist, kühl zu bleiben, und wo es dem Historiker nicht kann
und darf zugemutet werden. Rückblickend auf Karls des Großen und
Alfreds Bemühungen, das gute Prinzip, nämlich das Christentum in Ver-
bindung mit klassischer Literatur, in rohe Völker hineinzuptianzen; trauernd
über den teils mangelhaften, teils vergänglichen Erfolg, berichtet Hr. Schw.:
„von guten Schulen läßt sich seit dem elften Jahrhunderte bis zum
sechzehnten gar nicht mehr reden; — das gemeine Schulwesen versank
aufs allertiefste, — es kam schnell im Verfalle des Schulwesens aufs
äußerste; — die Geistlichen konnten oder mochten nicht mehr helfen."
— Wer einen solchen Bericht über so lange Jahrhunderte ohne Teil-
nahme abstatten würde, der wäre nicht, wie es sein muß, kühl durch
Selbstbeherrschung in wissenschaftlicher Abstraktion, sondern kalt und
herzlos in seinem innersten Wesen. Das vorliegende Werk aber hat die
rechte Lebenswärme, die einer historischen Darstellung natürlich inwohnt,
und eine Probe ihrer Gesundheit ausmacht. Noch um eines andern
Umstandes willen haben wir die obige Stelle ausgehoben. Es zeigen sich
darin die Vorboten des Streits zwischen Hrn. Schw, und einem großen
pädagogischen Schriftsteller, der auf seine Leser einen sehr tiefen Ein-
druck zu machen pflegt, nämlich Rousseau. Dieser beginnt mit den
berühmten Worten: „Tout est bien, soiiant des mains de Cauteur des choses,
tont de'ge'nere entre les mains de rho?iime: tl ne veut rien tel qiie Va fait la
nature, pas mime Vhomme." Hier wird die Natur als das gute Prinzip
betrachtet, hingegen die freie Willkür des Blenschen als das Prinzip des
Bösen. Man glaube nicht, daß der Gegensatz zwischen beiden Schrift-
stellern sich heben ließe, indem man die Natur auf den Schöpfer zurück-
führte, und dagegen das Freiheitsgesetz von der Willkür schiede. Viel-
mehr ist das Freiheitsgesetz (anstatt der praktischen Ideen) ein Kantianis-
mus, der Hrn. Schw. ebenso gewiß zu seinem Schaden anklebt, als dem
Rousseau die falsche Voraussetzung, alles Natürliche^ also auch die Kinder,
seien von selbst gut, und man brauche nur äußern Zwang und äußere
Künstelei wegzunehmen, um sie gut heranwachsen zu sehen. Ja es scheint,
Hr. Schw. sei oranz auf dem Wege sich die Freiheit im Ä^w/ischen Sinne
als die wahre, eigentliche, innere Natur des Menschen vorzustellen; und
diese würde ihn der Meinung Rousseaus gerade in die Hände geliefert
haben, wenn nicht die Theologie ihn gewarnt hätte durch ihre Lehre von
F. H. Ch, Schwarz: Erziehungslehre. 2 2
der Sünde. Aber eine solche Warnung hätte in diesem Punkte nicht
nötig sein sollen; der richtige Begriff von der Bildsamkeit ist nicht nur
den gewöhnlichen, sondern auch den Kantischen Freiheitsbegriffen so
durchaus entgegen, daß sogar Fichte, der strengste Freiheitslehrer, in dem
Augenblicke, da er von Pädagogik schreiben wollte, zu der Äußerung
getrieben wurde, die wir gleich anfangs schon anführten. Und da nun
einmal eine hier fremdartige Warnung nötig wurde, so drang sie wohl zu
tief ein, wie wir sogleich mit mehrerem zeigen werden; sie macht Hrn.
Schw. etwas zu streng gegen Rousseau und gegen alles, was ihm an-
hängt. Jedoch in diesem Falle ist Strenge, selbst wenn sie hin und wieder
an Ungerechtigkeit streifen sollte, immer noch besser, als die verderbliche
Nachgiebigkeit und Befangenheit in Rousseaus pädagogischen sowohl als
politischen Vorstellungsarten, womit man den geistreichen, auf der Ober-
fläche hellsehenden Mann, so oft als einen eigentümlichen Denker und
Forscher geachtet und dargestellt hat.
Nachdem der Verf. aus der Zeit vor der Reformation teils von der
italienischen, teils von der niederländischen Bildungsschule gesprochen
(dort von Petrarca, hier von Geert Groote beginnend, und die Schule
von Deventer mit ihren Sechsmännern ausführlicher beschreibend), folgt nun,
wie natürlich, Luther, dann Zwinget und Melanchthon; und nächst
diesen empfangen Sturm und Trotzendorf ihre Ehrenplätze. Bei Sturm
finden wir nun schon mehr pädagogisch Interessantes. Er hatte seine
Schule in zehn Decurien geteilt, und zum Durchlaufen einer jeden eiri
/fl//r bestimmt; Sprach- und Sachkenntnisse wurden verbunden; dramatische
und dialogische Stücke wurden (wie es Sturm schon in Löwen gesehen
hatte) von den Schülern theatralisch gesprochen; die statarische Lecture
der Klassiker zugleich mit der kursorischen betrieben ; der Homer wurde
gelesen; es gab schriftliche Übungen im Griechischen. Sturm hatte für
alles Methodenbücher gemacht. Er ging vom Anschaulichen zum Begnffe,
von ■ der Sache zum ' Worte, und durch das Wort wieder tiefer in die Sache.
Aber — er klagte, daß ihn das Zeitalter nicht verstehe. Trotzendorfs
Schule hatte, wie es scheint, mehr künstliche Belebung; sie war eine
römische Republik, mit Konsuln. Senatoren, Zensoren, er selbst war dictator
perpetuus. Es gab nur sechs Klassen; aber jede war in ttibus geteilt, mit
Quästoren an der Spitze. Hätte man den großen Methodiker Sturm in
neuem Zeiten studiert (sagt der Verf), so konnte der Streit über Humanis-
mus und Philanthropinismus kaum entstehen; denn Sturm hatte Grundsätze
vorgelegt, wie sich Realien und Idealien im Knaben- und [ünglitigsunt er-
richte verbinden] ob sie gleich nie auf befriedigende Art sind ausgeführt
zvorden." Möchte doch der Hr. Verf. sich hierüber- weitläufiger aus-
gelassen haben; besonders mit Berücksichtigung des Umstandes, daß im
sechzehnten Jahrhunderte durch die Klassiker eine erneuerte Geistes-
bildung erst mußte geschaffen werden; und daß dagegen jetzt Mathe-
matik und Naturlehre unermeßlich sind erweitert worden, ja daß die
Geschichte selbst nicht bloß gewachsen ist, sondern einen ganz andern
Anblick gewährt als damals. Was würde der große Methodiker heutiges-
tages anordnen? Welches Leben würde fiun durch ihn in die Schule
kommen? — Weiterhin werden Neander, Rhodomann, Heyden,
Herbarts Werke. XIII. '■S
220 J- F. Herbarts Rezensionen.
Camer ARius, Eoban, Hesse, Muretus u. a. gerühmt, aber nur als
Methodiker für Gelehrtenschulen; und Hr. Schw. bemerkt gegen das Ende:
„man verarge es jenen Schulmännern nicht, wenn sie den Weg (durch
die alte Literatur) in ihrer Begeisterung noch zu einseitig ins Auge faßten.
Erst die Sache; dann die Reflexion; das ist die Methode der Natur in
der Entwicklung der Menschheit." — Weiter werden Benediktiner und
Jusuiten rühmlich erwähnt. „Der Schüler durchlief im Kollegium sieben
Klassen, jede auf eifi Jahr berechnet. Eine ,,nicht tinpäda^ogische'' Idee
war, daß immer ein Gegenstand zur Hauptsache gemacht wurde. (Rez.
ist überzeugt, daß dies zwar nicht durchweg, aber in manchen Punkten
der einzig mögliche Schlüssel zu einer richtigen Zeiteinteilung des Jugend-
unterrichts ist.) Auch hier kommen übrigens Senatoren, Prätoren, Könige
und ein Kaiser unter den Schülern vor. Selbst Baco von Verulam
verwies auf Jesuitenschulen als auf Muster; treffliche Bemerkungen dieses
berühmten Schriftstellers sind hier eingewebt. Z.B.: „Es gibt zwei Haupt-
methoden ; die eine geht vom Leichtern zum Schwerern, die andere übt die
Kraft; dort schwimmt man auf Schläuchen, hier tanzt man mit schweren
Schuhen; beides ist zu verbinden. Der Lehrer muß das Individuelle des
jungen Menschen genau kenyien^' usw. Mit eben diesem Baco tritt aber
auch die Klage hervor: „daß man sich zuviel mit Sprachen beschäftige,
und darüber die Sachkenntnisse, und was fürs Leben wichtig sei, ver-
nachlässige; daß die Philosophie, statt nach Wahrheit zu suchen, in den
scholastischen Unfug geraten sei" usw. Nach Baco folgen Ratich,
Comenius, Montaigne, Locke. Hier beginnt das Streben nach besserem
Unterrichte in der, über dem Latein vernachlässigten Muttersprache; nach
Abschaffung der Gedächtniskrämerei, nach Erleichterung durch Methoden.
Über Comenius urteilt Hr. Schw.: „was er zuerst in der Form einer
modernen Zeit ausgesprochen, sichert ihm seine Stelle im Tempel des
Ruhms unter den Bildnern der Menschheit. Die neue Zeit hat nun ein-
mal alles vereinzelt; und bedurfte nicht bloß eines neuen methodischen
Encyklopädismus, sondern auch einer encyklopädischen Methodik." Minder
günstig urteilt derselbe über Montaigne; er findet bei ihm das moderne
Aufklärungsprinzip: Alles komme auf Verstandeskultur an. Ob dieser
Schriftsteller so merklichen Einfluß auf Locke gehabt habe, wie Hr. Schw.
anzunehmen scheint, möchte Rez. so lange bezweifeln, bis die bestimmten
Nachweisungen vorliegen. Einem so schlichten Manne, wie Locke, sieht
man die wirkliche Selbständigkeit, die teilweise wohl Tiefe heißen darf,
so leicht nicht an; und man kann ihm unrecht tun, ehe man es merkt.
Rez. hat sich selbst früher in diesem Falle befunden. Und Hr. Schw.
spricht: Locke wurde dem neuen Sinne ein willkommener Lehrer, der
alles auf dem Boden des gemeinen Lebens suchen, und die Erhebung
zum Idealen als Schwärmerei fliehen wollte! Das nächste, was uns hier-
bei einfällt, ist, daß Locke als anfangender Greis schrieb, in einem Alter,
worin der ehrwürdige Mann sich nicht mehr zu erheben brauchte, denn
er hatte sich erhoben; und daß er, wie Hr. Schw. selbst sagt, als christ-
lich-religiöser Mann, mitten im Bibelstudium starb; aber nach allem, was
wir von ihm wissen, hat er nicht nötig gehabt, sich zu bekehren; seine
Schriften tragen ganz vorzüglich das Gepräge der innern Ruhe und Ein-
F. H. Ch. Schwarz: Erziehungslehre. 22 7
heit mit sich selbst; er starb, wie er gelebt hatte. Hr. Schw. aber hat,
wenn wir seine Äußerung recht verstehen, nicht Locke, sondern ,^den
neuen Sinn" beschuldigen wollen, der LocKES Lehren vom Ursprung
unserer Begriffe mißdeutete und mißbrauchte; und dagegen ist nichts ein-
zuwenden; außer vielleicht, daß ein solcher Sinn nicht neu ist, sondern
mit geringer Abwechslung stets unter den Menschen anzutreffen. — Je-
doch hier kommen wir nun an die Stelle, wo unser Hr. Verf. uns vieles
zu wünschen übrig läßt. Er begnügt sich in etwa zwanzig Nummern,
die nicht viel mehr sind als Theses^ einen kurzen Auszug aus Lockes
Werk zu geben; seine eignen abweichenden Urteile fügt er in noch
kürzern Parenthesen hinzu; und dies Verfahren nennt er dergestalt aus-
führlich, daß er sich in der Folge bei den neuen Erziehungsweisen nur
darauf zu beziehen brauche. Späterhin behauptet er: die Pädagogik und
Didaktik der neuen Zeit ist die Lockesche, mehr oder weniger folgerecht.
Gesetzt, dem sei also, alsdann war doch wohl Grund genug vorhanden,
Lockes Lehren erstlich genau zu erörtern, und zweitens sie in ihren späteren
Sprößlingen bestimmt zu verfolgen. So aber lernen wir nicht mehr, als
daß Hr. Schw. und Locke über manches Einzelne verschiedener Meinung
sind ; und wenn etwa der Leser sich mehr auf Lockes Seite neigt, so
ist hier wenigstens nichts getan, um dies zu verhindern. Freilich kann
der Historiker die altern Zeiten weit unbefangener beurteilen, als die
neuern, in denen er selbst Partei wird ; wer aber die Geschichte benutzen
will, um seiner eignen Lehre dadurch Licht zu geben, der ist eben nicht
Historiker, sondern er hat seine Sache im Angesichte seiner Gegen-
parteien durchzuführen. Oder will Hr. Schw. als Autorität gelten: so be-
streiten wir zwar dieses ihm keinesweges; allein es ist nicht zu vergessen,
daß Lockes Autorität in der andern Wagschale liegt! Die Sache wird
um desto bedenklicher, da der Verf. durch die Behauptung: Rousseau
habe sein System aus den Grundsätzen des Montaigne und Locke ent-
wickelt (zwar mit Zurückweisung der Anschuldigung von Plagiaten), nun
noch den vielgeltenden Rousseau in die andere Wagschale wirft, in welche
am Ende auch Campe und die Erziehungsrevisoren hineinkommen! Hier
wäre es doch wirklich sehr ratsam gewesen, den Streit der Autoritäten zu
vermeiden, der sich niemals lösen läßt, weil die großen Männer der
frühern Zeit, wenn wir sie nicht durch Gründe beschwichtigen, immer
wieder von neuem ihre gewichtvollen Stimmen aus dem Grabe hervor-
tönen lassen.
Von den Streitpunkten, die Hr. Schw. allerdings in höchst gemäßigten
Ausdrücken mehr andeutet als berührt, wollen wir hier nur einen einzigen
sehr einflußreichen hervorheben, nämlich Lockes Empfehlung der häus-
lichen Erziehung vor der öffentlichen. Der Tadel des Hrn. Verfs. be-
schränkt sich auf den Vorwurf der Einseitigkeit und des Gegensatzes
mit öffentlichen Anstalten, wie Locke sie nun eben in England in seiner
Umgebung vorgefunden habe; allein das klärt die Sache nicht auf Man
vergißt bei diesem Fragepunkte nur zu leicht, daß öffentliche Schulen
noch mehr zu tun haben, als zu erziehen. Sie sollen lehren. Sie sollen
einen großen Vorrat von Kenntnissen erhalten und für künftigen amt-
lichen Gebrauch austeilen. Dies höchst nötige Geschäft wird sich niemals
15*
228 J. F. Herbarts Rezensionen.
den pädagogischen Betrachtungen ganz unterwerfen. Nicht aller Unter-
richt ist erziehend; nicht aller Unterricht kann sich den Wunsch, zu er-
ziehen, als seinen Hauptzweck vorsetzen. Da nun dies ein frommer
Wunsch war und blieb: so mußten die Pädagogen, um ihre Sphäre zu
finden, in das Familienleben zurückkehren. Und da fand Locke mit
sehr richtigem Blicke nicht etwa sogleich den Hauslehrer, sondern den
Hausvater. An diesen wendet sich seine Rede; ihm weiset er eine Stellung
an, durch welche der Erziehungsgehilfe, wenn er jung ist, selbst noch
wird miterzogen und vollends ausgebildet werden ; denn es liegt nicht in
LocKES Anweisungen, daß man demselben alles ohne Kontrolle über-
lassen, wohl aber, daß man den Erfolg seines Wirkens nicht nach der
Summe der Kenntnisse, sondern nach der gewonnenen persönlichen Bildung
des Zöglings schätzen solle. Dieses Aufmerken auf das Individual- Persön-
liche eines bestimmten Zöglings; dieses Überlegen dessen, was aus dem
einzelnen, zur Erziehung dargebotenen Subjekte werden oder nicht werden
könne, ist sehr verschieden von dem Wirken auf die Masse in Schulen,
und auf die Nation durch Schulen. Im letztern Falle kommt es nur
darauf an, Kenntnisse und Ideen darzubieten ; wer sie sich aneignet , ist
gleichgültig, wenn sie sich nur verbreiten. Aber solches Bestreben ist
nicht das eigentlich pädagogische; es erfordert kein genaues Studium der
Zöglinge, der Erfolg im Ganzen genügt. Hingegen Lockes und Rousseaus
Zögling ist ein einzelner Knabe. So mußte der Standpunkt genommen
werden, wenn das Eigentümliche der Pädagogik, gegenüber der Sittenlehre,
sein bestimmtes Gepräge zeigen sollte. Wird nun dieser Umstand nicht
gehörig beachtet: so entsteht ein Schein des Streits zwischen disparaten
Dingen. Welche Pädagogik ist besser, die eines Sturm und Trotzen-
dorf oder die eines Locke und Rousseau? Eine solche Frage darf
nicht erhoben, sie darf nicht veranlaßt werden; denn sie führt auf Ver-
gleichung ungleichartiger Werte. Jede ist vielleicht recht an ihrer Stelle;
nur die zweite entspricht dem Begriff der Pädagogik genauer als die erste;
und ohne die zweite wäre das wahre Wesen der Erziehung nie zu Tage
gekommen. Rousseau hat die Idee der öffentlichen Erziehung nicht ver-
gessen, er hat sie wissentlich beiseite gesetzt. Er verweiset auf Platons
Republik, als auf das vortrefflichste Erziehungswerk, was es gebe. Aber
bei seinem Widerwillen gegen moderne Staaten wählte er den rein päda-
gogischen Standpunkt, jedoch mit der sehr tadelnswerten Abweichung von
Locke, daß er seinen Emile als Waisen darstellt, wodurch die Stellung
in der Familie, und die vorzugsweise von ihr ausgehende Schätzung des
persönlichen Werts verdunkelt wird. — Bei Hrn. Schw. steht am Ende
der Relation über Locke, eine Frage, die schwer ins Gewicht fällt. „Ist
nicht etwas unsern Augen entschwunden? Wir erblicken nicht mehr jene
schön auf knospende Blüte, worin sich Geist und Gemüt zu entfalten
strebte. Hierzu war das klassische Altertum und das Evangelium eröffnet."
Könnte Locke diese Stelle lesen, würde er wohl dazu schweigen? Er
würde sich durch einen hochgeehrten deutschen Pädagogen hart angegriffen
finden; und an einer für ihn gewiß empfindlichen Stelle. Vielleicht aber
hat sich die Frage bloß verirrt; stände sie dort, wo von Rousseau die
Rede ist: dieser möchte wohl eher Mühe haben, darauf zu antworten.
F. H. Ch. Schwarz: Erziehungslelire. 229
Unsererseits wünschen wir bloß, aufmerksam zu machen auf die Not-
wendigkeit, in einer Geschichte der Pädagogik auch die feineren Unter-
schiede genau zu beachten. Und möge hiermit wieder gut gemacht
sein, was der Unterzeichnete vor vielen Jahren selbst gegen Locke ver-
fehlt hat!
Spener, Fenelon, Franke, Zinzendorf u. a. m., dann Cellarius,
Gesner, Heyne und neuere Philologen, werden so rühmlich erwähnt,
daß man von ihnen mehr lesen möchte; von Rousseau aber, wiewohl
als Diener eines egoistischen Zeitgeistes dargestellt, war wenigstens genug
von eigentlich pädagogischem Inhalte zu sagen. Hiermit sich nicht be-
gnügend, erzählt der Verf. auch die Hauptzüge von Rousseaus Lebens-
geschichte. Wollte er sich hierauf einlassen, so lag es doch wahrlich
ganz nahe, an den Hauptpunkt zu erinnern, den man bei der Beurteilung
des Mannes nie vergessen darf, nämlich die Verdorbenheit des Zeitalters,
in welchem er lebte. Hier muß doch etwas wenigstens von dem schwarzen
Hintergrunde der Sitten und Meinungen erwähnt werden, auf dem R.
hervorglänzt. Denn sein ganzes Wesen ist nur als Negation, als Stemmen
und Sträuben gegen das Schlechte, als Retten aus dem Abgrunde, zu
verstehen. Wie aber konnte ihn Hr. Schw. einen „Verächter höherer
Bildung" nennen? Anstatt sich zu wundern, daß ein solcher Verächter
die neue Heloise habe schreiben können, hätte er doch lieber geradezu
die Heloise als das redende Zeugnis des tiefen Gemütes und des plastischen
Genius ansehen sollen, welches beides, aber gehemmt und verstimmt, in
ihm wirkte. Aber mit unserm Hm. Verf. hat es Rousseau durch einen
wesentlichen Punkt verdorben, den Hr. Schw. selbst in folgender Zu-
sammenstellung berichtet: „Die Kinder sollen nichts auf Auktorität an-
nehmen. Die Phantasie ist die Quelle alles Unheils. Die äsopische Fabel
taugt nichts für Kijider. Und vollends der Religionsunterricht für Kinder
ist Unsinn." Der eine wesentliche Punkt ist natürlich nicht die äsopische
Fabel, sondern der den frühen Kinderjahren versagte Religionsunterricht,
nämlich in den Augen unseres Hrn. Vfs. Lieset man hingegen den
Emile, so sieht man sogleich die weitläufige Polemik, womit Rousseau
gegen die äsopische Fabel zu Felde zieht, in der Meinung, sie werde von
den Kindern durchaus mißdeutet auf eine Weise, welche dem Zwecke des
Erziehers zuwiderlaufe. Hätte nun einer dem Eiferer gegen die Fabel
das Übertriebene begreiflich machen können, was darin Hegt, sich vor
Mißdeutungen zu fürchten, die, wenn sie ja vorkommen, eine frühere
Verdorbenheit voraussetzen: so würde Rousseau, geheilt von seinem
Wahn in Ansehung der Fabel, auch andern Begriffen vom Religions-
unterricht zugänglich geworden sein. Was aber den letztern anlangt, so
gibt es hoffentlich keinen einzigen deutschen Pädagogen, der die Not-
wendigkeit desselben auch schon für die frühen Kinderjahre nur im
mindesten bezweifelte. Die Frage für uns ist nur: wieviel Rousseaus
Emile dadurch an Brauchbarkeit für uns verliere, daß die Vorschriften
für den frühen Religionsunterricht darin fehlen; — oder, um es anders
auszudrücken, ob man die ersten beiden Bände des Emile noch lehrreich
finden werde, wenn man sich um den dritten nicht bekümmert? — Und
gesetzt, es lege ein anderer auf die ganze pädagogische Darstellung
230 J. y. Herbarts Rezensionen.
RoussEAUS eben nicht viel mehr Wert, als Hr. Schw.: ob der eigentliche
Grund davon in dem Mangel solcher Vorschriften liegen müsse, die be-
kannt genug sind, und die man sehr leicht ergänzend hineindenken kann?
— Unstreitig hat Rousseau ebensowohl auf die deutschen Pädagogen
als auf die Politiker in vieler Hinsicht sehr nachteilig gewirkt; aber worin?
und wie? Das läßt sich nicht auf einen Punkt reduzieren; er liegt hier
und da und dort. Von einem Werke nun, wie das vorliegende, worin
die Pädagogik selbst gelehrt, und um sie lehren zu können, durch ihre
Geschichte erleuchtet werden soll, dürfte man erwarten, es werde so genau
als möglich das Campesche Revisionswerk, worin vorzugsweise jene Wirkungen
sich zeigen müssen, mit Rousseaus Vorschriften verglichen. Hätte Hr.
Schw. sich dies Verdienst erworben : wir hätten ihm dafür gern den ganzen
ersten Band seines Werks geschenkt, von dem wir in der Tat kaum
einen praktischen Nutzen absehen können. Sollte Rez. den Hauptfehler
Rousseaus kurz bemerklich machen, so würde er dazu einen Punkt
wählen, dessen Hr. Schw. sogar rühmend erwähnt, und der an sich auch
recht gut ist: ,,/;/ der Geometrie lasse ftian die Kinder alles selbst erfi?ideti.^'
Wir wollen ihnen die Erfindungen gern gönnen, die sie machen werden;
es ist nur schade, daß die meisten nichts erfinden; und daß selbst die
Klügsten mit dem Alles, was sie erfinden, soviel wie nichts von der
Mathematik wissen, die man lernen muß, weil sie in erstaunenswerter
Größe schon erfunden ist. Kurz: überall (denn hier ist die Geometrie
nur ein Beispiel) erwartet Rousseau, und erwarten die ihm folgenden
Pädagogen viel zu viel von den Kindern selbst; und dabei unterscheiden
sie viel zu wenig die verschiedenen Naturen der Zöglinge. Das, worauf die
Erziehung beruhet, nämlich die Bildsamkeit der Zöglinge, ist nicht genau
untersucht worden; es erscheint den Pädagogen bald zu groß, bald zu
klein; es ist nicht einmal erfahrungsmäßig nach seinen Gesetzen, Grenzen,
Bedingungen, Verschiedenheiten, gehörig beschrieben. Darum ist das
Verhältnis zwischen dem Höheren., was dem Zöglinge gegeben werden muß,
und zwischen der Empfänglichkeit, die man in ihm voraussetzen dürfe,
im Dunkeln geblieben.
Von der Unzufriedenheit, welche Hr. Schw. mit den spätem Päda-
gogen äußert, nur noch wenige Proben. Basedow ist nach ihm ein
Halbgebildeter; sein Streben nach gemeinnütziger Sachkenntnis und nach
Weltbürgersinn wird ihm zum Vorwurf angerechnet. Ertrug denn (müssen
wir fragen) Basedows Zeit den höhern Staatsbürgersinn ? Hr. Schw. be-
kennt selbst: das Zeitalter habe kaum verstanden, sein Werk historisch
zu würdigen. Salzmanns Institut wurde in der Einseitigkeit des Philan-
thropinismus niedergehalten. Gab es etwa keine andere, gegenüberstehende
Einseitigkeit? Campe wirkte durch seinen willkommenen Pedantismus, wo-
mit er den Erwerbfleiß über alles setzte. Über alles? Wenn über Poesie,
dann etwa auch über Religion? So kennen wir Campe nicht! Pestalozzi
war zu sehr der egoistischen Denkart des Zeitalters hingegeben indem sie
den einzelnen Menschen in einer von dem Ganzen losgerissenen Kraft zw
Freiheit erheben ivollte. Diese Äußerung fürchtet Rez. nicht einmal zu
verstehen. Das Ganze besteht aus den Einzelnen, und durch ihre Zu-
sammenwirkung. Der Erzieher ist nicht Staatsmann; seijie Wirkung ist
F. H. Ch. Schwarz : Erziehungslehre. 2^1
desto richtiger, je mehr sie zunächst auf Individuen, mittelbar aber auf
das Ganze geht. Pestalozzi endlich hatte, nach dem eignen Zeugnisse
des Hrn. Verfs. (welches der Unterzeichnete aus persönlicher Bekannt-
schaft mit dem merkwürdigen Manne bestätigen muß), seine Idee unter
dem Einflüsse des Christentums zu der umfassendsten Liebe für die ge-
samte Menschheit gesteigert. Wie paßt dazu der obige Vorwurf? Aber Hr.
Schw. macht sich deutlicher. Durch die Elementarmethode wurde das
Kind ganz in die Selbstkraft erhoben, um aus sich selbst zu lernen, und
alles Dargebotene sich in höchster Freiheit anzueignen. Das trieb die
egoistische Erziehungsweise auf die Spitze. So war Pestalozzi der Nach-
folger des Genfer Pädagogen. Aber da schlug die Sache auch um. —
Gab es, fragen wir, nicht andere Gründe des Umschlagens? Rez. hat sich
oft genug, aufs allerbestimmteste, gegen die falschen Lehren von der Frei-
heit, der Selbstkraft usw. erklärt, aber aus theoretischen Gründen. Wie-
wohl nun hiermit die theologische Ansicht des Hrn. Verfs. zum Teil zu-
sammentrifft, so dürfte doch nötig sein zu erinnern, daß früher, wo von
Spener und von Franke die Rede ist, die Geschichte selbst Hrn. Schw.
zu folgender Äußerung vermocht hat (S. 440) : „Es war nun einmal das
Schicksal, dem auch das Beste nicht entgeht, daß die gute Sache der Frömmig-
keit durch die einseitige Richtung litt." Endlich kommt noch Fichte an
die Reihe. „Die Ichheit war freilich dem Zeitgeiste lieb." Ist es wohl
passend, bei einem ursprünglich reinspekulativen Irrtum, der nur durch
strenge metaphysische Untersuchung kann hinweggeschafft werden, vom
Zeitgeiste zu reden? Es ist sehr schlimm, wenn irgendwie der Zeitgeist
sich in Dinge mischt, von denen er durchaus nichts versteht ; in Probleme,
die gleich den mathematischen, für alle Zeit genau die nämlichen bleiben.
- — Pflichtmäßig müssen wir nunmehr den ausgehobenen tadelnden
Äußerungen des Verfs. die Bemerkung hinzufügen, daß dieselben eben
nur ausgehoben sind, aus einer Menge von Beweisen der willigsten An-
erkennung großer Verdienste und trefflicher Ansichten seiner Vorgänger.
Ebenso ist nun auch der Unterzeichnete von den besten Gesinnungen
des Hrn. Verf. vollkommen überzeugt; allein zugleich davon, daß Ein-
seitigkeit des jetzigen Zeitgeistes dem vorliegenden Werke nicht fremd
blieb; und daß Mängel des bisherigen spekulativen Wissens großenteils
die Schuld von Fehlern tragen, die von dem Hrn. Verf. aus ganz andern
Quellen abgeleitet werden.
Im dritten Bande, welchen der Verf. den zweiten nennt, wird das
System der Erziehung vorgetragen. Die Anfangsworte: „Erziehung ist die
sich entwickelnde Menschheit," vollends mit dem Zusätze: „sie ist eine
aus sich selbst hervorgehende Entwicklung," lassen noch gar keine Verlegen-
heit besorgen; vielmehr sollte man glauben, nichts werde bequemer sein,
als dem Hervorgehen aus sich selbst nur ganz ruhig zuzuschauen. Aber
bald trübt sich der Himmel. Den Eltern, die das Kind seiner Jugend
froh werden lassen, wird bemerklich gemacht, daß sie wohl etwas Besseres
zu tun hätten. Auch diejenigen werden getadelt, welche die Bestimmung
eines jungen Menschen aus der Eigenheit seiner Anlagen entnehmen.
Schon deshalb nun möchte es gut gewesen sein, den Anfang zu ändern,
und die allzuwohlklingende Rede von der Kraft, die aus dem Kleinsten
232 J- f • Herbarts Rezensionen.
des Keimes bis i^is Unendliche hin sich entfalte, etwas näher zu den sehr
mäßigen Erwartungen herabzustimmen, daß aus den meisten Kindern
wohl nur gewöhnhche Menschen werden möchten. Vollends schlimm aber
wird es weiterhin, wo die drei Systeme wieder hervortreten, auf welche
die Geschichte der Pädagogik geführt hat; das pietistische, das humanistische
und das philanthropinistische. Denn beim ersten werden wir auf den
Satz getrieben: „Heuchelei, und nicht bloß Kopfhängerei, mönchisches,
linkisches Wesen, geistlicher Stolz und Verbildung bis zur Karikatur sind
die Folgen eines allzufolgerichiigen Verfahrens in der Denkart, welche aus
dem völlig willenlosen Kinde ein Gotteskind zu machen wähnt." Dem
zweiten, welches die Vernunft von der Sprache abhängig macht, dient
zur Bezeichnung des Punkts, wohin es führe, ein kurzes Gespräch: also
haltet ihr einen Grammatikaifehler für größte Sünde? Rem acu tetigisti.
Für das schlimmste aber erklärt der Verf. das philanthropinistische. Diesem
legt er den Grundsatz unter: die größte Sünde ist der Unverstand, und
das höchste Ziel der Bildung ist die Klugheit. Da nun alle drei Systeme
verwerflich befunden worden: so fragen wir natürlich nach einem vierten.
Aber der Weg ist schon im voraus gesperrt. Denn „die Beziehung,
worin das junge Geschlecht heranwachsen soll, ist entweder die zu Gott,
oder zu dem menschlichen Geiste in seiner idealen Erscheinung, oder zum
wirklichen Menschenleben." Damit meint Hr. Schw. die drei oben an-
gegebenen Systeme genau zu treffen; eine Genauigkeit, die nun freilich
gar sehr dürfte bezweifelt werden. Der Schluß aber, welcher nicht aus-
bleiben dürfte, würde so lauten: soll es Erziehung geben, so führt sie
auf eins von den Systemen ö, b, c; nun ist a verwerflich; b desgleichen;
und c am allermeisten; folglich soll es i^/«^ Erziehung geben. Stattdessen
begnügt sich Hr. Schw., jene drei Erziehungsweisen eijiseitig zu nennen.
Es hat nicht geholfen, daß schon zwei höchst gewichtvolle Stimmen ihn
auf das Mangelhafte seiner Grundlegung zur systematischen Pädagogik
aufmerksam machten. Schleiermacher sagt ihm, er werde öfter in die
Ethik zurückgehen und diese selbst, wenn auch zerstückelt, mit hervor-
bringen müssen. Niemeyer, in dem gleich anfangs angeführten Aufsatze,
bittet ihn, er möge nicht gegen seine eigene frühere Ansicht ungerecht
werden. Er aber antwortet ihnen: „Das Wahre ist, daß nur diejenige
Erziehung den Namen der sittlichen verdiene, welche die wahrhaft bildende
ist." Er klagt über ,,hohle Phrasen von Freiheit, Recht, Pflicht, Schicklich,
Sittlich usw. Was darüber zu sagen wäre, ist anderwärts, und ganz neuer-
lich wohl deutlich und selbst stark genug gesagt. Hier begnügen wir
uns mit einem Worte von Leibniz, welches weit mehr auf die Pädagogen
als auf die Philosophen paßt : f ai trouve que la plüpart des sectes ont
raiso7i dans une bonne partie de ce qu'elles avancent , mais non pas tant en
ce qu'elles nient. Wir können nur bedauern, daß die vorhandenen Systeme
der praktischen Philosophie auf Hrn. Schw. den Eindruck der Unbrauch-
barkeit gemacht haben; und müssen für den Augenblick unentschieden
lassen, inwiefern auf der einen oder der andern Seite die Schuld ge-
legen habe. Jedoch gibt es einen Punkt, auf welchen wir des Folgenden
wegen genauer eingehen müssen. Schleiermachers obige Erinnerung
veranlaßt Hrn. Schw., die Forderung, Pädagogik durch Ethik zu begründen,
F. H. Ch. Schwarz: Erziehungslehre. 233
mit den Worten zurückzuweisen: „</« ?nöckie leicht der Fall auch umgekehrt
gelten." Nun ist offenbar, daß diese Umkehrung, wenn sie möglich wäre,
noch weiter gehen würde. Soll Pädagogik ihre Hilfswissenschaften, anstatt
sie vorauszusetzen, vielmehr selbst hervorbringen: so gilt dies nicht bloß
von der Ethik, sondern auch von der Psychologie; ja von der letztern
sogar vorzugsweise. Denn was die Ethik anlangt, so ist der schwerste
und weitläufigste Teil derselben, nämlich was man gewöhnlich Naturrecht
nennt, also Rechts- und Staatslehre, gar nicht in der Hand des praktischen
Erziehers, aus dem einfachen Grunde, weil er sich mit Unmündigen be-
schäftigt. Ganz anders verhak sich's mit der Psychologie, wenigstens von
ihrer empirischen Seite betrachtet. Hier liegt der allergrößte und be-
deutendste Teil des Erfahrungskreises gerade nur in der Sphäre dessen,
der viele und verschiedene Kinder zu Jünglingen und Männern heran-
wachsen sieht. Denn um von dem allmählichen Entstehen unserer Vor-
stellungsarten, sammt Gefühlen und Begierden, Rechenschaft zu geben,
also um zu einer genetischen Darstellung zu gelangen, muß der Psycholog
stets zu den Kindern zurückschauen. Deshalb vorzüglich verlangte der
Unterzeichnete schon vor vielen Jahren (in seiner allgemeinen Pädagogik),
die einheimischen Begriffe der Pädagogik möge man selbständig kultivieren,
und sie zum Mittelpunkte eines Forschungskreises machen. Aber dazu
gehört reine Beobachtung, fern von Erschleichungen. Von Keimen, die
sich erst künftig entwickeln sollen, erfährt der Erzieher nichts. Das
Künftige, was man in die Kinder hineindenkt, ist nicht das Gegenwärtige,
was man erfährt. Die Gründe der Wirksamkeit wollen tiefer erforscht,
sein. Unser Verf. selbst scheint in der Zurückweisung vereinzelter Seelen-
vermögen (nach seiner Äußerung auf S. 28) mit dem Unterzeichneten
einverstanden. Daran ließe sich vieles knüpfen, was sich auf die im
zweiten Abschnitt aufgestellten Vorbegrifife bezieht, und wovon hier nicht
ohne große Weitläufigkeit könnte geredet werden. Wozu auch würde es
dienen, hier z. B. über die Polarisierung zu sprechen, welche § 20 dem
Grundtriebe beilegt? Wir wollen dies gern als eine Aufmerksamkeit be-
trachten, welche Hr. Schw. der Philosophie, wie sie nun ist oder war,
erwiesen hat; er drückt sich überdies behutsam genug aus, indem er sagt:
der imbekannte Qx\yci^\x\۟ scheine sich zu zerspalten. Und indem er diese
Zerspaltung benutzt, um die Verschiedenheit des Naturells zu bestimmen,
wählt er sogleich anstatt des Plus und Minus weit passendere Ausdrücke;
er unterscheidet die Aufgeiveckten und die Stillen.
Wir nähern uns hier demjenigen Teile des Werks, der vielleicht
unter allen am meisten hervorglänzt. Denn unter der Überschrift: Ent-
wicklung, hat der Verf. eine weitläufige, fast nur anthropologische, Ab-
handlung den Artikeln Bildung und Erziehung vorangeschickt; worin von
der Entstehung des Menschengeschlechts anfangend der Mensch bis zum
Alter des Erwachsenen hin beschrieben wird, dergestalt, daß eine bei
Pädagogen wohl seltene Gelehrsamkeit in den hierher gehörigen Teilen der
Naturwissenschaft, und überdies ein feiner Beobachtungsgeist, verbunden
mit dem Streben nach wahrer Psychologie, sich nicht verkennen läßt. Es
würde ein vergebhcher Versuch sein, den Leser damit auszugsweise auch
nur einigermaßen bekannt zu machen; und bei einem Werke, was in so
2 34 J- F- Herbarts Rezensionen.
vielen Händen ist, könnte man eher kritische Bemerkungen als einen
Auszug verlangen; allein der Versuchung, über Einzelnes weitläufig zu
werden, müssen wir widerstehen. Verlangt man eine Probe des vor-
herrschenden richtigen Blicks, so mag die Stelle über den Willen (S, 178)
dazu dienen: „Der Wille des Kindes ist ganz dasselbe, was vorher als
freier Naturerguß erschien, jetzt nur zum Gefühl der Freitätigkeit ent-
wickelt. In dem Willen eine neue Kraft anzunehmen, welche sich dem
Geiste, man weiß nicht wie, zugesellt hätte, wäre doch nichts anderes, als
die Annahme eines Wunders, und zwar eines sehr ungöttlichen; und sie
(diese Annahme) könnte unmöglich so verbreitet sein, wie sie es wirklich
ist, wenn sie nicht mit einer Trägheit in der Nachforschung der Menschen-
natur, und zugleich mit einer ganz nichtigeii Furcht vor einem unseligen
Fatalismus zusammenhinge.'' Und S. 214: „Mit dem verstärkten Selbst-
gefühle kommt die Vergleichung seiner selbst gegen andere. Rousseau
meint, daß das Böse des Kindes von der Zeit anfange, da es sich mit
andern vergleiche. Was soll doch das heißen ? Eben als ob jetzt das
Böse auf einmal, der Himmel weiß wie, und woher, in das Kind hinein-
geflogen käme, in dem Augenblicke, als es den Fortschritt gewonnen hat,
daß es messen kann. Warum nicht lieber ein Dämon? Die Sache ist
vielmehr nur die, daß das Böse als solches jetzt entschiedener in die
Augen fällt. Es war früher schon da; der Egoismus nur noch verdeckt.
Das edle dreijährige Kind hat die Tugenden der Kindlichkeit entwickelt.
Es ist fromm, frohsinnig, folgsam. Das ist aber schon Bildung.'''' Ferner
S. 209: „Wenn das Kind nun sagt: Ich, so meint es sich freilich noch,
wie es da steht und geht, Leib und Seele ungetrennt; ja es meint sich
noch mehr von Seiten des Leibes, weil es sich selbst darin erscheint." —
Dagegen findet sich eine auflfallende Probe von Ungenauigkeit — während
doch das Hervorheben so wichtiger Punkte wiederum ein richtiges Streben
bezeugt — gleich anfangs, wo der Takt mit der Aufmerksamkeit zwar
nicht ohne Grund, aber viel zu allgemein verbunden wird. S. 134 nämlich
heißt es: ,,Das Taktmäßige ist nichts anderes als die Aufmerksatnkeit." Be-
liebe doch der Verf. in die Lebensbeschreibung des berühmten Chemikers
Davy (Zeitgenossen, III. Bd., 2. Hft., S. 8) hineinzuschauen! Davy besaß
schon als fünfjähriger Knabe eine so wundervolle Aufmerksamkeit, daß
er Bücher las und ihren Inhalt faßte, während er sie nur zu durch-
blättern schien; aber — es fehlte ihm gänzlich der Sinn für Takt und
Musik; so sehr, daß er, in ein Korps Freiwilliger eingetreten, vergebens
sich bemühte. Schritt halten zu lernen. Die Abhandlung des Unter-
zeichneten de attentionis mensum zu kennen, darf man ohne Zweifel Hrn.
Schw. nicht zumuten; aber trotz der dortigen weitläufigen Rechnungen
ist für das weit schwerere Problem von der Auflfassung gleicher Zeitteile
noch nichts weiter, als eine entfernte Vorbereitung vorhanden. Wozu es
dienen solle, den Einfall von Hemsterhuis — Wallungen des Blutes in
der Nähe des Ohrs anzuführen, ist gar nicht abzusehen. Es kommt nicht
darauf an, Empfindungen dessen, was taktmäßig geschieht, nachzuweisen
— denn solcher finden sich genug — , sondern darauf zu erkennen, was
in jedem Augenblicke während der ganzen Zeit, worin wir das Taktmäßige
wahrnehmen oder erzeugen, in uns vorgehe; denn die Auffassung des
F. H. Ch. Schwarz: Erziehungslehre. 235
Takts ist dauernd; sie faßt in jedem Augenblick das rhythmisch Wechselnde
zusammen und ist bereit, es fortzusetzen. Allerdings aber sind beide hier
berührte Punkte, die Aufmerksamkeit überhaupt, und die rhythmische Auf-
fassung insbesondere, höchst wichtig für den Erzieher, dem daran liegt
und liegen soll, die verschiedenen Naturen der Zöglinge genauer als bisher
zu unterscheiden; und dafür hat der Verf. in seinem ganzen Werke eine
Sorgfalt bewiesen, die, wiewohl noch lange nicht auf die letzten Gründe
zurückgehend, doch schon den Dank der Leser in hohem Grade verdient.
So sehr wir mit dem Verf. über die äußerste Wichtigkeit der frühesten
Erziehung einverstanden sind: so befremdet es uns doch, ihn weit über
die Mitte des Bandes hinaus noch mit dem dreijährigen Kinde beschäftigt
zu finden. Wahr ist, was er sagt: das dreijährige Kind hat sein Gemüt.
Aber sehr unsicher ist die bald folgende Behauptung: sei7i Charakter ist
begründet. Campe, mit dem wir in anderer Hinsicht den Verf. zu ver-
söhnen wünschten, scheint in der Überschätzung der frühesten Erziehung
einen nachteiligen, vielleicht ganz unbewußten Einfluß auf ihn gehabt zu
haben. Was in der Periode der Revisoren am meisten schadete, das
war der Mangel an Einsicht in die Wichtigkeit dessen, was als ein Höheres
der Jugend muß gegeben werden. Man erwartete zuviel von innen; man
dachte überdies zu wenig an das Individuelle des Innern, was keine Er-
ziehung umschaffen kann. Hr. Schw., der mit Recht weniger auf die
gute Natur, und weit mehr auf Erhebung durch den Unterricht rechnet,
hätte um so weniger schreiben sollen: ,,wie das Kind sich findet, so hat
es sich; wie es zum ersten Male sein Ich ausspricht, so geht das Ich
die ganze Lebensbahn hindurch.'^ WirkHch? Was hatte denn die obige
Aussage zu bedeuten, das Ich meine sich bei dem Kinde noch mehr von
Seiten des Leibes, weil es sich selbst darin erscheine? — Und zu welchem
Zweck sind S. 209 die Untersuchungen des Unterzeichneten gerade in
diesem Punkte, als nicht tvidersprechend der vorliegenden Erziehungslehre,
angeführt worden, wenn die allmähliche Veränderung des Ich, welches
späterhin sich von der Vorstellung des Leibes, und dessen was daran
hängt, ablöst, unberücksichtigt bleiben sollte? In dem dreijährigen Kinde
ist das Ich zwar angefangen, aber keineswegs vollendet; und es ist über-
haupt ein durchgreifender Griindfehler umvahrer Zeitphilosophie, sich das Ich
als einen festen Mittelpunkt ., als ein schlechthin selbständiges., abgeschlossenes
Fertiges, das nicht weiter berichtigt werde7i könnte und müßte und sollte., —
zu denke7i. Hätte doch Hr. Schw. diesen Irrtum des Idealismus dort ge-
lassen, wo er die himmelstürmende Naturphilosophie vom Weltorganismus
gelassen hat, fern von der Pädagogik! Sehr wahr sagt der Verf. selbst
S. 63 : „Manchmal wird ein Kind für dumm gehalten, welches doch vor-
züglichen Verstand entwickelt; so wird aus denen, die frühe schon sehr
bestimmt sind, oft nicht soviel, als aus denen, die länger unbestimmt
bleiben." Das ist ebensowohl der pädagogischen Erfahrung als der .speku-
lativen Psychologie gemäß; daher darf man nicht einmal wünschen, daß
die Ichheit sich in dem Kinde schon frühzeitig bestimme; und der Verf.,
als ein erfahrener praktischer Erzieher, wird sich unmöglich der Täuschung
hingeben können, als wäre bei dem dreijährigen Kinde die Gemütsart
entschieden, eine stolze Täuschung für die Mutter, die so schnell glauben
2:>6 J- ^- Herbarts Rezensionen.
könnte, das Wesentliche geleistet zu haben; eine trostlose Täuschung für
den Erzieher der späteren Jugendjahre, wenn er nun glaubte, schon zu
spät zu kommen. Kein Teil der Erziehung, den Jahren nach gerechnet,
ist wichtiger als der andere. Eine Pädagogik, die wie der Kalender nach
den Monaten, so nach den Altersstufen fortschreiten will, muß wenigstens
gleichmäßig über das gesamte Jugendleben sich verbreiten; eigentlich aber
ist es überhaupt sehr mißlich, so chronologisch fortzugehen; denn bei dem
Frühesten muß man schon das Späteste, beim Spätesten noch das Früheste
im Auge haben. Das große Übergewicht, welches bei unserm Verf. die
ersten Kinderjahre bekommen haben, zeigt sich sogar in der Hauptsache,
nämlich der sittlichen Bildung, an dem ganz unbedingten Verwerfen des
Räsonnierens mit Kindern. Die Stimmen aller eigentlichen Pädagogen
werden hier aufgerufen; sie sollen sich sämtlich dagegen erklärt haben.
Diese Stimmen sind uns keineswegs unbekannt; die Erfahrung, welche
noch lauter dagegen warnt, — nämlich wenn es am unrechten Orte ge-
schieht, würden wir selbst geltend machen, wenn es keiner vor uns getan
hätte; aber alles dessenungeachtet durfte nicht vergessen bleiben, daß
die späteren Knaben- und Jünglingsjahre das Räsonnieren ebenso bestimmt
nötig haben, als die früheren Kinderjahre es nicht vertragen. Die Stufen-
folge dessen, was die Charakterbildung erfordert, die verschiedenen Teile
dessen, was sie successiv bedarf, finden wir selbst bei der ausführlichen
Betrachtung über Unarten und deren Heilung nicht gehörig entwickelt.
Wenn praktische Erzieher das vorliegende Werk als ihren Ratgeber ge-
brauchen wollen — ein Werk, dessen Wichtigkeit wir vollkommen an-
erkennen — , wenn diese praktischen Erzieher nun Kinder vorfinden, denen
bis zum Aher von drei, von sechs, von neun, von zwölf Jahren diejenige
Behandlung, welche der Verf. vorschrieb, unglücklicherweise nicht zu teil ge-
worden ist, was sollen sie tun ? Wo ist nun Rat und Hilfe für die große
Verlegenheit, worin sie sich in unzähligen Fällen befinden werden? Sollen
sie der Meinung preisgegeben werden, alles sei verloren? Sollen sie (um
nur das schon Erwähnte als einzelnes Beispiel statt vieler anderer Punkte
anzuführen) nicht räsonnieren mit älteren Knaben, die oftmals selbst sehr
viel und sehr falsch räsonnieren ? Die bloße Negation wenigstens wird dem
positiven Übel sicher nicht abhelfen. Was nützen die schönsten Be-
schreibungen einer regelrechten Erziehung von früh auf, in dem gewöhn-
lichen Leben, wo die Normalerziehung die größte Seltenheit ist? Hätte
doch wenigstens der Verf. diejenige Rückkehr in das reinere, mehr kind-
liche Wesen beschrieben, welche man da bemerkt, wo auf schlechtere
Erziehung eine bessere folgt, — gleichsam einen verspäteten Frühling, der
in manchen Fällen das Versäumte nachholen hilft, wenn auch der Schaden
nie ganz ersetzt wird. Hätte er von der so notwendigen Beugung einer
schon verwilderten Natur unter männliche Autorität, von ihrer Erweichung
durch milde Behandlung gesprochen; und die Phänomene bezeichnet,
welche man dabei beobachtet! Das wäre doch mindestens ebenso wichtig
gewesen, als jene ausführliche Anthropologie für das unmündige Kind.
Moralische Heilkunde ist zwar der schwächste Teil der Pädagogik, aber
für den täglichen Gebrauch der notwendigste und von seiten dessen,
welcher in ihren schwerern Fällen guten Rat zu erteilen weiß, der ver-
F. H. Ch. Schwarz: Erziehungslehre. 237
dienstlichste. Ist aber hier guter Rat teuer (und er ist es nur zu gewiß),
so lag es doch nahe, sich in den Fall einer Witwe hineinzudenken, die
ihren Sohn bis zum achten, neunten, zehnten Jahre sorgfältig gehütet, und
nach ihrer Art erzogen hat, jetzt aber fragt, ivie nun weiter? Sollte wohl
Hr. Schw. sich begnügen zu antworten: in die Schule! und in die
Kirche — ? Gibt es weiter nichts zu bedenken? Bedarf die Einwirkung
von Schule und Kirche keiner Beobachtung, keiner Berichtigung? Und
manche Väter zeigen sich fast ebenso ratlos als eine solche Witwe.
Doch wenn wir an einem ausgezeichneten, geist- und gemütvollen
Werke etwas vermissen: so kann der Verf. uns erwidern, man solle es nur
länger auf sich wirken lassen, sich recht hineinlesen, es wiederholt und
auf verschiedene Anlässe von neuem benutzen (welches allerdings mehr
sagen will, als es rezensieren), so werde sich gar vieles, was nicht mit
ausdrücklichen Worten darin steht, dennoch darin finden; da jedes be-
deutende Werk immer nur die Probe eines weit größeren Gedankenreich-
tums sein könne. Eine solche Antwort in Ansehung des dritten Bandes
vorauszusetzen, wird uns eben nicht schwer; nur würden wir etwas mehr
Mühe haben, sie auch auf den letzten Teil auszudehnen, welcher die
Unterrichtskunst auf etwa 300 S. in einem zwar nicht lästig breiten, doch
auch gewiß nicht kompendiarischen Stile dergestalt behandelt, daß Grund-
sätze der Lehrkunst (betreffend den Zögling, den Gegenstand und das
Lehrgeschäft) in einer gewissen Allgemeinheit vorangehen, die sich selten
über das Bekannte und leicht Zugestandene erhebt, dann die eigentliche
Didaktik in Ansehung bestimmter Gegenstände vorgetragen wird, und
endlich noch zu allgemeinen Reflexionen über die Einheit der Erziehung
und des Unterrichts Raum übrig bleibt. Bedenkt man nun, wie mannig-
faltige Fragen und Zweifel die heutige große Vielartigkeit und Vielförmig-
keit des Unterrichts nach den verschiedenen Forderungen und Bedürf-
nissen des Zeitalters aufgeregt hat; so wird man es kaum passend finden,
wenn nun wieder der mittlere Teil, den man wohl als den Hauptteil der
Abhandlung ansehen muß, sich anfangs lange mit den einzelnen Sinnen
aufhält, mithin uns wieder in die frühe Kindheit zurückftihrt, wovon
späterhin die natürliche Folge ist, daß die Lehrmethode für die klassischen
Sprachen auf ein paar Blättern abgehandelt wird. Und dabei, als ob es
darauf ankäme, uns in Streitfragen zu verwickeln, werden wir zum Ersatz
des Mangelnden auf Niethammer und Thiersch verwiesen; zwei sehr
achtungswerte Schriftsteller, die jedoch teils durch Rücksicht auf das Eigne
ihrer Umgebung bestimmt zu sein scheinen, teils gar zu oft unwillkürlich
an das: audiatur et altera pars! erinnern.
Anstatt nun in Ansehung des letzten Teils uns in allerlei Zweifel
zu vertiefen, betrachten wir lieber noch einmal das Werk im ganzen.
Sichtbar ist, daß es nicht auf einmal, sondern zu sehr verschiedenen
Zeiten geschrieben, und von neuem überarbeitet wurde. Den Verf. zog
anfangs die Philosophie an; später stieß sie ihn ab. Beide Bewegungen
(die uns nicht befremden, und die er mit vielen gemein hat) entfernten
ihn, wenn schon auf verschiedene Weise, von dem pädagogischen Ge-
dankenkreise seiner Vorgänger. So entstand zwischen ihm und Niemeyer
(der mehr den Erziehungs-Revisoren angehört) eine merkliche Distanz,
238 J- F. Herbarts Rezensionen.
über welche er natürlich vermieden hat, uns Rechenschaft zu geben. Was
wird nun weiter geschehen? Hr. Geh. K.-R. Schw. bezeichnet das Evan-
gelium als den einzig festen Punkt für die Pädagogik. Sollte er nicht
daran gedacht haben, daß die theologischen Streitigkeiten, deren Feuer
noch weit mehr in der Tiefe brennt als das der philosophischen, einen
ihm unwillkommenen Einfluß erlangen könnten? Er selbst warnt vor all-
zustrenger Konsequenz; aber wie leicht können andere ihm, dem Freunde
des Humanismus, seinen Mangel an Konsequenz vorrücken! Wie oft
schon hat das Heidnische der klassischen Alten Bedenken erregt; wie
leicht ist es, diesem Bedenken durch Hervorhebung mancher Einzelnheiten
Gewicht zu geben; wie schwer, durch die Wirkungen des gewöhnlichen
philologischen Studiums den einmal dagegen Eingenommenen eine schlagende
Antwort zu geben! — Von den meisten Pädagogen aber werden ohne
Zweifel beide Werke von Niemeyer und von Schwarz zugleich benutzt.
Die Wirkung würde gewinnen, wenn beide sichtbarer zusammenstimmten.
Und gar leicht, unseres Erachtens, hätte dafür gesorgt werden können,
wenn Hr. Schw. von dem Vorurteil, die Grundbegrifite vom Sittlichen seien
hohle Begriffe, frei geblieben wäre. Hätte er den wahren Inhalt dieser
Begriffe erkannt; er würde den Geist der christlichen Sittenlehre wohl
nicht darin vermißt, oder wenigstens demselben nicht fremd geglaubt haben.
Alsdann möchte er auch gegen die Erziehungs-Revisoren mehr Gerechtig-
keit geübt haben, in deren freundlichen Bund nicht bloß Trapp und
ViLLAUME, sondern auch Gedike, Ehlers, Resewitz aufgenommen waren.
Und wie oft hat gerade auch Campe gegen die Frivolität seiner Zeit ge-
eifert; und wieviel Ursache haben wir, es in Rechnung zu bringen, daß
niemals einer von den Fehlern, die er selbst dem Zeitalter vorrückt, ganz
frei zu bleiben pflegt! Wieviel Tadel wird noch von der Nachwelt das
junge neunzehnte Jahrhundert erfahren, was sich so gern recht selbst-
gefällig dem achtzehnten entgegenstellt! Wäre Pädagogik ein philosophisches
System: alsdann würde der Unterzeichnete auf strenge Losreißung von
früheren Irrtümern dringen; aber sie ist eine praktische Wissenschaft,
welcher es wichtig ist, daß man die Kontinuität ihrer Fortbildung stets
anerkenne, damit kein unnötiges Mißtrauen ihr entgegenwirke. Allein für
die Pädagogik gibt es eine andere Kontinuität, die ihr noch wichtiger
ist, als jene historische; nämlich die psychologische. Um sich diese zu
sichern, hat Hr. Schw, gleich anfangs die gesonderten Seelenkräfte ins
Gebiet der Abstraktionen verwiesen; „nur die gewöhnliche Täuschung
(sagt er mit Recht) nimmt die Abteilungen der Gemütsvermögen als
wirklich im Wesen des Geistes vorhanden an; indem sie das Denken über
dieses Wesen mit demselben selbst verwechselt.^' Mit dieser Erklärung (die
schon mancher leichtsinnig ausgesprochen hat, als ob die bloße Negation
eine wirkliche Leistung wäre) übernahm Hr. Schw. die Verpflichtung, das
Mannigfaltige im menschlichen Geiste als ein Ztisaitimenhängendes ^ und
von der Erziehung vielfach Abhängeiides , durch sie Beivegliches, darzustellen.
Ob er das Gewicht dieser Verpflichtung ganz empfunden habe, lassen wir
dahingestellt; allein mit Vergnügen bezeugen wir, daß er dieselbe weniger
verletzt, ja in Erfüllung derselben es merklich weiter gebracht hat, als
man es sonst gewohnt ist, und als bei seinen doch immer unzulänglichen
F. H, Ch. Schwarz: Erziehungslehre. 239
Hilfsmitteln zu vermuten war. Nur durch eine besonders auf diesen
Punkt gerichtete Sorgfalt, verbunden mit langer Erfahrung, genauer Be-
obachtung, ausgebreiteter Belesenheit, vielfach erneuerter Forschung, kann
er es erreicht haben, bei zahllosen Ungenauigkeiten im einzelnen, doch
ein im ganzen so ähnliches Bild des menschlichen Geistes hervorzubringen,
dessen Gesamteindruck dem praktischen Erzieher wesentliche Erleichterung
in seinem schwierigen Geschäfte gewähren kann. Wir erinnern hier an
die gleich anfangs erwähnten zwei Seiten der Pädagogik ; die ethische und
die psychologische. Von der ethischen Seite betrachtet, möchte wohl in
manchen Punkten Niemeyer vor Schwarz einen Vorzug in Hinsicht der
Form und der deutlichen Aussage behalten; — der gute Geist ist beiden
gemein, und es wird wohl niemandem einfallen, hierin zwischen den beiden
ehrwürdigen und hochverdienten Männern einen Unterschied aufweisen
zu wollen. Indessen ist die Form insofern wichtig, als sie demjenigen,
der Rat sucht, es erleichtert, eine Antwort auf seine Frage zu finden;
und da möchte Niemeyer, besonders auch wegen der Gleichförmigkeit
in der Ausarbeitung aller Teile seines Werkes, wohl seltener in den Fall
kommen, den Anfragenden ohne Bescheid zu entlassen; wiewohl nicht
unbemerkt zu lassen ist, daß Niemeyrs Erfahrungskreis einer Zeit an-
gehört, die uns allmählich fremder zu werden beginnt, je weiter wir uns
von ihr entfernen. Hr. Schw. verlangt mehr, daß sein Leser sich erst
gewöhne, mit ihm zu denken, und von seinem Standpunkte den mensch-
lichen Geist zu betrachten. Und von der psychologischen Seite möchte
wohl unleugbar der Vorzug anzuerkennen sein, den sich Hr. Schwarz
erworben hat. Aber der Wahn, als ob wir nun schon durch die beiden
trefflichen Männer eine zidätigliche Pädagogik besäßen, muß noch weit
und lange entfernt bleiben. Wer praktischer Erzieher ist, kann in diesen
Wahn gar nicht geraten; unser Wissen läßt uns zu oft im Stich, als daß
wir über seine Unvollständigkeit uns täuschen könnten; höchstens können
wir mit den Ärzten, denen es nicht besser geht, uns trösten. Auch teilte
bekanntlich Jean Paul Richter seine Levana nicht in Abschnitte, sondern
in Bruchstücke, damit durch das ganze Buch eine Erinnerung an das
Mangelhafte hindurchlaufen möge. Und eine solange fortgesetzte Be-
scheidenheit wird niemand für erkünstelt halten; sie war notwendig, und
ging aus der Sache hervor. Gleichwohl hat eben diese Sammlung von
Bruchstücken ein ganz vorzügliches Ansehen bei den Pädagogen gewonnen ;
welches nicht möglich gewesen wäre, wenn sie schon etwas Vollständiges
und Zulängliches gehabt hätten. Wir müssen also auch hier willig sein
zu dem Bekenntnisse: unser Wissen ist Stückwerk. Allein Bekenntnisse
dürfen nicht leichtsinnig abgelegt werden, wie wenn es nun damit gut,
und genug wäre. Das verbietet uns gerade die Pädagogik mit dem größten
Nachdruck; denn die Erziehung geschieht fortdauernd und muß geschehen;
wir können und dürfen in ihr nicht ruhen. Und die Erziehung ist ein großes
Ganze, an welchem kein Teil fehlen darf. Frühere Mängel müssen bei ihr
nach Möglichkeit ersetzt, gute Erfolge müssen aufrecht erhalten werden ; dazu
gehört eine mannigfaltige Geschicklichkeit, um die verschiedenen Alter, die
verschiedenen Individuen richtig zu behandeln. Oft genug tritt es hervor,
daß einer das Kind richtig erzogen, in den heranwachsenden Knaben
240 J- F. Herbarts Rezensionen.
sich aber nicht zu finden weiß und ihn falsch behandelt. Oft taugt ein
anderer, Jünglinge zu fördern, der den kleinen Knaben nicht zu berühren
versteht, und ihn abstößt, anstatt ihn lenken zu können. Oft arbeitet
eine Reihe von Lehrern sich müde, um aus einem Individuum etwas zu
machen, was nicht daraus werden kann. Ein andermal ist ein Knabe
ganz unlenksam, bis der rechte Mann ihn beim ersten Griffe faßt. Nicht
selten belohnt sich die geduldig verlängerte Sorgfalt allmählich, wo längst
die Zuschauer alle Hoffnung aufgaben. Manchmal scheint auf einmal die
Frucht einer langen Mühe verschwunden; und später wirken dennoch
die empfangenen besseren Eindrücke nach; der Gefallene steht auf und
geht seinen Weg wie ein anderer. Umgekehrt wandert manches Indi-
viduum immerfort auf der vorgezeichneten Bahn und gelangt doch nur
bis zu einer unerfreulichen Mittelmäßigkeit. Hr. Schw. selbst spricht von
Erfahrungen, welche das Kreuz der Erziehungslehrer sind (S. 2"] des
3. Bandes), indem auf der einen Seite aus Kindern, die „vor den Gästen
das Fleisch vom Tische nahmen und unter dem Tische verzehrten," doch
gute Menschen wurden; auf der andern Seite „Kinder mißraten, welche
man nach dem durchdachtesten Plane behandelte". Hier vereinigen sich
Zeugnisse von Schwarz und Niemeyer, wir könnten ähnliche aus eigner
Erfahrung hinzusetzen. Läge nicht in solchen Anomalien die dringendste
Aufforderung, den menschlichen Geist genauer zu studieren, wie hätte der
Unterzeichnete dazu kommen sollen, sich über Psychologie gegen alle
Vorurteile des Zeitalters in Streit zu setzen? Es war ja vorauszusehen,
daß manche mit größter Dreistigkeit streiten würden, ohne nur die nötigsten
Vorkenntnisse dazu mitzubringen. Es stand zu erwarten, daß selbst die
Besten und Behutsamsten, sich doch nicht des Einflusses erwehren würden,
welchen die einmal gewohnte Reminiscenz an das Fichtesche Ich da ausübt,
wo alles darauf ankommt, sich ihr auf das Bestimmteste entgegenzusetzen.
Hai das Treiben imd Tun, das Reflektieren und Wollen jenes idealistischen
Ich den praktischen Pädagogen auch nur das Geringste geholfen ? Hat es die
Erfahrungen begreiflich gemacht, die sich ihnen täglich aufdringen? — Wo
nicht: so mögen wenigstens die Pädagogen sich hüten, jene Reminiscenz
da einzumengen, wo auf der einen Seite von der Substanz der Seele, auf
der andern von Vorstellungsreihen und Vorstellungsmassen die Rede ist,
die einander in der einen Seele unmittelbar gegenwärtig sind, und die
mit allen ihren mannigfaltigen Bewegungen nur dahin streben, alle zu-
sammen in einen einzigen ungeteilten Zustand der Seele überzugehen; wozu
sie jedoch aus einem zwiefachen Grunde nicht gelangen können, teils
nämlich wegen ihrer gegenseitigen Hemmungen, teils wegen der ihnen
fremdartigen Hemmung von Seiten des Leibes. Denn auf diese letztere
ist im voraus gerechnet: dergestalt, daß sich die Einwürfe der Physiologen
nur in Bestätigungen verwandeln können. Ein einziges Beispiel mag hier
Platz finden; es ist von Abercrombie. Ein Wundarzt fällt vom Pferde, er
behält Besinnung genug, um die ihm nötige Behandlung anzuordnen;
aber weiß nichts mehr von Frau und Kindern; hieran besinnt er sich erst
am dritten Tage nach wiederholtem Aderlaß. Kein Wunder! dem Arzte
vergegenwärtigen sich beim eignen Unfälle zuerst die medizinischen Ge-
danken; ihnen folgsam, nimmt das Gehirn den entsprechenden Zustand
F. H. Ch. Schwarz: Erziehungslehre. 24 1
an; ebenso folgsam würde ein gesundes Gehirn bei der Erinnerung an
Frau und Kinder sich dem dazu gehörigen Affekte anbequemt haben; aber
das kranke versagt die Veränderung, de7i Übergang; mithin muß die hier-
durch bedingte Vorstellungsmasse gehemmt bleiben, solange bis der Aderlaß
den Druck des Blutes hinweggenommen, und dem Gehirn seine Beweg-
lichkeit zurückgegeben hat. Nicht weit hiervon sind die bekannten Historien
von den Wahnsinnigen. Zwar bei diesen wechseln meistens die Vor-
stellunssmassen ihren Platz im Bewußtsein; aber die fixe Idee führt, so
oft sie eintritt, ihren Affekt mit sich, und der hiermit verbundene Zustand
des Gehirns ist insoweit starr geworden, daß er nicht in den entgegen-
gesetzten übergehen kann, welchen die Widerlegung des Irrtums durch
Veränderung in der Konstruktion der nämlichen Vorstellungsmasse herbei-
führen müßte. Die Folge liegt am Tage: auch die leichteste Wider-
legung kann von dem Wahnsinnigen nicht verstanden werden. Leider
sind solche Dinge hier nicht fremd; der praktische Erzieher hat nicht
nötig, dergleichen von den Physiologen zu lernen. Er sieht täglich das
partielle Wirken der viel zu sehr vereinzelten Vorstellungsmassen auch in den
gesundesten seiner Zöglinge. Geschmack an Kunst und Wissenschaft bleibt
aus, weil die gewünschte, erwartete Durchdringung der Vorstellungen bald
in diesem, bald in jenem Punkte nicht so erfolgt, wie sie soll, und wie
sie den recht guten Köpfen natürlich ist; die besten Vorsätze bleiben
unwirksam in dem Leichtsinnigen, welchem das fehlt, was Hr. Schw. uns
erlaubt Gedächtnis des Willens zu nennen. Und sehr richtig lehrt Hr.
Schw. (S. 51), man solle das Kind, was sich schon in einem gereizten
Zustande befinde, nicht zugleich in einen andern gereizten setzen. So
bricht stellenweise dem praktischen Erzieher das Licht durch die Wolken,
einzelne Punkte der wahren Psychologie erhellend; deren Elemente von
unbefangenen Köpfen bald weit weniger schwer, als jetzt, würden befunden
werden, wenn sie die gehörige mathematische Vorübung mitbrächten, ohne
welche in diesem Felde nun einmal kein sicheres Lehren und Lernen
möglich ist. Da man jedoch hierauf gerade bei denen, die sich in päda-
gogischer Absicht an Psychologie wenden, heutigestages am wenigsten
zählen darf: so ist es um desto mehr erwünscht und erfreulich, daß in
unserm vorliegenden Werke solche Darstellungen enthalten sind, die wenn
nicht streng für psychologisch, dann doch für anthropologisch richtig
können genommen werden. Denn bei dem, was wir hier von Keimen,
Trieben usw. lesen (den Resten einer sogenannten dynamisclmi Philosophie),
kann es dem praktischen Erzieher ziemlich gleichgültig sein, ob dergleichen
ursprünglich in der Seele oder vielmehr der Wahrheit gemäß im Leibe
ihren Sitz haben; welches letztere uns die Physiologen sehr gern einräumen
werden, aber schwerlich ohne ein Mißverständnis daran zu heften. Genug,
der praktische Erzieher sieht den wirklichen und ganzen Menschen un-
gefähr also von innen getrieben, aber auch von außen beweglich, wie
unser Verf. ihn beschreibt. Nur müssen wir warnen, beim Gebrauche
des vorliegenden Werkes nicht Einzelnes herauszuheben, um es mit strenger
Konsequenz, gegen die Absicht, zu weit zu verfolgen. Hr. Geh. K.-R.
Schw. hat alle die mannigfaltigen Studien, die nach und nach auf ihn
Einfluß hatten, dergestalt verknüpft, und durcheinander beschränkt und
Hbrbarts Werke. XIII. 16
2A2 J- F« Herbarts Rezensionen.
gemäßigt, daß sie gleich einer wohl zusammengesetzten Arznei gerade in
dieser Verbindung ihre rechte Wirkung tun. Emseitigkeit ist derjenige
Fehler, gegen welchen er selbst durchgehends am meisten warnt; und
diese Warnung muß sein Leser im Auge behalten.
Im Augenblicke, da diese Rezension sollte geschlossen werden, nahm
der Unterzeichnete noch die christliche Ethik des Verfs. zur Hand, mit der
Hoffnung, einen Punkt in dem Vorstehenden mit Überzeugung abändern
zu können. Zum Zeichen hiervon sollen wenige Worte daraus hergesetzt
werden. Kant hat seinen kategorischen Imperativ in mehreren Formeln
abgefaßt, um in die an sich leere Form eine Füllung zu bringen" (S. 127).
Natürlich sucht man nun nach der Füllung. Und S. 165 lesen wir: „In
dem Gewissen offenbart sich Gott jedem Menschen. Insofern ist es un-
trüo-lich Aber es ist insoferti nur erst die Form. Der Inhalt seiner Aus-
Sprüche beruht auf dem Vernehmen und Nachdenken der Menschen. Da
nun ein jeder nach seiner Individualität die Stimme der ewigen Wahrheit
aufnimmt, so ist insofern das Gewissen trüglich.'' Hiermit war die er-
wähnte Hoffnung verscheucht. Hätte der Verf. das Vernehmen von dem
Nachdenken wenigstens sorgfältig getrennt, so ließe sich noch eine entfernte
Möglichkeit denken, ihm von der moralischen Seite näher zu kommen.
Statt dessen findet sich S. 171 die Behauptung, der Mensch lerne zuerst
sein Gewissen kennen, wenn er etwas Böses begangen hat. Das sei genug.
Die Erziehungslehre des Hrn. Schw. ist darum nicht weniger schätzbar, wenn
man auch über systematische Formen und Begründungen anders denkt als
er; und die Sittenlehre wird durch ihn nicht trüglich werden, wenn es auch
scheint, als hielte er das Gewissen für einen Gerichtshof ohne Gesetzbuch.
Die Grundzüge der wahren Ethik könnten wir ihm leicht in seiner eigenen
Erziehungslehre, soweit sie hinein gehören, wirklich nachweisen, wenn der
Raum es erlaubte.
Drobisch, Moritz Wilhelm, Professor der Mathematik an der Uni-
versität zu Leipzig, Philologie und Mathematik, als Gegen-
stände des Gymnasial-Unterrichts betrachtet; mit be-
sonderer Beziehung auf Sachsens Gelehrtenschulen. —
Leipzig bei Knobloch, 1832. VII und 103 S. 8 (14 Gr.).
Gedruckt in: Hallische Literatur-Zeitung 1832, Nr. 150, 151. SW. XII. S. 714.
Die Gymnasien, in ihren jetzt gewöhnlichen Verhältnissen, erscheinen
als Behausungen, die allmählich zu eng geworden sind für die verschiedenen
Einwohner, die sich darin angesiedelt haben. Jene Zeit, da die Philologen
allein, dem Latein das Griechische weit nachsetzend, gemächlich darin
wohnten, läßt sich schwerlich zurückführen; sie selbst machen größere
Ansprüche an Vollständigkeit und Genauigkeit; und neben der Philologie
macht die Geschichte sich wichtiger als vormals, die Naturwissenschaft
interessanter, die Mathetnatik notwendiger. Alles ermahnt uns, zu be-
denken, wie vergeblich es sei, irgend eine Vergangenheit wieder in Gegen-
wart verwandeln zu wollen. Nun leuchtet zwar ein, daß die Anzahl von
Moritz Wilhelm Drobisch: Philologie und Mathematik. 243
Lehrstimden, deren jeder bedarf, von zweien Bedingungen abhängt, nämlich
von den Fälligkeiten der Schiller und von den Methoden der Lehrer; wo-
bei noch überdies die Familien - Erziehung hinter dem, was in der Schule
als Empfänglichkeit des Schülers erscheint, verborgen liegt. Allein solange
die Gymnasien unbedingt zugänglich sind -- solange dem Bedürfnisse
solcher Familien, die für ihre Kinder vielmehr Bildung als Gelehrsamkeit
suchen, nicht zweckmäßiger abgeholfen, solange der mögliche Fall eines
späteren Eintritts im Gymnasium nicht genauer berücksichtigt wird — , so-
lange also auch für die Gymnasien keine Auswahl stattfindet, nach den
Fähigkeiten und nach dem Grade ihrer Entwicklung: dürfte es wohl un-
vermeidlich bleiben, daß jede Beratung verschiedener Gelehrten über
Lehrpläne (wie Rez. es aus mancher Erfahrung weiß) auf den Wunsch
führt, der Tag möchte achtundvierzig Stunden haben. Solche Schüler,
welche im stillen die Uniform oder das Landleben oder das Comptoir
im Auge festhalten, in Verbindung mit andern, deren Entwicklung sich
verspätet, verrücken zu sehr den Maßstab^ nach welchem die mittlere Ge-
schwindigkeit der Fortschritte geschätzt wird, als daß man unter den
jetzigen Umständen auf Erfahrungen hoffen könnte, die im stände wären,
den Streit der Wissenschaften, welche sich in die Schulstunden teilen
wollen, zu schlichten oder auch nur zu besänftigen. Im Gegenteil, die
Ansprüche von allen Seiten sind fortdauernd im Wachsen begriffen; und
es läßt sich nicht vorhersehen, mit welchem Glücke man in diesem
Falle das alte Recht gegen die neuen Forderungen wird behaupten können.
Das juste milieu aber pflegt nun vollends in solchem Streite keine vor-
teilhafte Stellung zu gewähren.
Die vortreffliche Schrift, welche hier angezeigt worden, entbehrt zwar
auch des oratorischen Vorteils, der äußersten Rechten oder Linken an-
zugehören. Sie spricht vielmehr mit Nachdruck für beide Parteien zu-
gleich; und verlangt zu Gunsten derjenigen Seite, woher sie kommt, im
Grunde nichts weiter als das schon Zugestandene. Jedoch erwähnt die
Vorrede deutlich der Pflicht, im Kampfe gegen Vorurteil und Trägheit
nicht müde zu werden. Der Verf. findet sich veranlaßt, „unumwundener
zu sprechen, als es seiner friedliebenden Gesinnung sonst natürlich ist;"
er fordert, daß auf den Gymnasien Mathematik mit den alten Sprachen
gleich gestellt werde, — wobei wir jedoch zu bemerken haben, daß die
geforderte Stundenzahl für Mathematik, nämlich wenigstens vier und
höchstens sechs Stunden wöchentlich, uns keine der Philologie irgend
lästige Beschränkung anzukündigen scheint. Die ganze Abhandlung zer-
fällt in vier Abschnitte. Der erste stellt philologisch - historische und
mathematisch - physische Wissenschaften einander gegenüber nach Ver-
schiedenheit ihres Ursprungs, ihrer Richtung, Methode, ihres Einflusses.
Der zweite betrachtet Philologie und Mathematik als Grundlagen des ge-
lehrten Unterrichts. Der dritte schildert den Zustand des mathematischen
Gymnasial-Unterrichts im Königreiche Sachsen; woraus die lokalen Ver-
anlassvmgen der ganzen Schrift (und solche muß man gar oft bei Schriften
über das Schulwesen im Auge behalten, um sie nicht unrichtig auszulegen)
nur zu deutlich erhellen. Der vierte Abschnitt endlich enthält die Vor-
schläge zu Verbesserungen. Im ersten Abschnitte tritt eine etwas scharfe
16*
244 J" ^' Herbarts Rezensionen.
Rüge der ungleich verteilten Sorgfalt hervor, womit die Philologen an die
alten Autoren gehen. „Was zur Herausgabe der griechischen Mathe-
matiker geschehen ist, das haben fast allein des Griechischen kundige
Mathematiker getan." Hier wird eine Stelle aus Ruhnkens elogium Hem-
sterhusii angeführt, worin es heißt: Veteres hoc humanitatis Studium
sapientissimo consilio tam late patere voluerunt, ut et mathematicas artes
et philosophiam omnem complecteretur. Verum brevi post exorti sunt
literatores^ qui, finibus illis latioribus per summam ignaviam contrahendis,
sibi servarent grammaticos, oratores, poetas, historicos; valere iuberent
mathematicos et philosophos. Indessen möchte eine Philologie, die
sich als solche der Mathematik, nämlich ausschließlich der alten Mathe-
matik zuwenden würde, Hrn. Prof. Drobisch selbst nicht genügen.
Er sagt von der Philologie: „zu dem Sachwert, den Kunst und Wissen-
schaft bestimmen, legt sie noch den Wert des Altertümlichen in die
Wagschale. Ihr Ziel ist, ein möglichst anschauliches Bild vom Leben
des Altertums zu gewinnen, sich geistig zuriickzuleben nach Latium und
Hellas. Die mathematisch -physischen Wissenschaften dagegen sind auf
die Zukunft gerichtet." Wollten wir hier auf pädagogische Betrachtungen
eingehen (die ohne Zweifel dem Verf. zu fern lagen), so könnten wir es
gelten machen, daß dem Knabenalter ein ruhiges Verweilen in der Ver-
gangenheit im ganzen besser zusagt, als ein beschleunigtes Hinausschauen
in die Zukunft. Heutiges Leben, wie in der Gesellschaft, so auch in
Wissenschaft und Kunst, ist selbst dem Jünglinge, vollends aber dem
Knaben, noch großenteils ein Geheimnis. Für denjenigen Blick in die
Zukunft, dessen sich der Meister erfreut, hat der Schüler noch kein
Analogon; ihm ist Zukunft, was jenem Gegenwart. Wenn aber freilich
die Philologen bemüht sind, sich geistig zurückzuleben : so muß man
wünschen, daß sie nicht auch den Knaben und den Jüngling rückwärts
ziehen; denn die Richtung der Bewegung geht im Jugendalter jederzeit
vorwärts ; nur der jedesmalige Standpunkt des Knaben und Jünglings liegt
noch in der Vergangenheit, weil er noch nicht da, wo sich die heutige
Generation der Erwachsenen befindet, anlangen konnte. Allerdings möchte
eine schärfere Überlegung dieses Umstandes nicht ohne Einfluß auf die
Art des Gymnasialstudiums sein; jedoch würde der Mathematik so wenig
als der Philologie dadurch Eintrag getan werden, wenn beide gemein-
schaftUch zwar den Standpunkt des Gymnasial- Unterrichts in der Ver-
gangenheit, aber die Richtung des Blicks in die Zukunft hinaus annehmen.
Da nun hiermit dem Verfasser keineswegs widersprochen wird, so lassen
wir, das vorige beiseite setzend, nunmehr Hrn. Prof. Drobisch im Zu-
sammenhange reden: „Die Philologie rühmt sich, nach der sternlosen
Nacht des Mittelalters zuerst wieder das Licht der Wissenschaften durch
das Studium der Alten entzündet, später in der Zeit der Reformation
durch gründliche Sprachkunde die hellere Fackel entflammt zu haben;
und so der mächtigste Hebel der Denkfreiheit geworden zu sein. Wir
sind sehr bereit, diese Verdienste mit gewisser Beschränkung anzuerkennen.
Womit anders als mit dem Studium der frohen und freien Alten hätte
in der Zeit des Feudalsystems, des Papst- und Mönchtums, die Wieder-
herstellung der Wissenschaften beginnen sollen? Aber auch nur begin7ien\
Moritz "Wilhelm Drobisch: Philologie und Mathematik. 245
Auch war hier nicht vom Sprachstudium als Zweck an sich die Rede,
sondern als Mittel, sich den Inhalt der alten Schriften bekannt zu machen
und anzueignen. Fortsetzen, was die Alten abgebrochen, erweitern und
vollenden, was sie nur angefangen hatten, darauf kam es an, wenn die
Wissenschaften blühen sollten. Dazu hatten in der Mathematik, Astro-
nomie, Arzneikunde, die Araber bereits einen Anfang gemacht; und erst
dann, als ein Regiomontan und Purbach, ein Baco, ein Boyle, Coper-
Nicus, Keppler, Galilei u.a. im 15., lö. und 17. Jahrhunderte in den
mathematischen, physischen, astronomischen Wissenschaften mehr geleistet
hatten, als die Griechen, Römer und Araber, konnte man die Wissen-
schaften als wiederhergestellt betrachten. Nicht anders war es in den
Zeiten der Reformation. Die frei werdende Vernunft übte sich zuerst
an dem Stoffe der heil. Schrift ; und dazu bedurfte sie der Sprachen, die
Luther mit Recht pries und als den kräftigsten Zauberbann gegen den
Fürsten der Finsternis anempfahl. Aber der gelehrtere Melanchthon schon
wußte neben den Sprachen die Real Wissenschaften zu schätzen, und an
vielen Stellen seiner Schriften finden sich die eindringlichsten und wärmsten
Ermahnungen zum Studium besonders der mathematischen Disziplinen.
— Unaufhaltsam und unaufgehalten haben sich in den letzteren zwei
Jahrhunderten Mathematik und Naturwissenschaften zu einer früher un-
geahneten Höhe emporgearbeitet, und eine reale Solidität und Klassizität
erlangt, die sich mit der ästhetischen Klassizität der alten Literatur messen
kann." Nach solcher Vorbereitung treten wir in den zweiten Abschnitt
ein, den wir als den wichtigsten betrachten. „Ein Weltmann (heißt es
dort), etwa ein gebildeter Bürger der vereinigten Staaten, wenn er zu
uns nach Deutschland käme und in Erfahrung gebracht hätte, wie all-
seitig wir es mit der Gelehrsamkeit nehmen, würde nun etwa meinen,
auf Gymnasien und Universitäten würden, abgesehen von Brot Wissen-
schaften, im ganzen dieselben Wissenschaften betrieben, nur mit Ver-
schiedenheiten dem Grade und Geiste nach. Bekanntlich ist dem nicht
also. Philologische Lehrer schmähen auf den Real-Unterricht; sie reden
von philanthropischen Unternehmungen, die zur Seichtigkeit führen. Aber
bei aller Richtigkeit der Maxime: multum, non multa! kann doch andrer-
seits das Zuviel in der Philologie nicht abgeleugnet werden, wobei ent-
weder für andere Dinge keine Zeit übrig bleibt, oder der Schüler so ab-
gemattet die U?iiversität bezieht, daß er tief aufatmend den Entschluß faßt,
sich dafür nun ein paar Jahr durch ein lustiges Studentenleben — aus
dem im unglücklichen Falle ein wüstes wird — zu erholen.^' Nun folgen
Warnungen gegen jenes Zuviel; zunächst gegen kritische und poetische
Aufgaben. Die ersten erzeugen einen mikroskopischen Kleinigkeitsgeist,
der vor lauter Subtilität nicht von der Stelle kommt. Die Geometrie ist
gewiß auch genau; aber sie weiß darin Maß zu halten, sonst wäre sie
nicht über den erstem Lehrsatz, geschweige denn über die Parallelen-
theorie hinausgekommen. Übungen im Lateinschreiben sind zwar not-
wendig; auch die akademischen lateinischen Disputationen sind nicht über-
flüssig; sie geben Gelenkigkeit, eine allgemeine Gelehrtensprache ist not-
luendig, und der französischen Eitelkeit soll nicht geschmeichelt werden.
Aber Griechisch - Schreiben ist sehr entbehrlich. Den formalen Nutzen
246 J- ^- Herbarts Rezensionen.
gewährt schon das Latein; zur völligen Aneignung der fremden Sprache
wird man das Schreiben bald auch in Hinsicht des Hebräischen, ja des
Sanskrit fordern, wenn man keine Grenzen kennt. Aber die Eitelkeit
mancher Lehrer prunkt mit solchen Dingen; während pädagogische Schul-
männer die Bestimmung des Gymnasiums im Auge haben, allgef}ietne Ge-
lehrteiischule, nicht Pflanzschule der Philologie zu sein. Die Theologen waren
weniger einseitig. Es ist Tatsache, daß in der Philologie häufig von
liberalen und vielseitigen Lehrern steife, einseitige, intolerante Schüler
ausgehen. Die Regienmgen sollten es den Studierenden zur Pflicht tnachen,
das erste Jahr der akademischen Laufbahn ungeteilt den allge?neinen Wissen-
schaften zu widmen,'' usw. Doch es ist nicht des Verfs. Absicht, allgemein
zur Entscheidung bringen zu wollen, was auf einem Gymnasium zu lehren
sei; — und aufrichtig gesagt, wir fürchten fast, er sei durch besondere
Erfahrungen etwas zu sehr gegen die Philologen verstimmt, um nicht in
einzelnen Äußerungen das Einverständnis auch seinerseits zu erschweren.
Freilich hat er es selbst erlebt, daß ein Lehrer in zwei und einem halben
Jahre zwei Stunden wöchentlich damit zubrachte, die ersten 310 Verse
des zweiten Gesanges der Iliade zu erklären! Freilich erzählt er von
einem witzigen Schüler, der, nachdem eine Stunde zur Rettung eines
für unecht gehaltenen Verses verbraucht war, an die schwarze Tafel
schrieb :
O Gott, wie muß das Glück erfreun,
Der Retter eines Verses sein !
Freilich lesen wir von einem Stadtrat der preußisch gewordenen Nieder-
lausitz, der auf den Antrag des Ministeriums, einen Lehrer der Mathe-
matik an der Gelehrtenschule des Orts anzustellen, die Antwort gab: sie
wollten auf ihrer Schule keine Feldmesser bilden. Ja der Verf. kannte
gar einen Gymnasiallehrer, der in seinem fünfzigsten Jahre noch nicht
wußte, daß die FLxsterne Sonnen sind. Aber solche Absurditäten hört
man nicht an allen Orten, und wir wollen uns an diejenigen Punkte halten,
welche allgemein als Momente der Entscheiduug des streitigen Gegen-
standes in Betracht kommen. Dahin gehört nun ganz vorzüglich folgendes:
,,Dem eigentlichen Gelehrten ist die Mathematik schon deswegen uneiitbehrlich,
weil ohne sie ein gründliches Sttidium der Naturwissenschaften völlig unmög-
lich ist. Man lasse sich nicht irre machen durch die populären Schriften
über Astronomie, Physik, Chemie usw., die, wenn sie Meister zu Ver-
fassern haben, dem Laien durch INIitteilung der wichtigsten Resultate auch
eine Vorstellung wenigstens von der Möglichkeit, wie man dieselben ent-
decken konnte, und somit einen Vorschmack von dem geben, was die
eigentliche Wissenschaft ist. Paradieren diese Schriften gleich an manchem
Schreibtisch, ja selbst mancher Toilette, werden sie auch mit Ernst, Eifer,
und dem guten Willen sich zu belehren, gelesen, man kann doch kühn,
aber sicher behaupten: iver so unglücklich war., niemals wenigste?is einen
grilndlichen Elementarunterricht in Aritlmietik und Geometrie zu genießen,
wird bei aller Anstrengimg nicht im stände sein, zu einem vollkommen klaren
Verständnis dieser Lektüre zu gelangen. Er wird dunkel finden, was einem
andern trivial ist. Auch bei populären Vorlesungen über Naturwissen-
schaft, die jetzt in der Mode sind, kann von zusammenhängender Auf-
Moritz Wilhelm Drobisch: Philologie und Mathematik. 247
fassung nicht die Rede sein. In der bunten Laterna magica eines blühenden
Vortrags ziehen eine Reihe interessanter Bilder vorüber; bhnkende Apparate
erhöhen die Magie des Eindrucks ; einiges prägt sich ein, anderes geht ver-
loren ; weniges wird zu Saft und Blut. — Aber — wirft vielleicht mancher
ein — du spriclist unstreitig nur von Lesern und Zuhörern, denen eine
klassische Bildung abgeht; wer seinen Tacitus, seinen Plato versteht, der
muß sich in eine populäre Astronomie oder Physik mit Leichtigkeit finden
können. Mit nichten ! Das ist es eben, was am stärksten für die ab-
solute Notwendigkeit eines gründlichen mathematischen Jugend- Unterrichts
spricht, daß man ein sehr gelehrter Sprachkenner, ein umfassender Poly-
histor, ja selbst ein schaifsinniger dialektischer Kopf, aufgelegt zu allerlei
Subtilitäten und Distinktionen ^ sein kanfi, ohne sich in irgend eine mathe-
matische Vorstellnngsart f7ide7i zu körnten. Gelehrte, die von der Mathe-
matik sich wenig Zusammenhängendes angeeignet haben, wundern sich,
in reifen Jahren noch so häufig in das ihnen fremde Gebiet der Größen
gestoßen zu werden; sie iüunde7-n sich, daß ihre Kenntnisse nicht zureichen^
sich zu orie7itiercn^ daß ihre Art, wie sie es anzugreifen pflegen, wenn sie
sonst etwas Neues erlernen und prüfen wollen, hier ganz unzulänglich
und unpassend ist; und so kommen sie auf den sonderbaren Gedanken,
die Mathematik fordere ganz besondere Anlage^i. Aber Mathematik ist keine
auf genialer Individualität beruhende Kunst. Zwar Entdeckungen in ihr
macht nur das Genie; hingegen erlernen läßt sie sich so sicher und ge-
wiß, wie irgend eine Erfahrungswissenschaft.'' Hier hätte nun der Verf.
volles Recht gehabt, sich noch weit stärker zu äußern. Es war noch von
der Scheidewand zu reden, wodurch Kenner und Nichtkenner der Mathe-
matik gesondert sind, als wären sie ungleichartige Wesen, — oder viel-
mehr von der unübersteiglichen Mauer zwischen beiden, die kaum ein
rechtes Wort der Verständigung durchläßt. Es war zu reden von dem
Grübelgeiste derjenigen, die sich nach ihrer Manier ohne Mathematik Auf-
schluß schaffen wollen über Gegenstände, die von Größen Verhältnissen
abhängen. Solche Leute häufen fortwährend einen falschen Gedanken
auf den andern ; sie meinen eine Stufe der Weisheit nach der andern zu
erklimmen, während sie auf die bedauernswürdigste Weise im Gebiete der
Torheit fortschreiten; und die nüchterne, einfache Wahrheit verschmähend,
den Rausch des Irrtums für die rechte Begeisterung halten. Aber wir
haben an diesem Orte andere Zusätze zu machen, nämlich in Ansehung
der besonderen Anlagen, welche die Mathematik erfordern soll. Bei weitem
das meiste in diesem Punkte ist Täuschung, aber einiges bedarf einer
besonderen Auseinandersetzung. Zuvörderst gibt es unstreitig bedeutende
Verschiedenheiten in der Art, wie im frühen Kindesalter die Vorstellungen
des Räumlichen, Zeitlichen, Zählbaren sich bilden. Dieser Ungleichheit
kann jedoch um die Zeit des beginnenden Unterrichts noch großen-
teils abgeholfen werden; teils durch guten Unterricht im Kopfrechnen,
teils durch kombinatorische Übungen, teils besonders durch das sogenannte
ABC der Anschauung, dessen Idee von Pestalozzi ausging, und das
unter dem Namen der Formenlehre in den Schulen verschiedene Ge-
stalten angenommen hat. Dem Unterzeichneten fehlte es nicht an Ge-
legenheit, sich durch die von ihm selbst abgeänderten Anschauungsübungen
248 J- F. Herbarts Rezensionen.
jüngere Knaben zum mathematischen Unterrichte vorbilden zu lassen;
diesen alsdann selbst zu erteilen und sich von der hinlänglich vorgebildeten
Fassungskraft zu überzeugen. Es kommt hierbei bloß darauf an, vor aller
irgend schwierigen Demonsttation die mathematischen Elementar- Vorstellwipen
auf empirischem Wege zur nötigen Energie und Bestimmtheit zu erheben;
und zugleich an einige mathematische Kunstworte und Bezeichnungen zu
gewöhnen. Geschieht dies, so wird man zum mindesten ebenso viele
Köpfe für Mathematik tauglich finden, als für Philologie; unterbleibt
aber diese nötige Vorbereitung, so geht die Demonstration verloren,
weil der Schüler den Gegenstand derselben nicht festhält] und dann er-
scheinen die tüchtigsten Köpfe als Ausnahmen, durch Schuld des un-
zweckmäßigen Unterrichts. Nun aber folgt eine zweite Betrachtung,
oder vielmehr eine zweite Lehre der Eifahru?ig. Einem guten mathe-
matischen Vortrage leicht nachkommen und ihn für den Augenblick
richtig auffassen, das gelingt manchen; schon geringer ist die Zahl derer,
die ihn eine Zeitlang behalten, so daß nach Wochen und Monaten noch
darauf könne fortgebaut werden, aber weit seltener sind die, welche in
reiferen Jahren ihren geistigen Vorrat sorgfältig hüten, verwalten, ver-
mehren. Vergebens hofft man, der bedeutende Umfang erworbener
Kenntnisse, der Überblick selbst in höhern Teilen der Wissenschaft, werde
ein dauerndes Interesse erzeugen. Mancher übt ein musikalisches In-
strument bis zu ausgezeichneter Fertigkeit; späterhin weicht diese Lieb-
haberei einer anderen; — dasselbe Schicksal hat die Mathematik; und hier
gerade zeigt sich der Vorrang der Philologie, oder wenigstens eines Teils
derselben. Theologen, Juristen und Mediziner dürfen ihr Latein nicht
vergessen! Mathematik aber darf von den meisten vergessen werden.
Jetzt machen sich die Naturanlagen gelten; und es zeigt sich, daß ins-
besondere die rei7ie Mathematik nur wenigen Köpfen ein wahres geistiges
Lebensbedürfnis geworden war.
Ohne Vergleich mehr Berührungspunkte mit den Menschen und den
Verhältnissen wie sie sind, hat die angeivandte Mathematik in ihrer viel-
fachen Verzweigung; daher sehen wir uns mit Bedauern der Gelegenheit
beraubt, in dieser Hinsicht über die Vorschläge des Hrn. Prof. Drobisch
zu berichten. Ihm freilich als akademischen Lehrer war es sehr natürlich
sich zu fragen, wie weit und auf welche Weise wohl seine Zuhörer vor-
bereitet sein müßten, wenn sie ihm und seinem ferneren Unterricht ge-
hörig entgegenkommen sollten. Andere akademische Lehrer, die eine
allgemeine Kenntnis der Mathematik voraussetzen müssen, würden andere
Forderungen aufstellen. Noch anders lauten die Erinnerungen des eigent-
lichen Pädagogen. Denn während jeder Lehrer der höheren Stufe von den
Unterlehrern die strengste Einübung mechanischer Fertigkeiten der niedem
Stufe verlangt — welches freilich für den fortschreitenden Unterricht
höchst bequem ist • — , klagt der eigentliche Erzieher über Mißhandlung
des früheren Alters, wenn die Empfänglichkeit desselben im Einüben
bloßer Fertigkeiten verbraucht wird. So verschieden sind die Gesichts-
punkte der möglichen Beurteilung. Indessen ist wohl kaum zu bezweifeln,
daß die große Mehrzahl der Mathematiker mit dem Verf. vollkommen
einverstanden sein wird, indem er folgende Forderungen an die Gymnasien
Moritz Wilhelm Drobisch: Philologie und Mathematik. 249
richtet: Zuvörderst die Lehrstunden vier bis sechs wöchentlich, sollen
Morgenstunden sein. Ferner das Minimum der zu durchlaufenden Gegen-
stände begreift in sich die gemeine Arithmetik, Buchstabenrechnung,
Gleichungen des ersten und zweiten Grades, reine Planimetrie und Stereo-
metrie, arithmetische und algebraische {nicht analytische, von den Figuren
befreite) Geometrie, Goniometrie und Trigonometrie. Das Maximum soll
nicht über die Einleitung in die Analysis hinausgehen; doch wird der
Reihenentwicklung der Funktionen, der Umkehrung der Reihen, der all-
gemeinen Theorie von den imaginären Größen der Zugang verstattet; der
Differential- und Integralrechnung hingegen der Eintritt ins Gymnasium
verweigert. Auf den ersten Blick die Sache betrachtend, möchte jemand
sagen, das letztere verstehe sich von selbst, indem die erste beste nur
einigermaßen künstliche und nicht sogleich sich darbietende Integration
soviel Zeit zur Erklärung an jeden nicht völlig Vorgeübten erfordert, daß
der Versuch, so etwas auf einem Gymnasium zu lehren, sich selbst auf-
heben würde. Eben deshalb nun ist hier so zuverlässig jeder Mißbrauch
unmöglich, daß wir um so mehr bedauern, auch den leichten und höchst
nützlichen Gebrauch der einfachsten Elemente dieser Rechnungsarten dem
Gymnasium verweigert zu sehen; und zwar aus Besorgnis, es könne dem
Lehrer, falls er den Geist der Differentialrechnung nicht richtig aufgefaßt
habe (ein Umstand, der leicht eintrete, — aber, wie wir hinzufügen
müssen, nicht eintreten sollte), begegnen, hierbei den Schein einer geringen
Schärfe und Strenge entstehen zu lassen. Trauet denn der Verf. den
Schülern, die bis dahin nach seiner Vorschrift unterrichtet wurden, noch
nicht soviel Übung zu, um nötigenfalls diesen so leicht zu berichtigenden
Schein selbst bemerklich zu machen, oder sich für künftige Berichtigung
offen zu erhalten? Und hofft er im Gegenteil, die strenge Theorie der
imaginären Größen würde es durch ihre strenge Gründlichkeit vermeiden
können, den minder scharfsinnigen Köpfen als ein Spiel mit leeren Worten
und Zeichen zu erscheinen? Nach des Rez. häufiger Erfahrung ist hier
weit weniger Gefahr als dort. Der wahre Grund des Hrn. Prof. Drobisch
aber ist wohl, daß er die Jugend lange mit den mehr elementaren Gegen-
ständen (geometrie descriptive usw.) beschäftigt wünscht. Gewiß vortrefflich
für den künftigen Mathematiker von Profession; dem dasjenige, was den
Elementen nahe steht, nie zu geläufig sein kann. Aber es verspätet die
Übersicht über das Ganze der Wissenschaft; und wird manche, die sich
frühzeitig von ihr abwenden, gar nicht zur letztern gelangen lassen. Läge
die größte Schwierigkeit darin, der Mathematik Eingang in die Köpfe zu
verschaffen, so würden wir dem Verf. beistimmen; aber dieselbe liegt
vielmehr am anderen Ende, — darin, ihr Dauer zu geben durch Über-
zeugung von ihrem Weiie ; und dazu hilft nichts von dem, was späterhin
der Mann von Welt oder der tiefere Denker als bloßes, wenn auch
witziges Spiel der Jugend hinter sich werfen kann. Der leere Raum, die
leere Zahl und Zeit, werden oft genug — öfter vielleicht als die Mathe-
matiker geneigt sind zu beachten — als Spielwerke einer harmlosen
Liebhaberei gering geschätzt. Die angewandten Teile der Mathematik
mögen den Männern vom Fache als Nebenwerk erscheinen; allein außer-
halb der Schulen sind sie es gerade, welche Respekt einflößen und fühlen
2 CQ J- F. Herbarts Rezensionen.
lassen, daß hier von höchst ernsten Gegenständen die Rede sei. Wir
dürfen es wiederholen: die Gesichtspunkte sind verschieden. Allein sehr
willig versetzt sich zum Schlüsse der Unterzeichnete auf den Standpunkt,
welchen der Verf. bei der Abfassung seiner Schrift für sich wählte. Ihm
lag für diesmal unstreitig nur daran, der Mathematik einen offenen Ein-
gang nicht in die Köpfe, sondern in die Gymnasien zu verschaffen. Von
den Schwierigkeiten, die ihm in dieser Hinsicht scheinen im Wege zu
stehen, braucht hier nicht die Rede zu sein. Möge es ihm gelingen, sie
vollständig zu überwinden; was eine kleine, sehr klare, geistvolle, unter-
haltende, und doch ebenso nachdrückliche als in den Gegenstand ein-
dringende Schrift dafür leisten kann, das ist ohne Zweifel hier geleistet
worden.
Weisse, Chr. Herrn., Prof. an d. Univ. zu Leipzig, System der Aesthetik
als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. In drei Büchern.
I. u. 2. Th. — Leipzig 1830.
Gedruckt in: Jenaer Literatur-Zeitung 1832, Nr. 121 — 123. Kl. Sehr. III, S. 775.
SW. XII, S. 723.
Bei der Anzeige einer Ästhetik sollten unsere Blicke auf den Parnassus
gerichtet sein; aber es ist mehr als bloßer Zufall, daß sie auf flaches
Land sich wenden, auf Belgien und Holland. Nicht allein der sehr
prosaische Vortrag des angezeigten Werkes stellt uns eine mit gleich-
förmigem Fleiße bearbeitete Ebene vor Augen; sondern auf dieser Ebene
sehen wir teils eine schon ausgebrochene, teils eine durch innere Gründe
fortdauernde Zwietracht. Wenn Ästhetik und Metaphysik in unnatürlich
erzwungene Verbindung gesetzt, wenn die erste von der anderen abhängig
gemacht wird, so paßt darauf, was wir soeben irgendwo von Belgien und
Holland lasen: man vereinte zwei Völker, die durch verschiedenes Interesse,
verschiedene Sitte und Sprache getrennt, beinahe mißtrauisch einander seit
langer Zeit beobachtet hatten. Jetzt sollte das stärkere dem schwächeren
gehorchen, und die zahllosen Schulden desselben übernehmen. Wie die
Saat, so die Frucht! Ästhetik ist in ihrer heutigen Geltung unstreitig
stärker als die Metaphysik, sie ist stark durch die vorhandene Bildung
des Geschmacks; sie ist aber nichts anderes, als der Ausdruck dieses Ge-
schmacks, wie er durch die für klassisch erkannten Kunstwerke bestimmt
und gehalten wird. Kann sie sich gefallen lassen, die Schulden der
Metaphysik zu übernehmen? — Der Verf. des angezeigten Werkes will
sie der Hegeischen Dialektik unterwerfen. Gesetzt, die Eroberung wäre
gelungen: dennoch würde die Hegeische Schule derselben nicht froh
werden können. Denn das eroberte und ihr zugeeignete Land wird so-
gleich wieder gegen sie in den Zustand der Insurrektion versetzt; welche
Insurrektion um desto gefährlicher ist, da jene Schule, wie wir glauben,
weder das Werk noch dessen Urheber für geringfügig und unbedeutend
wird erklären dürfen. Sie selbst, die Schule, ist im beständigen Werden
begriff'en; die Frage, was sie wer de ^ fällt mehr ins Gewicht, als die Frage,
C. H. Weisse: System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. 25 I
was sie sei. Aber was denn wird aus ihr werden, wenn ihre Methode
sich dazu gebrauchen läßt, ihre Ansprüche an wahren Gehalt des Wissens
zu beschränken? Einerseits erkennt man das Wappen der Schule in den
streng durchgeführten Trichotomien, welchen alle Teile der Ästhetik sich
beugen müssen; ferner im bekannten, charakteristischen Gebrauche der
Negation, welche aufgehoben in der lebendigen Wahrheit liegen soll;
desgleichen in dem Lobe jener absoluten Idee, welche alle anderen Kate-
gorien aufgehoben in sich trage. Aber andrerseits wird die Hegeische
Philosophie getadelt, weil das im logischen Sinne absolut Konkrete ihr
schon für den Inbegriff aller Realität überhaupt galt. Ungeachtet ihrer
Protestationen getadelt wird ihr logischer Pantheismus. Ja wir lesen sogar:
„Die Ästhetik beginnt da, wo Hegels System aufhört; indem dies alle
die Gegenstände, welche der Ästhetik — und welche der spekulativen
Theologie angehören, nur dem Namen nach, aber nicht in der Tat und
Wahrheit in den Bereich seiner Betrachtung hineinzieht. Was wir (der
Verf.) die Ideeii der Schönheit und der Gottheit nennen, kennt Hegel nur
nach der Weise ihrer psychologischen und geschichtlichen Erscheinung ; es ist
iiim Phänomen, und die Wissefischaft davon ein Teil der Phänoinenologie des
Geistes." So schafft sich diese Schule ihre eigenen Gegner. Sie bereitet
sich Erfahrungen, die sie ganz vergebens suchen wird, mit ihrer gewohnten
Kraftsprache zu Boden zu schlagen. Aber auch Hr. W., indem er Hegel
überbietet, scheint nicht zu merken, wie er sich den Grund unter den
Füßen aushöhlt. Er erklärt Schönheit für aufgehobene Wahrheit; das
Aufgehobensein aber bedeutet bei ihm das dialektische Umschlagen eines
Begriffes in sein Gegenteil, dergestalt, daß der umschlagende Begriff in
diesem seinem Gegenteil nicht vernichtet, sondern, wenngleich mit einst-
weiliger Verneinung seiner früheren Art zu sein, dennoch seinem eigent-
liehen Wesen nach erhalten und gleichsam aufbewahrt werde. Darüber
läßt sich nun freilich mancherlei sagen. Chemisch gebundene Stoffe mögen
wohl, nach einstweiliger Verneinung ihrer früheren Art zu sein, dennoch
bei der Reduktion ihr eigentliches Wesen gut erhalten wieder an den
Tag legen. Und die Reproduktion der Vorstellungen, welche als das
Geschäft des Gedächtnisses pflegt angesehen zu werden, mag zeigen, daß
auf ähnliche Weise auch die verschwundenen Vorstellungen keineswegs
vernichtet, sondern mit einstweiliger Verneinung ihrer früheren Art zu sein
aufbewahrt wurden, um wieder hervorzutreten. Nur schade! die chemisch
gebundenen Elemente sind nicht schön; und die verschwundenen Vor-
stellungen sind auch nicht schön. Etwas von Metaphysik und etwas
anderes von Psychologie ließ sich recht füglich denken bei den Worten
des Verfs., — wir aber, da wir sein Buch anschafften, fragten nach
Ästhetik, und dachten dabei ebensowenig an Psychologie und Metaphysik,
als an Hegeische Dialektik. Und jetzt, — versetzen wir uns sogleich in
den zweiten Teil des Werks, zur Poetik, dem bekanntesten Teile der
Ästhetik, um dort Proben auszuwählen, die hier hinreichen müssen. Da
loegegnet uns der Makrokosmus, und das Wesen des weltgeschichtlichen
Prozesses, und der absolute Geist, dessen historische Gestalten, um nicht
zu geistlos feststehenden zu werden, umschlagen müssen. Daher die
Tragödie! „Hegel oder dessen Schüler führen das gesamte Interesse der
2^2 J- F. Herbarts Rezensionen.
Tragödie auf die Einsicht in die Genesis der Gestaltung des Endlichen
(Familie, Staat, Kirche usw.) zurück. Es fehlt dieser Theorie durchaus
der Begriff des von der Spekulation unabhängigen Kunstideals." (So ist's!
Nur nicht bloß bei Hegel, sondern auch bei Hrn. W.) „Die Kunst,
indem sie die außerhalb der Schönheit und unabhängig davon bestehende
Wirklichkeit zu ihrem Inhalte macht, setzt diese ausdrücklich als schön,
obgleich dieselbe als eine dem Kunstideale stets unangemessene gewußt
wird. Die Gewaltsamkeit, womit alle anderen Kunstformen diesen Wider-
spruch niederhalten oder zurückdrängen, indem sie statt der vollen Wirk-
lichkeit stets nur eine einseitige, durch das Ideal als solches ergänzte Er-
scheinungssphäre des Wirklichen geben, fällt bei der dramatischen Dicht-
kunst weg, da dieselbe ausdrücklich die volle und allseitige Erscheinung
dieser Wirklichkeit als den Inhalt ihrer Schöpfung vorzuführen die Aufgabe
hat. Hier nun muß die Kunst notwendig ihre eigene Schönheit als ein
Attribut dieser Wirklichkeit setzen, d. h. dieselbe nicht etwa nur als von
außen ihr angehängt, sondern als mit dem Wesen der Wirklichkeit identisch.
In dieser Identität ist sie nicht eigentlich Schönheit, sondern eine der
Wirklichkeit eingeborene geistige Absolutheit oder Göttlichkeit überhaupt.
Das Geschäft der dramatischen Kunst wird demnach dieses sein, die Ent-
faltung dieses eingeborenen göttlichen Keimes zu einem der objektiven
Wirklichkeit entsprechenden und in ihr enthaltenen Makro- und Mikro-
kosmus der Erscheinung aufzuzeigen. In diesem Geschäfte nun ist es,
wo sich für die Kunst der Widerspruch hervortut, daß die Wirklichkeit,
indem sie jenen Keim des Göttlichen zum Dasein ihres eigenen Lebens
entfaltet, demselben zugleich, weil dieses Leben seinem Begriffe schlechthin
unangemessen ist, notwendig den Untergang bringt. Die Kunst sieht
sich daher genötigt, für die wirkliche Schönheit dasjenige zu geben, dessen
Wesen das off"enbare Widerspiel der Schönheit ist. Jene Einbildung des
absoluten Geistes in den Stoff" der Endlichkeit, welche den Begriff aller
Kunstschönheit macht, kündigt sich hier als dasjenige ausdrücklich an, was
sie, an sich, in der Kunst überhaupt ist, — als den Untergang jenes
göttlichen Geistes in einer ihm unangemessenen Objektivität. Die un-
mittelbare Gestalt dieses, an sich aller Kunst und Schönheit inwohnenden,
aber im Drama vollständig objektiv hervortretenden Widerspruchs macht
den Begriff" des Tragischen, oder als besondere Kunstform gefaßt, der
Tragödie aus."
So viele und so starke Ausdrücklichkeiten, wie hier beisammen sind,
mögen uns fürs erste hinreichen, um einige Bemerkungen daran zu fügen.
Zuvörderst hat der Verf. die vorgebliche Gewaltsamkeit zurückzunehmen,
womit andere, ja gar alle anderen Kunstformen einen Widerspruch nieder-
halten oder zurückdrängen sollen, von dem sie nichts wissen. Man frage
den Epiker und Lyriker, man frage den Blusiker und Maler, was für ein
gewaltsames Niederhalten das sei. Sie werden die Frage nicht verstehen.
Man sage ihnen: diejenige Gewalt sei gemeint, welche bei der dramatischen
Dichtkunst wegfalle; so werden zwar die anderen noch immer nichts be-
greifen, aber der epische Dichter wird sich seiner längst anerkannten, schon
vom Aristoteles ihm ausdrücklich zugeschriebenen Verwandtschaft mit
dem Tragiker erinnern, und weit entfernt, einzuräumen, daß seine Kunst
C. H. Weisse: System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. 253
durch ein Wegfallenlassen in die tragische übergehen könne, wird er im
Gegenteil sprechen: u /Liey inonoiia f/£<, vnuQ/ei rf^ roayojÖia- a §e avxi],
ov nävra Iv rfj Inonoiia. Doch nicht bloß um dieser Stelle willen haben
wir des Aristoteles Poetik aufgeschlagen, sondern weil es nötig ist, fürs
erste diese von Lessing so hoch gestellte Autorität der vor uns liegenden,
gewaltsam verkünstelten Ästhetik gegenüber treten zu lassen, damit hier
niemand individuelle Streitigkeiten suche. Die Wirklichkeit als schön zu
setzen, das war der Widerspruch, welcher, zw-ar von anderen Künsten
niedergehalten, dagegen in der dramatischen Poesie hervortreten und ins-
besondere den tragischen Untergang des göttlichen Keimes herbeiführen
sollte. Was nun zuvörderst den tragischen Untergang betrifft, so kennen
wir ihn alle. Demnach kann auch jedermann sich die Frage vorlegen:
was ist's, das da untergeht? Der Keim des Göttlichen.? Solches bejaht
und behauptet der Verf.; und die Notwendigkeit dieses Untergehens ist
der Nerv seiner Theorie, indem die „Darstellung des Untergangs, welchen
das Schöne unarißiörlich in der geschichtlichen Wirklichkeit erleidet," nach
ihm das Wesen des Tragischen ausmacht. Daß Aristoteles, welchen
über die Tragödie zu Rate zu ziehen unerläßliche Pflicht des Ästhetikers
ist, sich auf alle Weise dieser Irrlehre entgegensetzt, können wir leicht
zeigen. Erstlich leugnet Aristoteles, daß der Keim des Göttlichen, oder
gar das Schöne selbst, dasjenige sei, dessen Untergang die Tragödie zeige.
Zweitens leugnet er, daß die unaufhörlich fortgehende geschichtliche Wirklich-
keit das Tragische sei. Drittens leugnet er, daß überhaupt die Charakteristik
dessen, was da untergehe, die Hauptsache in der Tragödie ausmacht. Den
ersten Punkt hätte der Verf. dort wenigstens erwähnen sollen, wo er die
Aristotelische a(.mQriu nennt. Es müßte ihm doch aufgefallen sein, daß
von der a/.ia(}Tia rwy Iv (.uyaf.ij ÖoS.ij oi'roiy y.ul evTv/i'a die Rede ist, und
do'ia und evrv/i'u wird er hoffentlich nicht für das Schöne und für den
Keim des Göttlichen halten. Ferner müßte ihm aufgefallen sein, daß
kurz zuvor von einem gewissen f.iiuQov und von dessen Gegensatze gegen
das cfoßaQOv und l'htuvov gesprochen wird. Zu welchem Zwecke? Um
das erste, was sich von selbst versteht, anzuzeigen. Und worin besteht
das? ÜQonov /uey Ör^lov, ori ovxt rovg Initr/.Hg ui'ÖQag Öti [.uTaßu/J.oviaQ
q,ui'v(oS^ai et tvTv/i'ag dg övorv/Juv ov yuo ffoßeQOt', ovra l'KtHvov rovro,
dl AU i^iiaQOv. Das war der erste Hauptpunkt; wir kommen auf den
zweiten. Um seine Behauptung historisch zu bekräftigen, beruft sich
Aristoteles auf den Gang der Kunst. Früher, sagt er, wählte man zur
Tragödie die ersten besten Sagen. Jetzt aber, nachdem man aus den
Versuchen erkannt, daß nur der Fehltritt eines mehr guten als schlechten
Charakters die rechte tragische Wirkung der Furcht und des Mitleids
hervorbringt, beschränken sich die besten Tragödien auf wenige Häuser^
als auf das des Oedipus, Orest, Meleager usw. Das heißt mit anderen
Worten: der Geist der Tragödie ist keineswegs allgemeiii der Geist der Ge-
schichte, sondern in der Geschichte finden sich die tragischen Stoffe nur
hin und wieder, und man soll sie mit kluger Sorgfalt auswählen, wenn
man Kunstwerke hervorbringen will. Auch über den dritten Hauptpunkt
spricht sich Aristoteles sehr deutlich aus. TMiyioxov (unter den sechs
Erfordernissen der Tragödie) loxiv r xmv jiQayi.idriov oiaruoig. H yaQ
1 r I J- F- Herbarts Rezensionen.
TQuywdt'u f.uf.ainig Inxiv oiy. dvd^Qomtov, dllu ji^d'^i-oy. Otxovv otimq t«
]'id-)] \iif.iriO(ovTai, n()urTOvni', dV.u xd i]d-^ nv^ineQiXuf.ißa,vovni did rüg
TiQÜhig. Ja, fährt er fort, es kann zwar ohne Handlung keine Tragödie
geben, wohl aber ohne Charaktere. Und die Anfänger können eher
durch Sprache und Charaktere genügen, als die Handlung gehörig an-
ordnen! Hier möchte man glauben, seien es die heutigen Tragödien, von
denen gesprochen wird. Denn was erblicken wir auf der tragischen
Bühne? Charaktere und Situationen. Was hören wir? Schöne Reden.
Aber das Beste, was wir haben, ist auf halbem Wege stehen geblieben,
als eine bestimmt geformte, die Zeit der theatralischen Darstellung im
rechten Gange und Maße ausfüllende Handlung daraus werden sollte.
Und unsere Ästhetiker? Diese Herren, von denen die Probe vor uns
liegt, haben sich erst einen Begriff von der Weltgeschichte ausgesonnen,
und diesen Begriff wollen sie verkünden und lehren von der Bühne herab.
So wird die tragische Poesie bei ihnen, nach ihrer eigentlichen Absicht,
zur didaktischen; eine Gattung, die sie freilich den Worten nach verwerfen,
während sie in der Tat kaum noch eine andere kennen und begreifen.
Daß ein solches Wort in die Trichotomien des Verfs. nicht paßte, versteht
sich von selbst. Dagegen gestattet er der Kunst, die Geschichte der
eigentlich spekulativen Betrachtung zu entrücken, und zwar: ,,indem sie
von der unendHchen Reihe jener gleichsam die Summe oder die Gleichung
zieht." Was das heiße : eine Gleichung ziehen, — und in welchem Sinne
man von einer Summe oder Gleichung reden könne, das verstehen wir
nicht; bedauern aber freilich, daß die spekulative Betrachtung angeblich
wegfällt, indem von der Geschichte die Summe gezogen wird, um sie dem
Gebiete der Schönheit einzuverleiben. Wie sehr gegen ein solches Ein-
verleiben jeder tüchtige Historiker protestieren würde, geht uns hier eben-
sowenig an, als was etwa zu jenen Redensarten ein Mathematiker sagen
möchte, wenn er ja darauf hörte. Genug: „der Mikrokosmus des tragischen
Kunstiverks läßt sich recht eigentlich als Weltgeschichte im Meinen bezeichnen."
Das ist der feste Punkt des Verfs., an welchem wir für unseren ferneren
Bericht eine Stütze haben. Und jetzt wird es nicht bloß nötig, sondern
auch ziemlich leicht sein, von der trichotomischen Kunst des Verfs. eine
Probe zu geben ; wobei wir jedoch erinnern müssen, daß die Hegeische Lehre
überaus geneigt ist, umzuschlagen und nochmals umzuschlagen, und so fort.
Der Tragödie steht die Komödie gegenüber, die bekanntlich ihre
besonderen Schwierigkeiten hat. Unser Verf. verbirgt hier seine Verlegen-
heit hinter Kürze und Dunkelheit. Dennoch ist er dreist genug, auch
hier das Göttliche auftreten zu lassen: nur tritt es nicht mehr wie in der
Tragödie in seiner unmittelbaren Gestalt, sondern als ein bereits Auf-
gehobenes oder Untergegangenes auf. Man frage nur nicht, wie ein
U^iter gegangenes auftuten könne; es folgt sogleich ein größeres Wunder:
die Aufhebung des absolut Geistigen hat nämlich die glückliche Bedeutung,
daß dadurch sein sonst unvermeidliches Umschlagen in Häßlichkeit ver-
hütet wird. Doch das komische Pathos steigt noch höher. Der Begriff
der Kunst erringt einen Sieg, und zwar durch seine, des Begriffes, Selbst-
aufopferung; ja er erringt diesen Sieg unablässig über die Häßlichkeit, die
ihn unablässig, aber vergebens, in ihren Abgrund hineinzuziehen trachtet.
C. H. "Weisse: System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. 255
Dieser Sieg wird gefeiert, indem die dramatische Poesie sich in die komische
Wirklichkeit hineinbildet. Wiewohl wir nicht unternehmen, diese von uns
schon in kleinere Teile zerlegte, sehr dithyrambische Stelle pünktlich zu
erklären: so erhellet doch aus den Worten und aus dem ganzen Zu-
sammenhange, welch' ein höchst wichtiges Geschäft es sei, Komödien zu
dichten, ja welche Gefahren des Umschlagens nicht bloß der Einzelne,
nicht bloß die Familie, nicht bloß der Staat laufen würde, sondern das
Göttliche selbst, — wenn es keine Komödien gäbe. Man halte das ja
nicht für Scherz; man höre vielmehr und achte auf den innigen Zu-
sammenhang zwischen der Tragödie und Komödie; denn mit einem bloßen
Gegensatze ist es hier nicht getan; es muß auch Verbindung da sein;
man muß sehen und begreifen, wie sich die Komödie — mis dem Geiste
der tragischen Kunst erzeugt. Folgendes schreiben wir wörtlich ab: „Der
Geist der tragischen Kunst wäre der offenbare Geist der Häßlichkeit tmd
des Bösen selbst, wenn er den in dieser Kunst gesetzten Untergang des
Göttlichen in dem Endlichen als ein Letztes festhalten, d. h. wenn er
seine absolut geistige Substantialität dazu mißbrauchen wollte, der Macht
des Todes und der Verwesung, die innerhalb des Reiches der Endlichkeit
auch das Höchste und Beste trifft, Substanz und für sich seiende Wesenheit
zu erteilen. Daß dies nicht sein Beginnen sei, zeigt er — eben dadurch,
daß er der komischen Weltbetrachtung Eingang in die dramatische Poesie
eröffnet." Pafturiunt montes ! Denn nach allem Gerede von „dem Ver-
mögen des komischen Drama, die Schönheit als durch ihre Negation sich
mit sich selbst vermittelnd, und aus dem Untergaiige ihrer selbst zvieder-
aiifstehend einzuführen" usw., kommt nichts anderes heraus, als der wohl-
bekannte glückliche Ausgang im Interesse der — Geschlechtsliebe, „weil
nämlich diese in der Sphäre des Ideals und der Kunst überhaupt für
das Fürsichsein der geistigen Substanz und der Idee der Schönheit gilt" ! ! !
Der gute Mann hat rein vergessen, was die Konsequenz von ihm forderte,
und der Geist der Weltgeschichte mag ihn in schweren Träumen nach
Verdienst dafür züchtigen. War der Geist der Tragödie die Geschichte
in ihrer Senkung, so erforderte schon eine Art von Metrum, daß der
Senkung die Hebung folgte, und zwar mit festgehaltenem Ernste der
historischen Senkung auch die historische Hebung; und dem Verf. war es
durchaus nicht erlaubt, vom rechten Wege abspringend der Komödie, —
wir wissen nicht, ob der edleren oder gemeinen, da jene durch nichts
eigentümlich bezeichnet ist, einen höchst unzeitigen Besuch abzustatten.
Die Geschichte geht nun freilich ihren Gang ohne sein Zutun; sie zeigt
das Wachsen ebensowohl wie den Verfall ; — unser Ästhetiker kümmert
sich jedoch nur um die vorhandenen Kunstformen; und wenn er auf die
Tragödie zunächst die Komödie, dann aber das gemischte Drama folgen
läßt, so ist seine gesuchte Trichotomie fertig, mögen übrigens die Begriffe
richtig festgehalten sein oder nicht. Wir erinnern uns dagegen der Stelle
des HoRAz, welche gerade für die Komödie das Festhalten dringend
empfiehlt:
— — habet comoedia tanto
Plus oneiis^ quanto veniae minus. Aspice., Plautus
Quo pacto partes tutetur atnantis ephebi usw.
2^5 J- F. Herbarts Rezeusionen.
Es möchte ratsam sein, diese Empfehlung der Konsequenz von der
Komödie selbst auch auf die, wohl nicht gar leichte Theorie der Komödie
sorgfältig zu übertragen. Wenn man freilich das dramatische Schöne von
Anfang an entweder ganz, oder doch wesentlich in den Charakteren sucht;
wenn man (gegen jene Weisung des Aristotelesj unterläßt, die Hatid/img
für sich allein betrachtet ästhetisch zu prüfen, und das in ihr liegende
Schöne der Zeichnung anzuerkennen; so mag man nach dem richtigen Be-
griffe der Komödie vergebens suchen. Denn in den Charakteren selbst
freilich, auch in den scharf und fein gezeichneten, findet man hier nicht
das Schöne, sondern eher das Lächerliche; und eben dies gilt oft noch
auffallender von den Situationen. Völlig bekannt (seiner Meinung nach)
mit dem, worauf es hier ankommt, versichert dagegen der Verf.: ,,Der
allgemeine Begriff der dramatischen Poesie legt seine Schönheit allein in die
unendliche Bewegung der in die Nichtigkeit des Endlichen abwechselnd ein-
sehejideyi und aus derselben wieder hervortauchenden Substanz." Darin ist
■o
etwa soviel ästhetischer Verstand, als naturphilosophisches Nachdenken
in den Theorien der Chemiker, welche den Reichtum ihrer Wissenschaft
in den Käfig einsperren, den sie aus -\- E und — E gebaut haben. Wie
sollte hier von dem großen Unterschiede der satirischen Komödie, welche
das Verkehrte wegzuspotten den ernsten Zweck hat (z. B. Tartuffe), und
des heiteren Lustspiels (z. B. Krähwinkel) die gehörige Entwicklung zu er-
warten sein? — Die Trichotomie gebietet, zum gemischten Drama über-
zugehen; wo wir uns gern mit dem Verf. sogleich an Shakespeares Kauf-
mann von Venedig, als eins der besten Muster, erinnern möchten, wenn
nicht eben diese Erinnerung uns sogleich mit ihm entzweien müßte. Wird
denn jemand dies Werk höher stellen, als Hamlet, Romeo, Lear, oder
irgend eine sophokleische Tragödie? Und doch scheint den Verf. der
Gang seiner eigenen Betrachtung dahin zu nötigen. Denn er beginnt
wieder mit großem Pathos, als sollten wir nun endlich! das Allerhöchste
der Kunst kennen lernen; nämlich: auch in den schroff esten Gegensätzen
des Ideals und des Lebens die wesentliche Einheit festzuhalten. Das soll er-
reicht werden durch Verschmelzung der Elemente des Komischen und
des Tragischen. Und nun vollends die Erläuterungen hierzu! Da kommt
uns noch einmal die Geschichte in die Quere; aber diesmal die Kunst-
geschichte, mit der aus ihr geschöpften Unterscheidung des antiken,
romantischen, modernen Drama. War denn hier dazu der Ort? Reine
Tragödien, reine Komödien, und die Zusammensetzungen beider waren
und sind zu allen Zeiten möglich; und die allgemeine Ästhetik soll diese
zeitlose Möglichkeit in Begriffen dartun. Dann aber wird sie die Mischung
dessen, was ungleichartige Affekten erregt — des Tragischen und des
Komischen — dem minder geübten Dichter stets widerraten, während
sie dem Meister, z. B. einem Shakespeare, einräumt, daß er an Wahrheit
gewinnt, indem er den häufigen Wechsel des Lächerlichen und Traurigen,
der im wirklichen Leben vorkommt, auch auf der Bühne nicht scheut;
daß er die Affekten zu erhöhen oder auch zu mäßigen vermag, wenn er
durch Abwechslung am rechten Orte der Ermüdung und der Überspannung
vorbeugt; ja sogar, was vielleicht die Hauptsache sein dürfte, daß er die
Gefahr jener schiefen Auffassung, die selbst das Tragische bei geringem
C. H. Weisse: System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. 257
Anlaß gern in Lächerliches verkehrt, durch starke, komische Effekte wohl
am sichersten vermeiden könne. Alle diese Betrachtungen dienen aber nur,
dem Künstler Freiheit zu gewähren; keineswegs bezeichnen sie einen Vor-
rang des gemischten Drama vor der reinen Komödie oder Tragödie.
Aristoteles möchte noch immer sagen: qv nüau.r dn LijTcif r^doviiy dno
jQuycodiug, a/la Tfjf oixeiuy; und vielleicht würde er selbst von Shakespeare
den Beweis fordern, daß nicht auf anderem Wege die gleich starke Wirkung
mit Gewinn für die Reinheit und Reinigung des Affekts hätte können
erreicht werden, als auf einem solchen, worauf der INIeister sehie Virtuosität
freilich desto auffallender zeigt, je leichter die Nachahmer hier ausgleiten,
und ihre Unfähigkeit verraten. Der Unterschied dürfte wohl am meisten
darin liegen, daß der Meister sein Komisches in der Tragödie ganz streng
als ein Zeitliches kommen und verschwinden, also es aus der Handlung
hervorgehen läßt, so daß es zwar auf Augenblicke den Affekt, jedoch auf
keine Weise die Hauptauffassung des an sich tragischen Ganzen stören
könne; während der Nachahmer den Faden zerschneidet, um bunte
Lappen hineinzufügen, ja wohl gar die Hanptcharaktere durch komische
Schwäche verdirbt, wodurch der Eindruck, der wie ein Wölkchen vor-
überziehen sollte, sich vertieft und bleibt. Solche Mißgriffe erinnern wieder
an das obige f.ituQ(y, das in der neuesten Tragik einen gar breiten Platz
zu bekommen scheint, und den Werken der Kunst den Todeskeim mit-
gibt, sie mögen nun modern sein oder nicht.
Da wir gleich anfangs den Faden des Verfs. verließen, so müssen
wir den unsrigen nun weiter führen, und dabei hat uns Aristoteles
schon geholfen, indem er das Epos der Tragödie am nächsten stellte.
Und warum sollte er nicht? Homer wenigstens tritt persönlich so gut
als ganz zurück; die Macht der Dichtung aber bringt uns dahin, daß
wir Handlungen, als geschähen sie gegemvärtig, und wären eben jetzt in
voller Bewegung, mit anzuschauen glauben; der Klang des Verses über-
nimmt die Wirkung auf den Sinn; daher die Bühne und die Musik kaum
noch vermißt wird. Freilich wenn man zum Epos den Roman mitrechnet,
samt der Novelle und was ihr ähnlich ist, — Erzählungen, welche gleich
Biographien von der Geburt ihres Helden beginnend, summarisch die
Hauptbegebenheiten seines Lebens zusammenreihen, und durch mancherlei
gute Lehren uns die Autorität des Verfs. empfinden lassen: dann gerät
man ins didaktische Gebiet, vollends wenn die historische Novelle auch
noch einigen Unterricht in der Geschichte damit verbindet, und hier-
durch sich ganz von der Tragödie entfernt; jenem /.lay.uQioy noirji-iu,
— — il'ye TiQfvTOv Ol Xoyoi
vno rujv S^turiöv doiv iyycoQio^hvoi^
nQiv y.ui XIV tineh', wq vnOf.ivrjOai f,iovoy
dei Tov noi}]rriv Oldinovv yuQ uv yt (flu,
T« Ö^ülTJm navT ioaai.
Diesen Vorzug hatte zwar auch das alte Epos, dessen Inhalt im all-
gemeinen jeder voraus wußte, so daß die Poesie nichts lehrte, sondern
nur schmückte; wie jedes klassische Werk auch noch heute sich verhält,
indem es seine eigentliche Wirkung erst dann beginnt, wann die erste
Neuheit und deren Wirkung schon vorüber ist. Unser Verf ist jedoch
Herbarts Werke. XIII. *■'
2-8 J- F. Herbarts Rezensionen.
ganz anderer Meinung. Er steht keinesweges an, Selbstbiographien, wie
Goethes Dichtung und Wahrheit, auf gleiche Weise mit anderen in
ähnUchem Geiste abgefaßten Geschichtswerken der epischen Gattung bei-
zuzählen. Er hält aber scharf darauf, daß der Inhalt des Epos ein Ver-
gaiioenes sei, und als vollendete und ruhende Vergangenheit erscheinen
müsse; und er scheint es fast für wesentlich zu halten, daß die epische
Kunst den idealen Inhalt ihrer Darstellung als eineii außerhalb der sub-
jeklhmi Tätigkeit des Dichters bereits vorhandetmi, ja sogar dieser Tätigkeit
gegenständlichen vorstelle. „Indem der erzählende Dichter sich nicht für
das, was er in Wahrheit ist, nämlich für den Schöpfer, sondern für das
gleichgültige Mittel oder Werkzeug der Offenbarung einer fremden Sub-
stanz gibt, — so ist er in dem Falle, dieses sein eigenes Geschöpf als den
Gott anzubeten, der seine Darstellung ohne das Verdienst ihrer Kunst mit
aller Herrlichkeit des Ideals erfüllt." Wo geschieht denn das? Etwa in
den paar vorgeschriebenen Worten: i.u]viv anÖi, &eu? oder vielmehr (da
hier nicht einmal die Person des Dichters gezeigt wird) in dem ayÖQu
1.101 l'yyfm? — Wenn es dem Verf. beliebt, auf die Eingänge so großes
Gewicht zu legen: so mag er sich nicht wundern, daß wir diese Eingänge
auffallend kontrastieren sehen gegen seine fernere Behauptung, der eigent-
liche Gegenstand des Epos sei der Held, das Persönliche des Charakters,
hingegen das epische Interesse liege in den Begebenheiten nur insoweit,
als°dieselben die Freiheit der Charaktere in Taten zeigen. Wirklich?
Was war denn jene .«'>'<?, war sie ein Tun oder ein Unterlassen? War
sie als Charakterzug der Gegenstand des Gesangs, oder als Grund des
Unglücks der Griechen: IIoI'/mq ö' }(f>d^i^iovg xpv/ug äidi TiQOiaxptv^ darum
wird sie besungen. Und jener dpi'iQ, cg f.iülu nolla nXuy/ß?], kommt
hier nicht mehr als Zerstörer von Troja (das war vorbei!), sondern als
der 7ioXtT)Mg zum Vorschein, dessen Tun aus dem Leiden folgt, und
dessen Tatkraft noch obendrein großenteils in seine Schutzgöttin verlegt
wird, ohne Sorge, er werde dabei veriieren. Während wir nun nicht ein-
räumen, daß dem Epos eine besondere Kraft beiwohne, mehr durch
Charaktere, als durch Begebenheiten zu interessieren, vielmehr gerade
umgekehrt behaupten müssen, daß, je länger das Epos, desto mehr das
Interesse auf der Handlung ruhen wird, da der Charakter schon durch
seine ersten Proben meistens kenntlich genug ist; und vielleicht drei Viertel
eines Epos nach jener Ansicht sich in ein überflüssiges und langweiliges
Gerede verwandeln würden: so ist andrerseits ebensowenig von der
Tragödie einzuräumen, daß ihr, weil sie Drayna heißt, die Handlungen
wichtiger seien, als die Charaktere; vielmehr ist bei ihr die Charakter-
zeichnung intensiver, weil sie kürzer ist als im Epos. Das ist der ganze
Unterschied. Wir können auf keine Weise einen spezifischen Gegensatz
zwischen Epos und Tragödie annehmen, der in dem Inneren, dem eigent-
lich ästhetischen Wesen beider, beruhen soll; sondern wir finden bloß
Unterschiede in den Vehikeln, Bedingungen und Begrenzungen der Art
und Weise, wie eineriei Schönes von der Tragödie und dem Epos dar-
gestellt wird. Wenn aber weiterhin vom Roman wirkliche Welt- und
Lebensweisheit gefordert wird, so bekennen wir, nun freilich in eine Gattung
hinein versetzt zu sein, die man wenigstens der Vorsicht wegen von der
C. H. Weisse: System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. 259
Tragödie weit entfernt halten mag, damit nicht das Theater, das jetzt
schon oft genug nach den besten Künsten unser Herz zerreißt, sich gar
in eine Art von Katheder verwandle, zu welchem man lieber am Morgen
als am Abend würde wallfahrten wollen. Kurz: auch hier, wo der Verf.
das Epos und den Roman zusammenbringt, um beide gemeinschaftlich
dem Drama gegenüber zu stellen, können wir unmöglich der Dialektik,
die solches Verbinden und Sondern hervorruft, nachrühmen, daß sie die
eigentlichen ästhetischen Momente ins Klare gesetzt habe; wenn sie auch
mit BouTERWEK u. a. hierin einigermaßen zusammentrifft.
Bevor wir zur Lyrik — der einzigen noch übrigen poetischen Haupt-
gattung, welche unser Verf. gestattet — übergehen, ist notwendig, vom
Rhythmus samt dem Metrum, und vom Reim zu reden, da man wohl
als einleuchtend sollte voraussetzen dürfen, daß lyrische Poesie wesentlich
das Spiel des Gedankens mit der Sprache, und zwar in großer Mannig-
faltigkeit der Formen, in sich schließt; und daß die Auflösung des Ge-
dichts in Prosa bei keiner Art von Gedichten übler als bei den lyrischen
angebracht sein würde. Dieser Umstand ist für die Lyrik um desto mehr
charakteristisch, da sich im Gegensatze mit derselben die epische und
dramatische Poesie gern an einerlei Metrum gewöhnt, und ohne Schwierig-
keit sich hierin fast gleichmäßig fortbewegt, wie auch immer der Gegen-
stand und die Empfindung wechseln mögen. Doch würden wir mit Hrn. W.
nicht darüber streiten, daß er noch vor der Unterscheidung der poetischen
Hauptgattungen von Rhythmus und Reim redet; während freilich der Roman
und seine Unterarten sich mit einer wohlklingenden Prosa begnügen, die
sich in die gewöhnliche gebildete Sprache ohne bestimmte Grenze verläuft.
Hätten wir nur nicht wiederum hier eine höchst ungelegene Dialektik zu-
rückzuweisen. Aber nach dieser Dialektik wird uns zuvörderst angesonnen,
uns zu wundern über einen merkwürdigen Widerspruch, nämlich darüber,
daß die Sprache eben da, wo sie einen höheren und reicheren Geist aus-
drücken soll, als ein Quantitatives gezählt und gemessen wird. Wenn der Verf.
sich mit dem Quantitativen ungern beschäftigt, so würden wir ihm raten,
sich nicht damit zu plagen. Man braucht ebensowenig zu zählen und
zu messen, um den Rhythmus zu empfinden, als man nötig hat, Paganinis
Griße auf der Geige zu kennen, um sich seinem Spiele hinzugeben.
Freilich, wenn man die Geige auch nur erträglich spielen will, dann muß
man ernstliche Studien an das Griffbrett tmd an den Bogenstrich wenden;
— und wollte Hr. W. eine Ästhetik schreiben, so hatte er unstreitig Ursache,
den Numerus der Prosa wenigstens, und die Bedingungen eines gefälligen
Ausdrucks genauer zu studieren, als von ihm scheint geschehen zu sein.
Es hängt nun einmal in der Welt überall, wohin man sich auch wenden
möge, ungemein viel vom Quantitativen ab; — soviel, daß diejenigen, die
sich scheuen, davon zu hören, immer Gefahr laufen, sich in einer Traum-
welt einheimischer zu machen, als in einer wirklichen. Und für eine
Ästhetik hätte es sich wohl geschickt, von den sehr verschiedenen Theorien
über Metrik dem Leser etwas zu sagen; — wir erwarteten hier wenigstens
eine Notiz über das Streitige zwischen Apel, Hermann, Böckh usw.
Aber was finden wir? — „Erst nach Zurückdrängung der gemeinen, end-
lichen Lebendigkeit, indem diese als das, was sie ist, als Negatives und
17*
200 J- ^' Herbarts Rezensionen.
Totes ausdrücklich gesetzt" (von wem denn wohl gesetzt? etwa vom
HoRAZ oder noch früher von Pindar?) ,,und demgemäß behandelt" (etwa
gezüchtigt? oder gar mißhandelt?) „wird, kann das höhere Leben des ab-
soluten Geistes in Erscheinung übergehen; in eine solche Erscheinung, in
welcher von der gemeinen Erscheinung eben nur dasjenige beibehalten
wird, was an ihr das Element der Äußerlichkeit ist; was aber ihr Für-
sichsein und ihre Substantialität ausmachte, entweder beiseite gelegt, oder
ausdrücklich zur erscheinenden Äußerlichkeit verarbeitet wird. Die Stelle
übii"etis^ ruelche der Rhythmus in der Dichtkunst ein?iimmt , ist eine ganz
nnaloi^e mit jener, welche ihm in der Tonkunst zukommt."' Vortrefflich !
Damit ist der Streit entschieden, ob, wie jede Zeile des sapphischen
Metrums fünf Füße in sich faßt, so auch in der Musik von fünfteiligen
Taktarten Gebrauch könne gemacht werden. Da hätten wir an dem Verf.
einen Mitstreiter, wenn irgendwie sein Buch dazu taugte, als Autorität
angeführt zu werden. Allein es ist Zeit, den Verf. über lyrische Poesie
reden zu hören. ,,Da das Wesen und Beioußtsein der epischen Poesie ganz
in die Voraussetzung des Ideals aufgegangen war: so zeigt sich die Wahi'heit
dieser Voraussetzung in der lyrischen Poesie." (Wie denn zu der Zeit, da
es noch keine lyrische Poesie gab? Wenn das Epos weit älter ist, wenn
an ihm die poetische Sprache zuerst ausgebildet werden mußte, ehe sie
den kunstreicheren lyrischen Experimenten sich fügen konnte: so - — zeigte
sich damals noch nicht die Wahrheit der Voraussetzung des Ideales?)
„Z?a.y Vorausgesetzte, dessen Schönheit 7mmittelbar in die Erzähbmg übergehen
sollte., bleibt in der Tat dieser fern und entfremdet ;" (also die Erzählung
hätte die Schönheit, die ihr zugedacht war, nicht empfangen ? das Epos
wäre von ihr nicht durchdrungen? es wäre — in der Ilias und Odyssee
mißraten?? Aber weiter:) ^.^das subjektive Tim der Kunst, das sich dieser
Efitfremdting beivißt 7uird^' (die Frage, woher denn wohl solches Be-
wußtsein komme, ist dem Verf., wie es scheint, nicht eingefallen), ^,ver-
ivandelt sich in den Ausdruck der Erinnerung., der Seimsucht ^ kurz'"'' (der
lyrischen Begeisterung? noch nicht sogleich, sondern fürs erste) .,.,des bald
ausdrücklich gesetzten, bald wiederum durch Annähemiig aufgehobenen Gegen-
satzes zu dem Ideale. Eben durch diesen Gegensatz aber behommt die dem
Ideale gegenübe^'stehende Subjektivität und Einzelheit eine absolute Bedeutung,
und wird zum eigentlichen hihalte der Kujist'-'' (daß subjektive Einzelheit
jemals eine absolute Bedeutung gewinnen, oder durch einen Machtspruch
des Hrn. W. bekommen könne, dies leugnen wir, beiläufig gesagt, durch
einen entgegengesetzten Machtspruch für diejenigen, die es nicht von selbst
einsehen), „der Kunst., die sich tiinunehr durch Zersplitterung ihres epischen
Gesamtkörpers in eine Unendlichkeit kleiner Kunstindividuen, und durch Ein-
gehen in die strengsten und die kunstreich vei'wickeltsten Tonnen des Rhythmus
und des Reimes als übergegangen in die Gestalt dieser Subjektivität des Etnp-
findens und Begehrens, und als entäußert an dieselbe kund gibt.^^ Man darf
hier Glück wünschen, denn der Verf. ist am Ziele. Die kleinen Lieder,
Oden, Canzonen, Sonetten, Elegien, und wie diese glänzenden poetischen
Insekten weiter heißen (denn gemessen mit dem Maße eines homerischen
Epos, oder gar eines bändereichen Romans, sind sie unstreitig alle sehr
kleine Kunstindividuen!), kommen, vermöge seiner Dialektik, auf ähnliche
C. H. Weisse: System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. 26 1
Weise zur Welt, wie die Welt selbst entstanden ist, nämlich durch Zer-
splitterung einer Gesamtheit, — von der wir bloß bewundern, daß es
gerade eine epische Gesamtheit ist. Da bekanntlich der Analysis die
Synthesis entspricht, so hätte der Verf. unternehmen sollen, aus den
Splittern das Ganze rückwärts zu konstruieren, damit man den horazischen
oder klopstockischen Oden doch irgendwie ansehen möge, sie seien Frag-
mente eines ehemaligen größeren Ganzen. Bei den Astronomen kommt
eine Hypothese vor, die neu entdeckten kleinen Planeten seien Fragmente
eines zersprengten größeren Weltkörpers. Das kann man nun freilich diesen
Sternchen nicht ansehen, — und die Folge hiervon ist, daß die Astronomen
sich hüten, ihre Hypothese mit solcher Zuversicht auszusprechen, als wäre es
eine bewiesene Theorie. Aber freilich: für Oden und Lieder braucht man
keine Femröhre; daher muß man sich wundern, daß nicht längst jemand den
epischen Gesamtkörper entdeckt hat, den wir wohl noch lange suchen werden.
Denn welcher ist es? Weder die Ilias noch die Odyssee, weder die Äneide
noch die Messiade! Denn diese sind nicht zersplittert, sie liegen dergestalt
vor uns, daß niemand für sie eine Zersplitterung in lyrische Individuen
besorgen wird. Also wohl gar die platonische Idee des Epos! Das wäre
ein Unglück ; denn alsdann verdienten die vorgenannten Epopöen nicht
einmal mehr diesen ihren Namen, der ihre Ähnlichkeit mit ihrem Urbilde
rühmend anzeigt. Oder ein Rest der Sagendichtung, dem die epische
Ausbildung nicht mehr zu teil geworden war^ Aber davon ist die Emp-
findung^ welche aus dem Gemüt des Lyrikers hervorbricht, gar weit ver-
schieden. Wenn übrigens Hr. W. von einem ,,riclitigen Instinkte"' spricht,
welcher die ästhetischen Theoretiker darauf geleitet habe, die Lyrik als das
Mittelglied zwischen der Epik nnd der Dramatik anzusehen: so besorgen
wir, daß anstatt eines richtigen Instinkts hier bloß ein unzulässiger Seiten-
blick auf die Geschichte anzunehmen sei; und zwar auf Geschichte
der Kunst bei den Griechen. Wir aber verlangen von einer Ästhetik,
daß sie auf die neuere Zeit, ja auf den heutigen Tag ebensogut passen
soll, als auf das Altertum. Daß große Epopöen jetzt der Vergangenheit
anzugehören scheinen, weil sie für den Dichter einen Kreis von Zuhörern
voraussetzen, wie er ihn heute nicht mehr finden würde, — dies ist
schlechterdings kein Grund, die beiden objektiven Gattungen, Epos und
Drama, auseinander zu sperren, und die subjektive, lyrische, in klarer Un-
ordnung dazwischen zu schieben. Es wird lyrische Poesie immer und
überall geben, wo menschliche Gemüter eine gebildete Sprache vorfinden,
um sich darin zu ergießen und mitzuteilen. Dramatische und epische
Poesie dagegen sind offenbar abhängig von der Empfänglichkeit eines
großen Publikums; denn für sich allein wird niemand an große poetische
Kunstwerke seinen Fleiß wenden.
Der Verf. hat sich wohl gehütet, die Auflösung des knotigen Ge-
spinstes, womit er alle bekannten Gattungen der Künste umwob, leicht
zu machen. Seine Poetik geht nicht ins Einzelne. Von der Sphäre der
eigentlichen Kunstkenner, die sich in der Beurteilung des Einzelnen weit
sicherer fühlen, als im Anordnen und Ableiten allgemeiner Begriffe, und
die eben deshalb vor Theorien, die sie nicht verstehen und deren Ur-
sprung sie nicht kennen — mit Respekt zurückzuweichen pflegen, — ist
2 02 J- F. Herbarts Rezensionen.
er weit genug entfernt geblieben; daher es keineswegs leicht ist, ihn bei
solchen Punkten zu fassen, wo eine Autorität, wie jene des Aristoteles,
ihm stark und bestimmt entgegentrete. Vielmehr gibt er Einzelnes, das
für ihn bestechen, und auch den befremdendsten Reden das Vorurteil,
als ob großer Tiefsinn dahinter verborgen wäre, erobern kann. Dahin
gehört die Unterscheidung zwischen Sagendichtting und Poesie, von welcher
an mehreren Stellen, und gleich in einem der ersten Paragraphen des
zweiten Bandes, gesprochen wird. Der Verf. erklärt es für Mißverstand
und Verwechselung, den Rhapsoden -Gesang, welcher von einer ganzen
Volksmasse ausgehen konnte, für den immittelbaren Ursprung der großen
Gedichte Homers zu halten. Rez. war schon von der ersten Zeit an,
da die Wolfsche Hypothese bekannt wurde, fest überzeugt, daß dieselbe
niemals ein bleibendes Übergewicht erlangen würde über den Gesamt-
eindruck, welchen die Ilias und noch mehr die Odyssee auf den Un-
befangenen machen; zudem, da sich für einzelne Anomalien Entstehungs-
gründe genug denken lassen, ohne daß man zu mehreren Urhebern seine
Zuflucht nehmen müßte. Hr. W. ist übrigens dreist genug zu sagen: er
müsse jene Hypothese für eittschiedenes Mißverständnis erklären; und für
Verwechselung zweier durch den Begriff selbst durchaus unterschiedener
Gestaltungen der geistigen Schönheit. So genau weiß der Mann das, was
er meint ; und es fehlt bloß, daß er die Güte habe, uns vermöge seiner
divinatorischen Dialektik nunmehr bestimmt und pünktlich anzuzeigen, wer
denn Homeros gewesen, welche Stufe der Bildung in der Sagendichtung
er vorgefunden, welche Übungsschule er durchlaufen, ob er die Ilias
früher als die Odyssee geschaffen, in welcher Ordnung er die einzelnen
Gesänge gedichtet, umgearbeitet, ausgefeilt habe; kurz, wie das zwiefache
Wunder der beiden mit höchster Leichtigkeit und Kunstfertigkeit hin-
gegossenen, in den großen Umrissen, wie in den kleinsten Einzeln-
heiten vortrefflichen, untereinander so ähnlichen und doch bestimmt ver-
schiedenen Werke zu erklären sei. Aber solche Ausführlichkeit würde die
so entschiedene Erklärung leicht kompromittiert haben; klüger war es
unstreitig, sich nicht tiefer einzulassen, sondern beim Allgemeinen stehen
zu bleiben.
Bevor wir die Poetik ganz verlassen, wollen wir nunmehr dem Verf.
seine Anordnung als sein Eigentum wieder zurückgeben, indem wir daran
erinnern, daß bei ihm die epische Poesie den vorderen Platz einnimmt,
die lyrische darauf folgt, und die dramatische den Beschluß macht. Da-
mit mag nun, wer Lust hat, die Trichotomie der bildenden Kunst ver-
gleichen, nämlich Baukunst, Skulptur, Malerei. Die Kürze, in welche wir
uns von jetzt an einschließen müssen, macht uns geduldig gegen die längst
bekannte gefrorene Musik; desgleichen gegen die echt dialektische Natur
des Gegensatzes, „die ja allenthalben nicht in einem abstrakten Aus-
einanderhalten der entgegengesetzten Glieder, sondern darin besteht, daß
die Negation, die in dein einen verborgen oder unbewußt schon enthalten
ist, in dem anderen ausdrücklich gesetzt wird;" ferner gegen die Schlau-
heit, womit der Forderung, die ganze sichtbare Umgebung in ein schönes
Kunstwerk umzuwandeln (hiermit wäre freilich die schöne Gartenkunst
neben die Baukunst gestellt, und die Trichotomie verdorben!), aus-
C. H. Weisse: System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. 263
gewichen wird durch die heroische Erklärung: diese Kunst könne ihren
Beruf nie erfüllen, sondern ihre Werke seien nia Bruchstücke; — ja wir
erstrecken unsere Geduld sogar auf das unerhörte dialektische Kunststück,
womit die Abhängigkeit der Architektur von den Zwecken der Gebäude
(hierdurch tritt sie bekanntlich in den niederen Rang der verschönernden
Künste zurück) auf einmal beseitigt wird, — nämlich vermöge eines
Dekrets, welches wörtlich also lautet: wir (der Verf.) müssen infolge dieser
Betrachüing (die leider hier zu weitläufig wäre) den Ausspruch tun, daß die
eigentlich schöne Baukunst jederzeit und unter allen denkbaren geschichtlichen
Bedifigungen die Tempel- und Kircheribaukunst ist. Zu einigem Ersatz für
die fehlenden Gründe dieses wichtigen Spruchs setzen wir die Anfangsworte
des § 53 hierher: „Wie die sichtbare Natur die Bestimmung hat, Wohtiutig
d. h. zunächst nicht unmittelbarer Ausdruck oder Erscheinung, sondern
einerseits nur die sein allgemeines Wesen aufnehmende Ruhestätte, andrer-
seits der Schauplatz der Wirksamkeit des endlichen Geistes zu sein: auf
gleiche Weise ist die Bedeutung der Baukunst diese: Wohnungen oder Häuser
zu bauen für den göttlichen Geist.'' So ist denn „die religiöse Bedeut-
samkeit nicht von der Schönheit abgetrennt, sondern dem Begriffe nach
in dieser enthalten." Könnte man doch Begriffe in Steine verwandeln;
wie leicht, wie wohlfeil würde dann das Bauen! Nun wundere sich nie-
mand mehr, daß dem Architekten eine neue Würde erteilt wird, nämlich
— die Würde des Propheten. „Keine andere Kunst vermag so sehr, selbst
der geschichtlichen Vollendung vorauseilend, den Geist derselben voraus
zu verkündigen, im Dienste derjenigen Religionen, welche, noch nicht bis
zur Durchbildung vorgeschritten, nur die Allgemeinheit des göttlichen
Geistes noch in Form der Naturelemente offenbaren. Daher die un-
bestreitbar hohe Würde der orientalischen Baukunst im hohen Altertum."
Genug von der Baukunst. Wir kommen zur Skulptur. ,fndem der Geist
einem räumlichen Körper sich einbildet, wird er zu einem individuellen. Diese
Bestimmung aller bildenden Kunst, die an der Architektur unbewußt und
gleichsam latent vorhanden ivar, ivird ausdrücklich gesetzt in der plastischen
Kunst; deren Werke die Gestalt der natürlichen Lebendigkeit haben, und
zivar vorzugsweise die Gestalt der ?}ienschlichen Persönlichkeit, als die eigent-
liche des Geistes.'' (Auf anderen Planeten sehen die Geister also auch
aus, wie Menschen, ungeachtet der dort ganz anderen Verhältnisse der
Schwere, der Wärme, der Atmosphäre?) „Aus der Stellung eines absoluten
Gegensatzes, welche die Skulptur annimmt, indem sie nicht, wie die
Architektur, das Ideal von der Seite seiner Einheit mit der räumlichen
Welt, sondern von der Seite seines Widerspruchs zu dieser darstellt, sind
nun ihre vornehmlichsten Eigenschaften abzuleiten;'' — allein, wir haben
genug von der Skulptur. Es folgt die IMalerei, welche „statt der räum-
lichen Masse selbst nur den Schein der Masse gibt, nämlich das im Lichte
schwimmende Farbenbild derselben; welcher Schein aber als reine Qualität
in der Tat die Wahrheit der räumlichen Materie, nämlich ihr Sein für
die zeitliche Wahrnehmung und Erkenntnis lebendiger und geistiger Wesen,
und in dieser Wahrnehmung und Erkenntnis ist." Solchen idealistischen
Scharfsinn nach Gebühr bewundernd, bemerken wir nur noch den Unter-
schied der historischen Malerei, welche unmittelbar das Höchste, nämlich
2 54 J- F. Herbarts Rezensionen.
das im Wechsel miwandelbare , tmd rastlos sich selbst erhöhende Göttliche,
darzustellen unternimmt, — von der Genre-Malerei, um die wir uns nicht
weiter bekümmern, sondern einen Augenblick still stehen, um zu be-
denken, ob wohl möglicherweise jemand überlegt haben könne, was er
schreibt, wenn er nicht bloß das Göttliche als ein solches, das sich erhöht,
folglich jedesmal niedriger steht, als es zu steigen im Begriff ist^ — sondern
die Erhöhung als rastlos in demselben Augenblicke beschreibt, in dem er
das sich Erhöhende soeben nmvandelbar genannt hatte. Dies Umschlagen
dünkt uns doch beinahe zu rasch; selbst da, wo jedes Glied einer Reihe
seine Negation schon unbewußt in sich schließt. Jedoch, was vermag nicht
eine wachsende Fertigkeit? — die ganz unstreitig auch in Ansehung des
Umschlagens durch beständige Übung sehr natüdich entstehen muß.
Genug von der Malerei. Wir kommen zur Musik, von der wir jedoch
o-ar nichts zu hören verlangen, indem wir an der Definition des Klanges
— immittelbare Erscheinung des zeitlichen oder des Fürsichseins aller konkreten
Dinge überhaupt — schon vollkommen genug haben. Doch fast wider
Willen, — infolge unserer schon erlangten Fertigkeit im Umschlagen, be-
gegnet es uns, auf S. 23 eine Note zu bemerken, die eine Art von
Ahnung des Fragepunkts, aber freilich nicht eine Spur von Kenntnis der
darüber angestellten Untersuchung verrät. Der Fragepunkt besteht darin,
was Töne in der Seele als deren Vorstellungen seien, wo sie gewiß nicht
Schwingungen sind. Und die erste Bedingung des Untersuchens ist, daß
man die Fortschreitungen auf der Tonleiter nicht nach geometrischen,
sondern nach arithmetischen Verhältnissen abmesse, indem für die Musik
jede Oktave gleich groß und gleichviel darin zu unterscheiden ist. Da
nun statt der gewöhnlichen Zahlen für die Verhältnisse der Intervalle die
Logarithmen derselben müssen gesetzt werden, so ist's am besten, hier
davon zu schweigen. Übrigens versteht sich von selbst, daß bei der Auf-
fassung der Akkorde an ein „imbeivußtes Zähleji'' nicht aufs allerentfernteste
zu denken ist. Ebensogut könnte der Stein, wenn er vom Dache fällt,
die Quadrate der Zeiten, nach denen seine Fallräume sich richten, ab-
zählen, ohne davon zu wissen. Aber die gänzliche Konfusion der Be-
griffe, die hier zu Tage kommt, hat uns schon längst nicht mehr über-
rascht.
Gleich im Anfange seiner Kunstlehre beliebt es dem Verf. zu sagen,
es gebe vielleicht wenig Fälle, wo die Philosophie soviel Einstimmung von
selten der allgefueinen Denkweise sich versprechen dürfe, wie bei dem Satze,
daß die Kunst die Schönheit selbst, oder die ganze Schönheit sei. Dies vor-
ausgesetzt, so ist Kunstlehre die ganze Schönheitslehre; und nachdem wir
von der Kunstlehre des Verfs. soviel, als für diese Blätter passend scheint,
gesagt haben, so ist hiermit von seiner ganzen Schönheitslehre genug gesagt.
Da wir indessen an jener gerühmten Einstimmung der allgemeinen Denk-
weise noch sehr starke Zweifel hegen, so dürfen wir den vorstehenden
Schluß nicht für sicher ausgeben; vielmehr fordert die Aufrichtigkeit, zu
bekennen, daß wir noch ungefähr zwei Dritteile des Werks so gut als
ganz unberührt gelassen haben; eine Fundgrube, welche auszubeuten
füglich anderen kritischen Blättern kann überlassen bleiben. Allein je
unverständlicher ein Teil unseres Berichts — ohne unsere Schuld —
C. H. Weisse: System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. 265
ohne Zweifel den meisten Lesern, die sich für Ästhetik interessieren, sein
mußte, und je natürlicher die Frage ist, ob heutigestages die Ästhetik
vorwärts oder rückwärts schreite (eine Frage, die soviel ernster ist, da von
den Künsten selbst, besonders von der Poesie, wohl schwerlich jemand
jetzt ein Fortschreiten rühmen möchte), desto füglicher können wir eines
älteren, sehr bekannten Buches erwähnen, nämlich der Ästhetik von
BoUTERWEK. Die zweite x\uflage desselben, von 18 15, liegt vor uns;
und die Vorrede weiset zurück auf das Jahr 1806, als auf eine Periode,
da eine neue Schule, die seitdem schon das Schicksal ähnlicher Schulen emp-
finde^ in der Ästhetik, wie in der Philosophie, habe Epoche machen wollen,
durch metaphysische Prinzipien, die allem, was bis dahin unter gebildeten
Menschen guter Geschmack geheißen hatte, entgegen zu zvirken^ und einen
neuen, in der Anschauung des Unendlichen versinkenden Geschmack zu
begründen schienen. Sie hat gewirkt, diese Schule; aber Kunstwerke von
nationaler Bedeutung hat sie nicht hervorgerufen. Gewirkt hat sie dahin,
daß der Geschmack selbst an dem Besten, was wir besitzen, anfängt irre
zu werden ! Wenn wir nun wenig Hoffnung haben, etwas Besseres oder
auch nur des Gleich -Guten mehr zu empfangen: so ist in der Tat um
desto mehr zu wünschen, daß uns wenigstens eine tüchtige Ästhetik zu
teil werde, damit die Auffassung des Vorhandenen, sei es alt oder neu, fremd
oder heimisch, nicht durch unstatthafte Ansprüche getrübt werde. Und als
BouTERWEK durch das Vertrauen des Publikums zu einer zweiten Auflage
ermuntert wurde, scheuete er nicht die Mühe, sein älteres Werk ganz
umzuarbeiten; demnach möchte wohl das Vorurteil für ihn sein, er habe
etwas Tüchtiges leisten können und wollen. Ohne dies Vorurteil zu
unterstützen oder anzutasten, versuchen wir, sein Buch ganz kurz zu
charakterisieren. Es nimmt durchweg die Richtung vom Allgemeinen zum
Besonderen. Voraussetzend das ästhetische Gefühl, aber von der Meta-
physik sich absondernd, behauptet es eine gewisse Selbständigkeit der
Ästhetik in ihrer Sphäre. Für einen verkehrten Gang aber wird erklärt,
von der Kunst auszugehen, und das Kunstschöne für die Basis aller
ästhetischen Urteile zu erklären. Über den allgemeinen Begriff, den sich
der kalte Verstand vom Schönen mache, wird die Idee, als mystisch, jedoch
nicht träumerisch, emporgehoben; sie entspringe, heißt es dort, aus der
direkten Beziehung aller relativen ästhetischen Begriffe auf das Absolute,
das nirgends erscheine und doch von der Vernunft als unbedingt not-
wendig gesetzt werde, damit überhaupt etwas Relatives gedacht werden
könne. Alle wirkliche erkennbare Schönheit aber sei relativ. (An die
Gegenseitigkeit der Relationen im Schönen, worauf alles ankomme, scheint
B. nicht gedacht zu haben.) In der Kunst erscheint das Ideal -Schöne
wirklich, und immer in bestimmter Vereinigung mit dem Natürlichen.
Aber es könnte nicht erscheinen, wenn nicht die mystische Idee von ab-
soluter Schönheit, in besonderer Beziehung auf eine gewisse Nachahmung
der Natur, die Seele des Künstlers erfüllte. — Weiterhin wird unter dem
Titel: Elemente des Schotten (welchem Titel freilich ein anderer Sinn zu-
kommt) eine sehr wichtige Unterscheidung gemacht zwischen der inneren
Harmonie und dem Ausdruck, dergestalt, daß die innere Harmonie —
optische, plastische, akustische, rein geistige, eigentlich die ivahren Elemente
266 J- F. Herbarts Rezensionen.
des Schönen in sich fassen, der Ausdruck aber der Trockenheit und Kälte
wehren soll, deren man (ob mit Recht, oder mit Unrecht) die strenge
und reine Schönheit beschuldigt. Daß Bouterwek davon noch die Grazie
unterscheidet, mag als unbedeutend beseitigt werden. Zuletzt — damit
die Theorie keines ihrer Rechte aufgebe, soll sie zur Vollendung des
Schönen den ästhetischen Charakter des UnendUchen fordern. Nachdem
hierauf noch die Verhältnisse des Schönen zum Erhabenen und Komischen
erwogen sind, folgt die Kunstlehre. Als Prinzip der Kunst wird an-
gegeben: ästhetischer Wetteifer mit der Natur. Hieraus entstehen noch
besondere Elemente des Kunstschönen, Wahrheit, Leichtigkeit, Neu-
heit usw., die solchergestalt sehr verständig von den eigentlichen Elementen
des Schönen selbst gesondert sind. Anhangsweise folgen Betrachlungen
über den Stil, insbesondere den griechischen und romantischen; — vom
modernen, als ob ein solcher gründlich nachgewiesen, und von den vorigen
unterschieden werden könnte, muß B, nicht viel gehalten haben. Den
Beschluß macht die Sonderung der zeichnenden, musikalischen, mimischen,
architektonischen, verschönernden Künste von der literarischen Ästhetik.
Wendet man sich nun von hier wieder zu unserem Verf , so ist, als käme
man aus einer anmutigen, wiewohl etwas begrenzten und zum Teil künst-
lich geordneten Landschaft in einen großen französischen Garten, mit
fächerförmigen Alleen und durchaus beschnittenen Bäumen, worin man
die Gartenschere unaufhörlich rasseln hört, um den Gewächsen, wo-
möglich ihren Ungehorsam abzugewöhnen. Von der unnatürlichen Gewalt,
welche hier alles (von der Tragödie bis zu dem einfachen Klange) leiden
muß, haben wir im vorigen einige Proben gegeben; die fächerförmige
Anordnung können wir leicht noch andeuten. Drei Bücher: allgemeine
Begrifflehre, Kunstlehre und — Lehre vom Genius — haben jedes drei
Abschnitte, und jeder Abschnitt hat sein A, B, C, so daß drei zur driite?i
Potenz erhoben uns gerade siebenimdzivanzig Artikel liefert. Glaube nun
ja niemand, die Ästhetik könne wohl unter sechsundzwanzig, oder acht-
undzwanzig Abteilungen gebracht werden ; diese Zahlen sind keine Potenzen
von drei; am wenigsten gerade die dritte. Wenn einmal die Lehre von
der Wahrheit und die Lehre von der Gottheit nach den nämlichen Grund-
sätzen ausgeführt werden, so muß ebenso notwendig (denn die Methode
erfordert es) jede von beiden auch siebenundzwanzig Artikel bekommen.
Aber hier droht ein Unglück. Alle Artikel des ganzen Systems, welches
nun die Lehren von der Wahrheit, der Schönheit und der Gottheit zu-
sammenfassen wird, betragen in Summa 8i Artikel; 81 ist nicht mehr
die dritte, sondern schon die vierte Potenz von Drei! Und dies ist nur
die Andeutung eines viel ernstlicheren Unglücks. Es könnte dem Verf.
leicht gehen, wie dem bekannten Zauberlehrling. Die Potenzen von drei
sind ein arger Strom; zieht man einmal die Schleuße auf, so laufen sie
ins Unendliche. Daß er bei der dritten Potenz nicht stehen bleiben kann,
haben wir soeben gezeigt; aber auch die vierte wird ihm keinen Ruhe-
punkt gewähren. Auf empirischem Wege leuchtet das sogleich ein. Be-
trachten wir nur einmal beispielsweise die Lehre vom Genius. Sie ist
künstlich genug zerlegt in die Lehren vom Genius in subjektiver Gestalt,
in objektiver Gestalt, und — von der Liebe! Sollte jemand etwa bisher
C. H. Weisse: System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. 267
die subjektive Gestalt des Genius noch nicht erblickt haben, so sagen
wir ihm, daß dahin gehören Gemüt^ Takfii und — Genius im engeren
Siftne. Bleiben wir hierbei stehen, so fällt uns und jedem anderen
ohne Zweifel sogleich ein, daß es der Gemüter mehrerlei gibt; auch
mancherlei Talente, — hingegen, ob mehrere Genien im engeren Sinne,
das wissen wir so genau nicht. Nur soviel ist gewiß: es muß, da einmal
überhaupt eine Mehrheit nicht zu leugnen ist, notwendig drei Gemüter,
drei Talente und drei beengte Genien geben, weil eine andere Zahl sich
von der methodischen Thesis, Antithesis und Synthesis entfernen würde.
Zweifelt noch jemand, ob das Ernst oder Scherz sei, so bestätigen wir es
sogleich. Selbst die Liebe muß sich bei Hrn. W. der Methode unter-
werfen. Wie vielerlei Arten von Liebe gibt es? Dreierlei. Und welche?
Die platonische Liebe, die Freundschaft und die Geschlechtsliebe. Mit
Bedauern vermissen wir die Vaterlandsliebe; kaum wissen wir die Ge-
schwisterliebe unterzubringen; und was die Freundschaft anlangt, so will
uns bedünken, man wisse eben noch nicht viel von ihr, wenn man sie
etwa als aufgehobene piaionische Liebe betrachtet; — und so etwas muß
sie doch wohl werden, da sie in der Stelle der Antithesis steht. Es ist
freilich kein Wunder, wenn ganz am Ende der Scharfsinn des Hrn. W.
ermüdete; denn man bedenke nur, welches tiefe Nachdenken es muß ge-
kostet haben, die siebenundzwanzig Fächer, je zu drei genommen, metho-
disch auszufüllen; die schwersten Endreime können einem Dichter kaum
soviel Mühe verursachen. x\ber wiewohl der Leser sehr zur Nachsicht
geneigt sein wird. — Methoden kennen keine Nachsicht. Den Verf.
wird seine Methode allemal, wenn er irgendwo ausruhen will, wieder vor-
wärts treiben. Oder in welchen Gliedern des Systems darf Stockung ein-
treten? Jedes muß produzieren, jedes muß leben; ein totes oder nur ab-
sterbendes Glied droht dem ganzen Systeme mit dem kalten Brande.
Das scheint der Verf. sehr schlecht überlegt zu haben, da er sich irgendwo
sehr leichtsinnig über das Sandkorn und den Strohhalm tröstet, indem er
sagt: wenn sie auch nicht nach ihrem vereinzelten und erstorbenen Dasein
Ideen sirid, so setzen sie doch wahre Ideen voraus, n7td enthalte?! dergleichen
dialektisch aufgehoben in sich. Fast sind wir ein wenig unwillig geworden
über diese dialektische Aufhebung, durch welche, wie es scheint, die
platonischen Ideen so arg verdorben werden, daß wir sogar von Ideen
lesen mußten, die nichts anderes als schivache imd unvollkommene Gleich-
nisse seien ! Indessen, der Verf. wird ohne Zweifel alles wieder gut machen,
da er sich durch die Ästhetik den Weg gebahnt hat von demjenigen
Standpunkte aus, auf welchem die mit der rein logischen Idee identifizierte
Idee der Wahrheit als die einzig wirkliche Gottheit erschien, — zu einem
höheren, der eine Erkenntnis Gottes in der Form der Selbstheit und
Persönlichkeit, die vor jener Ansicht unvermeidlich verschwindet, möglich
macht. Dahin weisen uns die Verheißungen des Verfs.! Zwar begreifen
wir noch nicht recht, wozu denn wohl das Verheißene, wenn es einmal
da sein wird, eigentlich dienen soll. Das Christentum ist ja längst vor-
handen ; es wird in allen Kirchen gepredigt. Will man es durch eine philo-
sophische Schule zum zweitenmal erzeugen? Meint man, der Glaube an Gott
habe auf Thesis, Antithesis und Synthesis (die wir übrigens aus Fichtes
268 J- F. Herbarts Rezensionen.
Wissenschaftslehre kannten, ohne sie zu billigen) gewartet? Was will man
denn eigentlich, und worauf spannt man unsere Erwartungen? — Ver-
mutlich bereitet man sich vor, den Saint - Stmonisten zu begegnen; man
will ihnen zeigen, daß wir ihrer nicht bedürfen. Und dagegen ist nichts
einzuwenden.
Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Vierte
Original-Ausgabe mit einem Vorwort von J. F. Herbart. — Leipzig,
J. Müller, 1833. 323 S.
Nicht bloß aus neueren Forschungen, sondern auch aus Kants
eigenen Werken könnte man für das vorliegende Buch eine Menge von
Zusätzen entlehnen, um es teils zu vervollständigen, teils tiefer zu be-
gründen. Allein das würde zweckwidrig sein. Kants Anthropologie sollte
nach seiner eigenen Äußerung eine populäre Schrift sein; als solche hat
sie seit mehr als dreißig Jahren einen weiten Kreis von Lesern gefunden;
und sie kann auch jetzt noch sehr vielen nützHch werden; teils als Vor-
bereitung zu Kants streng wissenschaftlichen Werken, teils zur Einleitung
in Physiologie und Psychologie insofern, als diese beiden Disziplinen ein-
ander in der INIenschenkunde begegnen.
Unvermeidlich jedoch wird eine Schrift, die noch aus dem vorigen
Jahrhundert stammt, es manchem Leser empfinden lassen, der Verf. möchte
wohl heutigestages einiges anders geformt haben. Dies voraussehend
wünschte der Herr Verleger von mir eine neue Einleitung. Darin sollte
von FiCHTES, ScHELLiNGS, Hegels Untersuchungen und von der meinigen
etwas gesagt werden. Kürze wurde verlangt; noch kürzer werde ich mich
fassen; bloß andeutend, was etwa zu sagen wäre.
Menschenkunde braucht jeder, der unter Menschen leben will; und
was von ihr unter dem Namen Anthropologie gelehrt und gelernt wird,
ist schon durch die Sorge: ut sit mens sana in corpore sano, hinreichend
empfohlen. Das geschieht von denen, welche von dem Menschen so
reden, als wäre in ihm der Begriff der Verbindung des leiblichen mit dem
geistigen Leben in vollständiger Erfahrung dargestellt und gegeben. Solche
müssen erinnert werden, daß auf andern Weltkörpern, unter andern Be-
dingungen der Gravitation, Feuchtigkeit, Atmosphäre, ein ganz anderer
organischer Bau die notwendige Folge ist; daher, je höher sie die Ab-
hängigkeit des geistigen Lebens vom leiblichen anschlagen, sie um desto
mehr sich bewogen finden könnten, ihre Erfahrungserkenntnis derselben
als in sehr enge, und dem allgemeinen Begriffe hiervon sehr zufällige
Grenzen eingeschlossen zu betrachten.
Manches von dem, was als neuere Forschung über Kant hinaus-
strebt, wäre vielleicht schon hiermit zurückgewiesen. Sucht man aber
jenseits der Erfahrung, in allgemeinen Begriffen, die cognitio unionis, quam
mens cum tota natura habet, so muß man sein Studium bei Spinoza an-
fangen. Unzählige haben spinozistischen Vorstellungsarten eifrig nach-
Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 260
gehangen, ohne deren wissenschaftlichen Zusammenhang auch nur historisch
zu kennen. Wir wollen hier wenigstens die Nachricht mitteilen, daß
Spinoza, ungeachtet seines der Kantischen Lehre gerade entgegenstehenden
Dogmatismus, doch sich zum Geständnisse des Nicht-Wissens bequemte;
auch in solchen Dingen, die er notwendig wissen mußte, wenn sein System
Haltung haben sollte. So spricht er in den cogitatis metaphysicis P. I
cp. 3 : quomodo humana voluntas a Deo singulis momentis procreetur
fali modo, ut libera maneat, id ignoramus; multa enim sunt, quae nostrum
captum ex cedunt, et tamen a Deo scimus facta esse, uti exempli gratio
materiae realis divisio in indefinitas particulas satis evidentes a nobis
demonstrata, quam vis ignoremus, quomodo divisio illa fiat. Wer etwa
glaubt, Spinoza habe an dieser Stelle nur nicht sagen wollen, was er
wußte: der suche die Lehre von der Materie auf im Hauptwerk, nämlich
in der Ethik (pars II, prop. 13 seqq.). Zu vergleichen ist der Satz:
ostendimus in materia nihil praeter mechanicas texturas et operationes
dari (cogit. metaph. P. II, cp. 6), desgleichen die Briefe an Oldenburg
über eine damals neue chemische Zerlegung. Man lese und prüfe, anstatt
zu staunen!
A.uf den Spinozismus, welcher neben der Kantischen Lehre, und von
ihr unabhängig sich erneuerte, muß zwar das meiste von dem, was ihr
entgegengetreten ist, zurückgeführt werden ; jedoch nicht alles, denn manches
ist aus ihr selbst hervorgegangen. Dahin gehört vor allem der Idealismus,
welcher sich in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr mit dem Spinozis-
mus verschmolzen hat. Wer nun in diser Art die Abweichung von Kant
in neueren Vorstellungsarten bemerkt, der wird auch hier Ursache finden,
zur Quelle zurückzugehen; also zu Fichtes Schriften, nämlich zu den
altern; der Wissenschaftslehre, dem Naturrecht, der Sittenlehre und einio-en
kleineren. Dort wird man einer teils geradezu behaupteten teils angestrebten,
absoluten Selbständigkeit des Ich begegnen; welcher dasjenige nicht ganz
fremdartig ist, was Kant selbst gleich im Anfang der Anthropologie vor-
trägt. Falls nun aus den Fichteschen Lehren etwas offenbar Irriges hervor-
blickt: so entsteht allerdings für den Leser die Frage: inwiefern Kant
deshalb verantwortlich sein möge? Wird dadurch der Prüfungsc^eist o-e-
weckt: so ist zugleich die Aufmerksamkeit für das Folgende o-eschärft,
welches für eine philosophische Schrift nur willkommen sein kann. Trifft
der angeregte Zweifel auch die weiterhin abgehandelten Seelenvermögen,
so mag immerhin dem Leser, welcher den Spinoza verglich, auch eine
Erinnerung an den Satz zurückkehren: facultates ut intellectum, cupiditatem
etc. in numerum figmentorum aut saltem illarum notionum reponi debere,
quas homines ex eo, quod res abstracte concipiunt, formaverunt, quales
sunt, humanitas, lapideitas et id genus aliae. (Volumen I, praefatio.)
Hier wäre Veranlassung, der mathematischen Psychologie zu gedenken,
allein davon soll jetzt die Rede nicht sein. Nur soviel ist in ihrem
Namen zu sagen, daß in einer populären Schrift, wie die voriiegende
Kantische Anthropologie, durch die Anordnung der Gegenstände nach
dem angenommenen Unterschiede der Seelenvermögen eine bequeme
Übersicht gewonnen wird, welche noch imm.er zu solchem Gebrauch kann
als zweckmäßig gelten, wenn man gleich über den wahren Zusammenhang
2 70 J- F. Herbarts Rezensionen.
des geistigen Tuns und Leidens ganz anders denkt, als durch Annahme
jener Vermögen sich begreiflich machen läßt.
Überhaupt dürfte es für solche Leser, deren Auffassung nicht bereits
gestört ist durch fremde Ansichten — die von der Einheit des Geistes
mit der Natur, von der absoluten Selbständigkeit des Ich, von mathe-
matischer Psychologie noch nichts vernommen haben — wohl am rat-
samsten sein, fürs erste in voller Unbefangenheit dem Kantischen Vor-
trage zu folgen, und dadurch allein ihr Nachdenken in Bewegung setzen
zu lassen. Anders verhält sich's mit denen, die schon höhere Aufschlüsse
glauben irgendwoher empfangen zu haben. Diese mögen ihrem Wissen,
welcher Art es auch sei, nicht gar zu fest vertrauen, wenn sie. nicht
mindestens auch die Quelle kennen, aus welcher die Grundbegriffe des
angeblichen Wissens geflossen sind. Darum ist hier an Spinoza und
Fichte erinnert worden. Daß einiges auch auf Platon zurückzuführen
wäre, läßt sich hier nicht erörtern. Zum Schlüsse nur noch die Be-
merkung, daß diejenigen, welche sich an Schriften originaler Denker nicht
wagen, sondern in der Meinung, kürzer zum Ziele zu gelangen, lieber
aus abgeleiteten Bächen schöpfen, gewöhnlich darüber mehr Zeit verlieren
als gewinnen. Wie die leichtern Stellen eines Werkes den schwierigen
zur sichersten Erklärung dienen: so die leichtern Werke eines Schriftstellers
den schwereren zur passendsten Einleitung; und die gegenwärtige Anthro-
pologie ist gewiß leicht genug, um selbst Anfängern, welche zu Kants
Lehre einen bequemen Zugang wünschen, eine, wo nicht ganz hinreichende,
so doch sehr bedeutende und willkommene Hilfe zu leisten.
Königsberg, am 2. Mai 1833. Herbart.
Vorrede zu Carol. Lud. Hendewerk, Principia ethica a priori
reperta, in libris S. V. et N. T. obvia. — Königsberg, Borntraeger,
1833.
Gedruckt in: SW. XIII, S. 94.*
In principiis ethicis recte constituendis primus locus debetur notioni
idearum practicarum, quarum non una est, sed sunt quinque, ex totidem
judiciis aestheticis oriundae: quibus expositis secundum locum obtinet notio
virtutis, tertium legis. De hoc autem notionum ordine quamdiu inter
philosophos adhuc disputatur, a theologis non poterit exspectari, ut eam
veritatem primi agnoscant. Theologorum enim munus est, Dei jussa
proponere, quod ut fieri possit, virtutis praecepta undecunque hausta
formam legum induant necesse est. Hauriant autem ex scriptura sacra;
quocirca, missis quaestionibus philosophicis de forma docendi, theologi
videant, an materiem disciplinae ethicae possint in scriptura sacra reperire.
Quodsi aliam invenirent, alias leges certe pronunciarent ac eas, quibus
* Hierauf beziehen sich 2 Briefe Herbarts an Hendewerk, abgedruckt in
ZiLLERS Herbartische Reliquien S. 212
M. W. Drobisch : Beiträge zur Orientierung über Herbarts System der Philosophie. 2 71
subesse quinque ideas praticas in philosophia docetur: sin has ipsas tan-
quam materiam inveniant, qua praecipua scripturae sacrae praecepta
continentur, philosophiae non rerum quidem novarum laudem tribuent,
verum dignam fortasse eam judicabunt, quae rebus jam cognitis dilucide
tractando et exponendis adhibeatur. Quicquid sit (nam philosophiae justam
laudem hie certe non curo) hujus libelli autorem id negotii, quod a meis
auditoribus susceptum iri jam dudum exspectabam, ut ideas practicas cum
Sacra scriptura compararent, et suscepisse et bene etiam, quantum equidem
Video, gessisse laetor. Quae de singulis scripturae sacrae locis recte inter-
pretandis sensit et protulit ea ipsi soli defendenda, ubi opus fuerit, relinquo;
nam harum rerum non meum est Judicium. Quum autem scholas meas
illo tempore, quo in academia nostra studiis vacaret, summa assiduitate
frequentasse memini eundem insequentibus annis theologiae ita se dedisse,
ut philosophiam recolendam non negligeret, libenter agnosco, nee dubito,
quin lectoribus benevolis et diligentiam et candidum gravemque pietatis
sensum sit probaturus.
Drobisch, Moritz Wilhelm, Professor an der Universität zu Leipzig,
Beiträge zur Orientierung über Herbarts System der Philo-
sophie. — Leipzig, bei Leopold Voss, 1834. 'ji S,
Gedruckt in: Göttinger gel. Anz. 1834, ^i"- i^^i- SW. XII, S. 744.
Der Hr. Verf. sagt in der Vorrede von sich selbst: er wisse nicht
mehr anzugeben, ob er früher für mathematisches Wissen oder für philo-
sophische Forschung ein warmes Interesse gewonnen habe. Einem solchen
Geiste konnte die Idee einer höchsten wissenschaftlichen Einheit nicht fremd
bleiben; er kennt und charakterisiert sie historisch, indem er von Kants
symmetrischem Schematismus des Kategoriensystems ausgehend, die ver-
meinten Verbesserungen verfolgt, welche Reinhold, Fichte, Schelling,
Hegel, Krug, Fries, unternommen haben. xA.llein er verlangt nicht, daß
aus einer einzigen und gemeinschaftlichen Wurzel der Baum der Er-
kenntnis seine Zweige „mit der geometrischen Regelmäßigkeit holländischer
Gartenkunst'' hervortreibe. Vielmehr stellt er die drei philosophischen
Wissenschaften in folgender Einteilung zusammen: „Als die Aufgabe der
Philosophie im allgemeinen kann man mit geringer Abweichung von Kant
diejenige bezeichnen: Erkenntnis ans bloßen Begriffen zu Stande zu bringen.
Zur Erreichung dieses Zweckes ist es aber nötig, die Beziehungen der Be-
griffe kennen zu lernen, auf denen die Erkenntnis beruht. Diese Be-
ziehungen sind I. solche, die den Begriffen unabhängig von dem Be-
sondern ihres Inhalts zukommen; das Eigentum der Logik, 2. solche, die
vom Besondern des Inhalts abhängen, und zwar: a) theoretische oder
metaphysische, die den Charakter der Nohvendigkeit an sich tragen, indem
sie sich durch Widersprüche in den Begriffen wirklicher Dinge verraten;
durch Widersprüche, welche durch Auffindung dieser, die Begriffe er-
gänzenden, Beziehungen gehoben werden; b) praktische oder ästhetische,
2^2 J- F- Herbarts Rezensionen.
denen der Charakter des absolut Gefälligen oder Mißfälligen zukommt,
wobei es gleichgültig ist, ob die Glieder der Beziehung, des gefallenden
oder mißfallenden Verhältnisses als real oder als bloß ideal gedacht
werden, auch die Beziehung selbst sich nicht als theoretisch notwendig zeigt;
geradeso wie umgekehrt die metaphysischen Beziehungen ästhetisch gleich-
gültige Verhältnisse ausdrücken." Hierauf folgt alsdann die Nachweisung,
daß keine der drei philosophischen Wissenschaften der andern unter-
geordnet, auch kein über ihnen stehendes genus ersonnen werden könne,
das den Stof! zu einer objektiven philosophia prima geben möge. Das
Objekt der Logik ist zwar das Allgemeinste; aber sie ist zum Herrschen
zu arm; Metaphysik und Ästhetik sind nicht einmal entgegengesetzt, viel
weniger fallen sie zusammen, sondern sie sind völlig disparat; und sie
bleiben es selbst in den Fällen, wo theoretische und ästhetische Be-
trachtungen über einen und denselben Gegenstand können angestellt
werden.
Ferner zieht Hr. Dr. das Verhältnis der Psychologie zu jenen drei
Wissenschaften in Erwägung. Der Kantischen Lehre (sagt er) muß die-
jenige Gerechtigkeit widerfahren, auf die sie Anspruch hat; aber auch
die empiristische Ansicht derer ihre Abfertigung finden, denen sich alle
Philosophie in bloße Naturgeschichte der Seele verwandelt. Nur der Um-
stand, daß das Objekt der Psychologie der reale Träger alles Wissens ist,
gibt Anlaß, der Psychologie mehr Wichtigkeit, als der Naturphilosophie,
für das Ganze des Systems beizulegen. Allein die Psychologie mag
immerhin den Ursprung der geistigen Erzeugnisse erklären; nur nicht richten
über Wert und Gültigkeit derselben. Sie hat kein Auge dafür, die all-
gemeinen Irrtümer, denen der menschliche Geist bei der Auffassung der
Dinge unvermeidlich unterworfen ist, von der Wahrheit zu unterscheiden.
Das Aufsteigen zur Wissenschaft ist auch keineswegs eine bloße Er-
weiterung und Fortbildung psychologischer Tatsachen, vielmehr gleich von
Anfang an ein Kampf gegen die gemeine Auffassung der Dinge.
Von demjenigen, was der Hr. Verf. gegen die symmetrische Gliederung
der Systeme vorträgt, wollen wir nur den Schluß hersetzen. „Auch die
Astronomie hatte einst, verführt durch die Schönheit pythagorisch- platonischer
Ideen, eine Vorliebe für symmetrische Regelmäßigkeit eingesogen. Nichts
schien der Vollkommenheit der Welt würdiger als die Kugelform; keine
Figur für die Bahnen der Planeten angemessen als der Kreis; keine Be-
wegung in der großen einfachen Natur zulässig als die gleichförmige. An
dieser harten Speise kaute die Wissenschaft nicht bloß bis zu Copernicus,
nein, sogar bis auf Keplers Zeit; und niemand vermochte den alten
Sauerteig zu verdauen. Da rang sich endlich Kepler, früher selbst tief
befangen in diesen phantastischen Träumereien, mit Macht los von dem
Vorurteil, das Jahrhunderte geheiligt, dem selbst noch ein Copernicus
sein Siegel aufgedrückt hatte. Kepler lernte in der Natur die längliche
Ellipse mit ihrem exzentrischen Brennpunkte, dem Sitz der Sonne, und
die ungleichförmige Bewegung ertragen, und es entstand die astronomia
reformata, auf die Newton seine principia gründen und Laplace in der
mecanique Celeste den erhabenen Bau bis zur Kuppel führen konnte, ohne
daß der Grund wieder zusammenbrach.'' Hieran läßt sich knüpfen, was
Jacobi Nieuwenhuis: Elementa metaphysices historice et critice adumbrata. 273
Hr. D. weiterhin als treibendes Prinzip des Denkens bezeichnet. ,.Schon
Lichtenberg bemerkte, die Astronomie sei diejenige Wissenschaft, in der
das Wenigste durch den Zufall entdeckt wurde. Was hat nun ihre Ent-
deckungen mit Notwendigkeit herbeigeführt? Der Widerspruch hat sie von
einer Stufe zur andern getrieben. Die Verwirrung, die Gesetzlosigkeit
der scheinbaren Bewegungen — der Streit zwischen Theorie und Er-
fahrung — zeigt sich in der Entwicklungsgeschichte der Astronomie als
die Kraft, die zu Fortschritten genötigt hat. Wenn nun Metaphysik der
Mittelpunkt unseres theoretischen Wissens ist: so muß der Gedanke, daß
sie von Widersprüchen auszugehen hat, nicht bloß ertragen, sondern selbst
für notwendig anerkannt werden; indem in ihm allein die Gewähr eines
nicht hloß zufälligen und willkürlichen Fortschreitens der metaphysischen
Erkenntnis liegt."
Diese sehr unvollständige Probe muß hier genügen. Eine längere
Mitteilung würde nicht bloß den Unterzeichneten in Verlegenheit setzen,
sondern auch ganz überflüssig sein. Denn in dem Kreise von Lesern,
worauf sich die Schrift durch ihren Titel beschränkt, hat Herr Professor
Drobisch sich das Recht, aufmerksames Gehör zu erwarten, schon längst
vollkommen gesichert; auch werden diejenigen, auf welche er die Frage
anwendet : ivo habt ihr das tolle Zeug her? schon aus Neugier die ihnen zu-
gedachten Xenien suchen und finden. Aber wenn ein Schriftsteller, dem
ein weites Reich der Gelehrsamkeit und eine kunstvolle Feder zu Gebote
steht, sich einem einzelnen Gegenstande zuwendet, so wird er nicht so-
wohl das Interesse des Gegenstandes voraussetzen, als vielmehr durch
die Behandlung ein solches erregen wollen; und nur hieran war durch
die vorstehende Probe zu erinnern.
Nieuwenhuis, Jacobi, philosophiae in academia Lugduno-Batava prof.
ord. caet., Elementa metaphysices historice et critice adum-
brata. Pars I. historica, — Leyden, bey Hazenberg dem jungem,
1833. 236 S.
Auch unter dem Titel : Initia philosophiae theoreticae, vol. secundi
pars prima.
Nieuwenhuis, Jacobus, quum magistratum academiae Lugduno-Batavae
solemni ritu deponeret, Oratio de principiorum pugna in rebus
gravissimis caute diiudicanda, quam habuit. — Ebendaselbst,
bey Luchtmanns, 1834. 23 Seiten.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1834, Stück 180.*
Wer zu wissen wünscht, ob die holländische Gelehrsamkeit in jetziger
Zeit der Philosophie noch einen Platz neben sich vergönne: der findet
in der ersten der angezeigten Schriften von der Art, wde Metaphysik auf
der Universität zu Leyden vorgetragen wird, eine Probe, die wir im
* Bisher nicht bei Hartenstein abgedruckt.
Herbarts Werke. XIII. 18
2yj^ J. F. Herbarts Rezensionen.
Ganzen erfreulich nennen dürfen. Interessant sind diese Schriften schon
des Lateins wegen, welches immer große Schwierigkeit zu machen pflegt,
wenn man in dieser Sprache über neuere Philosophie sich nicht etwa
bloß obenhin äußern, sondern mit Beibehaltung der von den Urhebern
der Systeme angegebenen Begriffsbestimmungen sich wissenschaftlich aus-
drücken soll. Wie sehr aber der Verf. es in der Gewalt hat, der römischen
Rede sich zu bedienen, davon mag eine Stelle gegen das Ende der
zweiten Schrift zeugen: O felicem patriam nostram, Deo auspice, egregrie
excultam! verae libertatis sedem, oppressae perfugium, salutis publicae
ac privatae praesidium; ubi Rex celsissimus nobis imperet parentis instar,
et filiorum caritate ab omnibus ametur liberis civibus; Rex sapientissimus
nobis imperet, qui in nefaria Belgarum defectione in media principiorum
pugna, praesidio cultus rationis et religionis, omnium concursum sustineat
populorura; qui bonam causam fortiter vindicet; qui animi constantia,
robore, virtute, totius Europae oculos in se conversos teneat, et terrarum
orbi admirationem sui iniiciat! Felicem patriam, — ubi bonae literae ac
disciplinae fioreant egregie; academia Lugduno - Batava, Juventus studiosa
universo terrarum orbi diligentiae, profectuum, libertatis, obsequii, honestatis
spectaculum offerat splendidissimum. Neque has laudes — tacere possum.
Quum in aliis regionibus academiarum alumni, a pestiferis populi corrup-
toribus seducti, inter principes essent, qui tumultus et seditiones concitarent,
Vos, generosi iuvenes! ad arma concurristis, ad seditiosos exiistis puniendos,
ad veram libertatem defendendam; et, in media principiorum pugna, in
ipso certamine, quo Vos modo gesseritis, et quam bene meriti sitis de
causa honestissima, patria vidit; vidit, summo animi grati hilarisque sensu,
victoriae praemia, Vobis parata et tributa per oppida et urbes, quas e
castris reduces transiistis, ut victores e ludis Olympicis.
Wie wird ein solcher Redner es anfangen, den rückkehrenden jungen
Kriegern Geschmack an der Metaphysik beizubringen? Wird er sein
System (welches, wie man zuletzt erfährt, sich dem des berühmten
Hermes ' nähert, der besonders unter katholischen Gelehrten viele eifrige
Verehrer hat) unmittelbar hinstellen und anpreisen? — Er sagt in der
Vorrede: nulla disciplina, nisi prius cognita eins historia, recte percipi et
intelligi potest. Aber umgekehrt: die Geschichte der Metaphysik kann
ohne Metaphysik nicht verstanden werden! Und schwerlich ist irgend eine
Geschichte trockener und zurückstoßender für den x\nfänger, als die Ge-
schichte metaphysischer Streitigkeiten, in denen man die victoriae praemia
umsonst sucht. Wie mißlich es nun auch aussehen mag, daß der Verf.
den Rat des Facciolatus: nullam esse adolescentibus tradendam philo-
sophiam nisi historicam, hinschreibt, ohne ihn gebührend einzuschränken,
und ohne auch nur das zu bemerken, daß wenn sonst nichts geschieht,
von pragmatischer Geschichte der Wissenschaft nicht die Rede sein könne:
dennoch wollen wir gern glauben, daß Hr. N. im stände sei, die Auf-
merksamkeit seiner Zuhörer zu fesseln. Zuvörderst nämlich steht ihm eine
reiche Gelehrsamkeit zu Gebote. Dazu kommt eine vorzügliche Gabe,
die Systeme in großer Kürze zu charakterisieren, nicht etwa durch die
leidige Manier willkürlicher greller Beleuchtung, sondern mit historischer
Treue, und manchmal mit einer Genauigkeit, die man in so wenigen
Jacobi Nieuwenhuis : Elementa metaphysices historice et critice adumbrata. 27 S
Worten kaum suchen würde. Kein Wunder, wenn seine Zuhörer fühlen,
daß sie bei ihm viel lernen können; und daß also an der Metaphysik
nicht wenig zu lehren und zu lernen sein müsse. Überdies gibt er den
Philosophen ihr gebührendes Lob; so heißt Fichte magno vir ingenio
et honestate praestantissimus ; Schelling acerrimo praeditus ingenio,
elegantiae sensu et divina quadam imaginationis fingentis dote ornatus,
und von Hegeln sagt er: magnas acuminis et subtilitatis laudes adeptus
est, neque immerito. Auf diese Weise erscheint die Metaphysik nicht
sowohl von der Seite des Streits, sondern der Kraft und Anstrengung,
welche die größten Geister an sie gewendet haben. Und wenn in Holland
ea est philosophiae recentioris conditio, ut neglecta iaceat plerumque, quae
quippe apud quosque improbatur, et, nisi paucis, omnino non placet: so
wird auch dort weniger Irrtum eingewurzelt sein, gegen den man gleich
anfangs die Zuhörer zu schützen suchen müßte. Wir müssen uns ver-
sagen, aus dem sehr beredten § 8 de praestantia metaphysices etwas an-
zuführen, um für einen kurzen Bericht Raum zu behalten, wie ungefähr
der Verf. seine Zuhörer an die Geschichte der Metaphysik hinanführt.
Die Einteilung in reine Metaphysik, oder Ontologie, und angewandte,
welche Somatologie, Kosmologie, Psychologie und natürliche Theologie
enthalten soll, ist im wesentlichen bekannt, und läßt uns nur in Zweifel,
was für eine Somatologie das sein könne, die vor der Kosmologie soll
abgehandelt werden? Die Behauptung, daß den einzelnen Teilen der
Metaphysik eine anthropologische Untersuchung der Begriffe und Prinzipien
vorausgehen müsse, damit klar werde, was dem Menschen erkennbar, und
welches Vertrauen der Vernunft zu widmen sei: gibt uns kein Licht
darüber, wie der Verf. den Begriff des leiblichen Lebens zu fassen und
zu erklären gedenke. Dagegen könnte die Erwähnung der Anthropologie
auf Kantianismus deuten; allein auch hier würde man sich irren; denn
selbst da, wo die Kantische Lehre berührt wird, findet sich nichts von
Kategorien ; wohl aber in Ansehung der Zeit folgende sehr charakteristische
Stelle, die wir gleich hier anführen wollen: quid tempore sublato, sit ipsa
animi conscientia; quid sibi velit enunciatione, Deum esse, nisi cum notione
existentiae coniuncta sit temporis idea, perspici non potest. LTberhaupt
beschränkt sich das, was von Kant angeführt wird, fast ganz auf das
theoretische Nichtwissen und auf das Annehmen aus praktischen Glaubens-
gründen. Wir müssen uns demnach in Ansehung der Anthropologie ledig-
lich an die Erklärungen des Verfs. im § 6 halten, welche, um die eigenen
Worte anzuführen, so beginnen: Ex illa a Deo praecepta cognitione, ut
ipsa se mens agnoscat, coniunctamque cum divina mente se sentiat, tam-
quam e fönte uberrimo omnis manat sapientia; — ontologiae argumenta
pendent a legibus intelligentiae nostrae et rationis, notionibusque inde
oriundis atque confectis; cosmologiae argumenta visorum terminis migrant,
et notionibus nituntur ontologicis, ex mentis natura profectis, caet. Sollte
der Verf. wohl nicht bemerkt haben, wie bei dieser Ansicht eine Ab-
hängigkeit des Wissens von der menschlichen Natur herauskommt, wo-
durch gerade wie in der Kantischen Lehre die Frage aufgeregt wird, was
denn wohl unabhängig von der menschlichen Subjektivität, eigentlich und
an sich wahr sein möge? Würde er zufrieden sein, wenn man den Satz
i8*
2 76 J- F. Herbarts Rezensionen.
des Protagoras: Tidvrun' /Qi]/iidr((n' f^ih()oy uvdQionog, so verstände, daß der
Mensch überhaupt das Menschengeschlecht bedeute? Soviel wir bemerkt
haben, ist die Meinung des Verfs. dieser Subjektivität ganz abhold. Gleich-
wohl läuft die Überschrift: de cognitione humana, durch das ganze Buch.
Es ist also nicht, wie die Vorrede erwarten ließ, eine reine Geschichte;
sondern ungeachtet aller historischen Treue in den einzelnen Tatsachen,
doch nur eine Ansicht der Geschichte. Wovon diese Ansicht abhänge,
sagt uns genauer der § 8 des ersten Kapitels: conscientia sui est directa
sui ipsius perceptio et animadversio determinationum, quibus adstricta est
Tot' Ego existentia, qua continetur evidentia sui ipsius ut naturae existentis
et scientis. Huic igitur conscientae sui evidens involutum est certumque
perceptum: i. semet esse; 2. semet esse naturam, quae aliquid sentiat,
cognoscat, velit; 3. sibi esse corpus, quod subsistat in spatio; 4. huius
corporis quintuplici sensuum affectione oritur perceptio atque conscientia
rerum externarum; 5. eam autem a corpore secretam esse naturam, quae
sui ipsius, corporis sui, rerum externarum existentiae sibi conscia sit;
6. utriusque, existentiae atque scientiae evidentiam necessitudinis vinculo
cohaerere; 7. accedit horum omnium recordatio sive scientia identitatis
personarum et rerum quondam perceptarum. Hier müssen wir doch wohl
kurz hinzufügen, daß man in den deutschen Schulen nicht überall so
reich ist am unmittelbaren Wissen. Selbst die transzendentale Synthesis
im Ich wird nicht allgemein für echtes Gold angenommen; indessen wollen
wir den Verf. darüber hören. Conscientiae sui originem nemo quisquam
explicare potuerit. Prius enim, quam philosophari incipiamus, nobis iam
apparuit conscientia nostri, ut res facto (quonam, nescimus) posita, cuius
natales crassis latent occulti ac circumfusi tenebris. Freilich, wenn nichts
ergründet werden könnte, als nur das, was sich beobachten läßt. Es er-
hellet aber nun schon das, daß beim Verf. die vindiciae cognitionis imme-
diatae die Hauptsache sind.
Hier würden wir abbrechen, da die Grenzen dieser Blätter ohnehin
nicht erlauben, dem Verf. bis zu Ende zu folgen: wenn nicht ein Um-
stand zum Fortfahren aufforderte. Herr N. hat die Schriften des Unter-
zeichneten nicht nur häufig angeführt, und aus dessen Metaphysik einen
schätzbaren Auszug geliefert, sondern auch gegen dieselbe zum Teil jene
vindicias gerichtet, und zwar nicht auf polemische Weise, vielmehr so, daß
eine Erläuterung sich unmittelbar anknüpfen läßt. Er sagt : probe animad-
vertere velimus, nos minime seiungendam arbitrari mediatam Cognitionen!
ab immediata, sed, utramque coniungendam potius, ne coeco quodam sensu,
imaginatione, aut perceptione myslica, superstitione, fallaciis nos decipi patia-
mur; sed ut, evidentiis conscientiae nostri ad notionum lucem protrahendis,
et perceptione immediata cum argumentatione coniungenda, ad veram
certamque Cognitionen! perveniri et res tandem confici possit. Vortrefflich!
Da ist ein gemeinsamer Boden, auf welchem wir um so mehr suchen müssen
gemeinsam fortzuschreiten, weil der Verf. gegen die Kantianer bemerkt,
ex illorum sententia subiectivis phaenomenorum angustiis omnis inclusa
est cognitio humana. Woraus entstanden diese vermeinten angustiae?
Weil man sich zurückdrängen ließ, wo man hätte vordringen sollen. Kant
ließ seine Dinge an sich, nach denen er suchen sollte, im Zweifel stecken;
Jacobi Nieuwenhuis: Elementa metaphysices historice et critice adumbrata. 277
die Nachfolger bildeten sich ein, sie wären auf das Ich beschränkt. Da-
durch sind alle späteren Fehler veranlaßt worden. Was aber bedeuten
jene Widersprüche, in welche auch der Verf. sich scheint nicht finden zu
können, da er vom Unterzeichneten verlangt: ipse videat, num ea omnia,
quae repugnantia videntur in rebus obiectis atque in ipsa conscientia nostri,
re vera sint res repugnantes et contradictoriae. Das war die Überlegung,
die sich von jeher von selbst verstand. In den Dingen an sich können
keine Widersprüche sein; darum müssen sie aus den scheinbaren Dingen
weggeschafft werden. Hiermit ist nun alles erledigt, was der Verf. an
dieser Stelle vorträgt, wo er sich gegen den Unterzeichneten verteidigen
wollte; und es findet sich, daß hier gar keine Verteidigung nötig war,
weil Einverständnis vorhanden ist. Der Unterzeichnete darf also nun
seinerseits den Herrn Verf. ersuchen, nachzusehen, ob dies Einverständnis
nicht vielleicht noch weiter reicht, als er zu glauben scheint; und ob es
nicht endlich wohl selbst jene tenebras durchbrechen könnte, von denen Herr
N. sich beim Selbstbewußtsein eingeschlossen glaubte. Unterlassungsfehler
im Gebiete der Spekulation pflegen große Verwirrung anzurichten, die
sogleich verschwindet, wenn man das Geschäft nur rüstig angreift. Man
benutze die wahren Motive und Hebel der Spekulation, so wird sie von
der Stelle gehen; die Verlegenheit wird aufhören und der Streit wird
schweigen.
Am Ende des ausführlichen Auszuges aus der Metaphysik des Unter-
zeichneten findet sich das einzige Bedenken, wie das alles mit der Freiheit
des Willens zu vereinigen sei. Hr. N. ist aber nicht strenger Kantianer;
wozu also diese Besorgnis? Beliebe nur der Hr. Verf. sich selbst zu
fragen, was er von der Möglichkeit denke, daß Kirche und Schule auf den
Innern, sittlichen Wert der Menschen einwirken können? Die Kantische
transzendentale Freiheit ist das Gegenteil aller Einwirkung, also auch
solcher, von welcher Besserung und Erhebung ausgehen könnte. Dadurch
ist sie mit der Erfahrung und dem höchsten sittlichen Bedürfnis in einem
Streite, worin sie unvermeidlich unterliegen muß. Mit Recht erwähnt der
Verf. der sichern Fortschritte, welche man in der Astronomie, Physik,
Chemie, Physiologie, Geschichte, — in allen Wissenschaften gemacht hat,
an der Stelle, wo er das Ungenügende der Kantischen und Fichteschen
Lehre zeigen will. Mit eben dem Rechte behauptet sich das, was man
sittliche Bildung und Erziehung, im weitesten Sinne, nennen mag, gegen
den leeren Formalismus des kategorischen Imperativs, mit welchem in Kants
Kritik der praktischen Vernunft die dortige Freiheitslehre unauflöslich auf
eine Weise verbunden ist, die man viel zu sehr aus den Augen verlor,
als man den einen Teil dieser Verbindung fahren ließ, und doch den
andern behalten wollte. Vielleicht werden wir bald anderwärts, wo von
der sittlichen Bildsamkeit die Rede sein wird, Gelegenheit finden, den
Faden dieser Betrachtung wieder aufzunehmen.
2^8 J- F- Herbarts Rezensionen.
Strümpell, Dr., Erläuterungen zu Herbart's Philosophie, mit
Rücksicht auf die Berichte, Einwürfe und Mißverständnisse
ihrer Gegner. Erstes Heft. — Göttingen, in der Dieterich'schen
Buchhandlung, 1834.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1834, Nr. 174. SW. XII, S. 746.
Der Verf. dieser Schrift besitzt natürliches spekulatives Talent, welches
sich ohne Zweifel würde entwickelt haben, auch wenn er niemals etwas
vom Unterzeichneten gehört oder gelesen hätte. Zu dem Talente aber
ist ein so ernstliches Studium hinzugekommen, daß die Frage, ob der
Verf. seinen Gegenstand kenne? mit soviel Bestimmtheit darf bejaht
werden, als bei der Schwierigkeit, daß ein Mensch ganz in die Gedanken
des andern eingehe, irgend zu erwarten steht. Von dem Buche ist vor
allen Dingen zu bemerken, daß es nicht in der Absicht geschrieben worden,
die auf dem Titel bezeichnete Lehre jemandem aufzudringen ; dies ist viel-
mehr vermieden, und darin liegt die Entschuldigung, falls man die ge-
wöhnlichen Höflichkeiten, worin der Imperativ: lies mich, sich einzukleiden
pflegt, etwa vermissen sollte. Der Ton der Schrift ist durchaus ernst;
Erläuterungen über Einleitung in die Philosophie, über Metaphysik, und
über das Verhältnis jener zu dieser, werden hier nur denen angeboten, die
danach suchen. Den Gegnern kann das Buch nicht unerwartet kommen;
sie haben sich um die Wette beeifert, ein solches herauszufordern. Selbst
ein förmhches „Trotzbieten" ist nicht gespart; man findet in einer S. 179
angeführten Probe dies verbum activum, und zwar in prima persona pluralis.
Das war nicht das Mittel, um von der Hand des Unterzeichneten selbst
Antwort zu erlangen. Falls die Gegner klagen sollten, ihnen sei nicht
Genüge geschehen, so würden sie sich nur an den Verf. zu halten haben,
der durch die Aufschrift: erstes Heft, sich wenigstens vorbehalten, wenn
auch nicht versprochen hat, ein zweites zu liefern.
Griepenkerl, Professor Dr. F. K., Briefe an einen junge rn ge-
lehrten Freund über Philosophie, und insbesondere über
Herbart's Lehren. — Braunschweig, bei Meyer, 1832. 178 S.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1835, Nr. 69. SW. XIII, S. 619.
Als vor drittehalb Jahren in dieser Schrift Hr. G. für den Unter-
zeichneten das Wort nahm, da konnte manches noch auff'allend klingen,
was seitdem allmählich lauter ist gesagt worden. Briefe an einen Jüngern
Freund schienen dem Hrn. Verf. eine bequeme Form, um mit anständiger
Freimütigkeit über „den gegenwärtigen Zustand des wissenschaftlichen
Strebens in Deutschland" sich zu äußern. Dahin gehören Stellen wie
folgende : ,,man kann seit zwanzig Jahren sehr leicht ein Philosoph werden.
INIan studiert etwas den Platon, wenn auch nur aus einer Geschichte
der Philosophie, lieset Spinoza, merkt sich aus Kant nur die leere
Dr. F. K. Griepenkerl: Briefe an einen Jüngern gelehrten Freund über Philosophie. 279
Stelle, die Fichte und Schelling ausfüllen wollten, achtet auf die starken
Antriebe zur Spekulation, die in Fichtes Lehre liegen, nicht; läßt sich
dafür mehr von Schelling auf die genialen Flügel nehmen, schiebt zur
Seite oder postuliert, was sonst noch Schwierigkeit machen möchte, und
endlich sinnt man auf einige neue Einfälle, die einen recht wolkigen
ahnungsvollen Hintergrund bilden, — dann ist der Philosoph fertig."
Der eigentliche Zweck des Büchleins ist jedoch weder zu klagen, noch
zu glänzen, sondern zu nützen. Da nun in dieser Meinung der Hr.
Verf. seinem Jüngern Freunde die Schriften des Unterzeichneten zu emp-
fehlen für gut fand: so kam es darauf an, die Reihenfolge zu bestimmen,
worin sie zu lesen seien; ein Umstand, der bei philosophischen Schriften
wohl wichtiger sein dürfte, als irgendwo sonst im weiten Reiche der Lite-
ratur; daher zu wünschen wäre, der Hr. Verf. möchte sich auch über
die Werke anderer Schriftsteller verbreitet haben, wenigstens sofern die-
selben mit jenen zu verbinden seien. Er läßt nun seinen Freund mit
der Encyklopädie beginnen (welche, wie der Titel besagt, kurz, und aus
praktischen Gesichtspunkten entworfen ist). Darauf führt er ihn zu dem
Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie (welches die Motive und
Hilfsmittel theoretischer Untersuchung mehr hervorhebt); sodann soll die
praktische Philosophie folgen. Weiterhin verweilt der Verf. bei der Frage :
ob früher die Psychologie, oder die später erschienene Metaphysik an der
Reihe sei? und gibt der letztern den Vortritt. Über diese Anordnung
ließe sich nun manches sagen. Die Encyklopädie sollte wohl billig außer-
halb der Reihe bleiben; denn sie ist mehr populär als wissenschaftlich;
und setzt reife Männer voraus, die in Nebenstunden auf die Philosophie
zurückblicken wollen. Allein Hr. G. nimmt an, sein jüngerer Freund,
der eben von der Universität zurückkommt, habe versäumt philosophische
Vorlesungen zu hören. Das mag oft genug vorkommen; auch war es
dem Verf. bequem, eine offene Empfänglichkeit neben der schon ge-
wonnenen Gelehrsamkeit vorauszusetzen. Nun sollte die Trockenheit des
Lehrbuchs zur Einleitung, welches eben nur ein Lehrbuch ist, gemildert
werden; und dazu möchte freilich wohl die Encyklopädie das nächste,
obgleich nicht ganz passende, Hilfsmittel sein. Wir übergehen alle weiteren
Bedenklichkeiten; die Hauptsache ist, daß früher zur praktischen Philo-
sophie, als zur Metaphysik und Psychologie das eigentlich wissenschaftliche
Studium muß hingelenkt werden; darin stimmt mit Hrn. G. der Unter-
zeichnete vollkommen überein; indem er zugleich sich bescheidet, daß
besser als er selbst, ein Freund beurteilen könne, was in den angeführten
Schriften leichter, was schwerer sein möge, und wie am vorteilhaftesten
eins aufs andere vorbereiten könne. Mögen also diejenigen, welche einen
Wegweiser im Kreise jener Schriften (denen einige kleinere an den ge-
hörigen Orten eingeschaltet sind) etwa zu haben wünschen, mit gutem
Vertrauen die Anleitung benutzen, welche ihnen hier geboten wird; und
mögen andere, die keinen Wegweiser mehr brauchen, dagegen bemerken,
daß sie es nicht sind, die in diesen Briefen angeredet werden.
28o J- ^- Herbarts Rezensionen.
Herbart, Umriß pädagogischer Vorlesungen. — Göttingen 1835.
Selbstanzeige.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1835, Nr. 69. SW. X, S. XI.
Inwiefern durch diese Schrift die Pädagogik mit der Psychologie
verknüpft wird, kann darüber in der Kürze nicht mehr gesagt werden,
als daß die Psychologie des Verfs. während langjähriger pädagogischer
Praxis, und großenteils infolge der hierdurch erworbenen Erfahrung, ent-
standen, ausgearbeitet und niedergeschrieben ist. Aber die Pädagogik be-
ruhet nicht bloß auf der Psychologie, sondern auch auf der praktischen
Philosophie; diese letztere nun auf ästhetischen Urteilen über den Willen
zu gründen, wird von vielen für eine arge Ketzerei gehalten, weil sie sich
an den Worten stoßen; welche Worte gleichwohl unentbehrlich sind, um
die Sache ins Licht zu setzen. Doch mag gegenwärtiger Bericht an die
Worte eines andern geknüpft werden, der wahrscheinlich ebensowenig an
Pädagogik, als an die dem Verf. eigentümlichen Untersuchungen gedacht
hat. In dem Naturrecht von Droste-Hülshof liest man § 11: „das
allgemeine materiale Sittengesetz sei nach Zeugnis des Bewußtseins ver-
mittelt durch das, der praktischen Vernunft nohvendige Gefallen an der
Me7ischenwütde^ und das darajis hervorgehende Begehren derselben." Wenn
nun als zugestanden vorauszusetzen ist, daß Sittlichkeit den Zweck der
Erziehung bestimme: so folgt sogleich, daß die Zöglinge teils aus ihrer
eigenen praktischen Vernunft jenes notwendige Gefallen an der Menschen-
würde erzeugen sollen, und andernteils hieraus ihr Streben nach derselben
hervorgehen, nicht aber von einer transzendentalen Freiheit, oder vom
Schicksale erwartet werden müsse. Demgemäß sind in der angezeigten
Schrift zuerst die Systeme, welchen Fatalismus oder transzendentale Freiheit
wesentlich angehört, von der Pädagogik zurückgewiesen worden; in ihnen
hat der Begriflf der Bildsamkeit, worauf alle Erziehung beruhet, keinen
Platz; denn man kann das Fatum nicht beugen und die Freiheit nicht
befestigen. Hiervon handelt die Einleitung; es folgt alsdann die Be-
gründung der Pädagogik; und am Ende derselben werden die Haupt-
punkte, worauf es bei der sittlichen Bildung ankomme, angegeben: nämlich
I. Richtungen des kindlichen Willens, 2. ästhetische Urteile und deren
Mängel, 3. Bildung der Maximen, 4. Vereinigung der Maximen, 5. Ge-
brauch der vereinigten Maximen. Hiermit ist der Kantischen Schule
zwar nicht der kategorische Imperativ eingeräumt, mit welchem nach der
Hauptstelle bei Kant, den §§ 5 und 6 der Kritik der praktischen Ver-
nunft, die transzendentale Freiheit steht und fällt; weil, wie dort mit sehr
löblicher Präzision entwickelt wird, für den freien Willen die bloße gesetz-
gebende Form der Maximen allein der zureichende Bestimmungsgrund
sein soll, — welcher Übertreibung schon längst von allen Seiten der ge-
rechte Vorwurf eines leeren Formalismus ist gemacht worden. Aber
etwas anderes und für den Erzieher sehr Wichtiges, behauptet mit Kant
gemeinschaftlich der Verf.; nämlich daß die Moralität nicht bloß in
jenem „Gefallen an der Menschenwürde", also nicht bloß in ästhetischen
Urteilen (welches Wort hiermit klar sein wird) zu suchen sei; sondern
Herbart, Umriß pädagogischer Vorlesungen. 28 1
daß es dabei auch, und gar sehr, auf die Maximen, und zwar bestimmt
auf deren Bildung, Vereinigung und Gebrauch ankomme; dem praktischen
Erzieher aber sagt die Erfahrung, daß die Maximen der Zöglinge, d. h.
ihre allgemeinen Ansichten von dem, was im täglichen Leben, im Umgange
mit Menschen zu tun und zu lassen sei, öfter vom Nutzen und Schaden,
als vom Gefallen an der Menschenwürde auszugehen pflegen. Sie sagt
ihm ferner, daß ungeachtet aller guten Lehren die Zöglinge auf das, was
andere sagen, zu horchen und hiermit das eigene, vielleicht richtigere
Urteil zu verfälschen pflegen. Soll hier der Erzieher zu Hilfe kommen,
so muß er selbst sich nicht mit dem unbestimmten Begriffe von der
Menschenwürde begnügen, sondern er muß seinen Beifall und sein Miß-
fallen nach den verschiedenen praktischen Ideen auseinanderzusetzen und
die Folgen dieser Verschiedenheit in pädagogischer Hinsicht zu schätzen
wissen. Mit Rücksicht hierauf ist im zweiten Abschnitte die Übersicht
der allgemeinen Pädagogik nach den Altern der Zöglinge abgeteilt worden;
eine sonst unbequeme Form der Darstellung, weil dem Erzieher bei allem,
was er früher tut, das Spätere vorschweben muß, was er vorbereiten soll;
und beim Späteren das Frühere, was zur ferneren Benutzung war zurecht
gelegt worden. Allein der Verf. hatte nur nötig, sich auf seine ältere
Schrift über allgemeine Pädagogik zu beziehen, worin jenes Unbequeme
ist vermieden worden, indem dort die Darstellung nach den HauptbegrifFen
von demjenigen fortschreitet, was gleichzeitig und beständig in der Er-
ziehung will beachtet sein. Vollständige Deutlichkeit kann man in der
Pädagogik nur dadurch erreichen, daß man beide Formen der Darstellung
verbindet. Wird dies versäumt: so kann dadurch ein Mangel an Einsicht
veranlaßt werden, welcher zu dem Vorurteil führt, als wäre die frühere
Erziehung wichtiger als die spätere, oder umgekehrt die spätere wichtiger
als die frühere; alsdann ist kein Wunder, wenn einige Erzieher nur für
Kinder, andere nur für ältere Knaben oder Jünglinge taugen. Die Dar-
stellung nach Verschiedenheit der Alter hat den Vorteil, daß sie leichter
ins Spezielle eingeht; dies bezieht sich nicht bloß auf die, im dritten Ab-
schnitte enthaltenen, Grundzüge der Didaktik, sondern auch auf die
Lehre von der Zucht, insofern dadurch die Fehler der Zöglinge sollen
vermieden oder gebessert werden; wovon im vierten Abschnitte gehandelt
wird. Hier treten die zuvor erwähnten Hauptpunkte wieder hervor. Es
muß nämlich dem praktischen Erzieher, welchem das Unsittliche in un-
zähligen Gestalten begegnen kann, Hilfe geleistet werden, damit er das
Chaos seiner Erfahrungen soweit als möglich in Ordnung bringe; also
besonders, damit er die verschiedenen Gründe, in welchen das Fehler-
hafte seinen Sitz und Ursprung haben kann, nicht verwechsele. Geschieht
dies, so kann er nicht beurteilen, wie und inwieweit die vorhandenen
Übel noch heilbar sind; am wenigsten dann, wann mehrere Grundübel,
wie es oft genug vorkommt, sich ineinander verwickelt haben. So sind
(um nur das Leichteste anzuführen) bald die Maximen, welche der ältere
Knabe sich zu bilden anfängt, bloß durch nachteilige Gesellschaft ver-
dorben, und vielleicht nur vom Hörensagen aufgenommen ; bald sind sie die
Zeichen einer rohen sinnlichen Neigung; bald die Folgen von Einseitigkeit
in jenem ursprünglichen Urteil über Löbliches und Schändliches, welches
282 J- F. Herbarts Rezensionen.
hier eben deshalb ästhetisches Urteil ist genannt worden, weil es noch
lange kein vollständiges moralisches Urteil über den Wert einer Person
(wobei deren Maximen und die Befolgung derselben in Betracht kommen
würden), sondern nur die erste Grundlage dazu enthält, und für mögliche
Maximen den Inhalt darbietet. Solcher Einseitigkeiten des Urteils kann
es viele und verschiedene geben; der Erzieher aber würde sich sehr ver-
greifen, wenn er, um sie zu berichtigen, gegen die Sinnlichkeit des Zög-
lings ankämpfen, oder in Ansehung der Maximen die Kantische reine
Gesetzlichkeit predigen wollte. Ganz anders ist der Fall, wenn die Zög-
linge das Rechte sehen, aber sich selbst keine Pflichten auflegen, vielmehr
nur andere kritisieren wollen. Hier kommt es darauf an, die allgemeine
Gesetzlichkeit geltend zu machen, der jedermann sich fügen solle; und
müsse, wenn er nicht wolle. Wieder andere Fälle kommen vor, wenn
zwar die ursprünglichen Richtungen des Willens gutartig, auch die ästhe-
tischen Urteile richtig gebildet, überdies einzelne wahre Maximen an-
genommen und eingeprägt, aber durch irgend einen schwärmerischen Zug,
oder durch schwärmerische Lehren, die Verbindung und Anwendung der
Maximen verdorben ist; woraus die traurigsten, heutigestages nur zu sehr
bekannten Folgen entstehen können. Dies muß genügen, die angezeigte
Schrift einigermaßen zu charakterisieren; die Leser werden sich erinnern,
daß dabei teils auf den mündlichen Vortrag, teils auf Vergleichung mit
älteren Schriften des Verfs. ist gerechnet worden.
Kappe, Dr. Alexander, erstem Oberlehrer am Archigymnasio zu Soest,
Platons Erziehungslehre als Pädagogik für die Einzelnen
und als Staatspädagogik. Oder dessen practische Philo-
sophie. Aus den Quellen dargestellt. — Minden und Leipzig, 1833.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1835, Nr. ;o. SW. XIII, S. 620.
Platon wird heutigestages viel gelesen, aber verschieden gedeutet,
und nach Maßgabe der zu ihm mitgebrachten Ansichten als Autorität
benutzt. Während nun, was hierin richtig oder verfehlt sein möge, in
Zweifel schwebt, kann es als eine dankenswerte Vorarbeit für künftig mehr
gesicherten Gebrauch angesehen werden, wenn ein Gelehrter, der mit den
sämtlichen Schriften des Platon vertraut ist, aus denselben dasjenige
bequem zusammenordnet, was einerlei Hauptgegenstand betriflft. Dann
aber muß der Gegenstand bestimmt angegeben sein, damit man genau
wisse, was man in solcher Zusammenstellung zu suchen habe. Daß nun
der Titel des angezeigten Buches hierüber eine Frage veranlasse, ist dem
Verf. nicht entgangen; er bemerkt daher in der Vorrede: die praktische
Philosophie kenne Platon nicht in der neuern Gestaltung, in welcher
ihre beiden Hauptseiten als besondere isolierte Wissenschaften durch die
Reflexion immer mehr erstarrt seien, indem man von der Politik das
Naturrecht schied, und der Ethik durch die Kritik alle belebenden Ideen
Dr. A. Kappe: Piatons Erziehungslehre für die Einzelnen u. als Staatspädagogik. 283
nahm; so daß heutigestages die praktische Philosophie, ihres wahren
Prinzips und der ihr gebührenden Wirksamkeit beraubt, weit entfernt sei,
eine Erziehungslehre für die Einzelnen und des Staats heißen zu dürfen.
Hier sind verschiedene Fragepunkte vermischt. Der eine, ob die Ab-
sonderung des Naturrechts von der Moral zweckmäßig sei? Der andere,
ob mit der praktischen Philosophie, welche beide in sich begreift, die
Pädagogik unmittelbar oder vielmehr erst durch Benutzung der Psychologie
und als abgeleitete Wissenschaft in Verbindung trete? Der dritte, ob von
der Entscheidung dieser Fragen eine Darstellung platonischer Lehren ab-
hänge? Soll die letztere genügen, so muß sie ohne Zweifel dem Gedanken-
gange des Platon treu bleiben; also vom SUaiop zum Staate, und von
da zur Erziehungslehre übergehen, wenn man nicht etwa den Beweis
übernimmt, Platon habe anders gedacht, anders in seiner Republik dar-
gestellt. Der Weg des Verfs. beginnt dagegen bei der Erziehung vor der
Geburt, und geht von da zur eigentlichen Pädagogik; dann folgt eine
Andragogik, und den Schluß macht die Staatspädagogik. Seine Zitate
sind anfangs meistens aus dem Werke über die Gesetze entnommen; da-
zwischen kommen andere aus dem Timäus, dem Sophisten, dem Phädrus,
dem Theätet; und nur selten erscheint auf den ersten Blättern die Re-
publik. Das Bedenkliche dieser Art von „musivischer Arbeit" scheint
uns der Verf. nicht ganz empfunden zu haben, obgleich er in der Vor-
rede sein Bestreben bezeugt, das Material so zu benutzen, daß dabei
niemals der eigentümliche, durch die platonische Gesprächs-Untersuchung
bestimmte Sinn verrückt werde. Es möchte doch gut gewesen sein, über
den verschiedenen Charakter der genannten platonischen Werke, besonders
über den Unterschied des Werks über die Gesetze von der Republik,
etwas vorauszuschicken. Übrigens läßt er im Texte den Platon selbst
allein reden, so daß die übersetzten Stellen nur durch ganz kurze Über-
gangsworte in Verbindung gesetzt werden; es sind aber lange Noten bei-
gefügt, in welchen er sich besonders häufig auf Schriften von J. J. Wagner,
zuweilen auch auf Jacobs u. a. m. bezieht. An Fichtes Reden an die
deutsche Nation scheint er nicht gedacht zu haben. Dagegen ist Aristo-
teles oftmals verglichen, was unstreitig sehr zweckmäßig war. Die
platonischen Bestimmungen über Musik und Gymnastik usw. sind zu be-
kannt, um hier darüber zu berichten; man könnte aber fragen, wer die
Andragogen (nach Analogie der Pädagogen) sein sollen, und welcher Grad
von Unmündigkeit den Männern dadurch angedroht werde? Da nun über-
dies der Verf. (laut der Vorrede) hier allein von seinem Standpunkte aus
die Gliederung vorgenommen hat, so zeigen wir kurz an, daß in diesem
Teile von Selbsterkenntnis, Charakterbildung, Berufsbildung (des Arztes,
Kriegers, Lehrers, Staatsmanns, Gesetzgebers und Herrschers), endlich von
der Bildung des Mannes zum Familienvater auf eine Weise gesprochen
wird, die allerdings mehr an Moral als an Pädagogik erinnert, — und
wodurch wir uns veranlaßt finden, an Schleiermachers Kritik der Sitten-
lehre zu erinnern, welche darauf aufmerksam machen kann, was alles zu
beachten ist, wenn man es einmal unternimmt, Platons praktische Philo-
sophie auf solche Weise darzustellen, daß ihre charakteristischen Unterschiede
von andern Systemen deutlich heraustreten. Kenntnis des Naturrechts
2^A J. F. Herbarts Rezensionen.
wollen wir für diesmal schon nicht verlangen, sondern uns an die Päda-
gogik halten. Hier nun ist beim Platon offenbar die Staatspädagogik
das Wesentliche, welche beim Verf. das Unglück hat, ganz am Ende zu
stehen. So bleibt denn eine Zeitlang im Dunkeln, was doch zuletzt ans
Licht treten muß, nämlich daß Sklaverei und Zurücksetzung des weib-
lichen Geschlechts bei den Griechen das ganze Familienleben aus seiner
rechten Lage brachte; daß hierdurch die Erziehung, welche zunächst An-
gelegenheit der Familien ist, und stets bleiben muß, in Gefahr geriet,
als bloßes INIittel für die bürgerlichen Verhältnisse betrachtet zu werden;
womit noch zu verbinden ist, daß die freigebornen Kinder nicht etwa wie
bei uns Griechisch, Latein usw. in der Schule zu lernen brauchten, daß
es daher eine ernsthafte Frage werden konnte, wieviel Jahre lang die
Kinder Musik, und in welchen Tonarten lernen sollten — und was der-
gleichen Dinge mehr sind, die, wenn sie ja zu den heutigen Beschäftigungen
der Jugend irgend ein bemerkbares Verhältnis haben, wenigstens einer
völlig veränderten Auffassung unterliegen, wodurch die Angaben Platons
jemehr man sie ins Einzelne verfolgt, um desto mehr ihre praktische Be-
deutung für uns verlieren. Oder meint man (um nur ein Beispiel an-
zuführen), daß da, wo christlicher Religionsunterricht in die Gemüter ein-
dringt, die Besorgnis des Platox wegen der Wirkung des Homer und
anderen Dichter noch in Betracht komme? Wer im Ernste den Homer
für die heutige Jugend fürchtet, der lasse nur daneben die Märchen der
Tausend und einen Nacht, oder MusÄus Volksmärchen lesen; und die
Erfahrung wird ihm zeigen, wie leicht in dem heutigen Gedränge dessen,
was sich der Jugend darbietet, die verschiedenartigen Eindrücke einander
gegenseitig auslöschen. Und Platon, der es für eine Staatsangelegenheit
von größter Wichtigkeit hielt, daß nichts an der Musik und Gymnastik
verändert werde, was würde er sagen, wenn er bei uns in einem Lese-
kabinett die französischen und englischen Zeitungen neben den deutschen
lieaen sähe? — Daß der Verf. seinen Gegenstand mit Vorliebe behandelt
hat, ist ihm nicht zu verdenken; auch hat er recht, S. 42 zu sagen.
Platon konnte gemäß seiner Einsicht in das Wesen des Staats und in
dessen Verhältnis zu den Einzelnen, eine Erziehung, welche der Willkür
der Privaten überlassen gewesen wäre, durchaus nicht gestatten. Wir
aber dürfen nicht vergessen, daß unsere Staaten keine griechischen Städte
sind, und unser Gesichtskreis nicht in den Schranken des griechischen
Altertums eingeschlossen ist. Auch kann die Lehre von den Trink-
gelagen (§ 158) nebst dem, was zunächst vorhergeht (§ 152 usw.) heutiges-
tages recht füglich einer platonischen Pädagogik überlassen werden; besser
aber möchte es gewesen sein, selbst hier solche Gegenstände zu ver-
meiden; wie denn überhaupt das Buch durch Abkürzungen bedeutend
hätte gewinnen können.
J. P. Romang: Über Willensfreiheit und Determinismus. 28;
Romang, J. P., Über Willensfreiheit und Determinismus. —
Bern 1835.
Zur Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens. Briefe
an Herrn Professor Griepenkerl von Herbart. — Göttingen, in
der Dieterich'schen Buchhandlung, 1836. XXIV u. 285 S. Oct.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1836, Nr, 37. SW. IX, S. IX.
Von der ersten dieser Schriften kann hier nicht füglich ausführlicher
Bericht erstattet werden, denn sie hat Anlaß gegeben, daß ihr die zweite,
freilich kürzere und auf Briefe an einen gelehrten Freund beschränkte,
zur Seite gestellt wurde. Hierin liegt indessen schon die Anerkennung,
daß Hrn. Romanos Buch nicht zu den unbedeutenden gehört, daß es viel-
mehr Aufmerksamkeit zu erregen geeignet ist; die es wahrscheinlich zunächst
unter den zahlreichen Anhängern Schleiermachers finden wird. Auf S. 72
dieses Buches nun liest man wörtlich folgendes: „Noch heute dient die
Berufung auf Spinoza einer Behauptung bei den meisten nicht sehr zur
Empfehlung. Andere, wie z. B. Leibniz, dieser hohe Ruhm des deutschen
Namens, haben sich in ihrer Spekulation auf Sätze führen lassen, welche
keine von dem spinozistischen Determinismus wesentlich verschiedene Deutung
zu erlauben scheinen, obgleich sie hartnäckig versichern, in Ansehung der
sittlichen Dinge zu einem solchen Verständnis nicht berechtigt zu haben."
Von Leibnizen wird nun ein Übergang zu einer „neuern Philosophie"
gemacht, welche Hr. R. , wie es scheint, hinreichend daran zu kennen
glaubt, daß darin die sogenannte transzendentale Freiheit bestritten wird.
Hätte er sich um den praktischen Teil dieser Philosophie bekümmert, so
würde er unmittelbar vor Augen gesehen haben, daß derselbe auf die
praeiudicia de bono et malo, merito et peccato, laude et vituperio, ordine
et confusione, pulchritudine et deformitate, gebaut ist, welche Spinoza,
recht wie sich's gebührt, alle mit einer Hand zusammenfaßt, aber nur,
um sie alle auf einmal aus seiner Ethik herauszuwerfen, wie er dies in
dem Appendix zum Abschnitte de Deo ausführlich zeigt. Wenn nun
jemand seinen Deutungen mehr Gewicht beilegt, als den entgegenstehenden
Versicherungen anderer: so muß er darauf gefaßt sein, daß unumwimdene
Erklärungen erfolgen, die er nach Belieben hartnäckig nennen mag. So
ist denn in den angezeigten Briefen ohne Umstände von der Lehre des
Spinoza gesagt, daß sie, als Ethik betrachtet, unter der Kritik schlecht ist.
Ein stärkeres Urteil von Stäudlin ist beigefügt, welches wörtlich dahin
lautet: „daß Spinoza alle sittlichen Ideen, Urteile und Gefühle des INIenschen
verwirrt, verkehrt, verdreht und verfälscht; und zwar auf eine Art, welche
dem innersten moralischen Bewußtsein widerspricht und es empört.'' Der
ganze Zusammenhang dieser Stelle in Stäudlins Geschichte der Moral-
philosophie S. 772 verdient nachgelesen zu werden, und es ist zu be-
merken, daß dies Buch erst im Jahre 1822 herauskam, also zu einer
Zeit, wo der S. 102 erwähnte Versuch, den Spinozismus in die Sitten-
lehre einzuführen, schon längst bekannt war. Noch härter urteilt Henrici,
der bei Spinoza „determinierten Antimoralismus" findet, und ihn mit dem,
286 J- F. Herbarts Rezensionen.
aus Platons Gorgias bekannten Kallikles zusammenstellt. Dies Urteil
hat indessen der Verf. der angezeigten Briefe nicht zu dem seinigen ge-
macht. Es ist zwar ganz natürlich, daß durch die offene Behauptung des
Spinoza: das Recht liege in der Gewalt, ein Rechtsgelehrter noch ent-
schiedener empört wird, als ein Theologe, welchen manche sehr bekannte
Spinozische Lehrsätze ansprechen hönnen. Allein man muß die Lehre
von der Person unterscheiden; und wo die Fehler so klar in der Lehre
liegen, wie bei Spinoza, da ist man nicht befugt, den verdienten Tadel
derselben auf das persönliche Wollen auszudehnen. Damit nun auch hier
das audiatur et altera pars nicht vermißt werde, können folgende Worte
des Spinoza selbst hinreichen, welche am Ende des dritten Kapitels im
tractatus politicus zur Schutzwehr gegen die zu erwartenden Einwürfe stehen :
monere volo, me haec omnia ex naturae humanae quomodocunque consi-
deratae necessitate demonstrasse, nempe ex universali omnium hominum
conatu sese conservandi. Daß man eine solche Sprache dem 17. Jahr-
hundert verzeihen muß, ist bekannt genug, man braucht nur an Grotius,
HoBBES und Pufendorf zu denken. Wer aber die nämliche Sprache
im 19. Jahrhundert wiederholt, der hüte sich vor den Einsprüchen Kants,
dessen Grundlegung zur Sittenlehre zwar auf transzendentale Freiheit hin-
führt, aber nicht davon ausgeht. Der Hauptgedanke Kants ist, daß die
Sittenlehre keine Güterlehre sein kann, wie man auch eine solche drehen
und wenden möge. Und dies ist vollkommen richtig; es ist ebenso gewiß,
als es einen Unterschied des guten und bösen Willens gibt. Wo irgend ein
solcher Unterschied hervortritt, da ist der Wille selbst das Objekt einer
Kritik; und dies Objekt darf nicht mit den Objekten des Willens (den
Gütern und Übeln) verwechselt werden. Daraus schloß Kant, noch immer
richtig, irgend eine Form müsste den Bestimmungsgrund des sittlichen
Willens ausmachen. Und soweit kann man ihm folgen, ohne mit ihm
nach der logischen Form der Allgemeinheit zu greifen, woran von ihm
erst der kategorische Imperativ, an diesen aber die vorerwähnte Freiheits-
lehre geknüpft wurde. Wer auf diesen Zusammenhang der Kantischen
Lehre nicht achtet, der wird immer Gefahr laufen, sich in den darüber
entstandenen Streitigkeiten zu verwickeln und die Mühe seines Nach-
denkens darüber zu verHeren.
Hartenstein, G-, außerord. Professor der Philosophie an der Universität
zu Leipzig, Die Probleme und Grundlehren der allgemeinen
Metaphysik. — Leipzig, bei Brockhaus, 1836. XXXII u. 537 S.
Oct.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1835, Nr. 108. SW. XU, S. 747.
Der Bericht über dies schätzbare Buch soll zum Teil mit den eigenen
Worten des Verfs. abgestattet werden. Derselbe hat zunächst im Kreise
seiner akademischen Wirksamkeit das Bedürfnis eines Buches gefühlt,
welches jungen Männern, in denen ihm gelang einen ernsten Unter-
G. Hartenstein: Die Probleme und Grundlehren der allgemeinen Metaphysik. 287
suchungsgeist anzuregen, als ein ausreichendes und zugängliches Hilfsmittel
in die Hand gegeben werden könnte. Daraus entstand der Plan, die
Darstellung der metaphysischen Probleme in einer solchen Weise mit der
Entwicklung der aus ihnen hervorgehenden Lehrsätze zu verbinden, daß
der ganze Zusammenhang der theoretischen Wissenschaft bis zu dem
Punkte, wo die allgemeinen Untersuchungen in das Spezielle der Natur-
philosophie und Psychologie übergehen, mit vollkommener Klarheit und
Bestimmtheit vor Augen läge. Er wollte kein Lehrbuch schreiben; hatte
aber doch vorzugsweise die Lernenden im Auge; und in philosophischen
Dingen ist jeder ein Lernender, der noch zwischen divergierenden
Meinungen schwankt, und keine sicheren Ruhepunkte seines Denkens,
keine wissenschaftliche Überzeugung gewonnen hat. Er strebte nach
Deutlichkeit und Verständlichkeit; doch war nichts weniger seine Absicht,
als etwa eine sogenannte populäre Darstellung der Wissenschaft zu geben,
denn Metaphysik läßt sich ebensowenig popularisieren als Mathematik.
Töricht ist, Schwierigkeiten zu machen, wo keine sind; aber diejenigen
Schwierigkeiten, die in der Sache liegen, — und deren sind gerade hier
nicht wenige! — dürfen nicht beiseite geschoben, sondern müssen ins
vollste Lichte gesetzt werden, um die Untersuchung auch nur in Gang
zu bringen. Die natürlichen Anfänge derselben liegen in der allgemeinen,
jedem Individuum zu aller Zeit sich aufdringenden Erfahrung. Wird da-
gegen die Geschichte der Philosophie als die Eingangspforte zur Wissen-
schaft gewählt, so findet man sich von einem Strome widerstreitender
Meinungen ergriffen. Philosophie soll sich aber nicht traditionell fort-
pflanzen. Die ersten Versuche des spekulativen Denkens müssen unab-
hängig von schon ausgebildeten philosophischen Sätzen entstanden sein;
herausgetrieben, ja herausgestoßen aus der gemeinen Ansicht der Dinge
müssen sich die ersten Denker gefühlt haben; und mit der nämlichen
Selbständigkeit, nur vollständiger und umfassender, muß sich noch heute
in der Beschaffenheit der gemeinen Ansicht der Dinge jedem das Be-
dürfnis der Philosophie aufdringen, wie einst einem Anaximander, Par-
MENIDES und Platox. Um diese Unbefangenheit der Untersuchung zu
sichern, ist selbst im propädeutischen Teile nur sehr wenig Rücksicht auf
die Geschichte der Philosophie genommen worden; die Geschichte einer
Wissenschaft ist nicht sie selbst; so geneigt man auch jetzt ist, hier jeden
festeyi Unterschied ineinander fließen zu lassen, und sogar die INIöglichkeit
philosophischer Irrtümer zu leugnen, indem man die Sphäre, wo Wahrheit
und Irrtum einander noch entgegengesetzt sind, ebenso als eine niedere
Entwicklungsstufe des erkennenden Geistes betrachtet, als die, wo Tugend
und Laster unvereinbar einander gegenüber stehen. In den sublimen
Regionen der — Zeitphilosophie verschmilzt das alles.
Man sieht schon aus dem Gesagten, daß der Verf. sic"h in die
subhmen Regionen nicht hat erheben wollen, obgleich ihm dieselben sehr
wohl bekannt sind. Er will nicht von vornherein Einbildungen an die
Stelle der Tatsachen setzen; will nicht in die Luft bauen. Der Anfang
der Untersuchung liegt nirgends anders als im Gegebenen. Eine Hin-
weisung auf den Zwang, mit welchem sich uns das Gegebene ankündigt,
würde in früheren Zeiten nicht nötig gewesen sein; in unserer Zeit, seit
2 88 J- F. Herbarts Rezensionen.
man sich dessen, was niemals Gegenstand einer Erfahrung werden kann,
durch innere Anschauung zu bemächtigen sich überredet hat, setzt man
alles andere eher voraus, als man sich für verpflichtet achtet, der Auf-
forderung Kants Genüge zu leisten: „man solle sich wenigstens darüber
rechtfertigen, wie und vermittelst welcher Erleuchtung man sich denn ge-
traue, alle Erfahrung durch die Macht bloßer Ideen zu überfliegen, und
wie man es anfangen wolle, seine Erkenntnis ganz und gar a priori zu er-
weitern." Doch der Verf. hat sich gegen die Zeitphilosophie noch stärker
ausgesprochen. Er sagt: „Wenn man fortfährt, die Vernunft für ein Orakel
zu halten, dessen Aussprüche der Verstand nicht zu dolmetschen, dessen
Ansprüche er nicht zu fassen vermöge, so braucht es keine Verwunderung zu
erregen, wenn die Philosophie sich zu Zeiten so unverständig wie möglich
benommen hat, um nur einige Ansprüche auf Vernunft zu dokumentieren."
Hierbei wollen wir uns jedoch erinnern, daß dies keineswegs allgemein
ist. Manche, die jener Zeitphilosophie angehören, haben gar wohl gewußt,
daß man mit der Negation des Verstandes nicht weit kommt; und haben
sich wohl gehütet, sich, nach S. loo des „bacchantischen Taumels, an dem
kein Glied 7iiclit trunken sei", zu rühmen. Sie sahen nur nicht, und wußten
nicht und wollten nicht glauben, daß und wie man aus dem Widersprechenden
der gegebenen Erfahrungsbegriffe herausgehen, und eben damit den Weg
zur Erklärung der Erfahrung antreten könne. Nur mit diesen wird ohne
Zweifel Hr. Prof. Hartenstein sich ferner beschäftigen wollen, inwiefern
er überhaupt die erwähnte Zeitphilosophie zu berücksichtigen für gut findet.
Übrigens hat er die Untersuchungen des Unterzeichneten benutzt; dies
ist von ihm selbst nicht bloß in der Vorrede angezeigt, sondern mit einer
solchen Pünktlichkeit im ganzen Buche nachgewiesen, daß es auch hier
nicht passend wäre, darüber zu schweigen. Vielmehr kann es Über-
legungen veranlassen, die wenigstens indirekt mögen angedeutet werden.
Versetzt man sich in Gedanken in das letzte Dezennium des vorigen Jahr-
hunderts und nimmt man an, Krug und Fries wären früher aufgetreten
als Reinhold und Fichte: so erhellet leicht, daß die große Genauigkeit,
womit jene beiden die Lehre Kants bearbeitet haben, auf Reinhold sehr
vorteilhaft würde gewirkt, und ihn zu einer Behutsamkeit würde bewogen
haben, der auch Fichte sich nicht hätte entziehen können. Wie weit
nun auch der Abstand zwischen dort und hier sein möge: Hr. Professor
Hartenstein hat ein Beispiel von Genauigkeit gegeben, welches öffent-
lich zu verdanken der Unterzeichnete nicht umhin kann. Mißverständnisse
pflegen bei solcher Genauigkeit nicht vorzukommen; bei der Durchsicht
des Buches ist dergleichen nicht bemerkt worden; dagegen tritt überall
eine Freiheit der Behandlung hervor, die vom ängstlichen Anklammern
an die Worte eines andern das gerade Gegenteil ist. Daß in der schon
bekannten Ordnung Methodologie, Ontologie, Synechologie und Eidolologie,
als die Abschnitte der allgemeinen Metaphysik, sind abgehandelt worden,
dies ist die Folge der nämlichen Notwendigkeit, worin sich der Unter-
zeichnete selbst befand, da er im Jahre 1828 den zweiten Teil seiner
allgemeinen Metaphysik genau nach demselben Plane ausführen mußte,
welchen er sich in den Hauptpunkten der Metaphysik, die im Jahre 1808
herauskamen, schon vorgezeichnet hatte. Wohl möchte es ganz gut gelautet
M. W. Drobisch: Neue Darstellung der Logik nach ihren einfachsten Verhältnissen. 289
haben, man sei in zwanzig Jahren viel weiter gekommen, man habe in-
folge der inzwischen ausgearbeiteten Psychologie und Naturphilosophie
ganz neue Aufschlüsse über die Metaphysik gewonnen, man wolle sich
mit den Fortschritten der Zeit ins Gleichgewicht setzen und dergleichen
mehr. Das alles ließ sich nicht sagen; und Hr. H. hat auch jetzt nicht
möglich gefunden, etwas ähnliches zu sagen. Dagegen hat er das Zu-
fällige beseitigt, was darin liegt, daß erst die Hauptpunkte der Metaphysik,
dann das Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, hierauf die kleinere
und später die größere Psychologie;, zuletzt aber die allgemeine Meta-
physik vom Unterzeichneten herausgegeben waren. Hr, H. wollte in
einem Buche von bequemem Umfange, nicht überladen mit Gelehrsam-
keit und noch weniger mit Polemik, jedoch versehen mit den nötigen
Hinweisungen sowohl auf alte als auf neuere Philosophie, in faßlichem
Vortrage alles das vereinigen, worauf der Titel Metaphysik, dem Leser
Anspruch geben könnte. Er vereinigte demnach die Methodologie mit
der Propädeutik, gab der Eidolologie zurück was ihr in jenen Schriften
die Psychologie vorweggenommen hatte und ließ die Naturphilosophie weg.
Daß es nun dennoch Gründe gibt, früher eine Propädeutik vorzutragen,
die Methodologie der Wissenschaft selbst vorzubehalten, die Psychologie
abgesondert zu stellen und dagegen die Anfänge der Naturphilosophie mit
der allgemeinen Metaphysik zu verbinden: dies braucht hiernicht erörtert
zu werden; denn auch jene Zusammenstellung hat ihre guten Gründe,
besonders da, wo die Rücksichten des akademischen Vortrags wegfallen.
Und schweriich hätte sich, nach der Meinung des Unterzeichneten, der Plan
des Verfs. besser ausführen lassen, als so, wie er es wirklich geleistet hat.
Drobisch, M. W., Prof. an der Universität zu Leipzig, Neue Dar-
stellung der Logik nach ihren einfachsten Verhältnissen.
Nebst einem logisch-mathematischen Anhange. — Leipzig,
bei Leopold Voss, 1836. XVI u. 167 S. Oct.
Gedruckt in: Göttinger gel. Anz. 1836, Nr. 128. SW. XII, S. 750.
Bekanntlich war Kant der Meinung, die Logik habe seit Aristo-
teles keinen Schritt rückwärts getan, aber auch keinen vorwärts tun
können. An dem letzten Teile des Satzes möchte man beim Anblicke
dieser zwar kleinen, aber äußerst gehaltreichen Schrift wohl zweifeln. Sie
hat einen logisch-mathematischen Anhang; schon dieser einzige Umstand
kann bemerklich machen, die Logik müsse doch wohl nicht so ganz ab-
geschlossen und isoliert dastehen, als ob sie keiner Verbindungen fähig
sei, wodurch sie selbst einen Zuwachs eriangen würde. Aber auch ab-
gesehen hiervon hat sie von den scharfen Augen eines Mathematikers
eine solche Musterung sich müssen gefallen lassen, daß schweriich ein
Fleckchen in ihrem Bezirke übrig geblieben ist, welches nicht w^äre von
neuem besichtigt worden. Gleichwohl ist der Hr. Verf. von Überschätzung
Herbarts Werke. XIII. "9
2QO J. F. Herbarts Rezensionen.
der Logik sehr weit entfernt. Er sagt in der Vorrede: „Man rühmt die
Logik wie einen tüchtigen Elementarlehrer, der zwar nur einen beschränkten
Gesichtskreis übersieht, aber darin vollkommen zu Hause ist, und über-
dies Zucht und Ordnung zu halten versteht. Und man hat gar nicht
unrecht daran. Die Logik ist viel zu arm, um auf unmittelbare Weise
zur Erweiterung menschlicher Wissenschaft etwas Wesentliches beitragen
zu können. Sie ist bloßer Formalismus, — aber: iver sein Denken voll-
ständig auszubilden beabsichtigt, der kann eine exakte Kenntnis dieser Formen
nicht entbehren, so ivenig ivie sich der Maler dem Studium der Anatomie,
der Komponist dem Studium des Generalbasses e7itziehen darf." Wir können
hinzufügen : die Verächter der Logik richten nicht mehr aus, als die Ver-
ächter der Grammatik. Beide bewirken bloß, daß diejenigen Männer,
welche die Unentbehrlichkeit dieser Studien kennen, sich die Mühe nehmen,
durch verbesserte Darstellungen der Geringschätzung zu begegnen, welche,
wenn sie weiter um sich griffe, gemeinschädlich werden würde.
Die Einrichtung des Buches ist zwar im ganzen die gewöhnliche;
nach der Einleitung (über das Verhältnis der Logik zu den andern Teilen
der Philosophie, worüber der Hr. Verf. mit dem Unterzeichneten durch-
gehends übereinstiro.mt) folgen vier Abschnitte über Begriffe, Urteile,
Schlüsse und systematische Formen; im letztern wird von Erklärungen,
Einteilungen und Beweisen gehandelt. Im einzelnen aber wird vielleicht
jeder bisherige Logiker bedeutende Abweichungen von seiner gewohnten
Darstellungsweise finden, deren Gewicht jedoch schwerlich von allen gleich-
mäßig möchte geschätzt werden. Es ist zu bedauern, daß der Verf. nicht
mehr von den Beispielen und Anwendungen, die ihm ohne Zweifel vor-
schwebten, mitgeteilt hat; durch solche möchte z. B. gleich die Unter-
scheidung von Aggregation , Separation , Determination und Abstraktion
(welche mit Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division vergHchen
werden) mehr Licht erhalten haben, und die Bemerkung: es sei nicht
genau richtig, den Inhalt eines Begriffs die Summe seiner Merkmale zu
nennen, vor der Frage geschützt sein, ob es überall möglich sei, die Ver-
bindung dieser Merkmale in der Logik für alle Begriffe gültig zu be-
stimmen? Daß es Fälle gibt, wo sehr notwendig die Merkmale eines Be-
griffs als dessen Faktoren betrachtet werden, ist gewiß; dennoch sind die
Merkmale des Sollens und Müssens im Begriffe eines Staats anders ver-
bunden als Geschwindigkeit und Zeit in der Bewegung; und Asymptoten,
Achsen, Brennpunkte der Hyperbel anders als die praktischen Ideen im
Begriffe der Tugend. Übrigens hat der Hr. Verf. wohl nur sagen wollen,
daß wenn ein Merkmal eines Begriffs = o gesetzt wird, der Begriff ver-
schwindet (so bei Schlüssen modo toUente), welches allerdings der Multi-
plikation entspricht, nicht aber der Addition. Sollte sich indessen durch
Sonderung verschiedener Pralle etwas Näheres über die möglichen Ver-
bindungen der Merkmale in den Begriffen festsetzen lassen, so würde
dies zu dem Wichtigsten gehören, was die Logik darbringen könnte, und
wir erwähnen dieses Gegenstandes absichtlich hier, weil Hr. Prof. Drobisch
einer von den wenigen ist, die Umsicht genug in den verschiedensten
Zweigen der Wissenschaften besitzen, um mit einer solchen Frage sich
überall nur beschäftigen zu können. Es wäre am Ende wohl möglich,
M. W. Drobisch: Neue Darstellung der Logik nacli ihren einfachsten Verhältnissen. 29 1
daß die Logik darum keine Fortschritte macht, weil Männer von dem
universellen Geiste des Aristoteles so äußerst selten sind. Schwärmereien
über das Universum haben wir genug; aber diese führen bekanntlich nicht
zur Logik.
Verwandt mit dem vorigen ist es, daß der Verf. in der Logik auch
der Beziehungen erwähnt, welches der Unterzeichnete nicht gewagt hatte.
Hier hilft ein kurzes Beispiel zur Klarheit. „Verbinde ich mit dem Be-
griffe des gleichschenkligen Dreiecks den der Rechtwinkligkeit, so deter-
miniere, beschränke ich den erstem; steige von der Gattung zur Art herab
und bilde hiermit einen neuen Begriff". Bezeichne ich dagegen das gleich-
seitige Dreieck als gleichwinklig, so findet durchaus nichts Ähnliches statt:
denn das gleichwinklige und das gleichseitige Dreieck ist nicht mehr
und nicht weniger als das gleichseitige ohne den Zusatz der Gleich-
winkligkeit." Solcher Beispiele hätten wir viele gewünscht. Der Verf.
nennt die Synthesis eine Tatsache, welchen die Logik nicht unberücksichtigt
lassen dürfe. Das ist wirklich so; und nicht mehr noch minder ist auch
der konträre Gegensatz, welcher von jeher in der Logik behandelt wurde,
eine Tatsache. Die P'rage ist, ob man dergleichen im Gebiete der Be-
griff'e vorkommende Tatsache nicht vollständiger, als bisher, in der Logik
werde verzeichnen können? — Als Folge aus dem Angegebenen findet
sich nun schon (§ 30) ein mittelbarer konträrer Gegensatz, dessen man
sonst auch nicht zu erwähnen pflegte; desgleichen die Unterscheidung
des Widerstreits vom eigentlichen Widerspruch; wozu die Beispiele: gleich-
seitiges und zugleich rechtwinkliges Dreieck, durchsichtiger Geist, an-
geführt sind; und die Unterscheidung der Einstimmung von der Verein-
barkeit, indem jene dem Decken zweier Figuren, diese dem Aneinander-
passen verglichen wird.
Der Kürze wegen übergehen wir den Gebrauch, welchen der Verf.
von der Bemerkung des Unterzeichneten über hypothetische und kate-
gorische Urteile gemacht hat; und erwähnen nur im Vorbeigehen, daß
zwar nicht die Ansicht, aber der Ausdruck über Existentialsätze sich doch
etwas verändern möchte, wenn man bei der Formel A = A die Be-
trachtung des § 59 nicht abbräche, sondern anfinge. Denn dieser Satz
hat noch volle Beschränkung des Prädikats auf das ihm gleiche Subjekt;
gerade der Umstand aber, daß von nun an, falls man den Inhalt des
Subjekts vermindert, eine Quantitätsbeschränkung in die Form des Urteils
eintritt, erinnert daran, daß der Begriff" des Subjekts, für sich genommen,
diese Beschränkung nicht mehr so auszuüben vermag, wie verlangt wird.
Dabei darf wohl auch an die letzte Zeile der Anmerkung zum § 41 er-
innert werden. — Doch wir müssen den Raum sparen und vieles über-
gehen, um nicht gerade in Ansehung des "Wichtigsten unsern Bericht ab-
kürzen zu müssen.
Das Ausgezeichnetste dieser Logik nämlich besteht in zweien, mit
ganz ungewohnter Sorgfalt ausgeführten Untersuchungen; zu welchen zwar
der Unterzeichnete vor vielen Jahren Anlaß gegeben hatte, aber ohne
eine solche Entwicklung zu erwarten. Eine davon betrifft die Klassifikationen,
die andere die Kettenschlüsse. Auch hier mit der Theorie fast allein
beschäftigt, ist der Verf sparsam mit Beispielen und Anwendungen; daher
19*
2Q2 J- F. Herbarts Rezensionen.
mag erlaubt sein, einige Worte voranzuschicken. Als der Unterzeichnete
zuerst mit der Kombinationslehre sich bekannt machte, fiel ihm sogleich
auf, daß diejenige Operation, welche man Variieren mehrerer Reihen nennt,
auf Begriffsreihen bezogen, nämlich auf Reihen von Merkmalen vorliegender
Gegenstände, zu Klassifikationen dieser Gegenstände führe; und zwar so,
daß man zwischen mehrerer Klassifikationen die Wahl habe, je nach-
dem man die erwähnten Reihen untereinander versetze. Bald darauf mit
praktischer Philosophie, und insbesondere mit systematischer Aufstellung
der Pädagogik, daher häufig auch mit den bekannten Niemeyerschen
Grundsätzen beschäftigt, bemerkte er, daß in diesem Werke unzählige
rhetorische Dispositionen vorkommen, die eigentlich logische Einteilungen
sein sollten; so daß in der Pädagogik, deren Ganzes der Praktiker so
leicht und so sicher als möglich muß übersehen können, um nicht eins
über dem andern zu vernachlässigen, sehr viel an Klarheit würde ge-
wonnen werden, wenn eine mäßige Anzahl genau bestimmter Begriflfsreihen
zur kombinatorischen Verbindung, ähnlich den Klassifikationen, bereit gelegt
würde. Ohne Zweifel paßt dies auf alle praktischen Wissenschaften gerade
um desto mehr, je mehr sie ganz eigentlich praktische Anleitungen geben
sollen; es paßt aber auch auf die vorgängige theoretische Untersuchung
der Begriffsreihen selbst, die man nicht leicht aus einem Vorrat gegebener
Kenntnisse richtig herausfinden wird, wenn man nicht schon im voraus
auf die Vorteile rechnet, welche die kombinatorische Form hintennach
von selbst darbietet. Als nun diese Überlegungen an die Logik sollten
geknüpft werden, fand sich eine leichte Vorfrage: wie vielfach kann ein
Begriff unter seine logisch höheren subsumiert werden? Hier beginnt Hr.
Prof. Drobisch seine Rechnungen. Der erste Artikel seines Anhangs
betrifft die Lehre von der Unterordnung der Begriffe. Damit steht der
vierte in Verbindung: zur Theorie der Einteilungen und Klassifikationen.
Jener erste löset vier Aufgaben: i. Die Anzahl der Begriffe zu bestimmen,
denen ein aus m Merkmalen zusammengesetzter Begriff kann untergeordnet
werden. 2. Die Anzahl der zwischen einem gegebenen Begriffe und irgend
einem seiner m Merkmale möglichen Reihen einander untergeordneten
Begriffe zu bestimmen. 2. Die Anzahl der zwischen dem gegebenen und
einem hestimviten höheren Begriffe der ;/ten Ordnung möglichen Reihen
aufzufinden. 4. Unter gleicher Voraussetzung wie vorhin, die Anzahl der
Übergänge von irgend einer Ordnung höherer Begriffe zur nächst höheren,
so wie die Summe sämtlicher Übergänge von jeder Ordnung zur nächst
höheren zu finden. — Auf Ploucquet und Lambert wird im zweiten
Artikel: Akebraische Konstruktion der einfachsten Urteilsformen und Ab-
leituns; der Schlüsse, Rücksicht genommen. Auf Twesten im dritten
Artikel: zur Theorie der Schlußketten; nachdem schon vorher dem Unter-
zeichneten war nachgewiesen worden, daß seine Aufstellung von vier
Formen derselben noch nicht vollständig sei. Auf Fries, der vielfältig
im Buche benutzt ist, scheint insbesondere der fünfte Artikel sich zu be-
ziehen: zur Theorie der Beweise; hier findet sich auch ein interessanter
Satz von Hauber über Umkehrbarkeit allgemein bejahender Urteile be-
leuchtet. Von dem außerordentlichen Fleiße, den der Verf. an die
Syllogistik gewendet hat, wäre nun noch viel zu sagen, wenn man es
M. W. Drobisch: Questionum mathematico - psychologicarum specimen primum. 293
unternehmen könnte, über einen solchen Gegenstand ohne große Weit-
läufigkeit deutlich zu berichten. Das ganze Buch will studiert sein; und
vielleicht muß man es gebrauchen, um es gehörig studieren zu können;
welches wenigstens von der Logik selbst niemand bezweifeln wird, der sie
wirklich kennt.
Drobisch, M. W., Quaestionum mathematico-psychologicarum
specimen primum. — Leipzig.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1836, Nr. 137. SW. XII, S. 754.
Das Übrige des Titels besagt, daß dies Programm zu einer aka-
demischen Feier, nämlich zu Anhörung einer Rede (ad memoriam Kregelio-
Sternbachianam celebrandam) einzuladen bestimmt war. Der Verf. ist
Hr. Prof. Drobisch, der hier die ersten Fundamente der mathematischen
Psychologie beleuchtet. Die Abhandlung zerfällt in drei Teile: i. de
definienda iacturae magnitudine. 2. de ratione distribuendae iacturae,
3. de limine apparitionis et valore liminari. Nicht ohne Grund beginnt
das prooemium mit den Worten: Quae sequuntur quaestiones scriptae
sunt lectoribus psychologiae mathematicae principiis iam aliquantulum
imbutis ; denn freilich für Leser, die noch nicht wissen, was für eine iactura
hier gemeint sein könne, wird die Abhandlung nicht verständlich sein.
Gemeint aber ist der Verlust, welcher das gesamte Vorstellen durch den
Gegensatz gleichzeitiger Vorstellungen erleidet. Jedermann kann in jedem
Augenblicke an sich selbst beobachten, daß er nicht im stände ist, eine
beliebige Menge von Vorstellungen sich gleichzeitig zu vergegenwärtigen;
daß vielmehr ältere Vorstellungen aus dem Bewußtsein verschwinden, in-
dem neue eintreten. Es wäre zu wünschen, daß Hr. Dr, sich auf einige
Erläuterung darüber eingelassen hätte, wie diese ganz bekannte Er-
fahrung auf ihren einfachsten Ausdruck zurückzuführen sei, um denselben
einer mathematischen Untersuchung zu unterwerfen. Aber von einem
Programm darf man wohl nicht verlangen, daß es hätte länger sein sollen;
am wenigsten, wenn es bei aller Kürze wirklich so reichhaltig ist, als das
vorliegende. Auch setzt der Verf. die Schriften des Unterzeichneten als
bekannt voraus, indem er die schon dort angegebenen Resultate hier durch
neue Wendungen der Rechnung bestätigt. Dies war in der Tat nützlicher,
als Einwendungen zu beantworten, auf die keine Antwort gewünscht wird.
Die Vorrede sagt: neque huius loci erat, psychologiam mathematicam
contra eorum obiectiones defendere, qui, in rebus tam arduis mathe-
maticorum formulis aliquam auctoritatem concedendam esse, obstinate
negant. Dazu wird überall nirgends ein bequemer Ort zu finden sein;
und es ist nicht nötig, daß man sich deshalb bemühe. Wohl aber muß
man suchen, sich denjenigen verständlich zu machen, welche zu verstehen
wünschen ; und hierzu gehört eine bestimmte und sorgfältig gewählte Kunst-
sprache; die aber besonders im Lateinischen schwer zu finden ist. In
dieser Hinsicht hat sich Hr. Dr. größtenteils, doch nicht ganz, dem Ver-
suche angeschlossen, welchen der Unterzeichnete schon in der Abhandlung
2 94 J- ■^- Herbarts Rezensionen.
de attentionis mensura machte. Daß für das Deutsche: Vorstelhmg, kein
passenderes Wort zu finden ist als notio, für Vorstellen kein passenderes
als cogitare, ist freilich schlimm; aber noch schlechter wäre repraesentatio
und repraesentare ; denn die Fundamente der mathematischen Psychologie
liegen tiefer, als daß unter Vorstellungen sogleich Bilder dessen, was uns
gleichsam gegenüber stehe (Objekte dem Subjekte), dürften verstanden
werden. Auch die Ausdrücke perceptio und apperceptio müssen hier noch
vermieden werden; denn sie sind speziellen Untersuchungen vorzubehalten,
an die bei der ersten Begründung noch gar nicht darf gedacht werden;
sie beziehen sich auf das soeben geschehene Auffassen, also auf einen
Prozeß, dessen Erklärung einer viel zu großen Meinungsverschiedenheit
ausgesetzt ist, als daß davon könnte ausgegangen werden. Noch weniger
passend wäre das platonische idea; man würde dabei an Musterbegriffe,
oder an Gattungsbegriffe, wo nicht gar an den Idealismus denken, oder
vollends an den Spinozistischen Satz: ordo et connexio idearum idem est
ac ordo et connexio rerum. Das Wort notio vermeidet wenigstens diese
Unbequemlichkeiten; es hat nur den Fehler, daß es die Vorstellung von
der Seite des Vorgestellten bezeichnet; während in der Grundlehre der
Psychologie von dem Zustande des Vorstellenden die Rede ist; einem
Zustande, der einer Hemmung unterworfen ist, sobald entgegengesetzte
Vorstellungen zusammentreffen. Glücklich genug hat Hr. Dr. das Vor-
gestellte bezeichnet durch den Ausdruck: imago notionis; denn wiewohl
hierbei nicht an ein Bild (mit räumlicher Gestaltung) zu denken ist, so
wird man doch hierdurch aufmerksam gemacht, daß imago notionis noch
zu unterscheiden ist von notio (das Vorgestellte, als ein solches oder
anderes, zu unterscheiden von den Vorstellungen als den Zuständen des
Vorstellenden). Dies wird noch deutlicher durch den Ausdruck robur
notionis ; denn diese Stärke wird niemand in dem Vorgestellten suchen,
sondern nur in dem Zustande des Vorstellenden. Eben dahin zielt
contraria notionum indoles; obgleich nämlich der Gegensatz im Vor-
gestellten liegt, so unterscheidet er doch auch die Vorstellungen selbst
voneinander. Bei dem Worte Hemmungsgrad aber, dessen sich der Unter-
zeichnete bedient hatte, bemerkt Hr. Dr. es sei zweideutig, und deshalb
zu vermeiden. Man könnte nämlich glauben, es bezeichne den Grad, bis
auf welchem eine Vorstellung (z. B. die vom Anfange eines Schauspiels,
während die Aufführung schon bis zum dritten Akte vorgerückt ist) sich
müßte verdunkeln lassen ; allein die Absicht des gewählten Ausdrucks war,
das Mehr oder Weniger des Unterschiedes zweier Vorstellungen anzu-
zeigen, z. B. so, daß zwischen schwarz und braun der Hemmungsgrad
geringer sei als zwischen schwarz und gelb. Daher will Hr. Dr. nur den
Ausdruck: Grad des Gegensatzes, gelten lassen; lateinisch: gradus contra-
rietatis. Ferner unterscheidet er pressio und oppressio. Es soll nämlich
oppressio die gänzliche Hemmung, so daß nichts Vorgestelltes übrig bleibe,
bezeichnen. Aber daneben steht: volle Hemmung. Gegen diesen Ausdruck
möchte doch auch etwas zu erinnern sein; richtiger wäre: völlige Hemmung.
Das Wort voll muß dem Gegensatze, dem gradus contrarietatis, vorbehalten
bleiben, für den Fall, daß er der größte mögliche ist, d. h. daß von zweien Vor-
stellungen eine ganz gehemmt werden müßte, wofern die andere ungehemmt
M. W. Drobisch: Questionum mathematico - psychologicarura specimen primum. 295
bleiben sollte. Es folgt das Wort obscuratio, Verduakelung. Dieser Ausdruck
ist bekanntlich in der Psychologie längst eingebürgert; man bezog ihn
aber auf mangelnde Unterscheidung von andern Vorstellungen. Wolff
hat in der psychol. empirica § 41 den Satz: si perceptiones particulares
fuerint clarae, composita distincta est. Also, wenn die zusammengesetzte
Vorstellung undeutlich, so sind die Teilvorstellungen nicht klar, sondern
dunkel. Hieraus konnte man sehr leicht auf die Bemerkung kommen,
daß, je bunter die Zusammensetzung, desto gewöhnlicher die zusammen-
gesetzte Vorstellung undeutlich ausfällt; denn die Teilvorstellungen ver-
dunkeln einander gegenseitig, d. h. sie hemmen sich. Pressio und ob-
scuratio bedeuten also einerlei; nur weiset pressio auf den Grund hin,
wovon obscuratio die bemerkbare Folge ist. Hiermit hängt tensio, die
Spannung, zusammen; denn je mehr eine Vorstellung, im Verhältnis zu
ihrer Stärke, an Hemmung erleiden muß, desto stärker strebt sie in
ihren ursprünglichen Zustand zurück. Ob die Ausdrücke: notionem coercere
und notionem cohibere, gleich passend seien, könnte gefragt werden; viel-
leicht ist das coercere der eben jetzt geschehenden Hemmung angemessener,
als cohibere. zurückhalten, so nahe auch das Halten mit dem Zurück-
drängen zusammenhängt. Ratio distribuendae iacturae ist ohne Zweifel
ein vollkommen verständlicher Ausdruck, sobald man eingesehen hat, daß
die iactura, die Hemmungssumme, früher bestimmt sein muß, ehe sich
entscheiden kann, in welchem Verhältnis sie sich verteilt. (So muß eine
Last, die von mehreren Stützen soll getragen werden, erst als Ganzes
treo-eben sein, ehe sich bestimmen läßt, wieviel jede einzelne Stütze zu
tragen hat.) Daß endlich animus, das Bewußtsein, unterschieden wird
von dem Ausdrucke mens, der Geist, ergibt sich aus dem vorigen. Denn
die crehemmten Vorstellungen sind zwar nicht aus dem Geiste, wohl aber
aus dem Bewußtsein entwichen. Soviel über die Nomenklatur, wie der
Verf. sie angibt.
■ Von der Art, wie der Unterzeichnete die Größe der Hemmungs-
summe bestimmt hatte, sagt Hr. Prof. Dr.: sie sei pauUo prolLxa et captu
difficilior. Einem INIathematiker gegenüber, der soeben ein vortreffliches
Lehrbuch der Logik herausgegeben hat, die frühere Darstellung ihrer Form
nach zu verteidigen, möchte nun wohl etwas gewagt sein; da indessen
die Resultate doch genau zusammentreffen, und da die frühere Darstellung
wenigstens ohne alle Künstelei die Art anzeigt, wie die Sache zuerst ist
eefunden worden: so kann dies nur den Wunsch veranlassen, daß bald
die Zeit kommen möge, wo es für einen philosophischen Vortrag em
ernstlicher Vorwurf sein könne, einige Worte mehr zu enthalten, als die
strenge Präzision erfordert. Hätte man durchgehends für solche Leser
zu schreiben, deren Hr. Prof. Dr. einer ist, so würde eine ganz andere
Schreibart nötig werden. In dem hierher gehörigen Paragraphen der
Psychologie war gegen Mißverständnisse zu warnen. Schon dort aber
ist der nämliche Weg des Beweises eingeschlagen, den auch Hr. Dr.
nimmt, indem gezeigt wird, die Hemmungssumme könne nicht größer
und nicht kleiner sein. Daß eine Absurdität herauskäme, wenn man sie
größer nähme, hat Hr. Dr. sehr klar dargestellt. In dem Schlußsatze (3),
nachdem auf die Verschiedenheit der Hemmungsgrade Rücksicht ge-
2q5 J- f. Herbarts Rezensionen.
nommen worden, befindet sich jedoch ein kleines (gewiß nicht absicht-
liches) Versehen; es fehlt nämlich die kurz zuvor richtig angezeigte Aus-
nahme: excepta illa notione maximi roboris. Dabei können indessen Be-
stimmungen vorkommen, die am gehörigen Orte angegeben sind, aber
schwerlich einen kurzgefaßten Ausdruck gestatten, daher man sie in diesem
Programm nicht erwarten durfte.
Was ferner die Hemmungsverhältnisse anlangt: so hat Hr. Dr. es
vorgezogen, sich von der Proportionsform so bald als möglich zu ent-
fernen, und dagegen der Rechnung die Form der Gleichungen zu geben.
Er glaubt nämlich, die Addition der Hemmungsgrade in den Verhältnis-
zahlen könnte auf den ersten Anblick befremden, wiewohl sie in der Tat
richtig ist. Aber auch bei ihm kommt eine Addition vor; und wer nicht
scharf genug nachdenkt, könnte auch hier fragen, ob die Stelle: ex arti-
culo antecedente sequitur etc., klar genug sei, da man im vorigen Artikel
eine solche Anwendung nicht erwartet hatte. Freilich wäre diese Be-
denklichkeit vollkommen grundlos; aber die andere, die er vermeiden
wollte, hat nichts mehr zu bedeuten; eher möchte gesagt werden, der
§ 53 der Psychologie sei zu kurz gefaßt. Er bezieht sich nämlich
auf § 43, und muß aus diesem erklärt werden. Jedenfalls sind nun zwei
Darstellungen des nämlichen Gegenstandes vorhanden, die einander gegen-
seitig zur Probe dienen ; und solche Bestätigungen sind allemal willkommen.
Der dritte Abschnitt ist überschrieben: de limine apparitionis et de
valore liminari. Es soll nämlich für eine dritte schwächere Vorstellung
der Grad der Stärke, welche ihr zum wenigsten eigen sein muß, um sich
neben zwei stärkeren im Bewußtsein halten zu können, durch Rechnung
bestimmt werden; und diese Untersuchung, welche bei dreien Vorstellungen
zuerst vorkommt, soll auf jede beliebige Anzahl derselben erweitert werden.
Der Ausdruck: Schivelk des Bewußtseins^ ist demnach verständlich genug;
denn er zeigt an, daß es eine Grenze gibt zwischen solchen Vorstellungen,
die stark genug, und andern, die zu schwach sind, um sich als ein wirk-
liches Vorstellen zu behaupten, und nicht von den stärksten gänzlich ver-
dunkelt zu werden. Diese Schwelle liegt aber nicht etwa ein für allemal
fest, sondern sie richtet sich in jedem einzelnen Falle nach der stärksten,
— oft schon nach den beiden stärksten Vorstellungen. Hier hat nun
Hr. Dr. selbst nötig gefunden, einige Worte gegen mögliche Mißverständ-
nisse zu richten; und auch die seltsamsten sind möglich, daher das, was
(bei ii) am Ende beigefügt ist, nicht überflüssig sein wird. Für die
Kunst des Calculs war hier ein etwas freieres Feld als in den vorigen
Abschnitten. Das zeigt sich in einer sehr interessanten Rechnung, wodurch
folgender Satz bewiesen wird: dato indefinito notionum maxime contra-
riarum et secundum ordinem magnitudinis descendentem dispositarum
numero, si una ex iis, respectu reliquarum omnium in limine apparitionis
est, quaevis notio insequens simul, si non sub limine, certe in hoc ipso
erit; et quidem iam respectu earum notionum, quae restant exclusis iis,
quae interiectae sunt. Der Satz mußte infolgedessen, was in der Psycho-
logie schon gezeigt war, erwartet werden; allein der Beweis ist gänzlich
neu und durch seine Form überraschend. Ein Druckfehler in der Größe
unter dem Wurzelzeichen, wo der Setzer von einer Ähnlichkeit des Nenners
D. Th. A. Suabedissen: Die Grandzüge der Metaphysik. 297
mit dem Zähler ist verleitet worden (es steht nämlich im Nenner auch
anstatt ak + i), ist so leicht zu verbessern, daß er wenig störend
ak + i
sein wird.
In diesem ganzen Programme redet nur der Mathematiker. Die
ersten Zeilen der Vorrede sagen: de his ipsis principiis, cum eo sensu,
quo metaphysicis fundamentis superstruenda, tum eo, quo ex fontibus ex-
perientiae deducenda sunt, disputare, in aliud nobis reservamus tempus.
Möge er den Zeitpunkt nicht zu weit hinausschieben. Das hier Gelieferte
zeigt jedoch schon hinreichend, mit welcher Pünktlichkeit Hr. Dr. das
Fundament der mathematischen Psychologie geprüft hat.
Suabedissen, D. Th. A., Die Grundzüge der Metaphysik. Aus
dem Nachlasse. — Marburg, bei Elwert, 1836. XX u. 165 S. in Oct.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1836, Nr. 173. SW. XIII, S. 624.
So oft uns ein Buch unter dem Titel Metaphysik begegnet, müssen
wir uns erinnern, daß dieser Name eine Menge und ein Gewebe von
Streitfragen ankündigt, über die nicht aus Streitlust, sondern von redlichen
Denkern seit ein paar Jahrtausenden deshalb ist gestritten worden, weil
ihre Untersuchungen nach den verschiedensten, oft ganz entgegengesetzten
Richtungen auseinandergingen. Die Gegenstände liegen und lagen von
jeher in der allgemeinen Erfahrung und im Bewußtsein eines jeden; eben
deshalb hilft es nichts, sich hierbei auf solche Entscheidungen zu berufen,
die unmittelbar aus der Erfahrung und dem Bewußtsein erst jetzt möchten
geschöpft werden. Glaubt aber jemand, die Mängel der Kultur in früheren
Jahrhunderten wären die Gründe eines Streits, den jetzt die Zeit geendet
habe: so vergleiche ein solcher die unlängst in diesen Blättern angezeigte
Metaphysik des Hrn. Prof. Hartenstein mit der hier vorliegenden. Beide
sind im laufenden Jahre gedruckt; der Unkundige aber würde kaum
glauben, daß jemals zwei so verschiedene Bücher den nämlichen Titel
hätten führen können. Es fehlt nicht an Schriftstellern, die sich so zu-
gänglich in ihren Gedankenkreis vertieft haben, daß sie es kaum noch
für möglich halten, man könne in vollem Ernste anders denken als sie.
Solche leiten nicht ein, wenn sie schon des Worts Einleitung sich be-
dienen: sie streiten auch nicht, sondern sie sprechen sich aus, gleich von
den ersten Zeilen an; in der Meinung, gelänge ihnen nur das Aussprechen,
so würde jeder, der sie verstände, ihnen ohne weiteres folgen. Kommt
man zu ihnen, so empfindet man eine künstliche Helle, wie im Schauspiel-
hause; alsdann läßt man sich wohl die Zumutung gefallen, für kurze Zeit
die Welt der Bühne für die wirkliche Welt zu halten. In diesem Sinne
nun wollen wir uns gefallen lassen, was der Verf. des angezeigten Buches
von der Philosophie sagt: sie könne und solle ja eigentlich nichts Neues
lehren, sondern solle verdeutlichen, was in dem Menschenbewußtsein ent-
halten sei. Ihr Ausdruck könne und solle jedem sinnigen Menschen ver-
2q8 J- F- Herbarts Rezensionen.
Ständlich sein, das heiße: „Jedem, in welchem der Bewußtseinsinhalt des
Menschen angefangen habe, von seinem tiefsten Grunde aus (?) zum Ge-
danken emporzustreben. Diesem Streben (fährt er fort) hilfreich begegnend,
soll die Philosophie das rechte Wort darbieten (also um das rechte oder
unrechte Wort drehete sich der Streit?), und dieses Wort ist nicht das
in der Schule für den Schulbedarf gemachte, sondern der aus dem all-
gemeinen Sprachgebrauche nach seiner tieferen Bedeutung (?) hergenommene,
lebendige, einfache und volle Ausdruck. Denn was die Sprache gebildet
hat, ist der Menschengeist selbst, wiefern er denkendes Wesen ist, in
seiner Verwirklichung nach außen hin. (Und was die Sprache bilden
wird^ setzen wir hinzu, ist auch noch fortdauernd, der Menschengeist in
seiner ferneren Verwirklichung, die noch nicht am Ende ist.) In dem
Menschengeiste aber begreift sich das Wirkliche, das Leben. Darum
trägt die Sprache den Begriff des Lebens, wie er dem Menschen an
seiner Stelle im Ganzen möglich ist, und eben damit die Philosophie in
sich." Dachte w^ohl hierbei der Verf. an die vielen verschiedenen Stellen,
nicht bloß im Ganzen, sondern auch in der Zeit? Schwerlich! Denn von
der Metaphysik, die doch nicht von gestern und nicht für morgen ist,
sagt dieselbe Vorrede: sie trage die Prinzipien aller andern philosophischen
Wissenschaften in sich; „alle müssen von ihr ausgehen, und sind nur von
ihr aus Philosophie." Wie es nun möglich sei, die Metaphysik nach
ihren alten vier Teilen, Ontologie, Psychologie, Kosmologie, natürliche
Theologie (denn danach ist das Buch geordnet), ohne abkürzende Schul-
sprache und doch als den Ursprung aller philosophischen Wissenschaften
— auf 165 nicht eben eng gedruckten Seiten darzustellen: dies könnte
Verwunderung erregen, wenn man hier die verschiedenartigen meta-
physischen Untersuchungen erwartete. Aber ein dogmatisches Behaupten
ist viel kürzer als ein eigentliches Untersuchen.
Das rapere in medias res zeigt sich schon in den ersten Zeilen, wo
der Verf. das Prinzip seines Philosophierens aufgefaßt wissen will, und
zu diesem Behufe ohne weiteres den Begriff des Lebens als die Einheit
und Mitte seines Philosophierens bezeichnet; „des Lebens, weil es als
das wahrhaft Wirkliche das Realprinzip aller Dinge und zugleich sich selbst
begreifend das Idealprinzip ist." Diese Sprache kennt man nun schon
seit so vielen Jahren, daß man ohne Zweifel endlich daran glauben
würde, wenn die Zeit den Glauben wissenschaftlich begründen könnte.
Man kennt auch die ineinander geschobenen Dreiteilungen, denen man
hier im ersten Teile (der Ontologie) begegnet. Derselbe zerfällt nämhch
in die Abschnitte vom Wesen, vom Leben, vom Ganzen. Ferner zer-
fällt der erste Abschnitt nach den Überschriften: „das Sein als das
Wesen; das Tun als das Wesen; die Einheit des Seins und des Tuns
als das Wesen." Der zweite, welcher vom Leben handelt, zerfällt in
die Rede von der Natur, vom Geiste, vom Leben; wo die logische
Merkwürdigkeit vorliegt, daß die Gliederung in der dritten Stelle den
nämlichen Gegenstand wiederholt, welcher schon dem ganzen Abschnitte
den Namen gab. Drittens: auch das Ganze wird dreifach betrachtet;
erstlich das Ganze als das Viele aus dem Einen; zweitens als die Ver-
mittlung des Freien und Unfreien, von dem Einen aus; drittens als das
D. Th. A. Suabedissen: Die Grandzüge der Metaphysik. 299
in sich beschlossene Ganze. Zu mehrerer Vollständigkeit wollen wir die
Dreispaltung noch in der Unterabteilung vom Leben weiter verfolgen.
Denn da finden wir i. den Begriff des Lebens überhaupt, 2. den Begriff
eines lebendigen Wesens, 3. die Lebenswirklichkeit als die wirkliche Ver-
mittlung der Gegensätze in dem Wirklichen; ja die Eleganz dieser
Spaltungen ist noch weiter getrieben; der Begriff eines lebendigen Wesens
gibt nämlich sechs Unterabteilungen, (wo wir freilich deren neun erwarteten!)
indem mit vorherrschender Hinsicht auf seine Lebendigkeit drei Glieder
herauskommen: a) von ihm selbst aus betrachtet, b) in den Beziehungen
seiner Weltstelle betrachtet, c) das Individuum und die Gattung. Und
mit vorherrschender Hinsicht auf seine Besonderheit abermals drei:
a) Naturform und mathematische Form; b) Urform und vollendete Form;
c) zeitlich wirkliche Form. — Könnte Fichte es mit ansehen, wie lange
die Tradition dieser Dreispaltung sich erhalten hat, seitdem er im Jahre
1794 seiner Wissenschaftslehre die Thesis des Ich, die Antithesis des
Nicht-Ich, und die Synthesis beider (in der gegenseitigen Begrenzung) zur
Grundlage gab: so möchte er sich doch ein wenig wundern über solches
Hängenbleiben in den Formen! Denn Referent, der damals öfter um ihn
war, kann das zu seinem Ruhme bezeugen, daß er nicht an seinen
Worten klebte, sondern seine damalige Darstellungsweise als etwas sehr
Veränderliches ansah, was man nicht nötig habe, auswendig zu lernen.
Aus der Kantischen Kategorientafel aber diese Förmlicheit herzuholen,
möchte zu gesucht sein, da sie in den Gedankenkreis jener Lebenslehre
nicht mehr hineinpaßt; während das Fichtesche Ich und Nicht- Ich noch
immer durchklingt.
Die angegebenen Überschriften sind so charakteristisch für den Kreis,
in welchem der Verf. sich bewegt, daß jeder Kundige eigentlich jetzt
schon weiß, was er hier zu suchen hat. Allein der fernere Bericht wird
dieses leicht noch etwas vollständiger darlegen können. Gleich der erste
Paragraph enthält in der Definition der Äletaphysik, sie sei die Wissen-
schaft von dem Wesen als dem Grunde der Dinge, den vorausgesetzten
singularis, das Wesen, im Gegensatze der Dinge, als einer Vielheit, und
der zweite Paragraph verstärkt diese Voraussetzung, indem gleich hier
schon Realgrund und Erkenntnisgrund vermengt werden in dem Satze:
„Wie aus dem Urwirklichen als dem Urgründe, die mannigfaltigen Ab-
teilungen und Stufen hervorgegangen sind, welche in ihrer Ordnung und
Gemeinschaft das Ganze des Wirklichen ausmachen : so treten in und mit
ihnen, vermittelst des Philosophierens, aus dem Begriße des Urwirklichen
als des Urgrundes, die Begriffe der Abteilungen und Stufen des Wirklichen
hervor, und schließen sich zu einem Ganzen zusammen!" Wollte man nun
auch dieses einräumen; so würde noch immer nicht folgen, daß „die ganze
Philosophie mit allen ihren Teilen wesentlich Metaphysik sei, nämlich
fortgeführt bis zu einem, dem Ganzen des Wirklichen entsprechenden Be-
grifisy Sterne." Hat der Verf so ganz und gar vergessen können, was
Ka>'T das Primat der praktischen Vernunft nannte? Oder konnte er
glauben, ein Kantischer Imperativ werde sich von irgend welchen Be-
griff'en des Wirklichen abhängig machen? Wenn nicht: so kam es wenigstens
nicht dem zweiten Paragraph der Einleitung in die Metaphysik zu, die
oQO J- F- Herbarts Rezensionen.
wohlerwogene Kantische Lehre ohne weiteres auszuschließen. Was aber
sollen wir von dem § 3 sagen, welcher das Verfahren der Metaphysik
beschreibend sich also vernehmen läßt: die Metaphysik beginnt nicht mit
der Abwendung des Denkens von der Erfahrung, geht vielmehr von ihr
aus, und führt zu ihr zurück! Hier scheint es in der Tat am rechten
Worte zu fehlen. Denn gerade darum beginnt allerdings die Metaphysik
mit der Abwendung von der Erfahrung, zveil sie von ihr ausgehen und
zu ihr zurückführen muß. Das Ausgehen und Zurückführen wäre nicht
möglich ohne das dazwischen liegende Abwenden. Niemand verläßt sein
Haus, ohne demselben den Rücken zu wenden; niemand kehrt zurück
ohne zuvor abwärts gegangen zu sein. Und nur zu sehr hatte sich der
Verf. von der Erfahrung abgewendet, indem er nach pantheistischer Weise
Einheit des Wesens annahm, während erfahrungsmäßig vieles gegeben ist-
daran verrät sich, daß er die Gründe des Abwendens nicht erwogen hatte,
die ihn hierzu nicht würden ermächtigt haben. Doch genug von der
Art, wie der Verf. in sein System hineinkommt, und hineinleitet.
In den Systemen selbst, von welchem eine Analyse zu geben der
Raum dieser Blätter nicht erlaubt, finden sich nun, wie nach dem Ein-
gange zu erwarten stand, absolutes Werden und Selbstbestimmung freund-
schaftlich beieinander. Das Gesetz des Werdens ist das der Seinsent-
wicklung. Wenn aber der Geist in seiner Selbstbestimmung also fort-
schreitet, daß das, was sein Grundsein ist, in der Gesamtheit seiner Be-
stimmtheiten ganz vortritt: so entspricht sein Dasein seinem Wesett, (wie
mag doch das Gegenteil, daß eins dem andern nicht entspreche, denkbar
sein ?) und das ist dann seine äußere Wahrheit (hat der Geist etwa Außen-
seiten?) seine volle Wirklichkeit (also das Gegenteil war eine unvollständige,
eine zum Teil 7iicht wirkliche Wirklichkeit!). Damit ergibt sich der Begriff
der Selbstverwirklichung des Geistes (causa sui nach Spinoza). Es ist
seine Selbstverwirklichungskraft. Wir haben diese Sätze kurz angeführt;
weil sie der Lehre vom Leben zunächst vorangehen, auf welche wir gleich
anfangs verwiesen wurden. Das Leben nun ist: „das Wirkliche als das
sich selbst Betätigende, das von sich aus sich Verwirklichende. Das Leben
(heißt es gleich weiter, als ob das Vorhergehende gar keiner Rechtfertigung,
ja nicht einmal einer Erläuterung bedürfte) trägt in sich das Natürliche
und das Geistige. Sein Sein auswirkend ist es die Natur; sich seines-
Seins mächtig erweisend ist- es der Geist. — Von hier an beginnt ein
Strom von Worten, den wir unmöglich weiter verfolgen können; auch sind
wir von ähnlichen Reden schon längst übersättigt.
Tut man Verzicht auf die Forderungen, welche an ein System der
Metaphysik ergehen müssen, betrachtet man das Buch als Lebensäußerung
eines Schwererkrankten, der sich zur geistigen Tätigkeit emporarbeitet,
dann gewinnt alles ein anderes Ansehen. Denn von einem solchen ver-
langt man nicht Umänderung der in früheren Jahren angenommenen
Meinungen, sondern es gereicht ihm zum Ruhme, wenn er Besonnenheit,
Ordnung, Wärme des Vortrags zu behaupten vermag, und das ist dem ver-
storbenen Verf. sehr wohl gelungen. Man fühlt sich während des Lesens wie
in der Gesellschaft eines sehr achtungswerten Mannes, der mit Überzeugung
spricht, weil er sich das, was er vorträgt, vollkommen angeeignet hatte.
J. F. Herbart: Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral usw. 301
Herbart, J. F., Analytische Beleuchtung des Naturrechts und
der Moral, zum Gebrauche beim Vortrage der practischen
Philosophie. — Göttingen, bei Dieterich, 1836. XVIII und 264 S.
in Oct.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1836, Nr. 189. SW. YHI, S. VIH.
Die Vorrede zu diesem Lehrbuche erinnert an den Gegensatz der
Synthese und Analyse; ferner an die Verwandtschaft der Analyse und
der Kritik. Dem synthetischen Vortrage dient (wie in der Psychologie
und Naturphilosophie gezeigt worden) der analytische zur Prüfung, Be-
stätigung, Erweiterung; die Analyse vorhandener Systeme aber, die nicht
fehlerfrei sind, geht mehr oder weniger in Kritik über. Die allgemeine
praktische Philosophie des Verfs., welche den Gang der Vorträge be-
stimmt, ist synthetisch abgefaßt; diese Vorträge können keine vollständige
Kritik der bisherigen Sittenlehre in sich aufnehmen, aber eine Vorzeichnung
dazu, welche beim Fortschritte gelehrter Studien allmählich auszufüllen
den Zuhörern überlassen bleiben muß, wird ihnen unter dem hier ge-
wählten Titel o-eliefert. Dadurch tritt das Buch dem bekannten Werke
Schleiermachers gegenüber. Wiewohl es nun an Ausführlichkeit hinter
demselben zurückbleibt, so wird dennoch eine Vergleichung zwischen
beiden nicht zu vermeiden sein, in solcher Hinsicht mögen hier einige
Worte Platz finden. Erstlich kannte Schleiermacher, als Theologe, die
Moral besser, als das Naturrecht. Mit letzterem meint er, ganz am Ende
seines Werks, auf ein paar Seiten fertig zu werden; er sagt, es sei nicht
nötig, auf einen anderen dabei Rücksicht zu nehmen, als nur auf Fichte.
Also nicht auf Grotius; dessen berühmtes Werk de iure belli et pacis
gleichwohl mehr verdient hätte von ihm benutzt zu werden, als selbst
die Ethiken des Aristoteles und des Spinoza. Nach solcher Eile
schließt er mit einem Verwerfungsurteil. Das Recht, insofern es ein
Handeln bestimme, sei nichts Ursprüngliches und für sich Bestehendes.
Das Naturrecht sei eine Unform, eine rechte Ethik müsse dieselbe zer-
stören, und das Wesen und das Praktische daraus in sich aufnehmen;
jede Ethik, die hierzu unfähig sei, und jene Disziplin anerkenne, müsse
im Sittlichen oder im Systematischen, oder in beiden, vernachlässigt sein!
Dem Eindrucke, welchen ein solches Urteil machen kann, darf man die
Zuhörer nicht überlassen; gleichwohl kann von dem Werke Schleier-
machers auch nicht geschwiegen werden, und der Verf. kann es um so
weniger, da er den Schein hat, mit jenem überein zu stimmen; indem
in seiner praktischen Philosophie das Recht zwar selbständig hervortritt,
die Anwendung aller praktischen Ideen aber verbunden wird, so daß die
beiden Fragen, ob das Recht etwas Ursprüngliches sei? und inwiefern es
ein Handeln bestimme? voneinander getrennt werden; folglich \€m. solches
Naturrecht, als ob dadurch die Praxis hinreichend bestimmt würde, sich
von der Moral absondern kann; noch viel weniger aber eine Vermengung
der Idee des Rechts mit den anderen praktischen Ideen einzuräumen ist.
Es kann hier nicht darauf eingegangen werden, welche Folgen es haben
möchte, wenn die bloßen Rechtsfragen, die im praktischen Leben oftmals
202 J- -^' Herbarts Rezensionen.
eben so nackt als schneidend hervortreten, von der Wissenschaft gleichsam
ignoriert würden; aber das wird schon einleuchten, daß eine so große
Differenz auf den ganzen Plan einer Kritik der Sittenlehre den ent-
scheidendsten Einfluß haben muß. Überdies nun hat Schleiermacher
einen Plan zum Grunde gelegt, der einer synthetischen, also von histori-
schen Rücksichten befreiten, Darstellung angemessen scheinen könnte;
aber Neues und Altes läuft bei ihm unaufhörlich durcheinander; und
wie das Faktum, dessen vorhin erwähnt worden, nämlich die vorhandene
Trennung des Naturrechts von der Moral, in Schatten gestellt ist, so er-
blickt man überhaupt bei Schleiermacher die Systeme nicht an ihren
Plätzen in der Zeit. Während nun seine Kritik sie als etwas Zeitloses
behandelt, vergißt sie, daß sie vor allem sich selbst wegen der Treue oder
Untreue ihrer Auffassung des Vorhandenen gegen den Zweifel sichern
muß, der sogleich entsteht, wenn jemand das Zeitliche ohne Rücksicht
auf die Zeitumstände darzustellen unternimmt. Hiermit hängt wenigstens
zum Teil die unpassende Annäherung des Spinoza an den Platon zu-
sammen, worüber anderwärts (und noch neuerlich in den Briefen über
die Willensfreiheit) gesprochen worden. Der Verf hat für seine Pflicht
gehalten, zuerst eine kurze historische Einleitung, die bis auf Grotius
geht, dann eine vorläufige Übersicht des Naturrechts und der INIoral, wie
sie nun einmal getrennt vorliegen, zu geben; hieran schon knüpfen sich
Betrachtungen, wodurch der erste Abschnitt, von der Begründung der
praktischen Philosophie, abgekürzt wird (dieser Teil würde übrigens in
einem eigentlich kritischen Werke weit ausführlicher behandelt sein). Im
zweiten Abschnitte, der sich mit dem Naturrechte beschäftigt, wird zu-
vörderst gezeigt, daß die Lehre des Grotius nicht dahin geht, es von
der Moral los zu reißen, daß aber die Idee des Rechts, obschon im
wesentlichen nicht richtig erkannt, nicht scharf genug von den Ideen der
Vollkommenheit einerseits, der Vergeltung andererseits, unterschieden ist
(woraus späterhin ein Bedürfnis des Unterscheidens entstand; man schied
aber Disziplinen, wo nur Begriffe zu sondern waren). Übrigens bietet
Grotius den Vorteil dar, daß nach seiner Anleitung sehr bald das
wirkliche Verhältnis unter unabhängigen Völkern in Parallele tritt mit
dem Naturstande, der unter Privatpersonen sein würde, wenn sie nicht
Staatsbürger oder doch dem Staate unterworfen wären. Ein wirkliches
Verhältnis ist klarer, als ein solches, in welches man sich kaum hinein-
denhen kann; der jetzt gewöhnliche Fortschritt vom Privatrechte zum Staats-
rechte und von da zum Völkerrechte ist dagegen ein Vorwärts- und
Rückwärtsgehen, denn vom ausgebildeten Staatsleben kehrt man zurück
zur Möglichkeit des Krieges, der ein Streit im großen ist. Nachdem die
Analyse nun schon beim Grotius Gelegenheit fand, die Hauptpunkte des
Rechts vor dem Staate auseinander zu setzen, kann sie, bei der Kantischen
Periode, kürzer sein; hier ist einerseits jene Trennung der beiden Dis-
ziplinen, andererseits das Staatsrecht in Betracht zu ziehen; aber hier
auch zeigt sich (namentlich bei Fichte) wieder ein unwillkürliches Be-
dürfnis des Naturrechts, die ihm ange^\^esenen Grenzen überschreitend
sich der Moral anzuschließen. So ist schon der dritte Abschnitt vor-
bereitet, und nur anhangsweise konnte dem vorigen noch eine kurze
J. F. Herbart: Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral usw. 303
Probe aus einem der neuesten Naturrechte mitgegeben werden, wozu die
Einteilung der Verträge (nach Droste- Hülshof) gewählt ist. Es kam
bei dieser Probe eigentlich darauf an, bemerklich zu machen, daß sich
das Naturrecht jenem Verwerfungsurteile nicht gefügt hat; wie es sich
einer so unsanften Behandlung gewiß niemals fügen wird. Übrigens ist
wegen des Zusammenhangs zwischen dem Naturrecht und den Staats-
wissenschaften öfter auf Pölitz hingewiesen, dessen Werk über die letzteren
eine vorzügliche Verbreitung erlangt hat. Für den letzten Abschnitt über
die Moral, wurde Stäudlin benutzt; einer der gelehrtesten Kenner der
Geschichte der Moral. In diesem Abschnitte war eine Verwirrung der
Begriffe aufzuräumen, die Schleiermacher wohl empfunden, aber nur
insofern gebessert hat, als er allerdings den sehr wichtigen Unterschied
zwischen der Tugend (die den Wert der Person betrifft) und Pflicht (die
mit Handlungen samt deren Anlässen und Folgen zusammenhängt) stark
hervorhob. Solange jedoch nicht die praktischen Ideen gesondert, ja
nicht einmal die ursprünglichen und die gesellschaftlichen Ideen deutlich
unterschieden waren; solange man von Kant auf Maximen verwiesen
wurde, von denen nicht klar erkannt war, ob sie schon vor der Frage
nach ihrer Tüchtigkeit zur allgemeinen Gesetzgebung voihanden? oder erst
nach derselben aufztmichen seien? und wie es sich denn wohl mit der
Sittlichkeit solcher Handlungen verhalten möge, zu denen gar keine Maxime
hinzugedacht worden ^ — ließ sich die Verwirrung nicht gründlich heben ;
denn man sah weder, ob Tugend und Pflicht von den Maximen unab-
hängig seien, noch auch, was denn im Gegenfalle die Bildung, Vereinigung
und Anwendung der Maximen, ja, was endlich das System der Sitten-
lehre selbst zur Moralität beitragen könne. Darüber konnte in dem an-
gezeigten Buche nur unter Voraussetzung der allgemeinen praktischen
Philosophie gesprochen werden ; hiermit aber wurde ein Versuch verbunden,
die angewandten Teile der Sittenlehre, nämlich Politik und Pädagogik,
in die ihnen gebührende Parallele zu stellen. Endlich mußte noch zu
der Weltansicht, welche in den letzten Kapiteln der praktischen Philo-
sophie aufgestellt ist, ein kritischer Nachtrag geliefert werden, wozu Fichtes
Meinung vom Weltplane ein hinlängliches Beispiel darzubieten schien;
und zugleich das passendste Beispiel, indem übergroße Unzufriedenheit
mit der Gegenwart, wie sie Fichte schon seit Anbeginn seiner literarischen
Laufbahn geäußert hat, am leichtesten dazu verleitet, vom Weltplane mehr
wissen zu wollen, als man davon wissen kann, und der Moralität wegen
davon zu wissen braucht. Sollte übrigens jemand eine vollständigere An-
wendung der Psychologie vermissen, so dient zur Antwort „sie muß erst
mehr studiert werden;" und bei den Zuhörern der praktischen Philosophie
darf man sie nicht als schon bekannt voraussetzen.
OQA J« F. Herbarts Rezensionen.
Drobisch, M. W-, Quaestionum mathematico-psychologicarura.
Specimen II. Leipzig.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1837, Nr. 17. SW. XII, S. 759.
Herr Professor Drobisch, als jetziger Procancellarius der philo-
sophischen Fakultät, liefert in diesem Programme die Fortsetzung eines
früheren, welches im Julius vorigen Jahres zu einer akademischen Feier
einzuladen bestimmt war, und damals in unsern Blättern angezeigt wurde.
Beide sind statischen Inhalts, d. h. sie betreffen die Gesetze des Gleich-
gewichts unter den Vorstellungen; ein paar andere, worin die Mechanik
des Geistes wird beleuchtet werden, sollen bald nachfolgen. Den Anfang
des vorliegenden macht der Satz: Generalis haec est psychologiae lex,
quod omnes notiones in animo simul propositae, quoad fieri potest, in
unum coniunguntur, et composita sie efficitur notio. Dieser Satz steht
der irrigen Meinung Kants entgegen, als ob eigene Handlungen der
Synthesis nötig wären, um ein Mannigfaltiges zur Einheit des Vorstellens
zu bringen. Es gibt keine Scheidewände zwischen den Vorstellungen;
sie fließen von selbst in Eins, wo nicht die Hemmung wegen der Gegen-
sätze im Vorgestellten es verhindert. Hier aber gibt es Unterschiede,
derentwegen das Programm in drei Abschnitte zerfällt, i. De perfectis
notionum complexibus ; d. h. von den vollkommenen Verbindungen, welche
da eintreten, wo kein Gegensatz im Vorgestellten liegt, z. B. wenn wir
einerlei Objekt durch seinen Ton und seine Farbe zugleich auffassen.
Gesetzt, es seien mehrere Objekte auf solche Weise zugleich vorgestellt:
so entsteht die Frage nach der gegenseitigen Hemmung zwischen den
Gesamtvorstellungen dieser Objekte; indem sowohl die Farben derselben
als die Töne einander hemmen, jedoch nicht die Farben für sich, und
ebensowenig die Töne für sich, sondern die ungeteilten Vorstellungen,
worin Ton und Farbe als Merkmale erst da7in können unterschieden werden^
wenn Reflexionen höherer Art hinzukommen, deren Bedingungen weit
außer den Grenzen dieses Programms liegen. 2. De connexarum notionum
aequilibrio. Hier ist nicht mehr von solchen Vorstellungen die Rede,
welche sich vollkommen zu vereinigen fähig wären, sondern von unvoll-
kommener Verbindung, die nach geschehener Hemmung eintritt, und wo-
für der Ausdruck Verschmelzung ist gewählt worden. Wo irgend ein paar
Töne zugleich gehört, oder ein paar Farben zugleich gesehen wurden, da
bildet sich nach Verschiedenheit der Vorstellungen, oder auch der Um-
stände, eine Vereinigung, die nur dann vollständig sein könnte, wenn die
Vorstellungen ganz gleichartig, und die Umstände ganz günstig wären.
Zwei Personen mögen genau den nämlichen Ton singen, oder zwei Stellen
eines Gemäldes mögen nicht bloß gleichfarbig sein, sondern auch so nahe
beisammen liegen, daß man keinen Zwischenraum angeben könne; dann
freilich, imd auch nur dann, wird das Gehörte oder Gesehene voll-
kommen zusammenfließen; sonst aber, wenn irgend ein Unterschied vor-
handen ist, entsteht einerseits Hemmung, andererseits doch ein gewisser
Grad von Vereinigung; so daß, wenn etwas Drittes hemmend dazu kommt,
die beiden Vorstellungen sich dem Dritten mit einer Energie widersetzen,
M. W. Drobiscli: Questionum mathematico-psychologicarum. ^05
die zwar nicht ganz ihrer Summe entspricht, aber größer ist, als wenn
jede Vorstellung einzeln hätte widerstehen sollen. Die Bestimmung des
Gleichgewichts in solchen Fällen ist der Gegensatz des zweiten Abschnitts.
3. De imperfectis notionum complexibus. Hier wird etwas in Frage ge-
nommen, welches gewissermaßen die Betrachtung der beiden vorigen Ab-
schnitte in sich vereinigt. Zufällige Umstände können verhindern, daß
Vorstellungen zu einer vollkommenen Vereinigung, deren sie an sich fähig
wären, wirklich gelangen. Man will wissen, wie sie in dieser geringeren
Vereinigung, deren Gradbestimmung sehr verschieden sein kann, gemäß
derselben wirken werden. Über diesen dritten Punkt wäre beinahe eine
kleine Differenz zwischen dem Hrn. Verf. und dem Unterzeichneten ent-
standen. Allein man hütete sich zu disputieren; man bemühte sich viel-
mehr auf beiden Seiten, um neue Wege der Untersuchung zu finden;
man traf bald im Resultate zusammen, und der Unterzeichnete hat dem
Hrn. Verf. dafür zu danken, daß derselbe ihn veranlaßte, seine frühere
Rechnung zu berichtigen.
Vergleicht man dieses zweite Programm mit dem ersten, so kann
man es nicht mehr elementarisch nennen ; denn das erste enthält Rechnungen
für einzelne Vorstellungen, das gegenwärtige erweitert dieselben auf Kom-
plexionen und Verschmelzungen. Allein wer damit die gewöhnliche Be-
handlung ähnlicher Gegenstände in den Psychologien vergleicht, der wird
geneigt sein, diese ganze Untersuchung gar sehr elementarisch zu nennen,
weil anderwärts die Zerlegung der zusammengesetzten Vorstellungen in ihre
kleineren Teile pflegt vergessen zu werden über dem vorgestellten Ob-
jekte, und besonders über dem vorstellenden Subjekte, von dessen Tätig-
keiten und Vermögen man vielerlei zu sagen gewohnt ist, was (um den
gelindesten Ausdruck zu wählen) in den Zusammenhang der hier ge-
führten Untersuchung auf keine Weise kann aufgenommen werden. Darüber
einige weitere Auskunft zu geben, wird sich vielleicht bald Gelegenheit
finden; nämlich alsdann, wenn der Hr. Verf. die beiden noch versprochenen
Programme wird nachgeliefert haben. Für jetzt ist genug, wenn man ein-
sieht (was aus dem Vorstehenden schon klar genug hervorgeht), daß die
hier angezeigten Untersuchungen nicht etwa aus einer besonderen Lust
am Kalkulieren haben entstehen können; welche Lust der Hr. Verf., wenn
er wollte, an ganz anderen Gegenständen leichter befriedigen konnte.
Vielmehr bedurfte die Psychologie einer Berichtigung vieler, traditionell
gewordener Fehler, von denen ein Hauptzug, daß man neben dem Vor-
stellungsvermögen noch ein besonderes Begehrungsvermögen und mit fort-
schreitendem Irrtume dann auch noch ein Gefühlvermögen nötig hatte,
allgemein bekannt ist, und eben deshalb schon längst die allgemeine Ver-
wunderung hätte erregen können, wie es doch zugehen möge, daß Vor-
gestelltes sich m ein Begehrtes und Gefühltes bald verwandele und bald
nicht? Welches Kausal Verhältnis überhaupt unter den verschiedenen Seelen-
vermögen stattfinden möge? Hier hatte der Irrtum alle Aussicht ver-
schlossen. Um dieselbe zu eröffnen, mußte zuerst nachgewiesen werden,
daß die Vorstellungen selbst das Geistig- Wirksame sind, und zwar ursprüng-
lich infolge ihrer Gegensätze und Verbindungen. Dies, und vieles andere,
kann nicht ohne Hilfe der Rechnung einleuchtend gemacht werden;
Herbarts Werke. XIII. 20
^o6 J- F. Herbarts Rezensionen.
auch gehen wissenschaftliche Untersuchungen ihren Gang, ohne zu fragen,
ob es etwa mühsam scheinen möge, daran teil zu nehmen.
Hartenstein, G., auct., philos. theoreticae in univ. lipsiensi prof. ord.,
De ethices a Schleiermachero propositae fundamento.
6q und 26 S. Oct. — Leipzig, bei Startz.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1837, Nr. 60. 61. SW. XII, S. 764.
Niemand vermag das Ganze der künftigen Folgen seines Handelns
zu überschauen; aber auch den größten Kreis irdischer Wirksamkeit darf
man nicht mit dem Universum vergleichen, wenn er nicht als unbedeutend
soll gering geschätzt werden. Gleichwohl redet man nicht bloß vom Uni-
versum, als ob noch keine Fernröhre uns die Weite unserer Unwissen-
heit aufgetan hätten, sondern man will auch von der Kenntnis des Uni-
versums, von diesem Wissen unseres Nicht- Wissens, die Sittenlehre ab-
hängig machen, deren Grundzüge schon die Alten, ohne Fernröhre, ohne
physikalischen und chemischen Apparat, im wesentlichen richtig erkannt
hatten. Welche Irrwege dabei eingeschlagen werden, und durch welche
Verstöße die zur Schau getragene Verachtung der Logik pflegt gebüßt
zu werden, dies mußte endlich einmal zur Kritik auffordern; und die
Kritik mußte sich ein ausgezeichnetes Beispiel wählen, wenn sie nicht in
unbestimmte Allgemeinheit sich verlieren wollte. Hr. Prof. Hartenstein hat
hierzu die beiden Programme benutzt, die er beim Antritte seiner ordentlichen
Professur zu schreiben hatte, und die eine zusammenhängende, sehr reich-
haltige, durch Scharfsinn und nachdrücklichen Vortrag ebensosehr, als durch
die Wichtigkeit ihres Gegenstandes sich empfehlende Abhandlung ausmachen.
Nach einer historischen, von Kant beginnenden, Einleitung handelt das
erste Kapitel von dem Bilde einer vollkommenen Ethik, wie Schleier-
macher dasselbe schon in seiner Kritik der Sittenlehre zu zeichnen
unternommen hatte. Dagegen schreibt im zweiten Kapitel der Verf. vom
Begriffe und Wesen der Ethik. Das dritte Kapitel enthält nun die eigent-
liche Kritik des Systems, welches neuerlich aus dem handschriftlichen
Nachlasse Schleiermachers herausgegeben worden; nämlich in Bezug
auf das Fundament; denn hierauf ist die Abhandlung schon durch ihren
Titel beschränkt. Das vierte Kapitel (das zweite, kürzere Programm)
gibt eine Erläuterung durch Beispiele. So zweckmäßig diese Anordnung,
so ist doch für den Bericht darüber wohl bequemer, von hinten anzu-
fangen, um gleich wenigstens Einen Hauptpunkt, um welchen der Streit
sich dreht, hervorzuheben. Folgende Stelle ist aus Schl.s Werke aus-
gehoben:
„Alle Gattungsbegriffe der verschiedenen Formen des individuellen
Lebens sind wahre Naturgesetze. Wenn wir nun gefragt werden: hängt
diesem Gesetze auch ein Sollen an? so werden wir soviel bejahen
müssen, daß wir das Gesetz aufstellen für das Gebiet, ohne daß in der
Aufstellung zugleich mit gedacht ivetde, daß alles rein und vollkommen nach
dem Gesetze verlaufe. Denn das Vorkommen von Mißgeburten als Ab-
G. Hartenstein: De ethices a Schleiermachero propositae fundamento. 207
weichungen des Bildungsprozesses, und das Vorkommen von Krankheiten,
als Abweichungen in dem Verlaufe irgend einer Lebensfunktion, nehmen
wir nicht auf in das Gesetz selbst; und diese Zustände verhalten sich zu
dem Naturgesetze, in dessen Gebiet sie vorkommen, gerade wie das Un-
sittliche und Gesetzwidrige sich verhält zu dem Sittengesetz."
Diese Worte verraten zuvörderst, welche Kenntnis von der Physik,
und welchen Begriff von Naturgesetzen er müsse gehabt haben. Was
finge doch der Astronom, ja irgend ein Naturforscher an, mit Gesetzen,
wobei in Frage käme, welche Abweichvmgen wir in deren Gebiet auf-
nehmen oder nicht aufnehmen; gleich als ob das in unserem Belieben
stünde! Hier aber nun den Begriff des Sollens anzubringen, ist eine so
verfehlte Analogie, daß man schon nach diesem einzigen Zuge nichts
anderes erwarten kann, als eine Kette von Irrtümern, die man sich
gefaßt halten mag, durch die Gewalt des einmal angenommenen Vor-
urteils zu entschuldigen. Hr. H. läßt sich darüber folgendermaßen aus:
Si de imperfectis naturae formis, de monstris, et quae ex hoc genere
sunt alia, verba facimus, tacite praeconcepta aliqua vel pulchritudinis vel
utilitatis vel certe roboris et vigoris vitalis utimur notione tanquam norma;
quam, si naturae perfectionis defectum imputamus, obliviscimur non esse
legem, ex qua natura agat^ sed normam, ex qua ?ios ea, quae secundum
leges ipsi quacunque velis ratione insitas progignit, diiudicamus. Cuius
negligentiae vestigia ita in usum linguae migraverunt, ut vel astronomi
de aberrationibus planetarum ab orbitis, et de perturbationibus, quibus in
itinere expositi sint, loquantur. veram scilicet orbitarum formam comparantes
cum praeconcepta motus elliptici notione: licet optime sciant, hanc praecon-
ceptam notionem aberrare a vera orbitarum figura: neque erravisse astra,
pristinam theoriam non sequentia, sed theoriam, cui verae et plenae horum
motuum leges et rationes nondiim perspectae eratit. Hieraus wird nun gleich
der Gegensatz folgender Behauptungen klar werden. Schi, sagt: We?m
das 'Gesetz bloßer Gedanke wäre, so iväre die sittliche Welt eine bloß ein-
gebildete. Hartenstein antwortet: hoc verissimum est, sed non tollit
officii auctoritatem ; imo hoc ipsum est ethicae peadiare^ quod idealem
aliquem quasi mundum construens, altiora spirat, quam quae in rerum
natura revera fiunt: vel certe ea, quae fiunt, non curat. Es versteht sich
von selbst, daß bei diesem non curat, nur von der Feststellung der Prinzipien
die Rede ist; denn die ganze Schrift handelt nur vom Fundament, und
nicht von den angewandten Teilen der Sittenlehre. Postquam enim
(sagt der Verf. bald darauf) ideae tanquam principia diiudicationis ethicae
inventae sunt, tum, ut applicari possint, disciplinam moralem ad hominum,
quales experientia esse docet, voluntates se convertere ipsi diximus; sed
ab hac ipsa applicatione non posse initium ethices fieri, per se patet.
Statt der Aufsuchung der praktischen Ideen beginnt Schleiermacher
die Ethik mit dem Setzen einer Natur, in welcher die Vernunft, — und
der Vernunft, welche in einer Natur handelnd schon ist, d. h. mit dem
Setzen der menschlichen Natur und der menschlichen Vernunft. Der
Verf. weiset ihm nicht bloß den in dieser Behauptung liegenden Empiris-
mus, sondern auch eine auffallende Ähnlichkeit mit der Fichtischen Lehre
nach, wodurch ein Licht auf den historischen Ursprung jener Lehrmeinungen
20*
T08 J- F. Herbarts Rezensionen.
fällt. Sicuti a Fichtio primum to Non-Ego ponendum erat, ut to Ego
voluntatis, sive, quod idem esse dicebatur, libertatis suae sibi conscium
fieri posset, deinde autem omni studio ethico tollendi eius, quod Non-
Ego esset, finis proponebatur (nimirum, quoniam nulla alia ratione to Ego
ad libertatem absolutam, nullis limitibus circumscriptam, evehi posset),
denique vero to Non-Ego prorsus tolli neque patiebatur, neque debebat,
ne, qua niteretur conditione cofiscientia libertatis. ea ipsa conditio evan-
esceret : eodem modo a Schleiermachero rationi primum opponitur natura,
ut ratio nanciscatur agendi obiecta; deinde finis ultimiis pioponitiir naiiirmn
cum ratione uniendi\ denique vero hoc uniendi, sive naturam in organis-
mum rationis participem convertendi Studium ab assequendo fine deteiretur,
ne desit age?tdi conditio. In bis quidem eo tantum differunt Schleier-
MACHERUS et FiCHTius, quod, quae hie de voluntate eaque libera decuerat,
ea ille ad notionem rationis, satis ambiguam, transtulit: et quod, cum
FiCHTius virtutem et dignitatem moralem ad personani agentein pertinere
non oblitus esset, Schleiermacherus eius universam, si Diis placet, naturam
participem fieri posse videtur statuisse. Wobei wir mit Bezug auf das
Vorhergehende noch bemerken, daß es wenig befremdet, wenn etwa der
Idealist (Fichte) sich Naturgesetze so vorstellt, als brauchte nicht alles rein
und vollkommen nach ihnen zu verlaufen, falls ivit dieses in deren Auf-
stellung nicht zugleich mit gedacht hätten, — daher es nun auch nicht
eben wunderbar ist, wenn in einer ihm nachgeahmten Lehre solche
Meinungen wiederkehren. Diese Nachahmung einmal vorausgesetzt, so ist
wenigstens von einer Seite klar, woher die Behauptung stammt: Wissen
?ind Sein gibt es für uns nur in Beziehung aufeinander. Jedoch hier
müssen wir weiter zurückgehen. Im dritten Kapitel, dem Hauptteile der
Abhandlung, beginnt der Verf. von Schleiermachers Forderung eines
höchsten Wissens, von welchem alles Einzelne ausgeht; denn (so meint
er), wären die Grundbegriffe einzelner Wissenschaften jenem untergeordnet,
so enthielte jenes deren Ursprung; oder wären sie einzeln gesetzt, so müßte
das Verhältnis ihrer Anfänge den Gegenstand des höchsten Wissens aus-
machen. Der Verf. verweist dagegen auf die Logik. Die spezifischen
Differenzen untergeordneter Begriffe entspringen nicht aus dem höherem,
sondern werden ihm in der Determination beigefügt; und die Erkenntnis
eines Verhältnisses ist nicht die Erkenntnis dessen, was die Verhältnis-
glieder, einzeln genommen, für sich sind. Er fährt fort: non potest mirum
esse, quod Schleiermacherus in ea, quam ingressus est, via pergens, ab
initio statim maximis difficultatibus irretitur, ex quibus non sine maxima
levitate exitum sibi parare potest, Etenim ut ei concedatur, summum
omnium disciplinarum principium unum et idem esse, tum hoc certe
exspectari et postulari potest, ut revera sufficiat ad ea, quae inde sequi
dicuntur, deducenda, stabilienda et confirmanda. Schi, contra, ipse invitus
quasi diffisus principii indoli, addit, non posse intelligi et admitti prin-
cipium per se, sed ita tantum, ut singula quaeque simul perspiciantur :
quo efficitur, ut eius, ex cuius cognitione reliqua pendere iure exspectatur,
cognitio alternis vicibus ab horum ipsorum cognitione pendeat; et quid
sit revera principium, et qua consequendi necessitate singula quaeque
contineantur, dici plane non possit. — Auetor dicit: Die Darstellung wird
G. Hartenstein: De ethices a Schleiennachero propositae fundamento. 309
volle Gültigkeit haben für die, welche geneigt sind, sich dieselbe Gestaltung
des höchsten Wissen vorzubilden. Itaque subiectiva quaedam assentiendi
propensio et proclivitas id est, ad quod in ipsis principiis recurrit: quod
concedere nihil aliud est, nisi omnem quaerendi et indagandi severitatem
mutabili opinionum varietati committere. Das sollte schon die eigentüm-
liche, nur zum Überreden geschickte Schreibart Schleiermachers jedem
fühlbar machen. Wir können uns aber bei diesem ersten Punkte (de
conditionibus a quibus singularum quarumque disciplinarum expositio
pendeat) nicht weiter aufhalten; sondern eilen zum zweiten: de derivanda
notione ethices, wobei sogleich auf eine andere Quelle der Meinungen
Schl.s hingewiesen wird, nämlich auf das platonische: to «/^ oV ttw? oV
j'f XI yycood-tii]-^ denn auch daran hängt seine Bedeutung: Sem und Wissen
haben wir nur fürei?iatidcr , und unterscheiden sie nur entgegenstellend;
worin zugleich liegt, daß sie in einem Höheren Eins sein müssen, welches
wir hier mit voraussetzen können, ohne uns zu kümmern, ob es auch nach-
gewiesen werden könne. Ultima verba mirationem facere possunt, quoniam
auctoris nihil magis Interesse debebat, quam hoc, ut, quid sit illud Unum,
accuratissime declaretur. Sed de hoc quidem mox: nunc in eo offendimus,
quod TO Esse et to Scire propterea, quod opposita sint, in altius aliquid, nes-
cimus utrum rem dicamus an notionem, concidere, et quasi coire legimus.
Simulatque concidunt, ad se invicem non possunt referri. Si vero eas
consideramus tanquam notiones disiunctas, tertiae subordinatas, tunc quidem
verum est, nonnullas utriusque notionis notas in hanc tertiam concidere;
sed non verum, ipsas notiones in hanc tertiam concidere. Hierbei das
Beispiel von einer geraden und krummen Linie, die nicht in eine vor-
gebliche Indifferenz des Geraden und Krummen zusammenfallen, wohl
aber sich der Abstraktion darbieten, welche zum allgemeinen Begriffe der
Linie, unbestimmt, ob sie gerade oder krumm sei, hinführt. Jenem
platonischen Satze wird übrigens das mathematische Wissen entgegen-
gestellt; mathematicae enim cognitionis obiecta revera non sunt, et tamen
nullum cognitionis genus in tanta amplitudine firmius est, quam hoc, quod
non ad rerum existentiam, sed ad meras notionum relationes pertinet.
Weiter die logischen Verwirrungen rügend, kommt der Verf. auf Schl.s
Satz: Wenn im Aufsteigen die Gegensätze sich vermindern, so kann man
nur zum Höchsten aufgestiegen sein, wenn sie ganz verschwunden sind.
Quod si recte intellectum esse ponimus, § 2g ita vertere licebit: „summa,
quam quaerimus scientia, est ea, quam invenimus, si non solum ab rebus
singulis, quae sunt et cogitantur, sed etiam ab ipsis cogitandi et essendi
notionibus abstrahimus." Dolemus quidem, quod hac operatione neu-
tiquam evehimur ad identitatem eorum, a quibus abstraximus mentem;
non audemus dicere, ad quam notionem tum simus perventuri; miramur
denique, quod quis hac ratione ad cognitionem aliquam, eamque pro-
fundissimam (nescio an summam) , se pervenisse sibi possit persuadere ;
omnia enim, quae antea sciveramus, ex cogitatione nostra revera evan-
uerunt ; sed his missis illud certe nacti nobis videmur, ut viam et rationem,
qua ad illam summam, quae praetenditur, scientiam perveniatur, esse illam
ipsam facilem abstrahendi operationem logicam intelligamus. Sed Schi,
quidem hoc, quod fecisse videbamur, lucrum nobis minima concedit; nam
■2 1 o J- F. Herbarts Rezensionen.
quasi eorum, quae paucis lineis antea dixerat, plane oblitus esset, ita
pergit: Das höchste Wissen ist aber auch gar nicht einen bestimmten
Umfang bezeichnend; et porro: Wenn man durch Aufsteigen vom Be-
sonderen zum Allgemeinen das höchste Wissen erreichen könnte, so hätte
es einen Umfang. His qui non offenditur, nulla unquam interna repug-
nantia offendetur; tarnen forsitan concedet, eam, qua quis illa summa
scientia potiri possit, methodum plaiie in ancipiti relinqui.
Jetzt dringt der Verf. schärfer ein auf seinen Gegner, mit den beiden
Fragen: was enthält das höchste Wissen? und: was folgt daraus in An-
sehung der Würde und Unwürde des Willens? Schon der ersten Frage
kommt lauter Ungenügendes entgegen; der Inhalt des höchsten Wissens
läßt sich nicht aussprechen; die vorgeblich gebundenen Gegensätze sind
antitheses, quas, durn adsunt, evanescere, et dum evanescunt, adesse serio
docetur; ja es heißt gar wörtlich: ,^die Willkür beginnt^ und die Über-
zeugung kann nur fest iverden durch den Erfolg, daß nämlich eine zusammen-
hcmgende Ansicht des Wissens klar und bestimmt ausgesprochen werde;"
worauf der Verf. bemerkt: ipsa principii stabilitas suspenditur ab assensu;
qui singulis tribuendus sit; versamur in circulo satis rotundo, qui ab uni-
versalibus ad particularia, ab his ad illa nos versat. Und wenn am Ende
das Ineinander alles Dinglichen und Geistigen als das Höchste ausgesprochen
wird, findet sich hierin, so wie in der Verkettung der Ethik mit Physik
und Geschichte, nichts als verlarvter Empirismus, ohne den mindesten
spekulativen Gehalt.
Quaemadmodum enim, nisi in iis, quae experimur, se obtruderet
inter realis, quod dicitur, et idealis, subiectivi et obiectivi, naturae et
rationis notiones universales discrimen, in Unius absoluti notione mala in-
esset causa^ ad hanc potius quam ad aliam quamcunque antithesin descettdendi,
ita etiam scientiae de ratione ve! de natura in illa summa scientia, quae
per se neque ad hanc neque ad illam pertinet, nuUus est fons et origo.
Über die zweite jener Fragen können wir kurz sein, nachdem gleich an-
fangs schon aus dem letzten Kapitel das Nötigste erwähnt worden. Schi,
redet von der Sittenlehre als einem spehdativen Wissen; auf der einen
Seite (sagt er) ist sie als beschauliche Wissenschaft angesehen, gleich und
beigeordnet der Naturwissenschaft; auf der anderen Seite als Ausdruck
der Vernunft ist sie gleich und beigeordnet der Geschichtskunde. Natür-
lich fragt nun der Verf.: was demjenigen begegnen werde, der eine sitt-
liche Norm für die Leitung seines Willens suche? Ethicam, meminerit,
ipsi non plus consilii et certitudinis praebere posse, quam ex physicae
et historiae thesauris possit depromi. Wir müssen hier unseren sehr un-
vollständigen Bericht abbrechen, und es bleibt nur noch ein Wort hin-
zuzufügen wegen einer Note, worin die analytische Beleuchtung des Natur-
rechts und Moral erwähnt, und auf eine neuerlich dagegen erhobene
Opposition etwas erwidert wird. Die Antwort ist gerade dieselbe, welche
wohl jedem, der die Lehre des Unterzeichneten näher kennt, einfallen
mußte; nur die Worte: critico illi certe historice notum esse debebat,
möchten etwas hart klingen. Ohne Zweifel wußte der gelehrte Gegner,
was gegen die Ansicht von den Seelenvermögen, als gegen eine Mytho-
logie, längst gesagt worden. Beharrt er aber bei dieser gewöhnlichen
Maur. Guil. Drobisch: Quaestionum mathematico-psychologicarum fasciculus I. ^ii
Ansicht, so mußte ihm wohl die Frage vorliegen: was man dabei gewinne,
wenn man die ästhetische Urteilskraft über die praktische Vernunft setze?
In der Tat nichts, sobald man das Kantische sie volo, sie iubeo, welches
alle weitere Frage kategorisch abschneidet, von der praktischen Vernunft
auf die ästhetische Urteilskraft überträgt. Aber die ästhetische Urteils-
kraft (wofern es eine solche gibt) ist nicht gewohnt zu befehlen; sie redet
nicht in Machtsprüchen, deren sie gar nicht bedarf; nicht vom Universum
so, als ob sie es kennte, und sich auf metaphysische Fragen einlassen
müßte. Die sittlichen Imperative haben tiefer liegende Gründe, welche
ebensowenig Befehle als Naturgesetze sind. Die Sittenlehre kann weder
vom Sollen noch vom Müssen ttrspiünglidi beginnen; und doch sind dies
die beiden Punkte, wozwischen die gewöhnlichen Meinungen schwanken.
Drobisch, Mauritio Guilielmo, auctore, in univ. Lips. P. P. O., Quae-
stionum mathematico-psychologicarum fasciculus I. Accedit
tabula lithographica. — Leipzig, bei Leopold Voss, 1837. 60 S. in 4.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1837, Nr. 104. SW. XII, S. 761.
Von diesem fasciculus, welcher vier specimina in sich faßt, haben
wir die erste Hälfte (zwei früher erschienene Gelegenheitsschriften) schon
in diesen Blättern angezeigt; es bleibt also nur noch übrig, von der letzten
Hälfte Bericht zu erstatten. Den Unterschied der Statik und Mechanik
machen schon die Überschriften bemerklich, nämlich durch den Zusatz:
statici argumenti beim ersten und zweiten, mechanici argumenti beim
dritten und vierten specimen. Es war aber nicht bloß wichtig, diese
Analogie mit der Körperlehre zu zeigen, soweit sie reicht, sondern auch
sie zu beschränken, damit sie nicht über ihre wahren Grenzen ausgedehnt
werde. Die Art, wie der Hr. Verf. dies im scholion der dritten Ab-
handlung dartut, indem er durch Rechnung die Ungereimtheit vor Augen
legt, welche aus der Übertreibung folgen würde, hat uns besonders inter-
essiert; ehe wir darauf kommen, müssen wir des Zusammenhanges wegen
einiges voran schicken, was freilich die von Hrn. Dr. gewählte Darstellung
nur unvollkommen bezeichnen kann, da wir den Vortrag abkürzen müssen.
Datis compluribus notionibus contrariis, a, b, c, . . . animo simul propo-
sitis, — obscurantur, h. e. coercentur omnes ad aequilibrii statum usque,
quo summa pressionum omnium iacturam, et singulae cuiusvis notionis
pressio quotum iacturae legitimum, secundum leges siaticas determinandum,
aequat. Fit autem transitus a statu libero ad hanc aequilibrii conditionem
per gradus continuos: quare continuam hanc claritatis mutationem motum
vocare, et de descensu notionum ad punctum aequilibrii, vel etiam ipsum
Urnen usque loqui licebit. (Hier folgt eine kurze Erwähnung der mechani-
schen Schwelle des Bewußtseins, im Gegensatze der statischen Schwelle.)
His praemissis statuamus, indefinitio numero in animum intrare notiones
contrarias a, b, c, . . . Designemus iacturam per S, et partes eius singulis
notionibus distribuendas deinceps per q'S, q"S, q"'S, . . . partem iacturae
■2 12 J- F. Herbarts Rezensionen.
elapso tempore / depressam per — , partes denique huius — ad singulas
notiones referendas deinceps per n', n", o'", . . . Quo facto primum patet,
fore ö' = q'S; o" = q"S; o"' = q"'S. — lam vero subsistamus in una
notione, v. c. a; cuius iacturam elapso tempore i vere factam o, et partem
proportionalem iacturae integrae ^6" appellemus. Significat igitur a id cogi-
tationis, h. e. actionis cogitandi quantum, quod oppressum est, ideoque ex
animo evanuit. Eo ipso vero modulo, quo cogitationes coercentur et
intenduntur, vires gignuntur ad recuperandum pristinum libertatis statum
suscitantes. (Diesen Hauptpunkt konnte freilich das vorliegende, dem
Kalkül bestimmte, Programm nicht entwickeln; und auch wir müssen ihn
hier, als aus unseren früheren ausführlichen Darstellungen bekannt, vor-
aussetzen.) Sic cogitatio a quantitate o imminuta vim illam suscitantem
'J . . . o
gradu — exercet; ipsa igitur vis erit = — . a ^ o. Ergo quantitas o
a a
duplicein habet significatum: indicat enim non solum partem iacturae factae,
sed simul vim. lam vero eo sensu, quo vis est, o resistit oneri, quod
ipsi a iactura imponit, h. e. actionibus reliquarum notionum infensis.
Quare quum illud onus sit ^ qS, vis ad descendendum cogens restat
= qS — o, quae tarnen proximo tantum temporis momento dt hac quan-
titate aget. Haec igitur est vis acceleratrix notionis motae a. — Celeritas
do
igitur simili modo, quo in mechanica communi, per formulam v = — ex-
primi poterit. Si quis vero hac principiorum similitudine ad transferendos
in psychologiam mathematicam caeteras formulas fundamentales corporum
d2s
dv = f/dt; -— — = f/' induceretur, vehementer erraret. (Nun folgt Zurück-
führung dieser Formeln auf die Trägheit der Körper.) Sine dubio eadem
rei conditio in mechanica mentis esset, si cogitatio notionis et imago
eiusdem (das Vorstellen und das Vorgestellte) re vera differrent. Quod
utique non est concedendum. — Actionis ad actum quasi transeuntis ne
vana quidem hie adest species: nihil enim est, ad quod vis transire, nihil,
quod, quasi manu missum, proprio Marte motum continuare queat. — -
dö
Valent igitur in mechanica mentis hae formulae: da = adt; et v ^ —
dt
= (f)\ e quibus apparet, quantitatem celeritatis semper hie aequare quan-
titatem acceleratricis. Dies wird für Mathematiker vollkommen ver-
ständlich sein. Daß aber auch die Sache sich so verhalten müsse, wird
ihnen vollends klar werden durch das scholion, wo die falschen Annahmen
/ da\
dv = (qS — o) dt, und I wegen v = -- 1
auch vdv = (qS — a) do
verfolgt werden. Es kommen nämlich Formeln heraus, die eine oscilla-
torische Bewegung anzeigen, dergleichen hier durchaus erfahrungswidrig
sind, indem solchergestalt die Vorstellungen sich ihrem Gleichgewichte
nicht einmal annähern würden.
Ein anderes Hilfsmittel der Deutlichkeit, dessen jeder Mathematiker
leicht entbehren kann, das aber den Nicht- Mathematikern gerade am
J. W. Semple: The metaphysic of ethics etc. 313
nötigsten ist, gewährt die lithographierte Tafel, wo das Sinken und Steigen
der Vorstellungen auf gewohnte Weise durch die Kurven versinnlicht
wird, welche den in der Rechnung vorkommenden Funktionen entsprechen.
Wir können nicht weiter ins Einzelne gehen, müssen aber noch der
Schlußanmerkung des ganzen fasciculus gedenken. Der Verf. hatte wegen
Bestimmung der Hemmungssumme bei verschiedenen Graden des Gegen-
satzes folgende Regel aufgestellt: iactura minimam aequat summam produc-
torum e gradibus, quibus singula quaevis notio reliquis Omnibus contraria
est, in robora earundem. Diese Worte verteidigend und erklärend fügt
er jetzt hinzu: impedit enim phrasis ^^singida quaevis"^ quo minus una ex
illis, quae formari possunt, summis omittatur, praecipitque, quod praecedit,
vocabulum „minitnatn'\ eam eligere ex his Omnibus summam, quae vera
iactura est. Wir wollen nun nicht fragen, ob jener Ausdruck wirklich
eine deutliche Vorschrift, verschiedene Summen zu bilden und die kleinste
auszuerwählen, enthalte; denn schon auf S. 7 finden wir jetzt eine Ab-
änderung des früheren Textes, wodurch dem Mißverstehen der Worte,
welches dem Unterzeichneten begegnet war, vollkommen vorgebeugt ist.
Hr. Dr. hat jetzt die sämtlichen Unterscheidungen, auf die es ankam,
vollständig angegeben; und indem er bezeugt, daß die nämlichen Regeln
sich im § 52 des Buchs: Psychologie als Wissenschaft usw., schon be-
finden, können wir diese Übereinstimmung auch unsererseits nur bestätigen,
ohne daß es nötig wäre, über kleine Abweichungen des Vertrags zu
rechten.
Semple, J. W., Advocate, The metaphysic of ethics; by Immanuel
Kant; translated out of the original German, with an intro-
duction and appendix. — Edinburg, bei Thomas Klarck (und zu
Hamburg bei Nestler & Melle), 1836. CXVIH u. 378 S. Oct.
Gedruckt in: Gott, gel. Anz. 1837, Nr. 120. SW.,XIII, S. 629.
Besser zu spät als niemals! Die Kantischen Schriften, denen wir in
unseren Jugendjahren eine wesentliche Beihilfe für unsere Studien zu ver-
danken hatten, finden jetzt endlich wenigstens teilweise in Edinburg soviel
Aufmerksamkeit, daß die vorliegende, offenbar sorgfältige Übersetzung, in
allem dort üblichen, bei uns seltenem typographischen Glänze erscheinen
konnte. Freilich nicht das Hauptwerk, die Kritik der reinen Vernunft;
auch nicht die, für die spätere Geschichte der Philosophie so wichtig ge-
wordene Kritik der Urteilskraft, — aber doch das kleine, sehr schätzbare
Büchlein unter dem Titel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; dann
von der Kritik der praktischen Vernunft ein beträchtlicher Teil (es fehlt
das Ende des ersten Hauptstücks, nämlich was bei Kant die Überschriften
trägt: von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft ;
und: von dem Befugnisse der reinen Vernunft im praktischen Gebrauche, zu
eifier Erweiterung die ihr im spekulativen für sich nicht tnöglich ist ; femer
fehlt das zweite Hauptstück: von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen
Praktischen Vernunft; dagegen ist das dritte Hauptstück, von den Trieb-
, j . J- F. Herbarts Rezensionen.
federn der reinen praktischen Vernunft, in die Übersetzung aufgenommen;
das Nachfolgende fehlt wiederum): hierauf ein Stück von Kants meta-
physischen Anfangsgründen der Rechtslehre, nämlich die Einleitung; und
alsdann noch die Tugendlehre: dies findet sich hier beisammen, und wird
vorbereitet durch eine introduction, containing some account of the in-
quiries into the reach and extent of the a priori Operations of the human
mind. Natüdich ist diese Vorbereitung darauf berechnet, die großen
Lücken der Übersetzung einigermaßen zu füllen; daher kommt uns hier
überall das Bekannte aus der Kritik der reinen Vernunft entgegen; einige
Sätze, die wir ausziehen wollen, können als Proben der Schreibart dienen.
What truth soever is necessary, and of universal extent, is derived to the
mind from its own Operation, and does not rest on Observation and
experience; as, conversely, what truth or perception soever is present to
the mind, with a consciousness, not of its necessity, but of its contingency,
is ascribable not to the original agency of the mind itself, but derives its
origin from Observation and experience. Daraus könnte nun sogleich
geschlossen werden, daß die räumlichen und zeitlichen Gestaltungen der
Dinge als zufällig, lediglich in der Beobachtung ihren Grund haben;
weil aber Kant einen Schlußfehler begangen hat, der so anfängt: man
könne sich zwar die Dinge im Räume, aber nicht den Raum wegdenken
(wogegen wir längst erinnert haben, daß man zwar die Wirklichkeit, aber
nicht die Möglichkeit der einmal gegebenen Dinge, und dauim auch nicht
den Raum wegdenken könne): so hebt nun der Verf. mit dem Satze an:
Space is a necessary representation ; ohne auch nur dies, was bei Kant
das zweite ist, vorzubereiten durch den ersten Kantischen Satz, in welchem
eine sehr wichtige Wahrheit liegt; damit gewisse Empfiridungen auf etwas
außer mir bezogen werde, dazu muß die Vorstellung des Raumes zum
Grunde liegen. Die Frage, kann man Raum und Zeit unmittelbar emp-
finden? ist weit verschieden von den übereilten Schlüssen, die man daran
geknüpft hat; was wir aber beim Verf. finden, verrät gerade die nämliche
Zuversicht der Einseitigkeit, die bei uns lange genug in den Kantischen
Schulen einheimisch 'war. The sensory exhibited two unalterable intuitions,
which by their necessity and universality of extent, we discovered to be
a priori ; and in the like manner, by virtue of the same postulate, we
instantly become aware that the understanding possesses a standing ne-
cessary a priori representation, that of myself, or I. — The sensory
receives impressions and modifications of various kinds. These it arranges
by virtue of its laws, according to a System of externality and succession;
(woher nun bei diesen stets gleichen Gesetzen die Ungleichheit dessen,
was mit verschiedener Gestaltung sinnlich gegeben wird?) but impressions
are quite detached and vague as they enter the sensory; the most be
combined by the understanding, so as to constitute knowledge of an object.
The orange I behold I figure to myself as one: but the different Clements
of that objective perception, the smell, colour, weight etc. have entered
through as many different gateways into the mind, and it is piain that,
so far as our receptive part is concerned, they lie scattered and disjointed
on its surface. That which is represented is notwithstanding one; whence
we infer that the understanding must have effected a combination of these
J. W. Semple : The metaphysic of ethics etc. 315
diverse intuitions : — und nun geht mit bekannter Dreistigkeit der Schluß
fort bis zu einem act of his own spontaneity, ohne zu untersuchen, warum
diese vermeinte Spontaneität nicht beUebig die vorgeblich zerstreuten Merk-
male verschiedener sinnlicher Dinge durcheinander wirft, — und etwa
den Duft der Orangen an die Gestalt der Birne, oder den Geschmack
der Birne an die Gestalt des Apfels knüpft, oder umgekehrt? Zu rühmen
ist übrigens die Lebendigkeit, womit der Verf. diese Dinge vorträgt. Nicht
wenig gefällt er sich in der Lehre von den Kategorien. Da findet er
abgeleitete oder Quasi-Kategorien. When causality is attributed to substance,
the notion power emerges. The definition of power (which Hume called
in question) therefore is, that it is causality considered as residing in
substance. Sollte wohl Hume durch diese Namenerklärung gelernt haben,
wie, und mit welcher Notwendigkeit aus der Ursache die Wirkung, und
wie aus dem, was etwa gewirkt worden, unsere Kenntnis dieses Wirkens
hervorgehe? Aber die Liebhaberei des Verfs. strebt weiter. Kant seems
at one time to have intended giving a complete chronicle of all composite
a priori notions. It is very much to be regretted that he never completed
this gallery of the intellectual anliqrces. Such a museum would have been
a favourite and frequented study by all future metaphysic dileüanti
From the combination of the category with ideas spring the various cogi-
tations treated of in psychology, theology and cosmology. Er wendet
sich indessen bald auf die gebahnte Straße zurück. Da folgt also auf die
Kategorien der Schematismus; auf den Schematismus folgen die Grund-
sätze des reinen Verstandes. Es fehlt auch nicht an hochtönenden Über-
schriften; so lesen wir oben über mehreren Blättern mit großen Buch-
staben: ontology, psychology, cosmology, and theology, are impossible.
Da jedoch dies alles vollkommen bekannt ist, so wollen wir, anstatt uns
dabei aufzuhalten, bemerken, daß der Verf. auch auf die Fichtesche Lehre
einen Blick zu werfen scheint, freilich nur, um sogleich mit dem Be-
kenntnis der Unbegreiflichkeit sich wieder abzuwenden. I am conscious
of myself, is a thought containing a twofold I. I as subject, and I as
object. How it is possible that I, the cogitant, can become an object
of my own intuition, and so contradistinguish myself from myself, is quite
inexplicable, and yet a most undoubted fact. Wie sicher aber auf dem
Kantischen Boden der Verf. sich fühlt, davon können wir nicht umhin,
eine auffallende Probe anzuführen; besonders da ganz offenbar die Absicht
an den Tag gelegt ist, daß sie auffallen soll. Nicht bloß die letzten
Seiten der Introduktion sind überschrieben: of the necessary falsehood of
every other System (welches wohl schon hinreichen möchte, um die Stärke
eines neu erwachten Parteigeistes zu bezeugen), sondern der Schluß lautet
folgendermaßen: iThe System of metaphysic ethic is now laid before the
reader; and the falsehood of every other System of metaphysic, which
may usurp the name of science, will become patent, when this Standard
test is brought to bear upon it, — How is synthetical a priori knowledge
possible: for the future metaphysic must first confute Kants answer to
the question: how geometry and physical science are atteined: it must
next give a different and satisfactor}^ answer to these questions, and so
pave the way for the march of the new coming (?) metaphysic. Where
T j5 J- f. Herbarts Rezensionen.
this is not done (and iii o case of ihis kind^ silence is conjession) the System must
needs of necessity be false : and the advantage of knowing this beforehand
is, that hence forward mankind may spare themselves the lost time and
trouble of reading theories like these of Fichte, Schelling, Hegel, or
Herbart, which, being founded on wilfui mistakes, keep moving ever
after through a sad labyrinth of inextricable errors. Wir ermangeln nicht,
diese Mahnung des Hrn. Advokaten Semple durch gegenwärtige Blätter
zur allgemeinen Kunde zu bringen, damit nicht Stillschweigen jemanden
zur Präklusion führen möge. Unsererseits haben wir kein Stillschweigen
mehr zu brechen über Dinge, worüber längst die Untersuchungen öffent-
lich bekannt sind, wovon ein Teil zur Methode der Beziehungen Anlaß
gab. In der Tat hatte der Unterzeichnete nicht erwartet, eine solche
Höflichkeit, wie die vorstehende, von Edinburg aus zu empfangen; es
muß wohl dort nicht bekannt geworden sein, daß ihn sein Aufenthalt und
sein Lehramt in Königsberg beinahe ein Vierteljahrhundert lang in den
Fall gesetzt haben, sich fortwährend in besonderem Grade die Hauptpunkte
der Kantischen Lehre zu vergegenwärtigen. Es gibt keinen andern Ort,
von woher in dieser Hinsicht eine stärkere und wirksamere Erinnerung
kommen könnte. Übrigens wurden schon im Jahre 1 808 hier in Göttingen
die Hauptpunkte der Metaphysik gedruckt, in welchen folgende Zeilen zu
lesen sind S. 6:
„Soll es Synthesis a priori geben, so muß sich das Bedürfnis der-
selben, ehe sie vollzogen wird, durch einen Widerspruch verraten; und
in diesem allein kann ihre Rechtfertigung liegen. Denn: sei B dem
A durch Synthesis a priori, also notwendig, zu verbinden: so muß A
ohne B unmöglich sein. Die Notwendigkeit liegt in der Unmöglichkeit
des Gegenteils. Unmöglichkeit eines Gedankens aber ist Widerspruch."
Ohne weitere Erläuterung (die nicht erst hier soll gegeben werden) liegt
in diesen Worten die Andeutung, daß die Aufstellung jenes Fragepunkts
zwar als ein wichtiges Verdienst Kants betrachtet, seine Beantwortung
hingegen als unpassend angesehen wird; einem Buche aber, welches
lediglich die Kantischen Lehren wiederholt, kann überall nicht eingeräumt
werden, daß ihm zukomme, auf neue Untersuchungen dieses Gegenstandes
anzutragen. Wir maßen uns nicht an, zu beurteilen, inwiefern eine solche
Chrestomathie aus den Kantischen Schriften, wie die vorliegende, für
Edinburg zweckmäßig sein möge; es mag wohl eben so schwer sein, von
hier aus über den dortigen Zustand der Wissenschaft zu urteilen, als es
dort unsicher zu sein scheint, über die Lage der Philosophie in Deutsch-
land abzusprechen.
Dr. H. G. Brzoska : Die Notwendigkeit pädagog. Seminare auf der Universität. 317
Brzoska, Dr. Heinr. Gust, Prof. an der Universität zu Jena, Die Not-
wendigkeit pädagogischer Seminare auf der Universität,
und ihre zweckmäßige Einrichtung. — Leipzig, bei Barth, 1836.
XII u. 350 S. Oct.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1837, Nr. 152. SW. XII, S. 770.
Praktische Erziehung in einem kleinen Kreise so zu veranstalten, daß
dadurch jungen Männern, die sich dem Lehrstande \\ädmen, Gelegenheit
zur nötigen Vorübung gegeben werde, ist die Aufgabe eines pädagogischen
Seminars. Möglichst klein muß dieser Kreis sein, schon deshalb, weil
jede Übung, imd so auch die pädagogische, vom Einfacheren zum Zu-
sammengesetzteren fortschreiten soll; und weil aus der Anhäufung einer
größern Menge von Zöglingen allemal Schwierigkeiten entstehen, welche
teils auf die Disziplin drücken, teils den Unterricht in ein gewisses Geleise
hineinbringen, aus welchem er, wo es auf Verbesserung der Lehrmethoden
ankommt, nicht leicht herausgehen kann. Auch in einem kleinen Kreise
noch bleibt die Schwierigkeit, zugleich für die Zöglinge, und für zweck-
mäßige Übung der Seminaristen zu sorgen, sehr groß; und man wird sie
niemals ganz überwinden, wenn einerseits die Zöglinge nach dem Belieben
der Eltern ein- und austreten, andererseits nicht immer junge Männer
genug in der Nähe sind, welchen, als Seminaristen, man den Unterricht
in den verschiedenen Lehrfächern anvertrauen kann. Letzteres gilt ins-
besondere da, wo vom gelehrten Unterricht die Rede ist, denn dazu ist
unstreitig Gelehrsamkeit die erste — und doch nicht die einzige Be-
dingung, denn das pädagogische Talent muß hinzukommen. Einem
Schriftsteller nun, der von der Einrichtung eines pädagogischen Seminars
handelt, kann es leicht begegnen, daß er Forderungen aufstellt, die sich
auf dem Papiere gut ausnehmen, in der Praxis aber kaum ausführbar
sind; Gleichwohl aber darf man ihm dies nicht übel deuten; denn wenn
ihm kein Ideal vorschwebt, läuft er nicht bloß Gefahr ins Kleinliche zu
verfallen, sondern auch in seinen Gedanken selbst an solchen Schwierig-
keiten zu kleben, die wirklich nicht überall und nicht immer vorhanden
sind, vielmehr unter günstigen Umständen und bei gutem Willen sich in
der Tat wohl heben lassen.
Dem Vorwurfe, die Forderungen zu hoch zu spannen, wird das an-
gezeigte Buch schwerlich entgehen. Darum wollen wir sogleich eine ge-
wisse, sehr rühmliche Eigentümlichkeit desselben bemerkiich machen, wo-
durch das Gewicht eines solchen Vorwurfs großenteils aufgehoben wird.
Hr. Prof. Brzoska redet nämlich in diesem Buche keineswegs allein;
sondern er verstärkt seine Stimme durch die Stimmen sehr vieler anderer
Schriftsteller, aus verschiedenen Zeiten und Kreisen; so daß man wirklich
überrascht wird durch die Gewalt der Mahnungen, die sich von allen
Seiten vernehmen lassen. Da hört man bald Graser, Gedicke, Pölitz,
Stephani, bald Plato, Aristoteles, Quintilian, Melanchthon, Luther;
da stehen nebeneinander Muretus, Ruhnken, Ernesti, Wolf, Ruh-
kopf, Creuzer, Eichstädt, Jean Paul, Hegel, Koch, vak Heusde, —
doch wir würden ein allzulanges Register hersetzen, wenn wir auch nur
l8 J. F. Herbarts Rezensionen.
die Namen derjenigen angäben, welche hier nicht bloß zitiert, sondern
von welchen in der Tat willkommene und lesenswerte Stellen mitgeteilt
sind. ]\Iag das immerhin gelehrter Luxus sein: er ist nicht lästig und
nicht überflüssig, wo es darauf ankommt, eine Tätigkeit zu wecken, um
große Schwierigkeiten zu überwinden. Und man wird nicht leugnen
können, daß Hr. Br. sich durch diesen Umfang einer Gelehrsamkeit, die
er zu brauchen weiß, empfiehlt, und gegen den Verdacht der Einseitig-
keit sichert.
Die Vorrede sagt, Hr. Br. habe im pädagogischen Seminar zu
Königsberg die Anregung zu seinen pädagogischen Studien erhalten. Damit
kann es wohl bestehen, daß er nicht in allen Punkten mit dem Unter-
zeichneten übereinstimmt, und selbst die Abweichung, wäre sie auch größer
als sie ist, könnte als Beweis des eigenen Denkens zur Empfehlung bei-
tragen. Er fordert ein theoretisches und praktisches Studium der Päda-
gogik, und hiermit auf den Universitäten nicht bloß pädagogische Vor-
lesungen, sondern auch ein pädagogisches Seminar. Im ersten Teile des
Buchs wird die Notwendigkeit eines solchen theoretisch aus dem Wesen
der Pädagogik entwickelt; im zweiten praktisch und erfahrungsmäßig; im
dritten werden besondere Vorteile angegeben, die mit der Errichtung
solcher Seminare verbunden seien; im vierten ist von der Einrichtung
derselben die Rede. Vom ersten Teile wollen wir nur die Einteilung der
Pädagogik in ihre einzelnen Doktrinen kurz anführen: Encyklopädie und
Methodologie der pädagogischen Wissenschaften; allgemeine Pädagogik;
das Unterrichtswesen (Didaktik und Methodik); Religions- Unterricht;
Schulkunde; Schuldisziplin; Schulrecht; Erziehung in Familien, Pensions-
Anstalten und Waisenhäusern; Geschichte der Erziehung und des Schul-
wesens; Bücherkunde der Pädagogik; Staatspädagogik. Auf diese Aus-
breitung von Disziplinen bezieht sich im zweiten Teile die Klage, daß
der Vortrag der Pädagogik auf den Universitäten zu kurz sei. Diese
Sache liegt anders. So wenig auf Quarta die Lektionen der Prima passen,
ebensowenig kann in den Jahren des akademischen Studiums schon das
ganze Gewicht teils dessen, was sich auf Erfahrungen des späteren Lebens
bezieht, teils der Konsequenzen, die aus einer Wissenschaft in die andere
übergehen, fühlbar gemacht werden. Nicht auf die Menge der Vorträge
kommt es an, sondern auf die Vorbildung und Aufmerksamkeit, die dazu
mitgebracht wird. Staatspädagogik nützt denen nicht, welche vom Organis-
mus des Staats, von seinen Behörden und Ständen noch wenig wissen;
und was die allgemeine Pädagogik anlangt, so hängt der Vortrag und das
Verstehen derselben so genau mit praktischer Philosophie und Psycho-
logie zusammen, daß, wenn hier an der richtigen Verbindung etwas fehlt,
auch durch die größte Weitläufigkeit der Mangel nicht gedeckt werden
kann. Leicht mag es denen, welche nicht gehörig vorbereitet kommen,
begegnen, den Vortrag so zu hören, als ob er sich recht füglich in eine
andere, ihnen bekanntere Sprache übersetzen ließe; den systematischen
Gang im Auge zu behalten, ist manchem zu beschwerlich.
Die dritte Abteilung macht bemerklich, daß mancherlei Spezielles,
namentlich Monographien über einzelne Bildungsmittel, Charakteristik der
Individualitäten und Sammlung erworbener Erfahrungen, am besten in
Dr. K. Vogel : Schulatlas mit Randzeichnungen. 31g
pädagogischen Seminaren gedeihen. Wir würden hierin noch sicherer,
als schon jetzt der Fall ist, mit dem Verf. übereinstimmen, wenn uns
nicht eine Stelle in der vierten Abteilung Bedenken erregte. Da finden
sich neben recht guten Angaben über die Arbeiten der Seminaristen auch
kurze Äußerungen über das, was den Grund und Boden eines päda-
gogischen Seminars ausmachen muß, die bei aller Kürze gar sehr ins
Große gehen. Mit dem Seminar müsse eine gelehrte Unterrichtsanstalt,
alle Arten von Bürgerschulen, mit Einschluß einer Anstalt, worin der Unter-
richt wie in den Dorfschulen erteilt werde, eine vollständige Erziehungsanstalt
für höhere und niedere Stände verbunden sein. Die Unterrichtsanstalten
sollen auch nicht bloß Knabenschulen sein, sondern nebenan müssen noch
Mädchenschulen sein; — der Direktor des Seminars müsse zugleich
Direktor aller zu demselben gehörenden Schulanstalten sein. Diese Größe
(kaum erträglich für den Direktor selbst, noch weniger aber für seine
Mitarbeiter) möchte wohl das Gegenteil der von uns verlangten Kleinheit
werden. Je größer, je schulmäßiger, desto mehr würde die Eigentümlich-
keit des Seminars verloren gehen. Je mehr das Bedürfnis des Unter-
richts für die Kinder vorwiegt, desto mehr erneuert sich der Druck, der
Drang, den alle Schulen empfinden, wo man heute die Bewegung fort-
setzen muß, in die man gestern geraten war. Man kann die ausgefahrenen
Geleise nicht verlassen; man hat Massen vor sich, anstatt Individuen zu
beobachten. Doch es ist nicht nötig, dies weiter auszuführen. Päda-
gogische Seminare werden allemal zuerst nach den Ansichten derjenigen
sich richten, von denen sie angeordnet und geleitet werden; späterhin
werden sich Notwendigkeiten geltend machen, auf die man nicht gerechnet
hatte. Der Verf., sollte er eine Anstalt nach seinem Sinne stiften, würde
bald einen Wald neben sich aufwachsen sehen, der ihm zu dicht werden
könnte. Aber zusammenstellen, was alte und neue Pädagogen geschrieben
haben, es mit Kraft und Feuer vortragen, das Gefühl des pädagogischen
Bedürfnisses anregen: das ist ihm in solchem Grade gelungen, daß man
hierin mehr von ihm erwarten darf. Wir erfahren, daß er eine Art von
pädagogischer Bibliothek beabsichtige; ein literarisches Unternehmen, wozu
ihm die Mitwirkung tüchtiger Männer zu wünschen ist.
Vogel, Dr. K., Schulatlas mit Randzeichnungen. — Leipzig 1837.
Gedruckt in: Brzoskas Centralbibliothek für Pädagogik 1838, Nr. 5.
In Willmanns Herbarts pädag. Schriften II, S. 273.
Dieser Atlas läuft zwar wohl Gefahr, in Bezug auf die ihm eigen-
tümlichen arabeskenartigen Einfassungen von einigen strengen Richtern
für eine zierliche Spielerei erklärt zu werden. Auch mögen ästhetische
Kritiker fragen, ob man eine Landkarte für einen Gegenstand halte, der
sich zu Verzierungen eigne? Unbefangene Beurteiler werden jedoch hier
den Ernst im Spiele und im Zierlichen das Nützliche erkennen. Bekannt
genug ist die Schwierigkeit, beim geographischen Unterricht die jungem
Schüler in eine zweckmäßige Tätigkeit zu setzen, welche im bloßen Aus-
0 20 J- ^' Herharts Rezensionen.
wendiglernen der Namen nicht bestehen kann. Eine von den Bedingungen,
die Schwierigkeit zu haben, besteht nun gewiß darin, den Schülern stets
den Gedanken gegenwärtig zu halten, der Boden, welchen die Karte an-
deutet, sei in mannigfaltiger Verschiedenheit bewachsen, belebt, bewohnt,
benutzt und teilweise erfüllt von Denkwürdigkeiten aus früherer Zeit.
Hieran zu erinnern dienen die bunten Einfassungen, und gerade das
Bunte, wodurch das Auge bald hierhin bald dorthin gezogen wird, ver-
bunden mit dem Ausdrucksvollen und Kontrastierenden, was man aus
dem Mancherlei nur allmählich herausfindet, gewährt die Vorstellung eines
reichen Vorrates, wonach der Reisende in den Ländern würde zu suchen
haben.
Hr. Dr. Vogel hat sich auf ein Wort von mir berufen: die Geo-
graphie sei eine assoziierende Wissenschaft (Umriß § 269); und in der Tat
dient jene arabeskenartige Einfassung, Gegenstände der Zoologie, Botanik,
Geschichte mit dem eigentlich Geographischen in Verbindung zu bringen.
Darf ich Sie oben an die vier Worte meiner Pädagogik erinnern: Klar-
heit, Assoziation, System, Methode — so liegt darin die Bemerkung, die
Klarheit des Einzelnen solle der Assoziation vorangehn, und die syste-
matische Zusammenfassung des Ganzen solle denselben nachfolgen. Was
ist nun dasjenige Einzelne, dessen klare Auflassung die Schüler schon
gewonnen haben, oder wenigstens jetzt gewinnen müssen, falls es teilweise
früher nicht möglich war? Der Schulatlas nennt im Vorworte Konfiguration,
Elevation, Negation, Animalisation, Population als dasjenige, was er ver-
einen will. Soll ich mir dies als einstimmig mit meinen Grundsätzen
auslegen: so sind Übungen in Auffassung der Konfiguration und Elevation
dem geographischen Unterrichte schon vorausgegangen; desgleichen hat
der Schüler auch schon die nötigen botanischen und zoologischen, ja wir
wollen hinzusetzen, die ersten technologischen und überhaupt auf mensch-
lichen Verkehr sich beziehende Vorkenntnisse ; nun kommt die Geographie,
um jenes alles nach ihrer Art zu verbinden; und mit ihr kommen die
ersten historischen Notizen über die Vorzeit jenes Landes, welche sich
nicht füglich vorausschicken lassen, aber jetzt auch nicht weiter hinaus-
geschoben werden dürfen. So denke ich mir den ersten geographischen
Kursus, während späterhin die verschiedenen, hier assoziierten Lehrfächer,
ihren eigenen und zwar systematischen Gang von neuem antreten werden,
während auch die Geographie selbst ihren zweiten Kursus machen wird,
zu welchem sie einen weit vollständigeren, aber nicht mit Randzeichnungen
versehenen Atlas nötig hat. Aber der vorliegende kleine Atlas gehört
dem ersten Kursus des geographischen Unterrichts, und zu diesem würde
ich ihn empfehlen — wenn nicht eine Zeile des Vorworts widerspräche, oder
vielleicht nur schiene zu widersprechen, nach welchem der Atlas für den
ers/en geographischen Unterricht keineswegs bestimmt sein soll! Möglich,
daß der erste Unterricht kein zusammenhängender Kursus werden soll;
doch vermisse ich hierüber die Erläuterung.
Ferner die erste Bedingung, unter welcher eine Landkarte dem
Schüler nützlich wird, ist doch wohl die treue und feste Auffassung der
merkwürdigen Punkte in ihrer gegenseitigen Lage. Für den Jüngern Schüler
ist hier das Hilfsmittel der Länge und Breite viel zu weit hergeholt. Es
Hartenstein : Über die neuesten Darstellungen der Herbartschen Philosophie. 3 2 I
kommt auf Schätzungen durchs Längenmaß an, auf Übungen im Anschauen.
Wird hier nicht der Grund gelegt, so dringt nicht in den Geist ein, was
die Konfiguration der Landkarte dem Auge darbot. Wollte man sagen,
darum brauche sich nicht der Schulatlas zu bekümmern, sondern das sei
die Sache der Lehrer und Schüler: so wäre zu antworten, daß ebenso-
gut auch der Lehrer die Vorzeigung naturhistorischer Bilder, vollends die
Anführung historischer Namen und Jahreszahlen besorgen könne. Über-
nimmt einmal der Schulatlas, das Lebende auf der Oberfläche der Erde
durch seine Randzeichnungen zu vergegenwärtigen: so liegt ihm weit
näher (und man darf beinah von ihm fordern, daß er das Nötigste nicht
unterlasse, nämlich:) Die Raumbestimmungen, worauf die Konfiguration
und Elevation beruht, gehörig einzuprägen. Darauf muß auch der Schüler,
als auf seine eigentlichste geographische Beschäftigung und schuldige Arbeit
hingewiesen werden. Es geht nun zwar nicht an, die gegenseitige Lage
sämtlicher merkwürdiger Punkte durch Verbindungslinien derselben und
durch Angabe der dabei entstehenden Winkel auf einer Landkarte aus-
zudrücken. Aber es geht sehr füglich an, hierzu die Umrisse eines
Meeres und die darauf vorkommenden Inseln und Vorgebirge zu be-
nutzen.
Hätte man eine Karte für die Nordsee und Ostsee, eine andere für
das Mittelländische Meer, eine dritte für das Indische Meer, eine vierte
für den mittleren Teil von Amerika — wählte man zweckmäßig die her-
vorragenden Punkte, deren Verbindungslinien leicht faßliche Dreiecke er-
geben (solche, die nahezu gleichseitig, gleichschenkelicht, rechtwinkelicht aus-
fallen würden), zeichnete man einige dieser Dreiecke deutlich hin und be-
gnügte sich bei andern durch bloße Andeutung der Winkel, verbände
man hiermit noch ein paar Karten ohne Bezeichnung der politischen
Grenzen, bloß für Gebirgszüge und Flußgebiete, mit Angabe sehr weniger
Städte : so fänden Schüler und Lehrer Gelegenheit, hieran das Augenmaß
zu üben; und die vorhandene Übung ließe sich dann weiter auch für
solche Karten benutzen, die schon zu voll sind, um noch mit geradlinigen
Dreiecken überladen zu werden. — Das sind Vorschläge zu einem Er-
gänzungshefte des schätzbaren Vogelschen Atlasses; an Stoff zu passenden
Randzeichnungen — in Bezug auf Schiffahrt und Seetiere — würde es
gewiß nicht fehlen.
Die artigen Karten empfehlen sich dem Auge viel zu gut, als daß
sie meiner Fürsprache bedürften.
Hartenstein, ordentl. Prof. d. Philos. an der Universität zu Leipzig,
Über die neuesten Darstellungen und Beurtheilungen der
Herbart'schen Philosophie. — Leipzig, bei Hartknoch. 145 S.
in Oct.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1838, Nr. 28. SW. XII, S. 773.
Es gab eine Zeit, da einige wenige Individuen, denen man Bekannt-
schaft mit den Schriften des Unterzeichneten zutraute, von den darin
Herbarts Werke. XIII. 21
■,22 J- F. Herbarts Rezensionen.
niedergelegten Untersuchungen mehr oder minder zur Kenntnis des
größeren PubHkums gelangen ließen, je nachdem es ihren rezensierenden
Federn beliebte. Nach vielen Jahren änderten sich die Umstände; aber
erst durch eine kleine Schrift des Hrn. Prof. Drobisch (Beiträge zur
Orientierung usw.) wurde jener Zeit eine bestimmte Grenze gesetzt; und
sie kann sich jetzt nicht erneuern. Zwar fehlt es nicht an dreisten Ver-
suchen, aber diese werden von dem, was sie beabsichtigen, das Gegenteil
bewirken. Hr. Prof. Hartenstein kann nicht dulden, und duldet wirk-
lich nicht, daß eine Lehre, die er sich zu eigen gemacht hat, fortwährender
Entstellung preisgegeben sei. „Diese Bogen" (sagt er) „nehmen nichts als
das Recht der ungehinderten Gegenrede in Sachen der Wissenschaft in
Anspruch; ein Recht, von welchem Gebrauch zu machen um so weniger
verwehrt werden kann, je mehr das Recht der Rede in einzelnen Fällen
gemißbraucht wird. Die Gegenrede muß und wird sehr verschieden sein
nach der Verschiedenheit der Rede, welcher sie gilt;" usw. Eben diese
Bogen nun geben dem Unterzeichneten nicht bloß Proben, wie er noch
jetzt angegriffen, sondern auch, wie er verteidigt wird; welches letztere
ohne Vergleich wichtiger ist als jenes. Schwacher Verteidigung würde
man nachhelfen, verfehlte berichtigen müssen, endlich würde in Ansehung
der Schriften selbst, welche verteidigt werden sollen, die Frage entstehen,
ob in ihnen etwa der Grund des Mißverstehens liege. Im vorliegenden
Falle aber zeigt sich kein Bedürfnis der Nachhilfe oder Berichtigung;
daher ist nicht einmal nötig, die gegenwärtige Anzeige zu verlängern.
Nur eins muß hinzugefügt werden, nämlich der Wunsch, daß Hr. Prof.
Hartenstein nichts mehr von sich fordern möge, als was zu leisten mög-
lich ist. Er sagt S. 6, es werde sich neben dem, was er zurückweisen
müsse, auf der anderen Seite auch erfreuliche Gelegenheit finden, Aus-
einandersetzungen zu versuchen, die Verständigung über Probleme der
Wissenschaft zum Ziele haben. Wäre nur das Ziel in der Nähe, so
würde ohne Zweifel die Gelegenheit erfreulich sein; aber wo ist sie? Wir
haben dergleichen in den Proben, welche aus anderen Schriften ausgehoben
sind, nirgends gefunden. Sollten wir sie etwa in der Gegend des Buchs
von S. 63 — 103 suchen? Hr. Prof. H. weiß selbst, welche Konfusion
der Begriffe er dort aufzuräumen gehabt hat, und wie geringe Bekannt-
schaft mit dem, Nvas mindestens durch aufmerksames Lesen hätte an-
geeignet sein sollen, daraus hervorleuchtet. Auf Verständigung läßt sich
unter solchen Umständen schwerlich hoffen; ob der Erfolg die Erwartung
übertreffe, wird sich wohl zeigen.
Reiche, Leonh. Phil. Aug., Ulzena-Hannoveranus, De Kanti anti-
nomiis quae dicuntur theoreticis. Dissertatio inauguralis,
quam scripsit. — Göttingen, in Kommission der Dieterich'schen
Buchhandlung. 60 S. in 4.
Gedruckt in: Gott. gel. Anz. 1838, Nr. 125. SW. XII, S. 774.
Zwei neue Ausgaben der Kantischen Schriften wetteifern eben jetzt
miteinander in dem Bemühen, die Aufmerksamkeit der Jüngern Generation
L. P. A. Reiche: De Kanti antinomiis quae dicuntur theoreticis. 223
auf den großen Denker zurückzuwenden, welcher vor einem halben Jahr-
hunderte alle diejenigen beschäftigte, die sich um Philosophie zu be-
kümmern geneigt waren. Möge für beide Ausgaben die Empfänglichkeit
groß genug sein; das ist zu wünschen. Wenn aber die unbegrenzte Be-
wunderung, welche eine Zeitlang der Lehre Kants als der Vollendung
der Wissenschaft huldigte, nicht wiederkehrt, so wird dies ebensowenig
zu bedauern sein als es befremden kann. Denn auf unbedingtes Lob-
preisen pflegen Versuche zu folgen, das Bewunderte noch zu überbieten;
das Überbieten aber ist der Anfang des Übertreibens, Verunstaltens, Ver-
schmähens und des Rückfalls in alten Irrtum, den man längst hinter sich
haben könnte. Kants Hauptwerke nennen sich Kritiken; und wenn sie
kritischen Geist wecken, so können sie diesem sich selbst nicht entziehen.
Allein sie wollen studiert sein, ehe man sie beurteilt; und der Fleiß des
Studiums wird sich nicht durch irgend ein Absprechen im allgemeinen,
sondern nur durch sorgfältiges Eingehen in die Einzelheiten bewähren
können.
Hr. Dr. Reiche, dessen oben angezeigte Probeschrift auf beinahe
acht ziemlich eng gedruckten Bogen bei weitem nicht die ganze Anti-
nomienlehre, sondern nur die erste und zweite Antinomie, und von der
dritten das, was mit jenen in Verbindung steht, behandelt, verdient schon
durch diese verständige Beschränkung (wobei natürlich die erste Hälfte
der Kritik der reinen Vernunft als bekannt vorausgesetzt, und kurz in Er-
innerung gebracht wird), ferner durch die Genauigkeit, womit er die
einzelnen Stellen des Hauptwerks nachweist, die Parallelstellen der Kanti-
schen Prolegomena vergleicht, und nur gelegentlich Fries, Fichte, Spinoza
anführt — ein besseres Lob, als wenn er eine weit ausgedehnte Be-
lesenheit, oberflächlich überhinfahrend, zur Schau gestellt, oder die Frage-
punkte selbst (Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt und ihrer Teilung)
zu entscheiden gesucht hätte. Sein Augenmerk richtet sich auf die Anti-
nomien als solche; auf das Widersprechende in ihnen, welches gleichwohl
einen unvermeidlichen Gegenstand des Nachdenkens bildet. Daher will
er die ganze Abhandlung nur als eine Analyse Kantischer Lehren, in
Bezug auf das, was schon in der Methodologie und in der Einleitung
zur Philosophie muß betrachtet werden, angesehen wissen. Man darf
hierbei nicht aus der Acht lassen, daß Kant selbst die widerstreitenden
Sätze auf einen widersprechenden Begriff, nämlich auf den einer an sich
existierende7t Sinnenwelt, zurückgeführt, und dabei ausdrücklich von einer
unvermeidlichen Antinomie der Vernunft geredet hatte. (Prolegomena
§ 52 a, b, c). Dies Zurückführen ist nun zwar noch lange kein Auf-
weisen des Widerspruchs im Begriffe des unmittelbar Gegebenen ; wie wenn
Fichte (in der Sittenlehre) das Ich ins Objekt und Subjekt schied, und
dann hinzufügte: „Du bist nicht zweierlei, sondern absolut einerlei; und
dies undenkbar Eine bist du schlechthin, weil du es bist." Aber die
Ähnlichkeit, daß ein Widerspruch nicht auf bloßes Geheiß der Logik ver-
schwindet, sondern die Frage herbeiführt, wie man ihn behandeln solle,
ist hier, wie in andern Fällen vorhanden ; und wer Untersuchungen dieser
Art schon kennt, dem liegt kaum etwas näher, als dies : nachzusehen, wie
Kant sich dabei benommen habe.
2 1 *
^24 J- ^- Herbarts Rezensionen.
Indem nun der Verf. sich auf den Kantischen Standpunkt stellt,
welchem gemäß das Empfundene, aufgenommen in die Formen der Sinn-
lichkeit und des Verstandes, die Erfahrung ergibt: findet er es be-
fremdend, daß die Systeme, wenn auch nur versuchsweise, die Erfahrung
zu überschreiten sich konnten einfallen lassen; und es genügt ihm nicht,
daß Kant die Vernunft, als Vermögen des logischen Schlusses, durch
Prosyllogismen am Faden der höheren Bedingungen zum Abloluten hinauf-
streben läßt. Abgesehen davon, daß die Dependenz schon dem Verstände
bekannt war; desgleichen davon, daß nicht bloß eine, sondern beide
Prämissen Anlaß gaben, nach ihren Prosyllogismen zu fragen: angenommen
vielmehr, die Vernunft suche Bedingungen, wie kann sie das Absolute
suchen? Immo, quamvis supremum tandem inventum esset iudicium, tarnen
ratio etiamnum de conditionibus quaereret, iudicutmque se tpsurn absolutum
cotnprobaret. — Ubi conditionum seriem cogitaveris infinitam, conditiones
non addere tibi nunquam licebit: ideoque nunquam absolutum invenies.
— Infinitae totalitatis notio satis absurda, ut quod nisi finibus reiectis
Omnibus omnino cogitari non potest, idem nihilominus inclusum finibus
coercitumque cogites. Das Ende dieser Vorerinnerungen ist bekannt: es
war unrichtig, erst eine, schon ganz fertige, Erfahrung, dann eine, dieselbe
vorwitzig überschreitende, Vernunft anzunehmen; vielmehr ist es die, noch
nicht begriffene, Erfahrung selbst, welche durch ihr Widersprechendes das
Denken weiter fortzugehen antreibt, und auch von der Geschichte der
Philosophie das bewegende Prinzip ausmacht. Der nun folgende Haupt-
teil der Schrift faßt die abzuhandelnden Gegenstände so zusammen, daß
zuvörderst vom vorherrschenden Räume, dann von der vorherrschenden
Zeit gesprochen werde; nämlich bei Kant zeigt sich der Raum vor-
herrschend bei der Frage nach der Weitgrenze und der Teilbarkeit der
Materie, die Zeit vorherrschend bei der Weltdauer und der Kausal-
verknüpfung. Zuerst nun vom zweiten Teile der ersten Antinomie: Rectis-
sime quidem hie commemoratum videmus, spatium vacuum, prout nihilum,
reali plane nullius momenti esse posse. At vacuum ut ne momenti fiat
ullius, sane gravissimi fieri videmus; nam conditio fit, ut infinita ponantur.
Quid autem? Si quis vacuum determinans omnino ne cogitari quidem posse
persuasum habet, licet mundum finitum ponat, tarnen minime verendum
putabit, ne inani ille quasi coarctetur infinitio. An pertimescimus spectra,
quae reapse nulla esse scimus? — Ceteroquin qui mundum finitum susceperit
defendendum, forte dixerit, infinitum inane, quamquam ipsum terminare non
possit, tamen terminari mundo de centro sphaerae spectato. Dies gegen
den Beweis der Antithese. Was den Beweis der These betrifft, so ver-
langt der Vf., es wäre der Vollständigkeit wegen zu sprechen gewesen:
1. de infinita rerum in spatio vel finito
2. vel infinito summa,
3. de finita rerum in spatio vel finito
4. vel infinito summa;
und bemerkt am Ende: docet ille quidem, non posse rerum summam dari
infinitam; sed cur finita in infinitum spatium dispersa cogitari non debeat,
equidem non video demonstrari. Der Schluß ist hier: servata materiae
a forma seiunctione et obsequium quoddam formae reperimus et multo
L. P. A. Reiche: De Kanti antinomiis quae dicuntur theoreticis. ^25
gravius imperium. Bei der zweiten Antinomie beginnt der Verf. wieder'
mit der Antithese; welches um desto passender ist, weil Kant hier, wo
die Unparteilichkeit sehr nötig gewesen wäre, sichtbar gleich anfangs für
die Antithese, und gegen die zu kurz abgefertigte Thesis Partei nimmt.
Spatium cum ex spatiis constet, nee ullo modo possit punctis simplicibus
conformari, — spatium expletum prohibet, ne substantiae simplices excogi-
tentur. Bei dieser Kantischen Behauptung erhebt aber gleich der Verf.
eine quaestio tubdifficilis : unde tandem oriri potuerit illud: quidquid spatium
expleat, reale multiplex esse? (Bei Kant lauten die Worte im Beweise
der Antithese: „Da nun alles Reale, was einen Raum einnimmt, ein
außerhalb befindliches Mannigfaltiges in sich fasset, mithin zusammengesetzt
ist, und zwar als ein reales Zusammengesetztes nicht aus Accidenzen,
mithin aus Substanzen: so würde das Einfache ein substantielles Zu-
sammengesetztes sein, welches sich widerspricht.") Der Verf. fragt nämlich
sogleich weiter: quae sententia nonne idem valet, ac si spatium esse
realium multiplicatorem dixeris? Quocirca ubi vetueris, ne quid aliud reale,
quam quod spatium expleat, cogitetur, nonne ita poni reale iubes, ut
etiam atque etiam ponatur, aut ut id, quod per se spectatum spatio
careat, spatium quasi induat conformetque? (Nimmt man den Multiplikator
weg, so muß der Multiplikandus rein zurückbleiben; dieser soll aber hier
das Reale, mithin das Selbständige sein.) Hier eine beiläufige Erwähnung
des Spinoza: non dividit, quam unam posuerat, substantiam, sed spatium
indivisibile esse statuit. (Freilich heißt es bei Spinoza, im zweiten Satze
des zweiten Teils der Ethik: extensio attributum Dei est sive Deus est
res extensa.) Inepte ille quidem, quoniam omnis spatii princeps signi-
ficatio posita est in oppositione notionum Jiic et illic'' : reale autem, quod
spatium explet, quia istam non patitur Oppositionen!, in realium multi-
tudinem spatio cogitando dividitur: ut ex reali illa evertatur oppositio, et
in qua sita est complectendi forma collocetur. — lam vero ubi in infini-
tum dividendum erit, quum quicquid et inveneris dividendo et inventurus
sis, ipsum pro reali habere non possis, quam posueras realitatem, eam
evertas necesse est. Die Realität ist es, welche Kant in seinem Begriffe
von der Substanz nicht fest hielt; er erklärt die Substanz für das Beharr-
liche im Wechsel; der Verf. tadelt diesen Schematismus, welcher die Zeit
einmengt, während der Begriff des Trägers der Accidenzen ohne alle Rück-
sicht auf Zeitdauer für sich fest steht. Sollte einmal der Schematismus
gelten, so war die Unterscheidung der dritten Antinomie von dem, was
die erste schon über die Weltdauer enthält, fast zu gesucht und zu künst-
lich. Alles dreht sich bei Kant um die Forderung: die Zeit, welche
nicht wechselt, weil das Zugleich und das Nacheinander nur ihre Modi
sind, soll wahrgenommen werden; dazu genügen ihm nicht einmal unsere
innern Zustände, sondern das Dauernde muß im Räume gegeben sein,
(In der Note fragt der Verf.: Cur tandem plura sunt, quae tempus unum
repraesentent? Nonne quaedam exspectatur Spinozae substantia?) Indem
aber Kant den Begriff der Veränderung zu berichtigen meint, und zwar
durch das Paradoxon : 7iur das Beharrliche wird verändert, das Wandelbare
hingegen zvechselt, findet sich der Verf. zu der Frage veranlaßt, ob das
Wechselnde im Dauernden etwa Spuren zurücklasse, damit man sie dort
220 J- F. Herbarts Rezensionen.
festgehalten in guter Ordnung beisammen finde? Und nachdem er dreier-
lei, was leicht vermengt wird, unterschieden hat, nämlich die bloße
Succession, den Wechsel und die Veränderung, folgt eine Stelle, die, bevor
wir abbrechen, hier noch im Zusammenhange Platz finden mag: Primo
quidem adspectu mirandum videtur, quid sit, quod, instituto de substantia
serraone, notionis „simul" oblitus, potissimum successionem accidentium
contempletur. At id quidem idcirco mirum non est, quia perdurabile
illud, quod, nisi successioni oppositum, omni sententia caret, substantiae
Schema est. Avulserat enim illa de schematibus doctrina a successione
perdurabile: ita, ut perdurabile esset substantiae Schema, successio causali-
tatis. Quare in illa de substantia disquisitione necessaria notionum con-
junctio, schematum quidem commodo, sed substantiae vel potius illius
attributoriün- complexioiiis incommodo restituitur; ut, neglecta illa com-
plexione, ad rem variabilem animus intendatur. Porro, quia vice versa
successionem quoque ad perdurabile ita affigit, ut ex pura successione
commutatio fiat, etiam causalitatis notio, quae proprie ad rem variabilem
spectat, quandam induere videtur firmitatis speciem. Und etwas weiterhin :
Si omnia mente repetieris, Kanti propositum fuisse intelliges, ut firma ac
definita successio deduceretur, quae, quum data esse non posset, causa-
litate efficeretur. — Omnis igitur Kanti de hac re disquisitio analytica
quaedam datae successionis, invito illo quidem, demonstratio est: ut haec
experientiae forma, quamvis ita data non sit, ut possit sensibus percipi,
tamen propter firmitatem eius stabilitatemque eodem modo quo percep-
tiones, accipienda sit. Hier haben wir uns freilich weit vom Ziele ent-
fernt, denn das Vorstehende bezieht sich nicht auf die Antinomien,
sondern auf die Grundsätze des reinen Verstandes bei Kant. Allein der
Raum dieser Blätter erlaubt ohnehin nicht, die vorliegende Dissertation
wie ein Buch zu behandeln; es gereicht ihr zur Ehre, daß sie für eine
kurze Anzeige viel zu reichhaltig ist. Nur noch ganz obenhin können
wir, um einigermaßen den Zusammenhang des Ganzen bemerklich zu
machen, die Anfangsworte des dritten Kapitels anführen: quamquam
propter ea, quae capite antecedente prolata sunt, contradictiones Kantianae,
excepta de materia antinomia, haud ita graviter nos premere videntur,
tamen ubi formas experientiae vere nobis datas esse memineris, in locum
Kantianarum novas contradictiones videbis se ipsas supposuisse: ut,
quomodo omnino repugnantiae notionum tractandae solvendaeque sint,
quaestioni summa gravitas servetur. Man wird sich nicht irren, wenn
man die ganze Dissertation als Probe einer seltenen Verbindung von
Scharfsinn und Fleiß betrachtet.
I. Callisen, Christian Friedrich, Kurzer Abriß der philosophischen
Rechts- und Sittenlehre, als Leitfaden bey Vorlesungen über
diese Wissenschaft. — Nürnberg und Sulzbach, im Verlage der
Chr. F. Callisen: Kurzer Abriß der philosophischen Rechts- und Sittenlehre. 327
J. E. Seidel'schen Kunst- und Buchhandlung, 1805. 160 S. 8.
(10 gr.)
2. Snell, Christ. Wilh.. Prof. und Rektor des Gymnasii zu Idstein,
Die Hauptlehren der Moralphilosophie; ein Buch für ge-
bildete Leser. — Gießen, bey Tasche und Müller, 1805. 466 S. 8.
{i Thlr. 16 gr.)
Auch unter dem Titel:
Snell, Christ. Wilh., und Snell, Friedr. Wilh. Dan., Handbuch
der Philosophie für Liebhaber. Vierter Theil: Moralphilosophie.
3. Tieftrunk, Joh. Heinr., Professor zu Halle, Philosophische Unter-
suchungen über die Tugendlehre, zur Erläuterung und Be-
urtheilung der metaphysischen Anfangsgründe der Tugend-
lehre von Imm. Kant. Zweiter Theil: Ausführung der Pflichten
der Menschen gegeneinander, nach den besonderen Zuständen und
Verhältnissen derselben. — Halle, in der Renger'schen Buchhandlung,
1805. 551 S. 8. (2 Thlr.)*
Gedruckt in: Neue Leipziger Literatur-Zeitung, 76. Stück, den 13. Junius 1806,
S. 1201 — 1210.
Die angezeigten Werke bezeugen es gemeinschaftlich, daß die An-
hänglichkeit an Kants praktische Philosophie unter uns noch fortdauert,
und sich in ihrer öffentlichen Wirksamkeit durch die Ansprüche einer
neuern Denkart nicht gehemmt findet. Es wäre in der Tat kein rühm-
liches Zeichen von deutscher Festigkeit, wenn jene Lehre vom unbedingten
Sollen, ohne Rücksicht auf die Materie des Begehrens, welche einen so
allgemeinen, so tiefen Eindruck gemacht, und für das Kantische System
vielleicht mehr Freunde gewonnen hatte als dessen ganzer theoretischer
Apparat, wenn eine so erhebende Lehre unter dem mißlungenen Ver-
suchen, der Form einen Inhalt zu geben, welcher sich nicht selbst wiederum
zur Materie des Begehrens mache, — niedergebeugt, und so der Ver-
gessenheit übergeben werden könnte. Jedoch so sehr es uns freut, den
Weg noch ferner betreten zu sehen, den Kant voranging, so wenig
möchten wir für die genannten Schriftsteller die Entschuldigung über-
nehmen, darüber, daß sie keine Rücksicht, weder auf Fichtes Sittenlehre,
noch, was ganz unerläßlich war, auf Schleiermachers scharfsinnige Kritik
der bisherigen Sittenlehre, genommen haben; — und ebensowenig ihnen
verbürgen, es werde jeder gebildete und unbefangene Leser sein sittliches
Gefühl rein und richtig ausgesprochen finden durch Schriften, worin nicht
nur Kants Prinzipien herrschen, sondern auch Kants Ausführung dieser
Prinzipien im wesendichen beibehalten ist. Der Rez. selbst gehört zu
denen, welche in der letztern Rücksicht unzufrieden sind mit dem Meister,
wie mit seinen Nachfolgern. Es ist hier nun zwar nicht der Ort, eine
individuelle Überzeugung aufzustellen, und noch weniger gebührt es sich,
dieselbe als INIaßstab der Kritik zu gebrauchen. Aber die Kritik kann
* Diese und die beiden nachfolgenden Rezensionen konnten nicht mehr chrono-
logisch eingeordnet werden, weil sie erst kurz vor Abschluß dieses Bandes aufgefunden
wurden.
• 28 J- F. Herbarts Rezensionen.
wohl die Schwierigkeiten bemerklich machen, welche bei fortgesetzter Be-
arbeitung eines Systems nur immer fühlbarer werden, wenn sie von innern
Fehlern desselben herrühren. Stellten wir uns nicht auf diesen Gesichts-
punkt: so wäre von jenen Schriften nicht viel mehr zu sagen, als, sie
können mit Nutzen gelesen werden, von denen, die nicht genug Kraft
haben, Kant aus ihm selber zu studieren und ihn selber zu deuten und
anzuwenden.
Mit einem so kurzen Urteil würden indes teils die Verf. schwerlich
zufrieden sein, welche sich bewußt sind, mit dem Gefühl einer völlig zu-
geeigneten Überzeugung gesprochen zu haben; teils fordert auch der
gegenwärtige Augenblick, daß man die Gelegenheit benutze, Kants Grund-
lehren von neuem hervorzuziehen und der Prüfung darzustellen. Dies
wäre freilich weniger nötig, wenn das so ausgezeichnete Werk den Hrn.
Schleiermacher, über der großen Sorgfalt, das Gesunde vom Kranken
zu sondern, nicht beinahe schiene den Unterschied des Starken und
Schwachen, des reiflich Erwogenen und des in die leeren Stellen Ge-
worfenen, des Ursprünglichen und des Nachgetragenen, minder als billig
beachtet zu haben. — Bloß historisch, und um weiterhin verständlicher
zu sein, geben wir an, daß unserer ^Meinung nach das Schwache der
Kantischen Sittenlehre schon da eintritt, wo aus der bloßen Negation:
nicht der Gegenstand des Willens macht den guten Willen, disjunktiv ge-
schlossen wird: also muß luohl in der bloßen Form des Willens seine
Güte liegen. Darin verrät sich, daß man dieser Güte nicht unmittelbar
inne geworden sei, sondern sie gleichsam im Dunkeln an der einzigen
noch übrigen Stelle suche, wo sie vielleicht liegen könnte. Natürlich folgt
der ersten Schwäche der erste Fehler: Das Aufgreifen der logischen Form
(statt einer ästhetischen) ; weil man sich eben auf keine andere besinnen
kann, und weil ein unglücklicher Sprachgebrauch das Wort Vertumfi für
die höchsten Funktionen des Gemüts, seien sie theoretischer oder prak-
tischer Art, selbst in die Psychologie eingeführt hat, Psychologie aber und
Logik einmal im Besitz sind, als fertige Wissenschaften zu Hilfe gerufen
zu werden, sobald die höhere Spekulation die Spur verliert. Dem ersten
Fehler nun folgt eine Metaphysik der Sitten ohne Grund, ohne Zu-
sammenhang, ein Lückenbüßer voller Lücken, welche auszufüllen ver-
gebliche Arbeit sein würde. Wem dies Urteil zu hart scheint, der sehe
bei Schleiermacher weiter nach.
Die Verf. von Nr. 2 und 3 müssen es sich vom Rez. schon gefallen
lassen, daß er bei ihnen Spuren einer zwar nicht Kantischen, aber
richtigeren Ansicht des Sittlichen, wiewohl nicht in ihren Sätzen, doch
hier und da in ihrem Ausdruck, wo sie ihre eigene Sprache reden, —
anzutreffen geglaubt hat. Hingegen in Nr. 1 wo eine gewisse dürre
Klarheit herrscht, geeigneter, um leicht manchen Anfänger zu überreden,
er besitze nun mit diesem höchst verständlichen Kompendium die ganze
praktische Philosophie, — finden wir das höchste „Handelnsgesetz", mit
offenbarer Rücksicht auf die Logik, formaliter so ausgedrückt: entjerne
allen Widerspruch aus deiriem Handeln; daneben aber, bequem genug, das
höchste Handelnsgesetz materialiter so angegeben: sei deiner Bestimmung
treu. Und was ist unsere Bestimmung? „Der Inbegriff von allem dem,
Chr. F. Callisen: Kurzer Abriß der philosophischen Rechts- und Sittenlehre. ^29
was Natur, als Zweck unseres Daseins und als Weise unseres Handelns
festgesetzt hat, heißt unsere Bestimmung; und sowohl der, der Mittel
anders, als er ihrer Beschaffenheit nach sollte, gebraucht, als auch der,
der * sich verkehrte Zwecke (Zwecke die sich selber zerstören) vorsetzt,
handelt insofern gegen die Bestimmung, die Natur den Dingen und ihfu
gab.'' Die Entwicklung eines so reichen Inbegriffs wäre freilich für dieses
kleine Büchlein eine zu große Aufgabe gewesen, da es ja noch die ganze
Rechts- und Sittenlehre umfassen sollte. Folgende Spur der Entwicklung
aber ist hingezeichnet: die Natur deutet uns das, was wir als Menschen
werden sollen, in der ganzen Summe unseres Triebes an; — natürlich
müßten wir auf alle einzelnen Triebe merken, — und um alles, was an
diesen Trieben durch unsere Schuld widernatürlich stark oder schwach
geworden ist, zu erkennen, müssen wir ein widerspruchfreies Ganzes
daraus zusammensetzen. (Vielleicht liegt hierin eine entstellte Reminiscenz
aus FiCHTES Sittenlehre.) Die Triebe unseres niederen Begehrungs-
vermögens gehen auf einen Zustand unseres Seins — Glück; die unseres
höheren Begehrungsvermögens auf einen Zustand unseres Handelns, —
freie Selbstbestimmung dieses Handelns zum widerspruchsfreien Ganzen
durch treue Befolgung der Andeutungen der Natur. (Natur? siehe Trieb.
— Trieb? siehe Afidenttmgen der Natur!) Die Triebe des Menschen
gehen aber natürlicherweise nicht bloß darauf, daß er selber allein sittlich
und glückselig sei, sondern auch darauf, daß alle mit ihm vereinten (?)
Wesen um ihn her sittlich und glückselig werden, wie er. — Wie
könnte bei solchen Natüriichkeiten ein Naturrecht jNIühe kosten? ,,Wenn
man aus den gegenseitig gemachten und zugestandenen Forderungen
immer mehr alle Widersprüche ausgleicht, so findet sich nach und nach,
was die Menschen eigentlich voneinander fordern sollten'^ usw. — Leicht,
und zugleich ganz leidlich und verständig, ist denn nun das so begründete
Naturrecht aus den vorhandenen Vorräten zusammengetragen. Wir fühlen
keinen Beruf, den Verf auf die inneren Schwierigkeiten eines Naturrechts,
und einer angewandten Sittenlehre, aufmerksam zu machen. Er hätte noch
weniger gestört bleiben mögen, hätte es ihm nicht gefallen, auch dies
Buch, als Leitfaden zu Vorträgen den Lehrern auf Gymnasien und Uni-
versitäten zu empfehlen.
Dieser Empfehlung müssen wir den Wunsch entgegenstellen, daß die
Gymnasiarchen die Bedenklichkeiten fühlen mögen, Philosophie auf ihren
Lektionsverzeichnissen überall zuzulassen; und die Hoffnung, daß akademische
Lehrer die Schwierigkeiten der Wissenschaft tiefer kennen und zu erkennen
geben werden, als von Vorträgen im Stil dieses Lehrbuches zu erwarten wäre.
Inniger und eben dadurch richtiger, zeigt sich das moralische Be-
wußtsein in Nr. 2 und 3 gleich im Anfang. Hr. Tieftrunk spricht
trefflich von ästhetischer Achtung, welche in der Auffassung der Vernunft
durch sich selbst hervorgehe, und welche nicht selbst Pflicht, aber Ver-
pflichtungsgrund sei. Dieser Verpfiichtungsgrund ist etwas anderes, als die
logische Notwendigkeit der Entfernung des Widerspruchs aus unsern Be-
griffen. Noch näher vielleicht kommt Hr. Snell. „Jeden Menschen,"
so beginnt er, „lehrt sein eignes Bewußtsein, daß er außer dem Vor-
stellungs- und Erkenntnisvermögen auch das Vermögen besitze, Wohl-
230 J- F- Herbarts Rezensionen.
gefallen und Mißfallen zu empfinden, zu billigen und zu mißbilligen, zu be-
gehren und zu verabscheuen." Hr. S. verzeihe hier die kleine Ver-
änderung des Drucks, durch welchen wir gerade umgekehrt anzuzeichnen
und nicht auszuzeichnen uns erlaubt haben, wie er. Denn das aktive
Prinzip hat doch wohl den Vorrang vor dem passiven? Nun aber ist es
die einfachste Bemerkung, daß in der Sittenlehre die Begehrungen und
Verabscheuungen iinterworfen werden den Billigungen und Mißbilligungen,
welche darüber ergeheiiX Leider freilich wissen wir wohl, daß man uns
diese Billigungen und Mißbilligungen wieder in ein Begehren, nämlich in
das sogenannte höhere Begehrungsvermögen, hineinzwängt. Wir lesen
auch bei Hrn. S.: Die Regel der Beurteilung ist für mich, wie für jedes
andere Vernunftwesen, zugleich Gesetz des Wollens und Handelns. Denn
wie sollte ich urteilen können, daß so zu handeln an sich gut und achtungs-
wert sei, ohne mich dazu verbunden zu fühlen, ohne mir bewußt zu sein,
daß ich so handeln solle'^ — Aber gerade dieser fragende Ton würde
uns, wären wir es nicht schon gewesen, aufmerksam gemacht haben auf
den Skrupel, der sich innerlich fühlbar mache, wenn man jenes, so richtig
vorangestellte, Urteil, mit diesem Imperativ geradehin für identisch zu
erklären unternehme. Und wie die unwissenschaftlichen Leute die obige
Frage aufzunehmen pflegen, ist bekannt. Die Beurteilung geben sie zu,
aber das kategorische Sollen befremdet gerade die Besten und Reinsten.
Abgerechnet seltene Augenblicke sittlicher Gefahr, wissen sie nichts von
einem so gewaltigen Befehl, mit dem man gegen sich selbst auftrete.
Die Stimme in ihrem Innern will gar nicht, sie spricht bloß, sie sagt aus
was gut und achtungswert sei, und nun wird getan was tunlich ist. Da-
bei pflegen die erbaulichen Betrachtungen, vom stets angeregten Eifer
zum Besserwerden, wodurch der Verf. den vermeinten Widerspruch: wir
sollen vollkommen gut sein, und können es doch nicht, zu beseitigen die
Mühe nimmt, ganz wegzubleiben ; wie sie denn von selbst verschwinden,
sobald man die ganz heterogenen Beurteilungen, die des Guten und die
des Möglichen, jede ihren Gang gehen läßt, und nur nicht erst die Ver-
7iu7ift voraussetzt, um sich alsdann mit den Fragen: wie die Vernunft
praktisch, und wie die Vernunft theoretisch sein könne, ein peinliches Spiel
zu bereiten. Aber die Kantische Schule liebt die Terminologie und den
Nachdruck der Kraftworte. Merkwürdig ist das Gewicht, welches Hr. S.,
vielleicht ohne es selbst recht zu merken, dem Worte Verachtung gegeben
hat. ,, Jenes rein vernünftige, unmittelbare Wohlgefallen heißt x\chtung,
— das Gegenteil der Achtung ist Verachtung, — diese besteht im un-
bedingten Mißbilligen gewisser Gesinnungen, Entschließungen, Handlungen,
und in dem unmittelbaren Mißfallen an denselben?" Welches sind hier
die „gewissen" Gesinnungen ? Nach dem Zusammenhange zu schließen,
alle, welche unmittelbar und schlechthin mißfallen. Also wir verachten
den Lüstling, — wir verachten auch den Neider, — verachten den Betrüger,
verachten den Tyrannen ! Aber spricht denn der Ausdruck Verachtung
die ganze Mißbilligung aus, in jedem dieser Beispiele? Merkt man nicht
die spezifische Verschiedenheit der Beurteilungen, wenn wir den Lüstling
wegwerfen, den Neider unwillig verstoßen, den Betrüger als den Dieb
unseres Glaubens ertappen, und vom Tyrannen die geraubte Freiheit
Chr. F. Callisen : Kurzer Abriß der philosophischen Rechts- und Sittenlehre. 331
wieder fordern? — Die Entwicklung dieser Verschiedenheiten erspart die
Nothilfe, deren Hr. S., wie die andern, bedarf, sobald nur ein Schritt
zur Anwendung getan werden soll. Bei der Frage, wie muß eine Maxime
beschaffen sein, um zur allgemeinen Gesetzgebung zu taugen? gibt er uns
statt einer Antwort drei; sie muß, allgemein gedacht i. nicht sich selbst
aufheben, 2. nicht auf mein Streben nach Glückseligkeit schädlich zurück-
fallen. Quod tibi non vis fieri etc., 3. nicht die Menschen vom Gesamt-
zweck ihres Daseins, harmonischer Ausbildung aller Kräfte, entfernen.
Unter diesem Ausdruck, harmonische Ausbildung, liegt wieder ein un-
mittelbares Wohlgefallen verborgen, wovon die Regel der Tauglichkeit
zur allgemeinen Gesetzgebung nichts weiß, ohne welches sie aber, wie
wir hier sehen, die Sphäre ihrer Anwendung nicht finden kann. Wollte
man auch noch die gegenüberstehende Mißbilligung der fehlenden oder
einseitigen Ausbildung unserer Kräfte, etwa neben die vorhin bemerkten
Beispiele absoluter Mißbilligung stellen, so würde man hier wieder eine
neue Spezies des ursprünglichen Mißfallens antreffen, welche mit keiner
von jener zusammenfällt. — Die größte Verlegenheit aber tritt ein, wenn
die nach Kantischer Art geprüften Maximen auf einen ganz einzelnen
Fall im Leben angewendet werden sollen. Hr. S. bemerkt, daß hierzu
Einsicht in den Zusammenhang der Dinge gehöre, welche oft fehle ; ferner
daß eine und dieselbe Handlung sich zuweilen verschiedenen Maximen
subsumieren lasse, woraus entgegengesetzte Resultate entstehen. Kein
Wunder, da die Handlung eine Komplexion von Umständen voraussetzt,
deren jedem der gegebene Fall subsumiert werden kann! Am Ende tröstet
er sich damit, die Hauptsache sei nicht die Richtigkeit des Urteils, sondern
der gute Wille. Schön für den Menschen ; aber schlimm für den Sitten-
lehrer, der eben das Urteil berichtigen wollte ! — Wir übergehen die Be-
stimmungen der Begriffe von Tugend und Gütern; hier besonders mußte
das vorhin angeführte kritische Werk zugezogen werden. — In der weiteren
Ausführung der Sittenlehre erwarteten wir den Verf. vor allen bei der
Bestimmung des Verhältnisses zwischen den „Selbstpflichten und den
Menschenpfiichten", wie er sich ausdrückt. Ich soll, sagt er, den andern
Heben, achten, wie mich selbst (das Einschiebsel achten^ in einen be-
kannten Spruch, verrät schon die gezwungene Umdeutung) ; d. h. ich soll
aus der Achtung gegen die Menschennatur in seiner Person ihm keine
der Pflichten versagen, wozu ich aus x\chtung für dieselbe Menschennatur
in meiner Person gegen mich selbst verbunden bin; — das Gesetz würde
auch dann noch seine verbindende Kraft haben, wenn wir der natürhchen
Neigung des teilnehmenden Wohlwollens entbehrten. Teilnehmendes Wohl-
wollen? Gibt es etwa auch ein unteilnehmendes? Ein Wohlwollen, das
nicht hingerissen wird von der Mitempfindung? Vielleicht; und ein solches
möchte vielleicht nicht Achtung sein, aber Achtung verdienen ! Oder wollen
wir, nach Kaxts Vorschlag, das Wohlwollen herzhaft unter die Adia-
phora zählen? Man sei dann konsequent; man hüte sich, es für eine
„Zierde" des Menschen gelten zu lassen, denn eine Zierde ist nichts Gleich-
gültiges; man setze mit ihm sein Entgegengesetztes, das Übelwollen, auch
unter die gleichgültigen Dinge, man zähle Schadenfreude und Neid zu
den andern Begierden, welche nur bloß nicht regieren dürfen, der Neid
n o , J. F. Herbarts Rezensionen.
bleibe im Herzen bei den übrigen Naturtrieben, während das Gesetz durch
seine verbindende Kraft, die Entschlüsse und Handlungen leitet. Ohne
Zweifel wird es an Systematikern nicht fehlen, die sich in einer solchen
Dreistigkeit gefallen, nur Hr. S. ist schwerlich von dieser Zahl ! Sein Werk
trägt einen Charakter von Sanftheit, welche außer der Kantischen Indivi-
dualität liegt, und keineswegs mit den scharfen Ecken der letztern droht.
Nur in dem einzigen Punkte der Verwerfung des Eudämonismus scheint
er sich seinem Meister ganz fest angeschlossen zu haben, — und hier
trifft Rez. mit ihm gänzlich zusammen. Das Imponierende der Kantischen
Darstellung ist mehr fühlbar in Nr. 3. Außerdem würde man von diesem
Werke eine unrichtige Meinung fassen, wenn man so geradehin dasselbe
als einen Kommentar der Kantischen Tugendlehre ansehen wollte. Wenigstens
ist dieser Kommentar so ausführlich, daß die Stütze, an welche er gelehnt
scheint, ihn wenig trägt, und er also größtenteils auf eignen Füßen ruhen
muß. Das meiste der Abhandlung betrifft das, was die Kantische Tugend-
lehre nur nennt; Pflichten der Ehe, der häuslichen, elterlichen, herrschaft-
lichen Verhältnisse, Pflichten in Ansehung der Verwandtschaft, Nachbar-
schaft, der Gemeinheiten, des Gewerbes, der Industrie, der Aufklärung,
des Verkehrs, des Umgangs, der Freundschaft usw. Es mag schwer sein,
über Dinge der Art viel Neues zu sagen! Es wäre auf der anderen Seite
ein Triumph für die Wissenschaft, wenn sie gerade hier aus ihren ver-
borgenen Quellen neue sittliche Lebensprinzipien hervorgehen lassen könnte,
wodurch die Gesinnungen in einem bisher unbekanntem Grade veredelt
würden. In dem angezeigten Buche wird man dagegen häufig an Knigge
über den Umgang mit Menschen erinnert; welcher auch zitiert ist, obgleich
das Zitat keine völlige Schadloshaltung für das ist, was man vom Verf.
hoffte. — Wäre nur der Ton populärer? Aber auch die Anzahl der
Volkslehrer, welche in diesem Buche ein Mittelglied finden können
zwischen dem, was sie vortragen sollen, und den wissenschaftlichen
Prinzipien des Vorzutragenden, dürfte ziemlich beschränkt sein, durch die,
besonders im Anfange fast schulmäßige Sprache. Doch werden aller-
dings solche Leser, die nur etwas philosophische Bildung haben, dieses
Werk mit vielem Nutzen gebrauchen können. Übrigens wird es bei der
Lektüre desselben auffallender, daß die Kantische Moral dem Leben
paßt, wie ein Kleid, das hier zu eng ist und dort zu weit. Wenn z. B.
der Verf. im Kantischen Geiste die martervollen Hinrichtungen als Ver-
letzungen der dem Vernunftwesen schuldigen Achtung verurteilt; so müßte
es wohl einen großen Unterschied machen, ob man den Verbrecher an
ein wildes Tier zur Nahrung gleichsam wegwirft, oder aber ob sich
Menschen — versteht sich ohne Hochmut, Afterrede und Verhöhnung
— eine ernsthafte Angelegenheit daraus machen, ihn zu peinigen. Bei
der Frage, iven man als Vernunftwesen achten solle, antwortet der
Verf.: jeden, der sich durch die Gestalt seines Organismus als einen ver-
mutlichen oder möglichen Menschen ankündigt, folglich auch dem Embryo,
nach der Regel, nichts zu tun, auf die Gefahr, daß es unrecht sei; —
bei den Tieren aber scheint diese Gefahr ganz vergessen, wiewohl ihnen
der Verf. dasselbe zugesteht, was dem Embryo zukommt, daß sie näm-
lich allerdings wohl bestimmt sein könnten, einmal Vernunftwesen zu
Chr. F. Callisen: Kurzer Abriß der philosophischen Rechts- und Sittenlehre. 3^3
werden. Wir bitten hierauf den Begriff der Pflicht gegen den Embryo
zu merken; oder was ungefähr dasselbe ist, gegen das neugeborene Kind;
welchem der Verf. in der Folge auch Ansprüche an seine Eltern beilegt,
wiewohl es doch der bloße Naturerfolg ist, von einer Handlung, wobei
der Sittenlehrer anfangs nichts in Betracht ziehen wollte als den Natur-
trieb, und das unmittelbar durch ihn entstehende Verhältnis zweier Per-
sonen. Hier hüten wir uns zu verweilen bei dem Ungedanken, welchen
man Enterbung einer Person genannt hat, und wobei durch Wechselseitig-
keit wieder gut gemacht werden soll, was einseitig so unerlaubt als un-
gereimt wäre. Freue sich, wenn sie kann, die Kantische und Fichtesche
Theorie der Ehe, ihrer Unangreifbarkeit, weil in der Tat sich schwerlich
jemand dazu hergeben wird, hier in Erörterung einzutreten.
Wundern dürfen wir uns wohl nicht, da, wo einmal Mann und Frau
und Kinder beisammen sind, nun auch das Gesinde zu finden; denn es
ist hergebracht, daß man an Familien ohne Gesinde, und an Gesinde ohne
Familie, und an das gänzlich Heterogene der häuslichen und der Dienst-
Verhältnisse, in den Sittenlehren nicht denke. — „Schmiedet keine Heiraten,
und beratet keine Ehescheidungen, denn dies gibt gewöhnlich schlechten
Lohn." — ,,Wählt einen Beruf, hauptsächlich damit die Kraft beschäftigt
sei und nicht auf Abwege gerate, — wäre es auch nur der Beruf, das
eigene Vermögen mif irgend eine Art anzulegen." Wir enthalten uns der
Bemerkungen über diese Ratschläge, um noch von den religiösen Äußerungen
der Verf. etwas hervorzuheben. Zuerst ein Punkt über welchen Rez.
vollkommen mit demselben übereinstimmt: die theologische Behauptung,
das Menschengeschlecht entbehre aller eigenen Kraft, zur Besserung, sei
nicht nur theoretisch, eine Erdichtung, sondern auch praktisch, eine Be-
leidigung. Es widerspreche sich, gewissen Wesen von einer moralischen
Besserung vorzureden, denen man doch eine natürliche und angeborene
Verdorbenheit zuschreibe. — Gewiß, es widerspricht sich! Aber was soll
man nach Kantischer Lehre — möchten wir Hrn. Tieftruxk, als deren
vertrauten Kenner, fragen, — bei den Worten: Besserung und Ver-
schlimmerung, denken? Was ist überhaupt im Menschen das moralische
Schwanken? Andere würden bereit sein mit der Antwort: Eine Reihe
successiver Selbstbestimmungen durch Freiheit! iVber Hr. T, weiß viel zu
gut, daß das Sinnenleben ifi Ansehung des intelligibeln Beivußtseins oder der
Freiheit, absolute Einheit des Phänomens hat, und „daß die freie Kausalität
von der frühen Jugend an ihren Charakter in ihren Erscheinungen aus-
drückt" (Kakts Kritik der pr. V. S. 177); daß demnach von einer Ver-
änderlichkeit der intelligibeln Selbstbestimmung, ivodnrch das Ti ajiszendentale
in die Zeit fiele, gar keine Rede sein dürfe. Also entweder keine trans-
zendentale Freiheit, oder keine Besserung, keine Belehrung, keine Er-
ziehung, keine Bücher über INIoralphilosophie, es wäre denn zur Unter-
haltung. - — Doch bedenke jeder dies rasche Also, solange er will! Mögen
nur alle seltsamen Glaubensartikel aus dem Spiel bleiben. Gerade bei
Hrn. T. hat man Ursache sich dagegen zu verwahren, der sogar in
der Pflicht, die Verstorbenen, z. B. einen Sokrates, Cato, Antonin,
nicht zu verunehren, den Grund findet, ihr fortdauerndes Dasein für wahr
zu halten: damit nicht demjenigen, wofür das Gesetz unvergängliche
c>^ 1 J- F- Herbarts Rezensionen.
Achtung fordert, ein Vorübergehen beigelegt werde. Aber die Achtung
gebührt der Idee, ohne Frage nach dem was sei oder nicht sei. — Will
man noch wissen, wie der Verf. über den statuarischen Kirchenglauben
denkt, so ist alles gesagt in den Worten: „der Staat geht überall der
Kirche, der Bürger dem Glaubensgenossen voran." — „Religion hat es
wohl nie in der Welt mehr gegeben als jetzt, denn nie war diese im
ganzen genommen so aufgeklärt als jetzt." „Es reformiere sich also die
Kirche nur zu einem moralisehen Erbaiiungshaiise, ihre Diener suchen nur
durch V/orte der Weisheit ihren Beifall, und geben selbst das Beispiel
der Tugendliebe und Aufgeklärtheit, so wird ihnen die gebührende Achtung
auch nicht entstehen." Man sieht, wie weit Hr. T. von aller Mystik entfernt
ist. Wo möglich noch mehr abhold ist ihr der Rez.; aber gleichwohl zweifelt
er sehr, ob die trockene Aufgeklärtheit irgend einer bloß moralisierenden
Weisheit, das menschliche Gemüt zu befriedigen, vollends zu erbauen, im
Stande sei. Dem kategorischen Imperativ gebührt Gehorsam, aber nicht
Staunen; er ist streng, aber nicht erhaben. Das Erhabene und Erhebende
ist nicht das, was mit dem Menschen über seine Vergehungen rechtet.
Eher das, was sie verzeiht, sie auslöscht, sie in seiner eigenen Größe ver-
schwinden macht; — das, was, unfähig, beleidigt zu werden, unerschöpfliche
Hilfe bereit hält für den, der sich selbst beleidigte. Nach diesem Er-
habenen trachtet der Mensch, der Gebildete wie der Rohe. Es ist zu
versinnlichen, strebt die Kirche, und strebt in ihrem Dienst der ganze
Verein der Künste.
Fichte, Johann Gottlieb, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeit-
alters, in Vorlesungen, gehalten zu Berlin, im Jahre 1804 — 5. —
Berlin, im Verlage der Realschulbuchhandlung, 1806. VIII u. 563 S.
in 8. (2 Thlr. 8 gr.)
Gedruckt in: Neue Leipziger Literatur-Zeitung. 9. Stück, den 31. Januar 1807.
S. 129 — 136.
Was unter diesem Titel gegenwärtig als Buch vor dem lesenden
Publikum liegt, war ursprünglich eine Reihe mündlicher Vorträge für einen
engem Kreis, wie ihn die gebildeten Stände einer Hauptstadt darbieten
konnten. Wir lassen demnach zuvörderst das Buch, und betrachten die
Vorträge als solche; da sie uns in dieser Form gegeben werden. Wird
der Redner, wie er als Person in die Mitte der schweigenden Zuhörer
hineintritt, so auch mitten in ihren Gedankenkreis, seine Gedanken, ohne
alle Vorbereitung, plötzlich hinstellen ? Oder wird er anfangs seine Sprache
ihnen leihen, daß sie sich selbst zu hören glauben, um ferner aus ihren
Gedanken die seinen als die ihrigen hervorgehen zu machen? „Es darf
Sie nicht befremden, wenn im Anfange nichts diejenige Klarheit hat, die
es nach dem Grundgesetze aller Mitteilung erst durch das Nachfolgende
erhalten kann; und ich muß Sie ersuchen, die vollkommene Klarheit erst
am Schlüsse zu erwarten." Dieser Antwort gemäß, sehen wir denn auch
]. G. Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. '\^5
weder von vorn herein, noch im Verfolg irgend eine besondere Rücksicht
auf die Art der Bildung, welche die Zuhörer mitbrachten, am wenigsten
irgend eine Spur von Lokalität; dagegen aber die ausgedehnteste x\n-
wendung der Maxime: man muß, um Vernünftige zu machen, a/s zu
Vernünftigen reden. Das heißt hier: man muß dem Wahrheitssinne der
Zuhörer zutrauen, daß ihnen die Ansichten des Systems ohne weiteres
annehmlich sein werden. Dies bestimmt den Charakter der vorliegenden
Folge von Reden.
Bald anfangs tritt ein Weltplan hervor; nach folgender Formel: Det
Zweck des Erdenleberis der Menschheit ist der, daß sie in demselben alle ihre
Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte. Soll dies mit einer,
der Gattung bewußten, und für ihre eigene freie Tat angesehenen Freiheit
geschehen, so wird in demselben Bewußtsein der Gattung ein Zustand
vorausgesetzt, in welchem diese Freiheit noch nicht eingetreten; —
keinesv/egs also, daß die Verhältnisse der Gattung überhaupt nicht
nach der Vernunft geordnet seien, denn sodann vermöchte die Gattung
gar nicht zu bestehen, sondern daß diese Unterordnung nur nicht durch
Freiheit, sondern durch die Vernunft als blinde Kraft, d. h. durch
den Vernunft-Instinkt (?) durchgesetzt worden. Der Instinkt ist blind ; die
ihm gegenüberstehende Freiheit müßte daher sehend, d. i. eine Wissen-
schaft der Vernunftgesetze sein, nach denen die Gattung mit freier Kunst
ihre Verhältnisse zu ordnen hätte. Aber sodann müßte zuvörderst die
Gattung, um zur Vernunft- Wissenschaft, und von dieser aus zur Vernunft-
Kunst kommen zu können, erst von dem blinden Antriebe des Vernunft-
Instinkts sich losgemacht haben. Dieser aber, inwiefern er als blinde
Kraft in der Menschheit selber waltet, kann sie nicht anders, als lieben,
— weit entfernt, daß sie von ihm sich losreißen auch nur wollen sollte.
Er müßte daher nicht in ihr selber, wenigstens nicht allgemein, walten,
sondern ihr nur als fremder Instinkt einiger weniger Individuen, durch
eine äußere Autorität und Gewalt, aufgedrungen werden, — gegen welche
äußere Autorität nun sie sich setzte, und unmittelbar von dieser — mittel-
bar aber mit ihr zugleich von der Vernunft in der Gestalt des Instinktes,
und, da diese Vernunft in anderer Gestalt noch gar nicht vorhanden ist,
von der Vernunft in jeglicher Gestalt befreiete.
Diese Deduktion ergibt fünf, einzig und allein mögliche, und das
ganze irdische Leben der menschlichen Gattung erschöpfende, Haupt-
Epochen, I. die des Vernunft-Instinkts; 2. diejenige, da dieser Instinkt
schwächer (?) geworden (?) und nur noch in wenigen Auserwählten (?)
sich aussprechend, durch diese wenigen in eine zwingende äußere Autorität
für alle, verwandelt wird; 3. diejenige, da die Autorität, und mit ihr die
Vernunft, abgeworfen wird; 4. die, da die Vernunft in der Gestalt der
Wissenschaft allgemein in die Gattung eintritt; 5. diejenige, da zur Wissen-
schaft sich die Kunst gesellt, welche das Leben mit sicherer Hand nach
der Wissenschaft gestaltet.
Es wird nunmehr den Zuhörern angemutet, wie auf einer vorgelegten
Landkarte den eignen Standpunkt, so in der Reihe dieser Epochen, das
gegenwärtige Zeitalter zu finden. Wie viele Fragen mochten hier die
Mehrern wie viele Verneinungen die Selbstdenker zu unterdrücken wohl
:j o 5 J- F. Herbarts Rezensionen.
gehabt haben. — und welche neue Befremdung bereitet sich, indem jetzt
die heutige Zeit als die mittlere, dritte Epoche, — als der Stand der
vollendeten SündJiaftigkeit, verkündigt wird. Doch dies ist der kleinere Teil
der Schulden, welche der Philosoph um sein Wissen popularisieren zu
können, bei den Hörern macht. Der Weltplan samt seinen Epochen
ließe sich wohl noch an eine Menge bekannter Reflexionen, die seit
vielen Jahren in Umlauf gesetzt waren, anknüpfen; — der Gang von
einer unbewußten Reinheit, durch die Schuld zur bewußten Tugend,
schwebte im allgemeinen vielleicht einem jeden vor, und die näheren
Bestimmungen, von der Gattung, von einer, sich erhebenden, und wieder
abgworfenen Autorität, — hätten sich einfügen lassen. Aber bereits in
der zweiten Vorlesung wird die Versammlung aufgefordert, Sätze vorläufig
zu leihen, die als „ungeheure Paradoxa" denen allerdings erscheinen
mußten, welche nicht schon durch die Geschichte der Philosophie an
dieselben gewöhnt waren. „Es ist der größte Irrtum, und der wahre
Grund aller übrigen Irrtümer, welche mit diesem Zeitalter ihr Spiel treiben,
wenn ein Individuum sich einbildet, daß es für sich selber da sein
und leben, und denken und wirken könne, und wenn einer glaubt, er
selbst, diese bestimmte Person, sei das Denkende zu seinem Denken, da
^r doch nur ein einzelnes Gedachtes ist aus dem Eine7i allgemeinen , und 7iot-
ivendigen Denken.^'- Hr. F. nun will auf eine populäre Weise einen jeden
von seiner eigenen stillschweigenden Voraussetzung desselben überführen.
Er versucht demnach ein unaustilgbares Prinzip des eignen Urteils fühlbar
zu machen, des Inhalts: daß das persönliche Leben an die Idee gesetzt
werden solle, — und das persönliche Dasein eigentlich und in der Wahrheit
gar nicht sei, da es aufgegeben werde, werden solle, dagegen das Leben in
der Idee allein sei, indem es allein behauptet, und durchgesetzt werden
solle. Man vermutet wohl, und mit Recht, daß hier über das, was ge-
schehen soll, über das Setzen des Daseins an die Idee, manches Treffliche ge-
sagt ist, — und wir hüten uns, dem zu widersprechen. Ungünstig aber
müßte man von dem Scharfsinne der Zuhörer urteilen, welche hier das
Ineinandergreifen zweier, vollkommen heterogener, und nie genug zu
trennender Gedanken, nicht wenigstens als eine Dunkelheit empfunden
haben sollten. Des theoretischen Gedankens nämlich, von dem Einem
und den Vielen, und des praktischen, von der Idee. Hr. F. freilich,
Rez. muß es beklagen, hat sich dem Irrtum derer nicht entrissen, welche
keine praktische Idee meinen festhalten zu können, wenn sie sie nicht
dem Reellen ankleben und welchen das Sollen sich immer wieder zum
Sein vergröbert. Da aber aus dem Sein das Sollen ebensowenig yö/^/" als sich
dieses an jenes heften läßt, so muß denn in die P'uge ein oft gebrauchter,
und oft verworfener, Mörtel gestrichen werden: Alles Leben liebe notwendig
sich selbst, und so müsse auch das vernunftgemäße Leben sich lieben, und
als das wahre und rechte Leben sich lieben über alle andere Liebe.
Wie sehr dadurch die Ideen selbst entstellt werden, wird dem Rez.
klar in der, bald folgenden, Beschreibung der Idee: sie sei ein selb-
ständiger, in sich lebendiger, und die Materie belebender Gedanke; es
wäre aber vergeblich, in einer Rezension darüber zum lesenden Publikum
zu sprechen, welches durch eine ganze Reihe von Schriftstellern seit
J. G. Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. ^^7
geraumer Zeit an ähnliche Entstellungen ist gewöhnt worden. Rez. be-
gnügt sich, den bestimmtesten Ausdruck, samt der ferneren Entwicklung
des Verfs. hervorzuheben: Wie die Idee in ihrem Wesen, so ist die Selig-
keit des Lebens in der Idee allenthalben sich gleich, und dieselbe; näm-
lich das unmittelbare Gefühl ursprünglicher, rein und schlechthin aus sich
selbst hervorgehender, Tätigkeit. Jedoch in Absicht der Gegenstände, in
welche diese ursprüngliche Tätigkeit, innerhalb unseres Gefühls und Bewußt-
seins ausströmt und sich darstellt, gibt es verschiedene Formen der Einen
Idee, oder, wenn man will, verschiedene Ideen. Die erste Art des Aus-
flusses der Urtätigkeit ist die in Materie außer uns, vermittelst unserer
eignen materiellen Kraft, — die schöne Kunst. Die zweite ist das Aus-
strömen der Urtätigkeit in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die dritte,
— in das Nacherschafifen des gesamten Universum aus dem Gedanken;
die Wissenschaft. Die vierte Form der Idee ist das Hinströmen aller
Tätigkeit und alles Lebens, mit Bewußtsein, in dem Einen, unmittelbar
empfundenen, Urquell des Lebens; die Religion. — So sind wir
abermals in einer bekannten Sphäre; und wer jemals der Kunst, oder
der Gesellschaft, oder der Wissenschaft, oder der Religion, sich mit dem
unmittelbaren Gefühl ursprünglicher Tätigkeit, kräftig und fröhlich hingab,
der wird — wenn selbst die Wissenschaft nichts Höheres kennt, als eben
diese Tätigkeit — bloß das nicht begreifen, wozu wohl die Erwähnung
jenes Ungeheuern Paradoxons von der Identität aller Menschen in dem
Einen allgemeinen Denken, in diesen so sehr populären Vorträgen habe
dienen sollen ? Doch nicht, um dadurch das Gefühl der Selbsttätigkeit auch
an diejenigen zu bringen, welche dieses Selbstgefühl nicht in sich selbst
fühlen? — Diese letztern mit sich unzufrieden zu machen, und die Last
des Tadels, welche der Verf. auf sie zu häufen hat, vielmehr als eine Kraft
des Selbsttadels in ihrer eignen Brust aufzuregen, dies war doch vermut-
lich der eigentliche Zweck dieser Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters.
Aber ein philosophische.s Dogma — welches noch überdies dem Wider-
spruch anderer Philosophen entgegentritt — wird zunächst eine Last für
das Gedächtnis, und weiterhin ein Keim der Grübelei. Denn auch nicht
einmal der spekulative Trieb kann zur urspiiinglichen Entwicklung gereizt
werden durch einen Satz, der als gerader Widerspruch gegen die bisherige
Denkart auftritt.
Wir haben aus dem vor uns liegenden Buche genug mitgeteilt, damit
das übrige mit ziemlicher Sicherheit vermutet werden könne. Nachdem
die Grundmaxime des Zeitalters festgestellt war, diese nämlich: zu ver-
weifen, was es nicht begreife.^ und nichts zu begreifen, als was sich auf per-
sönliches Dasein und Wohlsein beziehe: mußte, nach den angegebenen
Formen der Idee, der Geist der Zeit in Rücksicht auf den künstlerischen,
gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, religiösen Zustand beschrieben werden.
Man wird von selbst erwarten, daß dabei die Gelegenheit, aus dem
eignen Systeme zu erzählen, mehrfach benutzt worden sei; welches Erzählen
nur dadurch ein wenig verdorben wird, daß mitunter den Hörern auch
ein, wie es dem Rez. sich darstellt, sprungweise fortgehendes Räsonieren
aus hingestellten Voraussetzungen, angemutet wird. Wie der systematische
Geist des wahrhaft großen Denkers es ertragen mochte, solche Unformen
Herbarts Werke. Xni. 22
2 7 8 J- F. Herbarts Rezensionen.
und Unwissenschaftlichkeiten hinzustellen: soll, muß Rez. etwa auch dies
aus seiner unvorteilhaften Meinung vom Zeitalter sich erklären? Wir
unseres Orts, verbieten uns gänzlich, unsere Leser durch fernere Relationen
aus dem Buche zu unterhalten; kurz zusammengedrängt, würde das Aus-
gehobene nur noch mehr als sonderbare Meinung erscheinen. Leser aber
dem Buche zu wünschen, haben wir ohne Zweifel nicht nötig; die Kraft
der Rede wird ihm dieselbe festhalten, sowie der Ruhm des Verf. sie
herbeiziehen. Sollte jemand erwarten, die starke Unzufriedenheit mit der
Gegenwart möchte einer langen Lektüre von 563 Seiten am Ende zu
lästig werden: so können wir hinzusetzen, daß die Mannigfaltigkeit der
Gegenstände auch hinreichende Abwechslung des Tons herbeigeführt; ja
die Schilderung des politischen und religiösen Zustandes ist so sehr ge-
mildert worden, daß der Verdruß über die wissenschaftlichen Angelegen-
heiten nur zu sehr allein bleibt.
Ein Verdruß über das lesende Publikum äußert sich auf eine höchst
auffallende Weise in der Vorrede zu dieser, sowie zu zweien andern,
fast gleichzeitigen Schriften desselben Verfassers. Wollte der Verf. durch
diese Vorreden, dreifach wiederholt das Publikum auffordern, die Werke,
worin er sich über alle Zeit zu erheben versichert, selbst als Phänomen
der Zeit zu betrachten? Sie wären es ohnehin gewesen; und eine Zeit-
schrift, wie die gegenwärtige, hat den Beruf, aufmerksam zu machen auf
ein so merkwürdiges Ereignis in der wissenschaftlichen Welt, wie diese
Spaltung zwischen dem philosophierenden Deutschland, und dem Manne,
den es vielleicht als seinen größten Denker anerkennen sollte.
Man wird sich wohl nicht verhehlen wollen, welche Mahnung darin
liegt, zurückzublicken auf die Zeit, da dieser Mann zuerst auftrat, auf die
Art des Beifalls, womit man ihn empfing, — auf das nachlässige Leseti
seiner Werke, an denen man sich bald anfing durch grundlosen Tadel zu
rächen für die unüberwundenen Schwierigkeiten, wodurch sie imponierten,
— auf alles das, wodurch man ihn reizte, sich mit Härte und Bitterkeit
zu äußern, und es ihm nach Möglichkeit verleidete, die staunenswerte,
spekulative Gewalt seines Geistes so rein innerlich zu beschäftigen, wie
es nötig war, wenn vollendete Produkte dadurch gewonnen werden sollten.
Nur zu leicht werden manche über dergleichen Erinnerungen hinweg-
zukommen suchen, indem sie dem Verf. selbst die Schuld zuschreiben,
der es nicht vermied, durch starke Mittel die Zweifel zu erdrücken,
welche ihm selbst willkommen sein konnten, solange seine Werke nicht die
letzte Vollendung erhalten hatten. Immerhin mag es die Sprache der
Nemesis sein, die in seinem Bekenntnis redet: er sei an dem größern
Publikum also irre geworden, daß er nicht mehr wisse, wie man zu dem-
selben sprechen solle. — Bleibe nun jeder seinen Betrachtungen überlassen
über das, in der Tat auf beiden Seiten schwierige Verhältnis zwischen dem
Publikum und einem Denker, der eine große Gedankenreform ankündigt;
und über die Nachsicht, zu welcher man wohl auch von beiden Seiten
sich bewogen finden könnte.
Wie die Sache liegt: wird das Publikum bedauern, daß einer seiner
ersten Schriftsteller ihm nur das hat mitteilen wollen, was ohnehin zu
einem andern Behuf ausgearbeitet einmal vorhanden war; ohne auch nur
J. G. Fichte: Die Gmndzüge des gegenwärtigen Zeitalters. 33 g
die leichtern Veränderungen damit vorzunehmen, welche der schriftliche
Stil erfordert, um sich von den Dehnungen und Einschiebseln des freieren
mündlichen Vortrages gehörig loszumachen. Rez. aber bedauert, daß
Fichte, derselbe, dem wir das Streben nach hohem, wissenschaftlichen
Formen eigentlich und einzig zu verdanken haben, mit einer INIischung
aus populären Akkommodationen und hingeworfenen Behauptungen sich
eben in dem Augenblick begnügte, wo er seine Lehre, deren Materialien
und Wendungen gleich bunt erscheinen müssen, ganz laut als Schwärmerei
anzuklagen unternahm. Ihm kam es doch wohl zu, sich eben jetzt in
seiner wahren Größe zu zeigen, und durch ein Werk der reinen und
strengen Spekulation — gleichviel ob von großem oder geringem Umfange,
— den Ulysses - Bogen hinzulegen. Alsdann würde der Gedanke, den
jetzt seine Worte veranlassen können, als habe er entlehnt, um zu ver-
bessern, wohl fem genug geblieben seien. Zwar, auch so haben wir
Mühe, zu glauben, daß dieser Gedanke irgend einem Kenner der früheren
Fichteschen Werke im Ernst eingefallen sei. Nicht nur ist es leicht ge-
nug, das Wissen, welches schlechthin ist, samt der Welt, die nur im Wissest
ist, (S. 281) auf das Ich zurückzuführen; nicht nur erinnert das Normal-
Volk mit seinen Kolonien, deutlich genug an die wohlbekannte Auf-
forderung zur Vernünftigkeit, für welche schon im Naturrecht (S. 32) ein
Geist war herbeigerufen worden: sondern auch die einzige große Untreue,
welche Fichte am Idealismus begeht, indem er alle Individuen auf eine
Linie stellt, und sie sämtlich in das Eine absolute Wissen einschließt, —
ist so wenig etwas Neues, daß ihr Grund sowohl als ihr Ort im System,
für den Leser der Bestimmung des Menschen, nicht der mindesten Er-
läuterung weiter bedürfen. Der Glaube ist es, welchem sich hier die
Spekulatio7i ganz besonnen geopfert hat. —
Es schweben mir vor Erscheinungen im Räume — so lesen wir
(S. 205 der Best. d. M.) — auf welche ich den Begriff meiner selbst
übertrage; ich denke sie mir als Wesen meinesgleichen. Eine durch-
geführte Spekulation hat mich ja belehrt, oder wird mich belehren, daß
diese vermeinten Vernunftwesen außer mir nichts sind, als Produkte meines
eignen Vorstellens, daß ich nun einmal, nach aufzuweisenden Gesetzen
meines Denkens, genötigt bin, den Begriff meiner selbst außer mir selbst
darzustellen, und daß, nach denselben Gesetzen, dieser Begriff nur auf
gewisse bestimmte Anschauungen übertragen werden kann. Aber die
Stimme des Gewissens ruft mir zu: was diese Wesen auch an und für
sich seien, du sollst sie behandeln als für sich bestehende, — von dir
ganz und gar unabhängige Wesen." Es gebührt sich, fest zu glauben,
was man einmal glauben will: es gebührt sich, diesen Glauben wohnbar
zu machen, sich darin häuslich einzurichten. Kein Wunder also, daß die
Spekulation, welche sich für jetzt zum Schweigen bewogen findet, bald sogar
hilfreich herzutritt, und sich auf Fragen einläßt, die wahriich nicht ihr,
sondern nur dem Glauben einfallen konnten. „Wie haben freie Geister
Kunde von freien Geistern? — nachdem wir wissen, daß freie Geister
das einige Reelle sind, und an eine selbständige Sinnenwelt, durch welche
sie aufeinander einwirkten, gar nicht mehr zu denken ist." Hier haben
wir den halben Idealismus, der die Natur aufhebt, die Menschen aber
22-^
-lAQ J. F. Herbarts Rezensionen.
stehen läßt, — und wer die vorhergegangenen Spekulationen für richtig
hält, der wundere sich an dieser Stelle nicht über Mangel an Scharfsinn,
sondern staune mehr über die Großmut des Scharfsinns gegen das Pflicht-
gefühl, welche allein eine solche Denkart erzeugen durfte. Die gemein-
schaftliche geistige Quelle, durch welche die endlichen Vernunftwesen nun
voneinander wissen, durch welche es für sie eine gemeinschaftliche Sinnen-
welt gibt, hat mit der res extensa et cogitans des Spinoza, systematisch
betrachtet, nicht das mindeste gemein; die wahre Wurzel des Systems
ist und bleibt Id-ealismus, und dadurch unterscheidet er sich sehr schart
von jenem, aus dem Idealismus verbesserten Spiiiozismus ^ der sich die
Natur nicht will nehmen lassen, und der neben dem Menschen auch noch
die Tiere beibehalten möchte. — Ehe nun jemand über diese Sache
weiter redet, wolle er zurückkehren zu den älteren Fichteschen Werken
und sich nicht verdrießen lassen, den ganzen Abschnitt vom Glauben, in
der „Bestimmung des Menschen" bedächtig zu lesen, auch in der „Sitten-
lehre" einige Parallelstellen aufzusuchen, welche wenigstens historisch wichtig
sein können. Rez. aber, der des* nicht bedarf, weil ihm die Fichtesche
Spekulation, so wenig wie der Spinozismus, oder ein Gemisch aus beiden,
von vornherein gelten kann; hat desto unbefangener zu vergleichen und
entgegenzusetzen, von dem bloß formalen Interesse an dem systematischen
Zusammenhange sich getrieben gefühlt; und eben diesem Interesse mag
es eingeräumt werden, hier noch den Wunsch zu äußern, daß der Eifer
für das Studium der streng wissenschaftlichen Fichteschen Schriften wieder
erwachen möge, nicht der Lehren wegen, aber um der Form willen, so-
fern dieselbe ein wahrhaft spekulatives Streben nach festen und willkür-
losen Fortschreitungen im Denken deutlicher verrät und stärker aufreizt,
als man dies von den Werken irgend eines andern Philosophen älterer
und neuerer Zeit möchte rühmen dürfen.
1. Guts Muths, J. C F., Kurzer Abriß der deutschen Gymnastik,
ein Leitfaden für Lehrer und Schüler. (Auch unter dem Titel:
Katechismus der Turnkunst.) — Frankfurt a. M., bei Wilmans, 1818.
(Preis: 12 Gr.)
2. Kayfsler, A. B. , Professor der Philosophie usw., Würdigung der
Turnkunst nach der Idee. — Breslau, bei Joseph Max, 1818.
3. Steffens, Henrich, Turnziel. Ebendaselbst. (Preis: 16 Gr.)
4. Passow, Dr. Franz, Turnziel. Turnfreunden und Turnfeinden. —
Ebendaselbst. (Preis: 22 Gr.)
5. Passow, Franz, Prof. an der Königl. Universität, Zur Rechtfertigung
meines Turnlebens und meines Turnziels. — Ebendaselbst.
Gedruckt in : Hermes oder kritisches Jahrbuch der Literatur. Zweites Stück für das
Jahr 18 19.
Das Turnwesen, an sich gut und heilsam, würde ein ebenso klarer
Gegenstand sein, wenn es nicht durch zufällige Beimischungen entstellt
* Original: ^,des der^'
J. C. F. Guts Muths: Kurzer Abriß der deutschen Gymnastik. ^41
wäre. Es entspricht, seiner Natur nach, zweien Forderungen zugleich,
die längst aufgestellt waren, ehe den Mann, der ihm seinen jetzigen Namen
gab, die Zeitumstände so sehr begünstigten, daß er es im. großen zur
Ausführung bringen konnte. Die beiden Forderungen sind: erstlich, eine
durchgehends zweckmäßige und zulängliche Übung des Leibes; und zweitens,
Anordnung einer solchen Lebensart für die Jugend, wobei sie nach eigenem,
und zwar nach eigenem richtigen Sinne, eine in ihren Augen ernste Wirk-
samkeit betreiben könne. Die erste Forderung ist sehr bekannt; insbesondere
hat der verdienstvolle Verf. von Nr. i sich schon vor einem Viertel-
jahrhunderte bemüht, ihr zu genügen. Die zweite läßt sich, samt ihren
Gründen, in einem Buche nachweisen, das über ein Jahrzehnt alt ist; und
vielleicht war sie damals schon nicht neu. In beiden Forderungen liegt
aber nicht die mindeste politische Beziehung; noch weniger ist's der Sache
angemessen, daß Männer sich darum entzweien, weil die Jugend eine,
in ihren Augen ernsthafte Wirksamkeit betreiben soll; vielmehr ist jugend-
licher Eifer für Männer oft ein Gegenstand des stillen Lächelns; und es
kann kaum anders sein, wenn wirklich der Standpunkt der Männer hoch
genug und ihre Umsicht weit genug ist, um gegen den engen Gesichtskreis
der Jugend das rechte Verhältnis zu behaupten. Nun sind zwar die
Verf. von Nr. 2, 3, 4 und 5 sämtlich Männer, die nach ihrer eigenen
Meinung, auf dem höchsten Standpunkt der Wissenschaft stehen. Allein
sie müssen sich gefallen lassen, daß ihnen dies von andern bestritten, ja
gänzlich abgeleugnet wird. Die sogenannte philosophische Begründung,
welche hier dem Turnwesen untergelegt wird, hat daher wenig zu be-
deuten; um desto weniger, da das Wesentliche des Gegenstandes sich
aus dem Werke des Hrn. Guts Muths deutlich erkennen läßt.
In Nr. I ist in gehaltreicher Kürze dasjenige beisammen, was „bei
der Ausführung der Turnübungen, mitten im muntern Gewühle der Jugend,"
als Anleitung und Erinnerung nötig sein kann. Voran gehen drei kurze
Hauptstücke, von dem Bildungswesen des Menschen, vom Wesen der
Turnkunst und die zehn Gebote der Leibeszucht. Zum Schlüsse noch
eins: über die Turnerschaft und ihre Gesetze. Mit Recht steht im
Vordergrunde die Bemerkung, daß die tmgeordneten Leibesübungen, zvelche
das tägliche Leben herbeiführt, kein Gleichmaß der Stärke und Gezoandtheit
in den verschiedenen Gliedern hervorbringen; daher die Gymnastik kunst-
mäßig betrieben werden müsse. Hauptzweck sei: Erhaltung des Gleich-
gewichts zwischen Geist und Leib.* Aus den zehn Geboten der Leibes-
zucht schreiben wir mit Vergnügen folgendes ab: „Du sollst Gott fürchten
und lieben, der dir deinen Leib als Diener mitgegeben, — darum sollst
du, neben rechtschaffener Übung und Bildung des Geistes, deines Leibes
nicht vergessen, — in dem körperlichen Schwachen wohnt wohl das
Wort, der Trost, die Aufmunterung; aber nicht die leibliche Tatkraft,
nicht das Mitgehen, nicht Hilfe gegen Not. — Streng sollst du meiden,
was den Leib schwächt, abmattet, und dir den männlichen Sinn entzieht;
* Dies schließt die Rücksicht auf besondere Konstitutionen, und auf vorzügliche
geistige Entwicklungen nicht aus; was wir hier im voraus gegen Hrn. Steffens, und
gegen eine Folgerung aus seinem Systeme^ bemerken.
■1A2 J« F. Herbarts Rezensionen.
dagegen soHst du ihn halten in gehöriger Zucht, damit du lange lebest
in Gesundheit und Ehren. Ein gutes Schwert in die Glut gesteckt, wird
wie Blei; ein starker Leib in die Weichlichkeit, wie Brei. — Du sollst
aber dein Mut- nnd Kraftgefühl unter der Zucht deines Geistes in Demut
halten. Du sollst nicht den fremden Zweck im Auge haben, dich zur
Schau zu stellen und zu gaukeln, auf daß nicht jemand komme und dir
Geld biete, wie den Gauklern, und damit das Übungswesen nicht in
Unehre verfalle. Was du zur Schau tust, geschehe höchstens nur für
deinen Nebenmann zur Belehrung und Ermunterung. Mutwillig aber mit
seiner Leibeskraft jemanden zu nahe treten, heißt Gefallen haben an
der unvernünftigen Stärke des Rosses. Sondern du sollst Schild sein
und Schirm, Arm und Waffe den Deinigen, dem Schwachen, dem ver-
unglückenden Bruder, dem Wohnsitze und Vaterlande, ja selbst dem wehr-
losen Feinde. Du sollst die edle Sinneskraft schärfen. Du sollst Maß
halten in der Arbeit des Leibes. Du sollst nicht vergessen, daß der Geist
der eigentliche Mensch ist, daß seine Entwicklung über der leiblichen
steht. Darum sollst du der geistigen Ausbildung nicht die Zeit stehleii füt
die leibliche; sondern in dieser tun, was recht ist, und die Zeit weislich
gebrauchen und einteilen; auch kein Geschäft darob versäumen." — Nun
noch Proben aus dem fünften Hauptstücke; — „die Turner eines Platzes
bilden eine Gesellschaft. Etwas muß sie vereinen, ein Band muß da sein,
das sie umschlingt; und Ordnung, die sie erhält. Der Zweck des Turnens
ist das einzige Band; das angenommene Gesetz schafft die Ordnung.
So ernst indes auch das Turnwesen zu nehmen ist, so soll es doch mit
Lust und Freude von statten gehen." Unter den allgemeinen Gesetzen
ist das erste: Jeder soll tun für die Ehre der Turnerschaft, was er in
Sittlichkeit nur immer vermag, damit nicht ein eigener Flecken des Ein-
zelnen an unschuldiger Turnsache und der Gesellschaft abschmutze. Das
zweite: der Turnplatz werde kein Zankplatz. Hierauf folgt eine Menge
anderer Vorschriften, die darin zusammenlaufen, daß dem Turnlehrer ruhig
und anständig solle gehorcht werden. Endlich noch besondere Gesetze
für die einzelnen Klassen der Turn-Übungen.
Wenn das Turnwesen sich so darstellt, wie hier: so begreifen wir
nicht, wie es Feinde haben könne. Im Gegenteil: alle diejenigen, welche
pädagogische Einsicht besitzen, müssen ihm als Freunde zufallen. Sie
müssen auf den ersten Blick begreifen, daß keine Art von Tätigkeit so
allgemein aus dem eigenen Sinne der Jugend hervorgehen kann, als die
Übung des Leibes; daß eben in diesem Punkte die Zöglinge nur darauf
warten, der Rat und der Verstand der Erwachsenen solle ihnen helfen,
das zweckmäßig und ordentlich einzurichten, was sie ohnehin vorzunehmen
wünschten. Hier ist die natürlichste Berührungsstelle zwischen dem Manne
und dem Knaben, ja zwischen dem Manne und dem Jünglinge. Aber
noch mehr! Hier ist der natürliche Anfangspunkt aller Bildung zur wahren
Geselligkeit. Denn Gesellschaft erfordert einen ernsten, selbstgewollien Zweck;
einen solchen Zweck, den der Einzelne nicht für sich allein, sondern nur
in Verbindung mit vielen fassen kann oder mag. Und welchen gemein-
samen Zweck kann denn die Jugend sich setzen ? Soll sie um einen Herd,
um einen Altar, um eine Kriegsfahne, — oder gar um ein Buch sich
J. C. F, Guts Muths: Kurzer Abriß der deutschen Gymnastik. ^43
versammeln? Nahrung reicht man ihr, Rehgion lehrt man sie, den Streit
verbietet man ihr, und Bücher sind zu fremd und zu gelehrt; das alles
paßt nicht, um den eigentlichen Geist aktiver Gesellung in der Jugend
hervorzulocken. Aber zu Leibesübungen sammelt sie sich von selbst und
gern; hier fühlt jeder den allgemeinen Zug, den Schwung der ganzen
Menge. Oder meint man vielleicht, Leibesübung sei kein Gesellschafts-
zweck; man könne ja auch für sich allein dergleichen treiben; es komme
ja doch einem jeden nur auf die Übung seiner eigenen Gliedmaßen an?
Das wäre gerade so klug geredet, als ob jemand die Kirchen für unnütz
erklärte, weil ja doch im Grunde jeder einzelne darin seine Erbauung
suche, seine Andacht verrichte, welches sich ebensogut zu Hause tun lasse !
— Nein, gerade umgekehrt! Je größer die Gemeinde, je voller die Kirche,
desto inniger, desto erhebender die Ahnung dessen, der allen wohltut und
allen gebietet; — und ebenso, je zahlreicher die Gesellschaft der Knaben
und Jünglinge, desto ernster zugleich und munterer die Anstrengung, daß
die Übungen ganz gelingen mögen, ohne Störung durch irgend einen;
und desto lebendiger und heißer der Wetteifer der Geschicklichkeiten, der
hier wie überall die Würze des Spiels ausmacht. Oftmals, im Streite über
die größeren Vorzüge des häuslichen oder des öffentlichen Unterrichts,
hat man eben darum den letztern gepriesen, weil er ein frühes geselliges
Band unter den Mitschülern knüpfe; aber offenbar sind die Genossen
einer Gymnasial-KIasse weit loser verbunden, als die Turner eines Platzes,
weil jene meist passiv, und nur wenig zusammenwirkend nebeneinander
lernen; diese weit mehr aufgeregt, einander nachahmend oder helfend,
sich versuchen und üben. Wenn endlich über den Vorschriften des Hrn.
Guts Muths gehörig gehalten wird, so läßt sich nicht absehen, welcher
Anlaß zu jenem Dünkel, jener Anmaßung vorhanden wäre, den man wohl
sehr mit Unrecht dem Turnen zur Last gelegt hat, anstatt ganz andere
Ursachen in dem Zeitgeiste, und besonders in den unbehutsamen Be-
günstigungen, in dem allzulaut geäußerten Beifalle reifer Männer bei jugend-
lichen Festen u. dergl. zu suchen und zu finden. Das ist sehr klar: soll
das Kraftgefühl der Jugend, welches allerdings mit ihrer Leibesübung
wächst, in gehörigen Schranken bleiben, so 7nuß notivendig das männliche
Alter sich selbst an Würde und an sichtbarer Überlegenheit soviel zusetzen, daß
das Verhältnis zum mindesten bleibe wie zuvor. Und da unser Zeitalter
sich zu freieren Verfassungen hinneigt: so kann die unleugbare Gefahr
eines solchen Übergangs nicht anders vermieden werden, als indem zu-
gleich aller jugendlicher Übermut zurückgewiesen und den Ratschlägen
des reifen Alters ihr ganzes, ihnen gebührendes. Gewicht beigelegt wird.
Aber diesem allen steht das Turnen auch nicht im geringsten im Wege;
— sobald es nach den obigen Vorschriften betrieben wird. Erkennt der
Leib den Vorrang des Geistes, so bleiben auch die Leibesübungen an der
untergeordneten Stelle, wo sie den Kräften des Geistes nicht zur mindesten
Eifersucht Grund geben können.
Was sagen nun zu dem allen die Verf. von 2, 3, 4, 5? Aus 2 und 3
erfährt man, daß die Hrn. Professoren Kayssler und Steffens, Kollegen an
der Universität zu Breslau, in Streit geraten sind, der jedoch noch im freund-
schaftlichen Tone geführt wird; aus 4 und 5 geht hervor, daß Hr. Prof.
^44 J* F. Herbarts Rezensionen.
Passow und Hr. Prorektor Menzel, an demselben Orte gegeneinander
mit der heftigsten Erbitterung kämpfen ; ja aus dem Umschlage von Nr. 5
sieht man, daß dort noch mehrere Federn wegen derselben Sache zu
Felde gezogen sind. Unter solchen Umständen können die Gegner des
Turnwesens gar leicht ohne ihr Verdienst den Sieg davon tragen ; denn
wer Frieden wünscht, wird den Keim der Unruhen zertreten. — Da wir
keinen Beruf finden, uns in fremden Streit zu mischen, so werden wir
über 4 und 5 gar nichts sagen, sondern uns mit der bloßen Anzeige be-
gnügen; und über 2 und 3 uns so kurz fassen, als der Gegenstand, vmd
seine öffentliche Wichtigkeit, es gestattet.
Alle Philosophie, am unrechten Orte angebracht, läuft Gefahr ins
Lächerliche zu fallen. Wenn jene des Hrn. Prof. Kayssler (im wesent-
lichen die Schellingsche) an sich richtig wäre, so gehörte sie doch nicht
hierher; denn die Nützlichkeit des Turnens leuchtet auf dem Standpunkte
des allgemeinen Verstandes vollkommen ein, und zwar aus den eigenen
Gründen des Verfs.; und wenn wirklich hier eine Veranlassung wäre,
bis zur Ideenlehre aufzusteigen (freilich könnte man ebensogut, ja noch
eher, ein Mühlrad nach einer Idee würdigen), so paßte doch dies nicht
für eine Einladungsschrift zu einer Schulprüfung wie die gegenwärtige es
sein soll; — wo nicht etwa das Publikum zu Breslau in einem bisher
unerhörten Grade sich mit Philosophie beschäftigt. Sollte aber trotz
allem diesen die ernste Wissenschaft und die muntere Turnkunst mit-
einander in Berührung kommen: so müßte die erstere der andern an
Mut und Munterkeit zum mindesten gleich stehen ; nicht aber in so
melancholischem Tone reden, wie diese hier! Man höre nur folgende Ex-
pektoration: ,,Der Verfasser ist durch langes Nachdenken zu der Einsicht
gelangt, daß vor allen Dingen diejenigen, welche einen bessern Zustand
aufrichtig wünschen, und durch die Beschaffenheit unserer Zeit ihn zu
hoffen sich berechtigt glauben, ihn selbst zu erleben oder irgend einen
Vorteil aus der Umgestaltung zu gewinnen verzichten müssen." (Rez. hat
eine sehr viel schhchteie Meinung als der Verf. von der Beschaftenheit
unserer Zeit; und ist völlig überzeugt, daß heute, wie immer, das Böse
mit dem Guten, der Irrtum mit der Wahrheit zugleich im Wachsen be-
griffen ist; aber dennoch sieht er nicht, was ihn hindern könnte, sich an
dem geringen Übergewichte des guten, was wirklich vorhanden zu sein
scheint, zu erfreuen, und auch so viele Fortschritte, als er irgend für
möglich hält, gern erleben zu wollen. Die Ermahnung des Verfs. verrät
bloß, daß er selbst mit überspannten Hoffnungen gekämpft hatte, weil sein
Denken und Beobachten 7iicht rtihig genug war, und er sich verleiten
ließ, zu glaubeji was er hoffte.) „Sodann wandte sich, da Erziehung und
Bildung sein Beruf ist, sein Blick auf die Jugend, auf die niedern und
höhern Bildungsanstalten derselben, und ruhte endlich auf den Hoch-
schulen, von welchen die Pfleger der sittlichen Menschheit zunächst aus-
gehen, und insbesondere erivartete er von der deutschen Philosophie die
Richtung der ivissenschaftlich Gebildeten auf das Göttliche in allen Lebens-
verhältnissen. Allein er fa?id dort wie überall keinen Anfang; die Philosophie
aber mußte er endlich als einen Geist erkennen, der seinen Leib nicht finden
kann, und ohne ihn in Sehnsucht sich verzehrt ; und so überzeugte er sich
J. C. F. Guts Muths: Kurzer Abriß der deutschen Gymnastik. 34^
endlich!;'- (in der Tat sehr spät von einer so leichten Sache!) „daß mit
bloßem Denken und Meinen, mit Reden und Beraten so wesentHche Dinge
nicht gemacht werden, sondern daß der gründhche Anfang zur wahren
und fortwachsenden Verbesserung unseres Zustandes nuf- (sage nur! ein
Sprung von einem Extrem aufs andere!) „von kräftigen Lebenstaten zu
erwarten sei, wie sich die Geschichte der Menschheit ja auch sonst in
Zeiten^ die zu einer großem Umgestaltung reif waren, erwiesen hat. Und
diese kräftigen Lebenstaten — welche sind sie? Für eine derselben wird
nunmehr — sehr ernsthaft — das Turnen erklärt; und damit man ja
nichts mißverstehe, noch obendrein hinzugesetzt, der Verf. habe eben nur
den wahren Anfang und den ersten festen Grund einer wirklich bessern und
bleibenden Gestaltung des Lebens gesucht^ und Hin in der Turnkunst ge-
funden!! !
Und jetzt, o ihr guten Turner, wenn euch eure Kunst, wenn eure
Turnplätze euch lieb sind, — betet recht inbrünstig folgendes bekannte
Gebet: Schütze uns, o Herr! vor unsern Freunden, denn vor unsern
Feinden brauchen wir uns nicht zu fürchten.
Daß die Sehnsucht eines redlich forschenden Denkers durch den
Schellingschen Irrtum nicht gestillt wurde, ist natürlich; daß er nun mit
dieser Sehnsucht sich nicht zu lassen weiß, daß er Seufzer ausstößt der-
gleichen man von wahrer Wissenschaft niemals hören wird, läßt sich auch
begreifen. Aber Rez. hat wirklich Mühe, sich in den Grad von Gedanken-
verwirrung hinein zu versetzen, der nötig ist, um alle die heterogenen
Dinge, die hier durcheinander gemengt, und ineinander gezerrt sind, sich
nach Art des Verfs. vorzustellen. In der Tat, einem wachenden Menschen
tut es wehe, sich künstlich in den Zustand des Traums zu versetzen;
und hier wird gleichwohl nichts weniger als das erfordert. Doch wir
wollen die Mühe nicht scheuen ! Also — die Grundfarbe unseres Traums
ist: Erwartung einer größeren Umgestaltung. Gesetzt, diese ereigne sich,
und unsere Zeit sei dazu reif: was wird zum Vorschein kommen? Etwa
eine bessere Verfassung? Verantwortliche Minister? Beschränkung des
stehenden Heeres? Nein! sondern Richtung auf das Göttliche. Wessen?
Etwa des Volkes im ganzen genommen, dessen Zustand sich umgestaltet
hat? Nein! sondern der ivissenschaftlich Gebildeten. Diese also sollen im
Strome schwimmen, statt ihn zu leiten? Ja! denn die deutsche (sage:
Schellingsche) Philosophie ist ein Geist, der seinen Leib nicht finden kann.
Und was folgt daraus? Etwa, daß die deutsche Philosophie von vorn an-
fangen muß, um sich auf ihre ersten Probleme, und auf die Mittel, sie
zu lösen, besser zu besinnen, wie bisher? Nein! Hr. Professor Kayssler
weiß, ohne Zweifel, daß die deutsche Philosophie schon das Mögliche ver-
sucht hat (wir wissen das gerade Gegenteil). Die Denker können so
wesentliche Dinge (Richtung der wissenschaftlich Gebildeten auf das Gött-
liche!) nicht machen, sondern die Verbesserung unseres Zustandes (hier
wenigstens wird doch wohl der innere und äußere Zustand der Ge-
sellschaft gemeint sein?) muß durch kräftige Lebenstaten begonnen werden.
Also das Philosophieren, was man sonst für eine der kräftigsten Taten
des innern, wahren Lebens hielt, ist keine solche? Was sollen die ge-
forderten Taten denn eigentlich tun? Und welches ist das Werk, das sie.
■346 J- F. Herbarts Rezensionen.
nicht etwa vorbereiten, sondern unmittelbar vollbringen, um dessentwillen
sie Tale?i^ kräftige Taten, kräftige Lebens -Taten genannt werden? Wollt
ihr es sehen? Schaut auf die Turnplätze; schaut, wie man springt, ringt,
schwingt, schwimmt, klettert usw. Zwar, die Turner selbst wissen nichts
von den Taten, die sie tun, sie glauben bloß sich zu erholen von geistiger
Arbeit, und sich zu üben auf künftige Dienste, welche der Leib dem
Geiste, als Gehilfe zu dessen Taten, schuldig sein wird. Die Turner
hoffen auf die Schätze der Wissenschaft, welche in dem Besitze der
Männer seien, und welche man ihnen in reiferen Jahren darbieten werde,
damit sie lernen, zu loas für Zivecken denn eigentlich die Körperkraft
geübt sei, indejii diese Kraft nur äiißeie Erscheinungen hei-vorbnngeii kann^
die keinen Weit in sich selbst haben. Hoffet nur nicht, ihr Turner! Die
oberste Wissenschaft, welche alle Zwecke wägt und ordnet, und in der
zugleich selbst die vollkommenste Turnkunst, nämlich die Gymnastik des
Geistes enthalten ist, — sie hat, laut Hrn. Prof. Kaysslers Versicherung,
in sehnsüchtigen Seufzern ihr Leben verhaucht! — Aber hütet euch, wir
raten es euch ernstlich, vor den Lobpreisungen, mit denen man eure
jugendliche Übungen jetzo in die Wolken erhebt. Ihr wißt, daß euer
Gerät auf dem Turnplatze stark und fest, und ja nicht übermäßig hoch,
sondern in allen Teilen wohl abgemessen sein, daß auch in euren Übungen
Ordnung, und in den Bewegungen eurer Gliedmaßen Zusammenhang und
eine richtige Folge sein muß, wenn alles wohl gelingen soll. Nun ist aber
in den Lobeserhebungen, durch w^elche man eure Köpfe schwindlig macht,
an einer sehr wesentlichen Stelle, die gerade recht fest und wohlgefugt
sein mußte, Maß und Zusammenhang vermißt worden. Also gleichen
diese Lobeserhebungen einem Kletterbaume, der viel zu hoch, und unten
beschädigt ist; wenn nun eure Turnkunst dahinauf steigt, so stürzt sie
unfehlbar herunter und bricht den Hals. —
Wer eine ausführliche Rezension der Kayßlerschen Schrift verlangt,
dem bietet sich auf den ersten Bogen von Nr. 3 eine solche dar; und
zwar eine strenge, scharf tadelnde, dennoch aber in die Form eines
freundschaftlichen Briefes — nicht eingekleidete, sondern hineingezwungene;
so daß diese Form dem Leser weh tut, dem sie nicht anders als unnatür-
lich bei solchem Inhalte vorkommen kann. Was Hr. Prof. Kayssler,
als I'rennd, als Kollege, dabei empfinden mußte, — das hat zwar der
entferntstehende Leser nicht zu entscheiden; aber die Fiage danach kann
er nicht los werden; daher wir unsererseits, unbekannt mit den Personen,
und um sie unbekümmert, das Buch für ein in der Form verunglücktes
literarisches Produkt halten; so wie wir es dafür auch dann halten würden,
wenn der Name Kayssler bloß erdichtet wäre. Die Philosophie des
Hrn. Prof. Steffens ist hier ebenso unnütz, als die des Hrn. Kayssler:
selbst das Schauspiel, was dargestellt wird, nämlich: das Schellingsche Reich
in Unfrieden mit sifch selbst.^ kann hier nicht einmal die Gegner des ge-
nannten Reichs interessieren; denn es ist jetzt vom Turnwesen die Rede
und nicht von den Krämpfen einer auf dem Kopfe stehenden Philosophie.
Am Schlüsse wird indessen Rez. über diesen Punkt noch etwas beifügen.
Vom Turnwesen vernimmt man hier allerdings einiges, das Bedenken
erregen kann. „Schon in den traurigen Tagen des allgemeinen Drucks,
J. C. F. Guts Muths: Kurzer Abriß der deutschen Gymnastik. ^547
als wenige Freunde in gefährlicher Verbindung lebten, nahm ich unter
diesen eine Richtung wahr, die mir Sorge machte. Sie trat im Kriege
entschiedener hervor. Ich habe sie. wo sie erschien, vom ersten Anfaiig an
bekämpft, immer bestimmter und stärker, je mächtiger sie ward. Den Früh-
ling 181 7 bracht' ich in Berlin zu. Ich erfuhr dort, wie sehr eine falsche
Ansicht herrschend zu werden drohte — ich sah es wohl ein, wieviel
ich wagte, wenn ich, eben nach der Art, ivie ich bis hierher erschienen war,
diese Ansicht bekämpfen luollte}' (Wie hängt das zusammen? Nachdem
einer scliou gekämpft lial , nennt er es noch gewagt, kämpfen zu loolien,
und das wegen der Art, wie er bisher seinen vertrauten, sogar in gefähr-
licher Verbindung mit ihm ausdauernden Freunden, erschiefi}) „Als ich
Berlin verließ, war dieser Kampf beschlossen. Die Unternehmungen der
Turnfreunde machten nur einen Teil der zu bekämpfenden Massen (!)
aus. — Die Sache ist von großer Bedeutung, es gilt einen gefährlichen
Irrtum, der die Redlichsten umstnckt hat.'' (Hört! hört!) „Ich gesteh' es,
daß, obgleich ich von der Schädlichkeit der Uiiternehmting überzeugt bin,
ich dennoch keineswegs wünsche, daß sie durch Verbote von oben unter-
drückt werde. Verbote können nur hemmen , niemals vernichten , was
innerlich die Gesinnung in Anspruch genommen hat." Hier müssen wir
Hrn. St. geradezu widersprechen, und ihn einer Verwechslung beschuldigen.
Wäre von Untersuchungen, von Meinungen, von Gegenständen eines fort-
schreitenden Denkens die Rede, dann hätte Hr. St. recht; das Denken
würde sich nicht verbieten lassen. Aber Gesinnungen, vollends Unter-
nehmungen, sind viel wandelbarer; ihre scheinbare Härte ist nur Sprödig-
keit, es sei denn, daß ihnen ganz klare Gedanken, lange Erfahrungen,
ursprüngliche Triebe der menschlichen Natur zum Grunde liegen. So
etwas sich einzubilden, könnte höchstens einigen ganz verblendeten Turn-
freunden durch grobe Selbsttäuschung begegnen; und das erste kräftige,
durch ein paar Beispiele nachdrücklicher Bestrafung betätigte Verbot würde
ihnen bald die Augen öffnen. Die Frage ist also bloß: ob denn vuirklich
etwas Strafbares, oder auch nur etwas Gefährliches vorhanden sei? In diesem
Falle wäre der Staat nicht bloß berechtigt, sondern verpflichtet, und über-
dies mit w^eit mehr als hinreichender Macht versehen, die junge Gift-
pflanze auszureißen und samt allen ihren Wurzeln zu vernichten. Unseres
Bedünkens hätte daher Hr. St. wohl Ursache gehabt, etwas behutsamer
zu Werke zu gehen. Wir (Hr. St. und Rez.) leben zwar unter einem sehr
milden Scepter, aber einen großen Kreis von Freunden eines gefährlichen
Unternehmens beschuldigen, heißt dennoch, die Machthaber aufmerksam
machen; und was daraus entstehen kann, läßt sich nicht durch hinzu-
gefügten guten Rat: sie möchten die Sache nicht durch Verbote unter-
drücken, beliebig abwenden.* Hr. Prof. St. aber ist nichts weniger als
behutsam; denn gleich nachdem er mit Hrn. Kayssler fertig geworden,
erinnert er an Georg Forster; einen Namen, den er höchst sorgfältig
verschweigen mußte, wenn er freundschaftlich warnen und nichts Ver-
dächtiges anregen wollte. Leider aber ist das der heutige Ton unserer
Schriftsteller über öffentliche Dinge! Sie sprechen, wie es ihnen einfällt,
* Ist vor dem bekannten Verbote geschrieben. A. d. R.
, .g J- F- Herbarts Rezensionen.
ohne alle Scheu, daß etwas höheren Orts auftauen könne. Aber die Ehre
ihrer unüberlegten Freimütigkeit gebührt nicht ihnen, sondern ihren
Regierungen, die weise und schonend genug sind, von der Gewalt nicht
eher Gebrauch zu machen, als bis es nötig ist. Gleichwohl ist der Schade
nicht gering; denn die Regierungen können für ein freimütiges Wort nur
dann Achtung empfinden, wenn es gehörig begrenzt, und mit der Wirkung,
die es beabsichtigt, genau ins Gleichgewicht gesetzt ist. Und was ist
wichtiger als eben diese Achtung; insbesondere für Schriftsteller, die wirken
und nicht bloß laut reden wollen?
Was ist denn nun endlich das Gefährliche, wogegen wir gewarnt
werden? Es kostet Mühe, dies aus dem seltsamen Gerede in Schellingscher
Manier, aus den langgestreckten, von Rhythmus weit entfernten Perioden,
aus dem schalen Witze von „Butter, Milch, Sahne, enfin Fett," (S. 68
und ög dreimal wiederholt!) herauszufinden.
„Die Unternehmung ist keineswegs bloß abwehrend, sie hat, auch
auf eine positive Weise, ein neues Organ erzeugt, welches, da es in der
Erscheinung als ein besonderes hervortritt, ohne Reaktion auf die übrigen
Formen niemals gedacht werden kann; und dieses ist aus der vermeintlichen
Einsicht hervorgegangen^ daß es die hinlängliche Kraft besitze, diejenige Ge-
sinnung zu erivecken^ die bei den Bürgern notwendig ist, ivenn der in sich
gelähmte Staat sich mit neuer Tätigkeit kraftvoll gestalten soll'' Das ist des
Hrn. St. Bericht von der Tatsache. Nun seine Gründe dawider: Die
Erfahrung konnte nicht leiten; denn eine ähnliche kennt die ganze Ge-
schichte nicht. Man kann nicht wissen, ob Vertrauen und Liebe, auf
den Turnplätzen entstanden, für das ganze Leben bestehen, und in allen
Verhältnissen richtig wirken werde. Das Zusammenleben, wo Leibes-
übungen das verbindende Mittel sind, kann für sich nichts Geistiges er-
zeugen. (Man sieht, Hr. St. schickt die leichten Truppen voraus. Der
letzte Satz ist übrigens offenbar falsch; schon darum, weil reine bloße
Leibesübung, ohne geistiges Wollen und Wirken, ein Unding ist. Jetzt
aber kommt schwere Artillerie.) „Eine Anstalt, die bei einem ganzen
Volke alle Knaben und Jünglinge in ein großes Bündnis vereinigt, hat,
nachdem die Richtung gegeben worden, das Maß nicht in ihrer Gewalt.
Es entsteht ein Streben nach physischer Kraftausbildung, welches die
eigentümliche Gestaltung der Zeit überfliegend, in eine formlose Unend-
lichkeit hineinspielt. Spritzen kann man für mögliche Feuersbrünste auf-
bewahren, mancherlei Geräte für mögliche Gefahren; aber ein Magazin
von physisch ausgebildeten menschlichen Kräften, die sich mit Bewußtsein
ausbilden, für einen zukünftigen möglichen Gebrauch aufzuhäufen, wäre
ein gefährliches Experiment; denn sie verhalten sich nicht so ruhig, wie
das Gerät. — Wie wollt ihr die Gefahr abwehren? durch euren guten
Willen ? durch eure Versicherung, daß ihr es nicht so meint ? durch Sitten
und Lehrsprüche, daß der Turner nicht sein solle ein Schlagetot, sondern
fein bescheiden? traut ihr wirklich euren Lehren eine solche Kraft z\x'>
Jetzt liegt die ganze Sache deutlich vor Augen; als Einbildung und
Torheit auf beiden Seiten. Die Turnfreunde haben die ganze Welt um
sich her vergessen, bis auf den schmeichelhaften Wahn, die Welt sei ein
Stoff, der seine Bearbeitung von ihnen erwarte. Hr. St. erhebt sich zur
T. C. F. Guts Muths: Kurzer Abriß der deutschen Gymnastik, 340
Hälfte aus diesem Wahn, er zeigt ihnen diese Welt als rohe, wider-
spenstige Kraft, die ihneyi wohl zu mächtig werden könne, und darin hat
er recht ; er vergißt aber mit ihnen gemeinschaftlich, daß es noch andere
Kräfte gebe, die ordnend und regierend in die Welt hineinwirken, und
denen das Regiment nicht merklich schwerer noch leichter werden wird,
ob nun eine Tumanstalt in dieser Welt ist oder nicht. Das Wunder-
barste aber ist, daß dem Hrn. St. nicht bei dem Magazine physischer
Menschenkräfte, ein weit größeres Experiment ähnlicher Art einfiel, näm-
lich die LandivehA Knaben und Jünglinge sind noch keine Männer; aber
ein bewaffnetes, und zum Kriege vorgeübtes Volk würde allerdings furcht-
bar sein, wenn nicht das allgemeine Bedürfnis der Ordnung, und die
verständige Fürsorge der Regierung einander unaufhöriich entgegenkämen,
wenn nicht die leiblichen Kräfte von den noch weit stärkeren und ebenso
fortwährend neu erzeugten geistigen Kräften gebändigt und verbraucht
würden, — mit einem Worte, wenn nicht Staat, Kirche und Schule vor-
handen wären, von denen der erstere den Mißbrauch des jugendlichen
Turnens so gut als der männlichen Wafien bewacht und verhindert, die
beiden andern aber dafür sorgen, daß Lehr- und Sitlensprüche, gleichviel
ob auf dem Turn platze oder wo immer anderwärts gelernt, nicht leere
Worte bleiben, sondern in die Gesinnungen der Menschen eindringen,
und als Taten wiederum aus ihnen hervorgehen. Ist aber irgendwo der
Staat gelähmt, die Kirche in Lauheit und die Schule in Trägheit ver-
sunken — den preußischen Staat, worin Hr. St. lebt, kennt Rez. von der
entgegengesetzten Seite, und von ihm kann also hier nicht die Rede sein
— dann müssen wir freilich die Turnanstalt in eine solche unglückliche
Gegend nicht einlassen, sondern die nötige Verbesserung, anstatt ein
„neues Organ" zu erzeugen, bei den längst bekannten Haupt -Organen
des gesellschaftlichen Lebens anbringen, deren Funktionen durch keine
krankhafte Metastase auf andere Punkte dürfen veriegt werden.
• Weiterhin macht sich Hr. St. noch Sorge wegen des Erstickens
eigentümlicher Keime in der still sinnenden Seele mancher Kinder. „In-
dem jede freie Stunde, die dem Kinde übrig bleibt, in Anspruch ge-
nommen wird, sind alle unbefangene Kinderspiele verscheucht, oder
wenigstens zurückgedrängt." Wo das geschieht, wo nicht das Kind be-
obachtet und seiner Entwicklung gemäß behandelt wird : da ist's allerdings
schlimm; da ist eine starke Rüge begründet. Aber wie kommt denn das
Turnwesen dazu, daß dieser Vorwurf gerade ihm aufgebürdet wird ? Musik
und Zeichnen, Tanzen und Französisch oder Englisch — das sind die
gewöhnlichen Lückenbüßer, die man in jede leere Stunde der Kinder
glaubt einschieben zu müssen, ohne beachtet zu haben, ob wirklich die
Muße sich in Müßiggang verwandelt hatte oder nicht.
„Gibt es aber nicht eine körperiiche Stärke, die in unbegrenzter und
zerstreuender Umgebung errungen, der eigentümlichen geistigen Ausbildung
schädlich werden kann?" Gewiß! — „Mancherlei andere Mittel der
physischen Erziehung lassen sich denken ; öffnet nur den Käfig, und der
Vogel wird von selbst heraushüpfen." Vielleicht; und nach Umständen!
— „Das eigentlich Positive in der Ausbildung für den Krieg ist der Mut;
diesen beleben die Turnplätze nicht, weil von ihnen die Gefahr (die eigent-
00
-Q T. F. Herbarts Rezensionen.
liehe Schule des Mutes) entfernt gehalten wird." Halb wahr und halb
falsch. Der Mut hat zwei Faktoren; Unerschrockenheit ist der eine,
und diesen gibt der Turnplatz nicht; Bewußtsein der Fähigkeit zum
Handeln und Dulden ist der andere, und dieser wächst allerdings aus
der Übung; und am besten aus vollständiger Übung hervor. — „Das
ist das Tadelnswürdige, ja Schädliche und auf alle Weise zu Ver-
werfende, daß ihr das Heiligste, was uns an das Vaterland bindet, nicht
in den gegebenen Formen, sondern in leeren Begriffen und Gefühlen,,
für welche ihr ein neues Organ willkürlich bildet , zu suchen wagt. Ihr
habt gar kein Vaterland; habt es vernichtet, um alle Zuneigung einem
Phantom zuzuwenden, welches nirgends ist." Hoch tragisch! Wen aber
diese Vorwürfe treffen mögen, das wissen wir nicht zu sagen. — „Eure
Unternehmung, in ihrer formlosen, unbestimmten „Unendlichkeit" (gibt
es auch eine geformte bestimmte Unendlichkeit?) „muß die Aufmerk-
samkeit der Schlechten fesseln. Lauernd steht das Böse, um unter die
unreifen Begriffe allerlei Unkraut zu säen. Jede irdische Unternehmung
von Bedeutung erregt Widerstand ; wenn dieser nun bedenklich wird,
wenn alsdann der Verführer in lockender Gestalt erscheint, Unterstützung
anbietend, werdet ihr stark genug sein, die Verführung abzuweisen? Die
Notwendigkeit zusammenzuhalten, um den äußern Widerstand abzuwehren,
wird euch verblenden.'' Diese Worte haben wir nur unvollkommen aus-
gezogen, und legen dabei die Hand auf den Mund. Gibt es Personen,
die sich so etwas mußten sagen lassen, so mögen sie sich verteidigen,
oder ihr Herz reinigen. Der Zusatz: „Ich beschuldige keinen", soll in-
dessen auch hier nicht fehlen.
Und jetzt zum Schlüsse, nachdem über das Turnwesen vermutlich
genug gesagt worden, noch einige Worte über den Streit zwischen
Kayssler und Steffens. Beide sind Männer von literarischem Ruf;
und wenn nicht tiefe Denker, doch achtungswerte Gelehrte. Von diesen
erklärt einer den andern, ganz freundschaftlich und mit dem traulichen
Du ihn anredend, öffentlich für „ein unglückliches Opfer der neuern
spekulativen Regung der Zeit, die in ihrer mächtigen Erscheinung für das
Ganze so segensreich ist. Was in Deinen (Kaysslers) Darstellungen als
spekulative Vernunft hervortritt, ist einem neckenden Dämon ähnlich,
denn w-enn Du sie aufsuchen willst, entflieht sie, indem sie die Formen
des irdischen Verstandes mit defie7i des göttlichen'''' (die Hrn. Prof Steffens
ohne Zweifel sehr wohl bekannt sind?) ^^sinnverwirrend vermischt, als
hemmende Fesseln Dir anlegt, und wenn Du über irdische Verhältnisse
einen Ausspruch wagst, dann drängt sie sich Dir wieder auf, allenthalben
die traurigsten Verwüstungen anrichtend.'' — Uns fallen dabei die be-
kannten Verse ein:
Da Götter menschlicher noch waren,
Waren Menschen göttlicher.
Dies ist auch der Umkehrung fähig. Die Menschen sind heutiges-
tages so göttlich, daß sie sogar die Formen des göttlichen Verstandes
mit denen des irdischen zu vergleichen wissen; man bedenke nun, ivie
menschlich die Gottheit muß geworden sein\ Jetzt möchte wohl jemand
glauben, mit diesen wenigen Worten wäre Hrn. Kayssler geholfen: allem
J. C. F. Guts Muths: Kurzer Abriß der deutschen Gymnastik. 3^1
zum Unglück kann er sie nicht brauchen. Denn er ist selbst ein Philo-
soph nach Schellingscher Art, und soll demnach allerdings die göttlichen
Verstandesformen kennen, und sich wohl hüten, sie mit den irdischen zu
vermischen. — Abgesehen nun von der Wahrheit, von der hier gar nicht
die Rede sein kann, ist soviel klar, daß Hr. Steffens die Konsequenz
des Schellingschen Systems besser inne hat, als Herr Kayssler. Ob aber
die Inkonsequenz des letzten nicht vielleicht von einer dämmernden Ahnung
herrühre, daß die ganze Lehre, welcher er anhängt, ein neckender Dämon
sei, der ihm nicht bloß hemmende, sondern schnürende, und beinahe
würgende Fesseln anlege — das können wir nicht entscheiden. Übrigens
erinnert sich Rez., früher eine Schrift von Hrn. Kayssler gesehen zu
haben, in der mehr Präzision herrschte, und die für seinen Scharfsinn
rühmlicher war, als die gegenwärtige. Und wenn es ihm belieben sollte,
sich Genugtuung zu nehmen, so bietet ihm das Ende von der Schrift des
Hrn. Steffens reiche Gelegenheit dar; es kommt nur darauf an, ob er
sich entschließen kann, dies gräuliche Wortgewirre durchzuarbeiten. Den
Rez. schreckt der bloße Anblick schon, und erinnert ihn, daß es Zeit
ist, die Feder wegzulegen.*
* Nachdem alles Vorstehende niedergeschrieben, und zum Absenden schon ein-
gesiegelt war, erhielt Rez. das neueste Büchlein des Hrn. Prof. Steffens betitelt:
Die gute Sache usw. veranlafst durch des Verf. letzte Begegnisse in Berlin. Nicht
beauftragt, dasselbe zu beurteilen, schweigt Rez. darüber gänzlich ; findet aber sehr nötig
zu bemerken, daß er von jenen sogenannten Begegnissen nichts gewußt, und ebenso-
wenig mit Hrn. Steffens jemals in einem andern Verhältnisse, als in dem seines
philosophierenden Gegners, in diese7n aber freilich mit dem klarsten Bewußtsein und der
vollkommensten Entschiedenheit gestanden habe und noch stehe. Daß nun aus wider-
streitenden philosophischen Prinzipien auch entgegengesetzte Ansichten über Lebensver-
hältnisse und deren richtige Behandlung entstehen, soll jeder wissen, der mit der Philo-
sophie nicht bloß gespielt, sondern sich ein ernstliches Studium daraus gemacht hat.
Hieraus allein ist die vorstehende Rezension zu erklären; es soll in dieselbe nichts hin-
eingelesen, wohl aber nicht mehr noch weniger herausgelesen werden, als was wirklich
und deutlich darin steht.
Anmerkzing. Über das Buch: Die gute Sache hat Herbart 18 19 eine längere
Abhandlung ,,über die gute Sache" geschrieben. Vergl. Kehrbachs Ausgabe IV, 557.
Hartensteins Ausgabe IX, 133. O- F.
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JDruck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
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